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Der Schlüssel zu nachhaltiger Gesundheit und innerem Frieden - Das Grundlagenwerk zu MBSR des weltweit renommierten Achtsamkeits-Lehrers Jon Kabat-Zinn »Gesund durch Meditation« hat sich als eines der erfolgreichsten Bücher etabliert, um schrittweise Gelassenheit, Präsenz und dauerhafte Gesundheit zu erlangen. Das wissenschaftlich geprüfte Achtsamkeitstraining MBSR (mindfulness-based stress reduction) kombiniert Meditationen, Atem- und Yoga-Übungen zu einem ganzheitlichen Ansatz. Der weltweit renommierte Achtsamkeits-Lehrer und Meditations-Forscher Jon Kabat-Zinn hat mit der MBSR-Methode Meditation für das alltägliche Leben der Menschen zugänglich gemacht. Wie hilfreich eine solche Praxis gerade in herausfordernden Zeiten sein kann, wird nirgendwo so deutlich, wie in diesem Grundlagenbuch. »Gesund durch Meditation« beleuchtet anschaulich das weitverbreitete Phänomen Stress und bietet wirkungsvolle Maßnahmen, um eine tiefgreifende Veränderung der inneren Haltung und Einstellung zum Leben zu erreichen. Chronisch kranke Menschen und Schmerzpatienten finden hier hilfreiche Hinweise für einen entspannten Umgang mit ihren Beschwerden. Egal ob bei chronischen Schmerzen oder als Einstieg in die Meditation - hier finden Sie fundierte Anleitungen und Anti-Stress-Übungen für Anfänger und Fortgeschrittene. Jon Kabat-Zinn verbindet auf einzigartige Weise östliche Weisheit mit westlicher Wissenschaft und ebnet den Weg zu einem achtsamen und erfüllten Leben. Diese eBook-Ausgabe entspricht der vom Autor autorisierten gekürzten Taschenbuchausgabe des Klassikers, der aktualisierten Version von 2019. Die ungekürzte Langfassung ist unter demselben Titel als Hardcover bzw. in der long version des eBooks erhältlich.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 511
Veröffentlichungsjahr: 2013
Jon Kabat-Zinn
Gesund durch Meditation
Das große Buch der Selbstheilung mit MBSR
Aus dem Amerikanischen von Horst Kappen
Knaur e-books
Dieses Buch beschreibt das MBSR-Programm der Stress Reduction Clinic des University of Massachusetts Medical Center. Sein Inhalt ist weder durch die University of Massachusetts autorisiert, noch spiegelt er deren offizielle Position wider.
Die hier gegebenen Empfehlungen sind allgemeiner Natur und können eine professionelle medizinische oder psychologische Behandlung nicht ersetzen. Leser mit gesundheitlichen Problemen sollten einen Arzt zu Rate ziehen, um abzuklären, ob das hier dargestellte Übungsprogramm für sie in Frage kommt. Das gilt insbesondere für einige der Yoga-Positionen, die unter Umständen der individuellen Abwandlung bedürfen.
Die im Buch veröffentlichten Ratschläge und Übungen wurden von Verfasser und Verlag mit größter Sorgfalt erarbeitet und geprüft. Eine Garantie und Haftung kann jedoch nicht übernommen werden.
Für Myla,
für Will, Naushon und Serena,
für Asa, Toby und Teresa,
für Sally,
für alle Menschen in der Stress Reduction Clinic, die bereit waren, sich der ganzen Katastrophe des Lebens zu stellen und daran zu reifen,
für alle früheren, gegenwärtigen und künftigen Teilnehmer am MBSR-Programm und anderen Achtsamkeitskursen
und für die Lehrer und Erforscher der Achtsamkeit auf der ganzen Welt – vor deren Engagement, Aufrichtigkeit und liebender Hingabe an ihre Arbeit ich mich tief verneige.
Es ist mir eine große Freude, mich mit diesem Grußwort an die deutschsprachige Lesergemeinde zu wenden, zu der ich seit langem eine besondere Verbindung habe, auch wenn ich weit von ihr entfernt lebe. Im Laufe der Jahre habe ich viele Male Deutschland, Österreich und die Schweiz bereist, um dort Vorträge zu halten und Ausbildungs-Retreats zu leiten. Dabei kam es zu vielen Begegnungen mit Menschen, die es sich in diesen Ländern zur Aufgabe machen, den MBSR-Ansatz oder andere an der Achtsamkeit orientierte Übungsmethoden in ihr Leben und ihre Arbeit zu integrieren – Kontakte, aus denen sich oftmals echte Freundschaften entwickelt haben.
Die erste deutsche Ausgabe dieses Buches erschien im April 1990 fast gleichzeitig mit der ersten englischen Originalausgabe und war damit auch die erste Übertragung in eine andere Sprache. Das ist für mich kein Zufall, sondern Ausdruck des großen Interesses, das in Ihrem Kulturraum an der Arbeit mit der Achtsamkeit, ihren therapeutischen Möglichkeiten und ihrem Wert für unser gesamtes Leben besteht.
Vielleicht haben Sie die Bedeutung der Achtsamkeit für Gesundheit und Krankheit, für den Umgang mit Stress und Schmerz längst schon für sich entdeckt. Vielleicht ist Ihr Interesse daran auch erst vor kurzem erwacht. Wie dem auch sei, meine Hoffnung ist, dass diese zweite, aktualisierte Ausgabe, nahezu fünfundzwanzig Jahre nach dem ersten Erscheinen von Full Catastrophe Living, für Sie von Nutzen sein wird.
Möge Ihre Achtsamkeitsübung an Tiefe und Kraft gewinnen, möge sie Ihrem Leben und Ihrer Arbeit zugutekommen, in jedem Augenblick eines jeden Tages.
Jon Kabat-Zinn
Lexington, Massachusetts, im April 2013
Dieses lesenswerte, lebensnahe Buch wird dem Leser auf vielerlei Weise zum Nutzen gereichen, denn es veranschaulicht die praktischen Aspekte der Meditation in einer leicht verständlichen Art und Weise. Meditation ist keineswegs etwas Weltfremdes, vielmehr hat sie ganz konkret mit unserem Leben und Alltag zu tun. Mit ihr eröffnen sich sogar gleich zwei Wege: einer, der von der Welt zum Dharma führt, und ein zweiter, der vom Dharma zur Welt führt.
Wenn der Dharma sich für unser tägliches Leben als nützlich erweist, wenn er uns hilft, das Leben zu meistern, dann ist er echter Dharma. Dieses Buch ist daher eine wirkliche Lebenshilfe. Ich danke dem Autor dafür, dass er es geschrieben hat.
Thich Nhat Hanh
Willkommen zur Neuausgabe von Full Catastrophe Living. Zweierlei hat mich bewogen, das Buch nach fünfundzwanzig Jahren erstmalig einer Revision zu unterziehen: Einerseits galt es, den Text inhaltlich auf den neuesten Stand zu bringen; andererseits – und das ist angesichts der vielen Jahre, die seither verstrichen sind, vielleicht der wichtigere Aspekt – ging es mir darum, eine noch präzisere Anleitung zur Meditation zu bieten, eine vertiefte Beschreibung der Möglichkeiten, mit dem menschlichen Leben und Leiden auf achtsame Weise umzugehen. Die Aktualisierung erwies sich als notwendig, da die wissenschaftlichen Forschungen zur Achtsamkeit und zu ihren Auswirkungen auf Gesundheit und Wohlbefinden in diesem Zeitraum einen gewaltigen Zuwachs erfahren haben. Je mehr ich aber in die Arbeit am Text hineinkam, desto spürbarer wurde es für mich, dass die grundlegende Botschaft des Buches, sein eigentlicher Inhalt im Wesentlichen erhalten bleiben musste. Daher habe ich mich darauf beschränkt, die Ausführungen dort, wo es angebracht war, zu ergänzen und zu verdeutlichen. Nach wie vor sollte es vor allem um die Achtsamkeit als inneres Abenteuer gehen. Letztlich bleibt das Buch also das, als was es von Anfang an gedacht war: ein praktischer und allgemeinverständlicher Leitfaden zur Kultivierung der Achtsamkeit mit ihrer verwandelnden Kraft und zutiefst optimistischen Sicht des menschlichen Wesens.
Seit meiner allerersten Begegnung mit der Übung der Achtsamkeit war ich überrascht und ermutigt von den wohltuenden Auswirkungen, die sie in meinem eigenen Leben hatte. Und dieses Grundgefühl hat in den gut fünfundvierzig Jahren, seit ich begonnen habe, mich in ihr zu üben, nichts von seiner Intensität verloren. Im Gegenteil: Es hat nur an Tiefe und Beständigkeit gewonnen, wie eine alte, verlässliche Freundschaft, die sich auch in noch so schweren Zeiten bewährt und uns gerade dadurch mit großer Demut erfüllt.
Als ich noch an der ersten Textausgabe arbeitete, riet mir mein Lektor davon ab, das Wort »Katastrophe« in den Titel aufzunehmen, weil viele Menschen allein durch den Ausdruck abgeschreckt werden könnten. Also bemühte ich mich redlich, einen anderen Titel zu finden. Ich ersann und verwarf Dutzende von Alternativen. Die heilende Kraft der Achtsamkeit war einer der Favoriten. Gewiss brachte diese Überschrift zum Ausdruck, worum es in dem Buch ging. Aber der ursprüngliche Titel Full Catastrophe Living stellte sich hartnäckig wieder ein. Er ging mir einfach nicht aus dem Kopf. Der Grund dafür wird bald deutlich werden.
Schließlich blieb es bei dem Titel, und das war gut so. Noch heute kommen Menschen auf mich zu, um mir zu sagen, dass das Buch ihnen selbst, einem Verwandten oder einem Freund buchstäblich das Leben gerettet habe. Bill Moyers, der als Teil seiner PBS[1]-Serie Healing and the Mind eine TV-Dokumentation über unser Übungsprogramm gedreht hatte, erzählte mir, dass er während der Berichterstattung über den Feuersturm von Oakland im Jahr 1991 Zeuge wurde, wie ein Mann es an sich gedrückt hielt, nachdem sein Haus in Flammen aufgegangen war. Und wer aus New York ist, scheint den Titel ohnehin auf Anhieb zu verstehen.
Eine Resonanz wie diese ist es, die mir bestätigt, was ich seit den Anfängen der Arbeit in der Stress Reduction Clinic gespürt habe, als ich erstmals die wohltuenden Auswirkungen beobachten konnte, die die Übung der Achtsamkeit auf unsere Patienten hatte. Ganz offensichtlich geht von der Pflege der Aufmerksamkeit etwas Heilendes und tief Verwandelndes aus, eine Kraft, die in der Lage ist, uns unser Leben zurückzugeben, nicht in einem romantisch-weltfremden Sinn, sondern weil aufgrund unseres ursprünglichen Wesens als Mensch – um mit William James, dem »Vater« der amerikanischen Psychologie zu sprechen – »… wir alle einen nährenden Quell der Lebenskraft in uns tragen, von dem wir kaum zu träumen wagen«.
Hier ist von ur-menschlichen Ressourcen die Rede, die in der Tiefe unseres Wesens verborgen sind wie ein unterirdisches Gewässer oder ein Mineralvorkommen, das im Felsgestein des Planeten eingeschlossen liegt. Wir können uns diese Ressourcen erschließen und nutzbar machen, Ressourcen, die uns erlauben, unser Leben zu transformieren. Wie aber geschieht diese Verwandlung? Sie ergibt sich unmittelbar aus unserer Fähigkeit, eine weitere Perspektive zu gewinnen, uns bewusst zu werden, dass wir größer sind, als wir zu sein glauben. Sie folgt unmittelbar daraus, dass wir uns in der Tiefendimension unseres Seins wahrnehmen und annehmen, mit der ganzen Bedeutung dessen, wer und was wir in Wirklichkeit sind. Und wie sich herausstellt, beruhen alle diese in uns liegenden zutiefst menschlichen Kräfte auf unserer Fähigkeit zu einem im Leib verankerten Gewahrsein (embodied awareness)[2], auf unserem Vermögen, unsere Verbindung zu diesem Gewahrsein bewusst zu entdecken und zu entwickeln. Wir gelangen dahin, indem wir auf eine ganz besondere Weise aufmerksam sind, und zwar gezielt im gegenwärtigen Moment und ohne zu werten.
Diese Dimension des Seins war mir seit meinen eigenen Meditationserfahrungen vertraut, lange bevor das Phänomen »Achtsamkeit« wissenschaftlich erforscht wurde. Und es würde für mich nichts von seiner Bedeutung verlieren, selbst wenn sich eine solche Wissenschaft niemals entwickelt hätte. Die Praxis der Achtsamkeit oder Meditation steht für sich selbst, besitzt ihre eigene überzeugende Logik, ihre eigene empirische Gültigkeit – etwas, das sich nur von innen heraus erfahren lässt, indem man sie über einen gewissen Zeitraum im eigenen Leben kultiviert und sich dabei der Führung derer anvertraut, die diesen Weg vor uns beschritten haben. Sie können uns zeigen, worauf wir zu achten haben und auch, worauf wir entlang des Weges gefasst sein müssen. Anleitung in Anspruch zu nehmen bedeutet nicht einen Verlust an eigener Kreativität oder die Verleugnung der einmaligen Lebensumstände, in denen jeder von uns sich vorfindet. Im Gegenteil. Was sie uns bieten kann, ist die zuverlässige Begleitung bei einem Prozess, der uns lehrt, die Dinge so zu akzeptieren, wie sie sind, auch wenn uns das manchmal unmöglich erscheint. Wie ich hoffe, werden dieses Buch und das MBSR[1]-Programm, das in ihm beschrieben ist, ihren Lesern in diesem Sinne von Nutzen sein als eine Landkarte, die in unbekanntem und manchmal bedrohlich erscheinendem Gelände den Weg weist. Im selben Sinn ist auch die Literaturliste im Anhang gemeint: Die ausgewählten Bücher sollen als mögliche Begleiter auf einer Entdeckungsreise in das Reich der Achtsamkeit verstanden sein. Letztlich handelt es sich um nichts Geringeres als das Abenteuer, ein erfülltes Leben zu leben oder, besser gesagt, zu ihm zu erwachen.
Beim Einführungsgespräch in der Stress Reduction Clinic sagen wir unseren Patienten häufig:
»Aus unserer Sicht haben Sie, solange Sie atmen, mehr gesunde als kranke Anteile in sich, egal, was alles mit Ihnen nicht stimmt. Vieles von dem, was gesund in uns ist, beachten wir entweder gar nicht, vernachlässigen wir oder nehmen es als selbstverständlich hin. Innerhalb der kommenden acht Wochen werden wir daher diese gesunden Anteile in Ihnen, in der Form gezielter Aufmerksamkeit, mit Energie versorgen. Die andere, »kranke« Seite überlassen wir inzwischen der Klinik mit ihrer Ärzteschaft und warten einfach ab, was geschieht.«
Dabei zeigt sich, dass es ein sehr gesundes und heilsames »Tun« ist, auf diese neue Weise wach und aufmerksam zu sein, obwohl es sich, wie wir noch sehen werden, keineswegs um ein Tun im herkömmlichen Sinn handelt oder darum, irgendwohin zu gelangen. Es geht vielmehr um ein Sein und darum, sich so anzunehmen, wie man jetzt schon ist. Es geht darum, die in diesem Ansatz liegende Fülle und sein reiches Potenzial für sich selbst zu entdecken. Dabei markiert das als MBSR bekannte Acht-Wochen-Programm zum Abbau von Stress lediglich einen Anfang. Das eigentliche Abenteuer ist und bleibt das eigene Leben. MBSR ist gewissermaßen eine Durchgangsstation und hoffentlich ein Sprungbrett in eine neue Art des Seins, bei der man in Kontakt ist mit den Dingen, wie sie nun einmal sind.
Während meiner jahrzehntelangen eigenen Meditationspraxis und »weltlichen« Arbeit habe ich gelernt, die Übung der Achtsamkeit als einen radikalen Akt zu begreifen – als eine radikale Maßnahme mentaler Gesundung, des Mitgefühls mit sich selbst und letztlich der Liebe. Dazu gehört die Bereitschaft, sich selbst zu begegnen, mehr im gegenwärtigen Augenblick zu leben, von Zeit zu Zeit innezuhalten und einfach zu sein, anstatt sich in endlosem Tun zu verausgaben und darüber zu vergessen, wer der Urheber all dieses Tuns ist und welchem Sinn es eigentlich dient. Es hat damit zu tun, unsere Gedanken nicht einfach für bare Münze zu nehmen und uns nicht ohne weiteres den Gefühlsstürmen hinzugeben, die häufig genug nur den Schmerz und eigenes wie fremdes Leid vergrößern. Diese Einstellung dem Leben gegenüber stellt in der Tat auf jeder Ebene einen radikalen Akt der Liebe dar. Es gehört zur Schönheit dieser Haltung, dass sie von uns keinerlei Tun verlangt, sondern lediglich, dass wir aufmerksam, wach und bewusst sind – Dimensionen des Seins, die immer schon das ausmachen, wer und was wir sind.
Achtsamkeit ist eine Fähigkeit, die wie jede andere Fähigkeit durch Übung entwickelt werden kann. Wir können sie uns auch als einen Muskel denken. Der Achtsamkeits-Muskel wird durch Gebrauch sowohl kräftiger als auch geschmeidiger und beweglicher. Und wie ein richtiger Muskel lässt sich auch unsere Achtsamkeit am besten anhand eines gewissen Widerstands trainieren, durch den sie gefordert und gekräftigt wird. Unser Körper, unser Geist und der Stress, dem wir tagtäglich ausgesetzt sind, versorgen uns in dieser Hinsicht mit einer Menge an Widerständen, mit denen wir arbeiten können. Was sich in unserem Geist abspielt, hat möglicherweise größeren Einfluss auf unser Wohlbefinden als das, was wir in einem gegebenen Moment tatsächlich tun und erfahren. Wenn wir dies erkennen, so hat das weitreichende Folgen nicht allein für unser Selbstverständnis als Mensch, sondern auch für die Vorstellung, die wir uns – in sehr konkreter, persönlicher und sogar intimer Weise – davon machen, was es bedeutet, gesund und wahrhaft glücklich zu sein.
Für unsere praktischen Belange definiere ich Achtsamkeit, wie später noch deutlicher wird, als die Bewusstheit, die sich durch gerichtete, nicht wertende Aufmerksamkeit im gegenwärtigen Augenblick einstellt. Gewahrsein ist nicht dasselbe wie Denken. Es ist eine andere, das übliche Denken ergänzende Form von Intelligenz. Darüber hinaus sind wir in der Lage, unser Denken seinerseits zum Gegenstand dieses Gewahrseins zu machen, womit wir eine gänzlich neue Perspektive auf unsere Gedanken und ihren Inhalt gewinnen. Und ebenso wie sich unser Denken entwickeln und verfeinern kann, so kann sich auch unser Zugang zur Ebene des Gewahrseins weiterentwickeln und verfeinern. Es entwickelt sich, indem wir es bewusst pflegen und unser Vermögen zu aufmerksamer und unterscheidender Wahrnehmung trainieren, ganz so, wie wir unsere Muskeln trainieren würden.
Im asiatischen Sprachraum werden Mind/Geist und Heart/Herz in der Regel mit demselben Wort bezeichnet. Und wenn wir hier von Achtsamkeit (mindfulness) sprechen, so dürfen wir nicht vergessen, dass damit nicht nur eine Dimension des Geistes gemeint ist, sondern immer auch die des Herzens (heartfulness). Wenn wir uns daher, sooft von Achtsamkeit die Rede ist, nicht auch in unserem Herzen angesprochen fühlen, werden wir mit großer Wahrscheinlichkeit das Wesentliche verfehlen. Achtsamkeit ist nicht bloß ein begriffliches Konzept oder eine gute Idee. Sie ist eine Form zu sein. Und das Synonym Gewahrsein (awareness) bezeichnet eine Art des Wissens, das schlichtweg umfassender als bloßes Denken ist. Es bietet uns weitaus mehr Wahlmöglichkeiten, wie wir unser Verhältnis zu dem, was sich in unserem Geist, unserer Seele, unserem Körper und in unserem Leben begibt, gestalten wollen. Gewahrsein geht über begriffliches oder intellektuelles Wissen hinaus, steht der Weisheit näher und damit auch der Freiheit, die sie verleiht.
In diesem Buch geht es um Sie, um Ihr Leben. Es geht um Ihren Geist, um Ihren Körper und ganz konkret um die Frage, wie Sie lernen können, beiden gegenüber eine sinnvollere Einstellung zu gewinnen. Zur Übung der Achtsamkeit gehört es, das, was aufgrund unseres Menschseins schon jetzt schön, heil und ganz in uns ist, zu erkennen, zu würdigen und für uns zu nutzen. Achtsamkeit lehrt uns, uns dieser Qualitäten zu bedienen, um aus ihnen heraus unser Leben zu leben, im Bewusstsein, dass wirklich zählt, wie wir unsere Beziehung zu dem gestalten, was immer uns begegnet.
Seitdem dieses Buch vor 25 Jahren erstmals erschien, hat sich die Welt in gigantischer und kaum vorstellbarer Weise verändert, vielleicht mehr als jemals zuvor in einem so kleinen Zeitraum. Man denke nur an Errungenschaften wie Laptop, Smartphone, an das Internet, Google, Facebook und Twitter, an die nahezu unbegrenzten Möglichkeiten der Kontaktaufnahme und des mobilen Zugangs zu Informationen, an die Auswirkungen der unaufhaltsam fortschreitenden digitalen Revolution auf nahezu all unser Tun, die rasante Beschleunigung und Rastlosigkeit unserer Lebensführung, ganz zu schweigen von den enormen sozialen, wirtschaftlichen und politischen Veränderungen, die während dieser Periode weltweit eingetreten sind. Das Tempo, in dem sich der Wandel heute bereits vollzieht, wird sich kaum verringern, sondern weiter steigern, und das wird immer spürbarere und letztlich unausweichliche Konsequenzen haben. Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass die wissenschaftliche und technologische Revolution mit ihren Folgen für unser aller Leben kaum erst begonnen hat, und es ist gewiss, dass der Stress, den die notwendige Anpassung mit sich bringt, in den kommenden Jahrzehnten noch weiter anwachsen wird.
Ziel dieses Buches und des in ihm beschriebenen MBSR-Programms ist es, eine wirkungsvolle Alternative anzubieten, ein Gegengewicht zu all den Formen des Verlustes unserer selbst, der uns schließlich auch aus den Augen verlieren lässt, was in unserem Leben wirklich von Bedeutung ist. Wir sind so anfällig dafür, uns von den Anforderungen unserer alltäglichen Aufgaben beherrschen zu lassen, von dem, was sich in unserem Kopf abspielt und was wir in unserem Denken für wichtig halten, dass wir Gefahr laufen, in einen Grundzustand permanenter Anspannung, Unruhe und Überreizung zu verfallen, von dem unser ganzes Leben automatisch gesteuert wird. Dieser Dauerstress verstärkt sich noch, wenn wir uns mit einer ernsten Erkrankung, mit anhaltenden Schmerzen oder einem chronischen Leiden auseinandersetzen müssen, ob wir nun selbst davon betroffen sind oder einer unserer Angehörigen. Die Übung der Achtsamkeit ist heute also wichtiger denn je – als ein zuverlässiger Weg zu Gesundheit und körperlichem Wohlbefinden und nicht zuletzt als ein inneres Gegengewicht, das uns hilft, in einer sich überstürzenden Welt unsere geistige Gesundheit zu bewahren.
Denn während wir die Segnungen einer 24-Stunden-Vernetztheit erfahren, die uns erlaubt, überall und jederzeit mit aller Welt in Verbindung zu treten, machen wir paradoxerweise zugleich die Erfahrung, dass es noch nie so schwierig war, mit uns selbst und unserer inneren Welt in Kontakt zu kommen. Und damit nicht genug: Wir haben immer weniger Zeit für die Begegnung mit uns selbst, obwohl jedem von uns nach wie vor 24 Stunden am Tag zur Verfügung stehen. Wir füllen diese Stunden mit so viel Tun aus, dass uns kaum mehr Zeit zum Sein bleibt.
Das erste Kapitel ist überschrieben: Das Leben besteht aus Augenblicken. Das ist eine unumstößliche Wahrheit, die auch in Zukunft ihre Gültigkeit behalten wird, für jeden Einzelnen von uns, wie sehr sich die Welt auch weiter digitalisieren mag. Dennoch sind wir während eines großen Teils unserer Zeit nicht im Kontakt mit der Fülle des gegenwärtigen Moments. Es ist eine Tatsache, der wir meist viel zu wenig Beachtung schenken: Wenn wir bewusst im gegenwärtigen Augenblick leben – der allein Realität besitzt –, so wird dies Auswirkungen auf den ihm folgenden Moment haben, und dies wiederum wird sich, vorausgesetzt, es gelingt uns, diesen Prozess aufrechtzuerhalten, auf die Zukunft, unsere Lebensqualität und unsere Beziehung zu anderen Menschen auswirken. Das einzige Mittel, auf die Gestaltung der Zukunft Einfluss zu nehmen, besteht darin, sich die Gegenwart zu eigen zu machen, wie immer sie sich uns darstellen mag. Wenn wir ganz im Gewahrsein des gegenwärtigen Augenblicks aufgehen, dann wird der kommende Augenblick eine ganz andere Qualität haben, weil wir im Jetzt präsent sind. So können wir kreative Wege zu einer Lebensführung entdecken, die wirklich dem Leben entspricht, das zu führen uns aufgegeben ist.
Erfahren wir neben Leid auch Freude und Zufriedenheit? Gelingt es uns, inmitten des alles verschlingenden Mahlstroms, der das Leben ist, uns in unserer Haut wohl zu fühlen? Kennen wir Unbeschwertheit und Heiterkeit, erfahren wir sogar Momente tiefen Glücks? Um nichts Geringeres geht es hier. Dies ist es, was uns der gegenwärtige Moment zu geben vermag, wenn wir uns ihm, ohne zu urteilen, in wohlwollendem Gewahrsein zuwenden.
Die Übung der Achtsamkeit besitzt, wie gesagt, ihre eigene innere Logik und Poesie, bietet aus sich selbst ausreichend überzeugende Gründe, sie zu einem Teil unseres Lebens zu machen und systematisch zu pflegen. Vielleicht aber geben die wissenschaftlichen Ergebnisse, wie sie an verschiedenen Stellen im Buch diskutiert werden, einen zusätzlichen Anreiz, dem MBSR-Programm mit dem gleichen Engagement und der gleichen Entschlossenheit zu folgen, wie unsere Patienten es tun. Oder wie wir manchmal unseren künftigen Teilnehmern am Programm sagen:
»Sie müssen dem täglichen Meditationsprogramm nicht gern folgen, Sie müssen ihm einfach nur folgen. Am Ende der acht Wochen können Sie uns dann sagen, ob es Zeitverschwendung war oder nicht. In der Zwischenzeit aber gilt: Üben Sie unbeirrt weiter, auch wenn Ihnen Ihr Geist ständig weismachen will, dass es unsinnig oder pure Zeitvergeudung sei. Üben Sie mit ganzem Einsatz, als ob Ihr Leben davon abhinge. Denn das tut es in mehr als einer Hinsicht und weit mehr, als Ihnen selbst oder irgendjemandem von uns klar sein kann. Während Sie üben, wird Ihr Geist sich mit allen möglichen Bewertungen, Kommentaren und Einwänden einmischen. Messen Sie all dem gleich wenig Bedeutung bei, etwa so viel wie der Frage, was Sie vor drei Tagen zum Abendessen hatten.«
Achtsamkeit ist nicht bloß eine gute Idee oder eine nette Form zu philosophieren. Soll sie irgendeinen Wert für uns besitzen, so müssen wir sie in unserem Alltag verwirklichen, und zwar so weitgehend, wie es uns ohne Zwang und Verkrampfung, das heißt mit einer gewissen Leichtigkeit und Anmut möglich ist. Dies ist der eigentliche Sinn eines akzeptierenden, liebevollen und nachsichtigen Umgangs mit sich selbst. Nicht nur in den USA, sondern auf der ganzen Welt entwickelt sich die Achtsamkeitsmeditation zunehmend zu einer festen Größe in der geistigen Landschaft, und vor diesem Hintergrund möchte ich Sie zu dieser revidierten Neuausgabe von Full Catastrophe Living begrüßen.
Möge Ihre Achtsamkeit wachsen und gedeihen und so Ihr Leben, Ihre Arbeit und Ihren inneren Weg an jedem Tag von Augenblick zu Augenblick bereichern.
Jon Kabat-Zinn
16. März 2013
Dieses Buch will den Leser zu einer Entdeckungsreise einladen, die ihn zu persönlicher Weiterentwicklung, Selbstfindung und Heilung führt. Grundlage dafür sind vierunddreißig Jahre klinischer Erfahrung mit mehr als zwanzigtausend Patienten, die sich im Rahmen der Acht-Wochen-Kurse, die wir am Medical Center der University of Massachusetts in Worcester anbieten, bereits auf diese lebenslange Reise begeben haben. Das Programm, als MBSR oder Mindfulness-Based Stress Reduction bekannt geworden, hat seinen Ursprung in der dem Medical Center angeschlossenen Stress Reduction Clinic. Heute existieren überall in den USA und weltweit mehr als 720 Klinikprogramme, denen das MBSR-Achtsamkeitskonzept zugrunde liegt. Abertausende von Menschen haben seither an entsprechenden Programmen teilgenommen.
Seit der Gründung der Klinik im Jahre 1979 hat MBSR in der Medizin, Psychologie und Psychiatrie kontinuierlich Anstöße zu einer neuen Entwicklung gegeben, die man am besten als partizipatorische oder einbeziehende Medizin bezeichnen könnte. Übungsprogramme, die auf der Achtsamkeit beruhen, werden zur Chance für Menschen, die sich – über ihre reguläre medizinische Versorgung hinaus – für ihr eigenes körperliches Wohl einsetzen wollen.
Im Jahre 1979 war MBSR eine neuartige Methode klinischer Betreuung im Rahmen der Verhaltensmedizin, eines damals noch jungen Forschungszweigs, der heute allgemeiner als integrative oder ganzheitliche Medizin bezeichnet wird. Sie geht davon aus, dass mentale und emotionale Faktoren nicht nur erhebliche positive wie negative Auswirkungen auf unsere körperliche Gesundheit und unsere Fähigkeit zur Gesundung haben, sondern auch darüber bestimmen, ob wir auch angesichts chronischer Erkrankungen, chronischer Schmerzen und einer verbreitet von Stress geprägten Lebensweise in der Lage sind, uns Lebensqualität und Lebensfreude zu bewahren.
Wer dem MBSR-Ansatz folgt und diese innere Reise der Persönlichkeitsentwicklung und Selbstfindung, des Lernens und Heilwerdens antritt, hat das Bedürfnis, seine Gesundheit wiederherzustellen oder wenigstens zur inneren Ruhe zurückzufinden. Die Patienten kommen mit einer Vielfalt gesundheitlicher Probleme wie Kopfschmerzen, Bluthochdruck, Rückenschmerzen, Herzerkrankungen, Krebs und Aids oder auch mit Depressionen und Angstzuständen. Sie gehören allen Lebensstufen an, und sie lernen durch MBSR, wie sie verantwortungsvoll mit sich selbst umgehen, nicht als Ersatz für eine medizinische Behandlung, sondern als unverzichtbare Ergänzung dazu.
Im Laufe der Jahre hat es zahlreiche Anfragen von Menschen gegeben, die sich die Inhalte unseres Acht-Wochen-Programms zu Hause erarbeiten wollen. Dies bedeutet nichts anderes, als selbständig einem intensiven Übungsprogramm mit dem Ziel bewusster Lebensführung zu folgen. Das vorliegende Buch will vor allem diesem Bedarf gerecht werden. Es ist als praktischer Ratgeber für Kranke und Gesunde, für Gestresste und Schmerzgeplagte gedacht, für alle, die ihre mentalen Beschränkungen hinter sich lassen und eine andere Dimension der Gesundheit und des Wohlbefindens erfahren möchten.
Das MBSR-Programm basiert auf einer Form der Meditation, die in den buddhistischen Traditionen Asiens entwickelt wurde, einer streng geregelten und systematischen Schulung der Achtsamkeit. Vereinfacht ausgedrückt bedeutet Achtsamkeit, in jedem Augenblick präsent zu sein, ohne zu bewerten. Wir können sie entwickeln, indem wir unsere Aufmerksamkeit bewusst auf all die Verrichtungen und Geschehnisse des Alltags richten, die wir für gewöhnlich nicht beachten. Es ist ein systematischer Ansatz zur Ausbildung einer zuvor unbekannten Ebene der inneren Kraft, der Selbstbestimmung und Weisheit, der auf unserer natürlichen Fähigkeit zur Aufmerksamkeit aufbaut.
Die Stress Reduction Clinic versteht sich nicht als Notdienst, in dem Menschen Beratung empfangen und sich passiv einer therapeutischen Prozedur unterziehen. Vielmehr ist sie eine Plattform für aktives Lernen, das auf vorhandenen inneren Potenzialen aufbaut und die Menschen, wie gesagt, in die Lage versetzt, selbst etwas dafür zu tun, körperlich und seelisch gesünder zu werden und sich wieder wohler mit sich selbst zu fühlen. Bei diesem Lernprozess gehen wir von Anfang an davon aus, dass, solange wir noch atmen, die gesunden Anteile in uns überwiegen, wie krank, entmutigt oder verzweifelt wir uns im Augenblick auch fühlen mögen. Es gelingt jedoch nicht ohne ein gewisses Maß an Energie und Einsatzbereitschaft, innere Wachstums- und Heilungsreserven zu mobilisieren und das eigene Leben in einem umfassenderen Sinn wieder in die Hand zu nehmen. So betrachtet kann unser Programm zur Stressbewältigung für die Teilnehmer auch schon mal »in Stress ausarten«.
Manchmal benutze ich dafür die Metapher vom Gegenfeuer, das man legen muss, um ein anderes Feuer zu löschen. Es gibt kein Medikament, das gegen Stress oder Schmerz unempfindlich macht, kein Wundermittel, mit dem Probleme von selbst verschwinden und Heilung einsetzt. Es verlangt den bewussten Einsatz unserer Kräfte, wenn wir den Weg in Richtung Heilung, des inneren Friedens und Wohlbefindens einschlagen wollen. Und das bedeutet zu lernen, mit dem Stress und dem Schmerz zu arbeiten, der uns eben jetzt zu schaffen macht.
Heutzutage stehen wir unter so massivem und unausweichlichem Druck, dass immer mehr Menschen sich ganz bewusst fragen, was diesen Druck eigentlich ausmacht, wie sie ihm auf kreative Weise begegnen und ein anderes Verhältnis zu ihm gewinnen können. Sie wissen, dass es keinen Zweck hat, von außen Verbesserung zu erwarten. Das eigene Zutun ist wichtig. Dem Phänomen Stress ist mit simplen Ad-hoc-Lösungen nicht beizukommen. Stress ist ein natürlicher Teil unseres Lebens, dem wir ebenso wenig entrinnen können wie anderen Grundbedingungen unserer menschlichen Existenz. Dennoch unternehmen manche den Versuch, dem Stress zu entkommen, indem sie sich gegen das Leben abschotten oder auf die eine oder andere Weise zu betäuben versuchen. Wenn Flucht und Vermeidung jedoch zur gewohnten Strategie werden, lassen sich die Probleme dadurch nicht auf magische Weise verbannen, sondern werden nur umso größer. Was wir aber tatsächlich verbannen, wenn wir unsere Probleme auszublenden versuchen oder vor ihnen davonlaufen, ist unsere Kraft zu persönlichem Wachstum, Wandel und Heilung. Letzten Endes können wir unsere Probleme nur dadurch überwinden, dass wir ihnen ins Auge sehen.
Jeder kann die Kunst erlernen, Schwierigkeiten auf eine Weise zu begegnen, die nicht nur zu effektiven Lösungen führt, sondern auch zu innerem Frieden und Ausgeglichenheit. Wenn es uns gelingt, unser inneres Potenzial zu aktivieren, um Probleme auf gekonntere Weise anzugehen, entdecken wir für gewöhnlich in uns die Fähigkeit, uns selbst innerlich so auszurichten, dass wir den Druck des Problems zu seiner Überwindung einsetzen können, so wie ein Matrose ein Segel kundig zu setzen weiß, damit er die Kraft des Windes optimal als Schubkraft nutzt. Direkt gegen den Wind zu segeln ist unmöglich, und wer andererseits nur mit Rückenwind zu segeln versteht, gelangt bloß dahin, wohin der Wind ihn gerade weht. Wer aber die Energie des Windes richtig einzusetzen versteht, kann mit Geduld sein Ziel erreichen und behält darüber hinaus die Kontrolle über die Situation.
Wollen Sie die Dynamik Ihrer Probleme nutzen, um sich davon vorwärtsbringen zu lassen, müssen Sie ein entsprechendes Gespür für sie entwickeln, ganz so, wie ein Segler ein Gespür für sein Boot, das Wasser und den Wind braucht, um auf seinem Kurs zu bleiben. Sie müssen lernen, in allen möglichen Stresssituationen mit sich selbst zurechtzukommen, nicht nur bei Schönwetter und idealen Windverhältnissen.
In der Realität sind viele Kräfte am Werk, die völlig außerhalb unseres Einflussvermögens liegen, und andere, die sich nur vermeintlich unserer Kontrolle entziehen. Ob wir fähig sind, unsere Lebensumstände zu beeinflussen, hängt weitgehend von unserer Einstellung zu den Dingen ab. Was für uns im Bereich des persönlich Möglichen liegt, wird von dem Bild bestimmt, das wir von uns selbst und unseren Fähigkeiten haben, davon, wie wir die Welt und die in ihr wirkenden Kräfte wahrnehmen. Unsere Wahrnehmung wirkt sich darauf aus, mit welcher Energie wir an Dinge herangehen und in welche Kanäle wir die uns zur Verfügung stehende Energie lenken.
Solange wir das Gefühl haben, dass die Dinge »unter Kontrolle« sind, erfahren wir Momente der Genugtuung; sobald sie aber wieder außer Kontrolle geraten oder auch nur außer Kontrolle zu geraten scheinen, reagieren wir mit tiefer Verunsicherung bis hin zu destruktivem Verhalten, das sich gegen uns selbst und andere richtet, und wir werden uns alles andere als ausgeglichen und zufrieden fühlen.
Ist Ihr gewohnter Aktionsradius durch eine chronische Krankheit, durch eine Behinderung oder Schmerzen eingeschränkt, kann das ganze Bereiche einstiger Kontrolle betreffen, die auf einmal wegbrechen. Die Angst vor Kontrollverlust bleibt aber bei weitem nicht auf die großen Probleme, die uns das Leben stellt, beschränkt. Der größte Stress entsteht für uns gerade im Umgang mit den Bagatellen des Alltags, wenn diese auf die eine oder andere Weise in uns das Gefühl von Ohnmacht auslösen: von der Autopanne kurz vor einem wichtigen Termin über die Kinder, die nicht hören wollen, bis hin zur »endlos langen« Schlange an der Kasse im Supermarkt.
Es ist nicht ganz einfach, eine bündige Bezeichnung zu finden, mit der das ganze Spektrum an Erfahrungen ausgedrückt ist, die uns im Leben zusetzen und quälen können. Wollten wir die ganze Vielfalt solcher Erfahrungen zusammentragen, so gehörte das Bewusstsein der eigenen Verwundbarkeit und Sterblichkeit ebenso in diese Liste wie das Potenzial zu kollektiver Grausamkeit und Gewalt, das ungeheure Ausmaß an Borniertheit, Habgier, Wahn und Verblendung, von dem die Menschheit weit überwiegend getrieben scheint. Wie lässt sich eine Bezeichnung für die Summe menschlicher Verwundbarkeit und Unzulänglichkeit finden, für all unsere Schwächen und Schranken, die Verletzungen, Krankheiten und Behinderungen, mit denen wir mehr oder weniger leben müssen, unser Scheitern, all die Niederlagen, Ungerechtigkeiten, Demütigungen und Kränkungen, die wir hinzunehmen hatten oder noch werden hinnehmen müssen, den Verlust von Menschen, die wir lieben, und schließlich den Verfall des eigenen Körpers? Es müsste eine Metapher sein, die frei von Sentimentalität ist, in der ausgedrückt ist, dass es kein Unglück ist, am Leben zu sein, nur weil wir in ihm Angst und Leid erfahren. Ebenso müsste in ihr zum Ausdruck kommen, dass es neben dem Leiden auch Freude gibt, neben der Verzweiflung auch Hoffnung, neben Ruhelosigkeit auch Frieden, neben Hass auch Liebe, nicht nur Krankheit, sondern auch Gesundheit.
Um einen Ausdruck verlegen, der diesen Aspekt menschlicher Existenz beschreibt, mit dem die Patienten bei uns in der Klinik ringen, fällt mir immer wieder ein Satz aus dem Film Alexis Sorbas nach dem Roman von Nikos Kazantzakis ein. Sorbas’ junger Freund wendet sich einmal mit der Frage an ihn: »Sorbas, hast du eigentlich je geheiratet?«, woraufhin Sorbas sinngemäß antwortet: »Bin ich nicht ein Mann? Natürlich habe ich geheiratet. Frau, Haus, Kinder … die ganze Katastrophe!«
Es ist nicht im Sinne einer Klage gemeint, und es soll nicht heißen, dass es eine Katastrophe sei, Frau und Kinder zu haben. In Sorbas’ Antwort liegt vielmehr höchste Wertschätzung für die Fülle des Lebens in seiner unvermeidlichen Widersprüchlichkeit, samt seinen Leiden, Traumen, Tragödien und Ironien. Sorbas’ Antwort auf die ganze Katastrophe ist, zu tanzen, das Leben inmitten des Sturms zu feiern, über sich und das Leben zu lachen, selbst angesichts von Niederlage und Scheitern. Deshalb ist er niemals lange niedergeschlagen, niemals völlig besiegt, weder durch die Welt noch durch seine eigene, ziemlich große Verrücktheit.
Wer das Buch gelesen hat, weiß, dass es für seine Frau und seine Kinder nicht minder eine »Katastrophe« gewesen sein muss, mit ihm zusammenzuleben. Nicht selten hinterlässt der öffentlich gefeierte Held in seinem Privatleben eine Spur seelischer Verletzungen. Als ich jedoch zum ersten Mal der Formel von der »ganzen Katastrophe« begegnet bin, ahnte ich, dass in ihr etwas Positives zum Ausdruck kommt: die Fähigkeit des menschlichen Geistes, mit dem zurechtzukommen, was am schwersten im Leben ist, und darin noch Raum zur Entwicklung von Kraft und Weisheit zu finden. Der ganzen Katastrophe ins Auge zu sehen bedeutet für mich auch, dem Besten und Tiefsten in uns selbst zu begegnen, dem, was zutiefst menschlich in uns ist.
In diesem Sinne meint die Metapher der Katastrophe keineswegs Unglück, sondern verweist auf die ungeheure Spannweite dessen, was Menschen als Erfahrung begegnen kann. Sie umfasst ebenso die großen Krisen und Unglücksfälle, das Unsägliche und Unerträgliche, wie all die kleinen Widrigkeiten, die zusammengenommen nicht minder schwer wiegen. Jeder Einzelne, der in die Stress Reduction Clinic kommt, hat seine ganz besondere Variante der ganzen Katastrophe, genauso wie jeder einzelne Angestellte des Krankenhauses. Zwar werden die Patienten mit sehr konkreten gesundheitlichen Problemen zu den MBSR-Kursen überwiesen wie Herzerkrankungen, Krebs, Lungenkrankheiten, Bluthochdruck, Kopfschmerzen, chronischen Schmerzen, Anfallsleiden, Schlafstörungen, Angstzuständen, Panikattacken, stressbedingten Verdauungsproblemen, Hauterkrankungen, Problemen mit der Stimme und vielen anderen Diagnosen. Die offizielle Diagnose sagt jedoch wenig aus über den Menschen, der dahintersteht. Im Grunde verbirgt sie mehr, als sie offenbart. Denn die ganze Katastrophe liegt in dem komplizierten Geflecht alter und neuer Erfahrungen und Beziehungen, in den Hoffnungen und Ängsten und der Art, wie wir beurteilen, was uns widerfährt. Jeder Mensch hat seine unverwechselbare Geschichte, die seiner Lebenseinstellung Sinn und Halt gibt, mit deren Hilfe er seine Krankheit und seine Beschwerden einordnet und seine Möglichkeiten definiert, damit umzugehen.
Oft sind es erschütternde Geschichten. Und nicht selten haben unsere Patienten das Gefühl, dass es nicht allein ihr Körper ist, der aus den Fugen gerät, sondern ihr ganzes Leben. Sie werden von Ängsten und Sorgen geplagt, vielfach ausgelöst oder verstärkt durch eine belastende familiäre Situation oder Herkunft. Es sind Geschichten körperlicher und seelischer Qualen, der Enttäuschung über medizinische Behandlung; ergreifende Geschichten von Menschen, die von Gefühlen wie Bitterkeit und Schuld gequält werden, und von Menschen, deren Selbstvertrauen und Selbstachtung in belastenden Lebensumständen schwerstens gelitten hat, oft schon seit der frühen Kindheit. Und häufig begegnen wir Menschen, die aufgrund körperlicher und seelischer Misshandlung buchstäblich am Boden zerstört sind.
Bei vielen, die in die Stress Reduction Clinic kommen, ist auch nach jahrelanger ärztlicher Behandlung keine wesentliche Besserung des Gesundheitszustandes eingetreten. Viele wissen nicht, wohin sie sich noch wenden sollen, und sehen in unserer Klinik ihre letzte Chance. Trotz der oft vorhandenen Skepsis sind sie bereit, alles zu tun, um sich etwas besser zu fühlen. Wenn sie dann aber ein paar Wochen lang dem Programm gefolgt sind, machen die meisten von ihnen große Fortschritte und vollziehen eine bedeutsame Wandlung in ihrem Verhältnis zu ihrem Körper, ihrem Geist und ihren Problemen. Von Woche zu Woche lässt sich diese Wandlung an ihren Gesichtern und Körpern ablesen. Und nach acht Wochen, gegen Ende des Programms, fallen ihr Lächeln und ihre entspannte Haltung selbst dem zufälligsten Betrachter auf.
Auch wenn die Patienten ursprünglich an die Klinik überwiesen wurden, um hier zu lernen, sich zu entspannen und besser mit Stress zurechtzukommen, so haben sie doch offensichtlich weit mehr gelernt als das allein. Sowohl unsere langjährigen Folgestudien als auch die individuellen Berichte der ehemaligen Patienten zeigen, dass Anzahl und Schwere ihrer Symptome nach dem Verlassen der Klinik oftmals zurückgegangen sind, während sie an Selbstvertrauen, Zuversicht und Eigenständigkeit gewonnen haben. Sie bringen mehr Geduld mit sich selbst, ihren Behinderungen und Einschränkungen auf und können diese besser akzeptieren. Sie sind optimistischer in Bezug auf ihre Möglichkeiten, mit ihren körperlichen und seelischen Leiden und auch mit ihren übrigen Lebensumständen fertig zu werden. Sie leiden weniger unter Ängsten, Depressionen und Aggressionen. Sie fühlen sich den Dingen besser gewachsen, selbst in ausgesprochenen Stresssituationen, die sie früher völlig aus der Bahn geworfen hätten. Kurz, sie gehen mit der »ganzen Katastrophe« ihres Lebens, die in manchen Fällen bedeutet, dem Tod ins Auge zu sehen, weitaus kompetenter um als bisher.
Ein älterer Mann, der an unserem Programm teilnahm, hatte zuvor einen Herzinfarkt erlitten, der ihn in den Ruhestand zwang. Vierzig Jahre lang hatte er ein großes Unternehmen besessen und in dessen unmittelbarer Nähe gewohnt. Während all dieser Jahre, so beschrieb er es, habe er jeden Tag gearbeitet und sich niemals Urlaub gegönnt. Er liebte seine Arbeit. Nach dem Herzinfarkt wurden eine Herzkatheter-Untersuchung (ein Verfahren zur Diagnostik der koronaren Herzkrankheit) und eine Angioplastie (ein Verfahren zur Aufweitung verengter Arterien) durchgeführt. Anschließend nahm er an einer Reha-Maßnahme teil. Danach hatte ihn sein Kardiologe zu uns in die Stress Reduction Clinic geschickt. Als ich im Wartezimmer an ihm vorbeikam, war auf seinem Gesicht ein Ausdruck der Verzweiflung und Hilflosigkeit zu sehen. Er wartete auf meinen Kollegen Saki Santorelli, bei dem er einen Termin hatte, aber sein Unglück war so deutlich zu spüren, dass ich mich zu ihm setzte und ein paar Worte mit ihm wechselte. Halb abwesend und den Tränen nah sagte er mir, dass er nicht mehr leben wolle und nicht wisse, was er in der Klinik solle. Sein Leben sei vorbei und sinnlos geworden, nichts mehr mache ihm Freude, auch nicht das Zusammensein mit seiner Frau und seinen Kindern, er verspüre keinerlei Antrieb mehr.
Nach acht Wochen der Teilnahme am Klinikprogramm aber war das Funkeln in seinen Augen nicht zu übersehen. In der Abschlussbesprechung sagte er mir, dass die Arbeit sein ganzes Leben aufgezehrt habe und ihn fast umgebracht hätte, ohne dass ihm klargeworden sei, was er versäume. So habe er seinen Kindern, als sie noch kleiner waren, niemals seine Liebe ausgedrückt, und er wolle jetzt endlich damit beginnen, solange ihm noch die Zeit dazu bleibe. Sein Leben betrachtete er jetzt mit Hoffnung und Enthusiasmus, und er konnte zum ersten Mal in Erwägung ziehen, sein Unternehmen zu verkaufen. Zum Abschied nahm er mich fest in den Arm. Wahrscheinlich war es das erste Mal, dass er einen Mann umarmte.
Dieser Mann war noch genauso herzkrank wie zu Anfang des Programms, aber zu jener Zeit hatte er sich über seine Krankheit definiert. Er war nichts als ein Herzpatient mit Depressionen. Innerhalb von acht Wochen wurde er gesünder und glücklicher. Er nahm mit Begeisterung am Leben teil, auch wenn er noch immer an seiner Herzerkrankung litt und eine Menge anderer Probleme hatte. Er selbst beschrieb es so, dass er sich nicht mehr bloß als Herzpatienten, sondern wieder als ganzen Menschen betrachtete.
Was war in diesen acht Wochen geschehen, um eine solche Wandlung zu bewirken? Zu viele Faktoren sind an dem Prozess beteiligt, als dass sich diese Frage mit Gewissheit beantworten ließe. Tatsache ist, dass dieser Teilnehmer über den Zeitraum von acht Wochen mit großer Ernsthaftigkeit dem Programm gefolgt ist. Eigentlich hatte ich das Gefühl, er würde bereits nach der ersten Woche aufgeben, zumal er jeden Tag auch noch fünfzig Meilen zur Klinik fahren musste, was für einen depressiven Menschen keine Kleinigkeit ist. Aber er blieb dabei und tat, was von ihm verlangt war, auch wenn er anfänglich nicht daran glaubte, dass es ihm helfen würde.
Entwicklungen wie diese erleben wir in der Stress Reduction Clinic häufig. Es handelt sich oft um bedeutsame Wendepunkte im Leben der Patienten, um eine Erweiterung dessen, was sie sich zutrauen, und damit um einen Zuwachs an Lebensmöglichkeiten. Meistens sprechen uns die Patienten nach dem Ende des Programms ihren Dank dafür aus, dass sie sich besser fühlen. Aber es ist einzig und allein der eigene Einsatz, dem sie die Fortschritte zu verdanken haben. Wir bieten ihnen lediglich die Chance, mit ihrer eigenen Kraft und ihrem inneren Potenzial in Kontakt zu kommen, und geben ihnen die Mittel an die Hand, die diese Wandlungen möglich machen.
Für unsere Patienten ist es wichtig zu spüren, dass wir an sie glauben und niemanden aufgeben. Am Ende des Programms aber weisen wir sie gerne darauf hin, dass sie, um es zu bestehen, vor allem nicht sich selbst aufgeben dürfen; dass sie bereit sein müssen, sich der ganzen Katastrophe des eigenen Lebens zu stellen, mit den schönen und den unangenehmen Seiten, mit dem, was sich nach ihren Wünschen entwickelt, und dem, was schiefläuft, ob sie dabei das Gefühl haben, die Dinge unter Kontrolle zu haben oder nicht – um ebendiese Erfahrungen samt den Gedanken und Gefühlen als Ausgangsbasis für den eigenen Heilungsprozess zu nutzen. Anfänglich haben sie bestimmte Vorstellungen über das Programm, was es für sie leisten kann oder soll oder auch, dass es wahrscheinlich nichts bei ihnen ausrichten wird. Schließlich aber entdecken sie, dass sie etwas sehr Wichtiges für sich selbst tun können, etwas, das niemand sonst für sie zu tun in der Lage ist.
Sie stellen sich der Herausforderung, im Bewusstsein zu leben, dass jeder Moment bedeutsam ist, dass es auf jeden Augenblick ankommt und dass man mit jedem arbeiten kann, auch wenn es ein Augenblick des Schmerzes, der Trauer, der Verzweiflung oder der Angst ist. Ein wesentlicher Teil dieser »Arbeit« ist, sich regelmäßig und diszipliniert in der Achtsamkeit zu üben, also darin, jeden Augenblick bewusst zu erfahren, sich jeden Moment persönlicher Erfahrung vollständig »zu eigen« zu machen und ganz in ihm »zu Hause« zu sein, sei es ein guter oder ein schlechter Moment. Dies ist der eigentliche Sinn unserer Metapher von der ganzen Katastrophe des Lebens.
Wir alle besitzen die Fähigkeit zur Achtsamkeit. Um sie zu entwickeln, müssen wir uns lediglich darin üben, der Gegenwart unsere Aufmerksamkeit zuzuwenden, ohne zu urteilen – zumindest aber uns dessen bewusst zu werden, wie sehr unsere Wahrnehmung für gewöhnlich von Urteilen bestimmt ist. Eine Möglichkeit, sich diesen Wandlungsprozess zu veranschaulichen, besteht darin, die Achtsamkeit mit einer Sammellinse zu vergleichen, die die diffusen und impulsgesteuerten Aktivitäten und Reaktionen des Geistes zusammenführt und sie zu einer einzigen Energiequelle bündelt, die uns so für unser Leben, zur Lösung unserer Probleme und zur Selbstheilung zur Verfügung steht.
Wir lernen, innerlich ruhig zu werden und in einen Zustand tiefer, anhaltender Entspannung und innerer Harmonie zu kommen, in dem wir uns wieder ganz und als Ganzes, das heißt in unserer Heilheit und Vollständigkeit als Person spüren. Sich in und mit dieser Ganzheit zu erfahren bedeutet Nahrung für unseren Körper und unseren Geist, und es ist eine Verfassung, in der sich beide regenerieren. Zugleich gelingt es uns besser, unsere Lebensumstände, so wie sie sind, klar zu erkennen. Wir nehmen Möglichkeiten zur Verbesserung unserer Gesundheit und Lebensqualität wahr und können in Situationen, die uns Stress bereiten oder in denen wir uns bedroht oder hilflos fühlen, unsere Energie effektiver einsetzen. Diese Energie erwächst uns aus dem eigenen Inneren und ist uns daher jederzeit verfügbar.
Die Übung der Achtsamkeit kann zu der Entdeckung führen, dass es im eigenen Inneren eine Dimension tiefen Wohlgefühls, der Stille, Klarheit und Einsicht gibt. Es ist, als ob man eine neue Landschaft betreten würde, von der man bis dahin allenfalls eine vage Vorstellung hatte und die einen unversiegbaren Quell positiver Energie birgt, den wir zum Verständnis unserer selbst und zu unserer Heilung nutzen können. Und wir können leicht mit dieser Landschaft vertraut und in ihr heimisch werden, in jedem Augenblick ist sie uns so nah wie unser Körper, unser Geist und unser Atem.
Man kann das systematische Sichüben in der Achtsamkeit als das Herzstück der buddhistischen Meditation bezeichnen. Während der vergangenen 2600 Jahre stand sie in vielen asiatischen Ländern sowohl im klösterlichen als auch im weltlichen Leben in Blüte. In den sechziger und siebziger Jahren hat sich diese Meditationsform dann zunehmend über die ganze Welt verbreitet. Obwohl sich Lehre und Praxis der Achtsamkeitsmeditation weit überwiegend im Kontext des Buddhismus finden, ist sie ihrem Wesen nach von universellem Charakter, der sie immer mehr, und nun schon in fast exponentiellem Tempo, zum geistigen Gemeingut unserer Gesellschaft werden lässt: angesichts des Zustandes, in dem sich die Welt befindet, eine sehr erfreuliche Entwicklung. Offensichtlich hungert unsere Welt geradezu nach einer Orientierung, wie die Achtsamkeit sie darstellt.
Achtsamkeit besteht im Wesentlichen in nichts anderem als einer besonderen Art von Aufmerksamkeit, die wir Gewahrsein nennen. Als eine Form tiefer Versenkung in das eigene Wesen im Geiste der Selbstbesinnung und Selbstfindung ist Achtsamkeit erlernbar und kann geübt werden, so wie wir es weltweit in den Achtsamkeitskursen vermitteln, ohne dass wir uns dabei auf die Kulturen des Ostens und buddhistische Traditionen berufen müssen. Achtsamkeit ist ein eigenständiges Medium der Selbstfindung und Heilung. In dieser Unabhängigkeit von Glaubenssystemen und Weltanschauungen liegt einer der größten Vorzüge des MBSR-Ansatzes. Jeder kann sich leicht selbst von ihren positiven Auswirkungen überzeugen. Andererseits ist es kein Zufall, dass die Übung der Achtsamkeit ihren Ursprung im Buddhismus hat, dessen vorrangiges Anliegen die Befreiung vom Leiden und die Aufhebung der Täuschung ist. Auf die Konsequenzen, die sich aus diesem Doppelaspekt ergeben, werde ich im Nachwort noch eingehen.
Dieses Buch möchte dem Leser das vollständige MBSR-Übungsprogramm zugänglich machen, das die Patienten in der Stress Reduction Clinic durchlaufen. In erster Linie ist es aber eine Anleitung zur Entwicklung Ihrer persönlichen Meditationspraxis, mit der Sie lernen, die Achtsamkeit zur Verbesserung Ihrer Gesundheit und zu Ihrer persönlichen Heilung zu nutzen.
Teil I mit der Überschrift Die Übung der Achtsamkeit beschreibt, wie das MBSR-Programm im Einzelnen abläuft und welche Erfahrungen Teilnehmer damit gemacht haben. Er führt in die wichtigsten Meditationstechniken ein, die wir in der Klinik einsetzen, bietet präzise und leicht verständliche Anleitungen für die tägliche Übungspraxis und erklärt, wie sich die Übung der Achtsamkeit in den Alltag integrieren lässt. Er enthält außerdem einen detaillierten Acht-Wochen-Übungsplan, anhand dessen Sie demselben MBSR-Kursprogramm folgen können, das die Patienten in der Klinik absolvieren. Parallel dazu können Sie andere Abschnitte des Buches lesen, um Ihre eigenen Erfahrungen mit der Achtsamkeit zu erweitern und zu vertiefen. Es bleibt Ihnen überlassen, ob Sie so vorgehen wollen, aber wir möchten es Ihnen empfehlen.
Teil II mit der Überschrift Paradigmenwechsel: Die neue Sicht von Gesundheit und Krankheit gibt einen einfachen, aber aufschlussreichen Einblick in die neuesten Forschungsergebnisse aus Medizin, Psychologie und Neurowissenschaft und bietet damit einen guten Ausgangspunkt für das Verständnis der Bedeutung, die der Achtsamkeitsübung für die körperliche und seelische Gesundheit zukommt. In diesem Teil wird auf der Grundlage der Begriffe »Ganzheit« und »Verbundensein« oder »Zusammenhang« eine allgemeine »Philosophie der Gesundheit« entwickelt, die ebenfalls das einbezieht, was Wissenschaft und Medizin heute über den Einfluss lernen, den unser Geist auf Gesundheit und Heilung hat.
Wir leben in einer Epoche, die sich weitgehend durch die Anforderung definiert, in einer zunehmend komplexen und beschleunigten Gesellschaft noch irgendwie den Alltag zu bestehen. Teil III, der schlicht mit Stress überschrieben ist, beschäftigt sich daher mit der Frage, was Stress eigentlich ist und wie wir lernen können, angemessener mit ihm umzugehen, wenn wir ihn uns bewusst machen und in seiner Funktionsweise verstehen.
An einem Modell zum Ablauf der Stressreaktion wird gezeigt, auf welche Weise sich Achtsamkeit in Stresssituationen bewährt und wie diese sich besser bewältigen lassen, wenn wir unsere Aufmerksamkeit auf jeden einzelnen Augenblick richten. Es macht deutlich, wie wir den Tribut an physischem und psychischem Verschleiß, den die Stressreaktion von uns fordert, auf ein Minimum reduzieren und uns ein Maximum an Wohlbefinden und Gesundheit bewahren können.
Teil IV mit der Überschrift Achtsamkeit in der Praxis: Das Annehmen der ganzen Katastrophe bietet konkrete Informationen und Anleitungen für die Anwendung der Achtsamkeit auf eine Reihe von Phänomenen, mit denen erhebliche Belastungen einhergehen können, wie physischer oder emotionaler Schmerz, Angst und Panikattacken.
Nachdem Sie sich mit den Grundlagen der Meditationspraxis vertraut gemacht und mit dem Meditieren selbst begonnen haben, gibt der mit Der Weg der Achtsamkeit überschriebene Teil V praktische Hinweise für das Durchhalten in der Meditationsübung und zeigt, wie Sie die Achtsamkeit effektiv auf alle Bereiche Ihres Lebens ausweiten können. Außerdem enthält er Informationen, wie Sie Meditationsgruppen oder Kliniken und öffentliche Einrichtungen finden, in denen Kurse zur Achtsamkeitsmeditation angeboten werden.
Im Anhang schließlich finden Sie Muster-Tagebücher zur Achtsamkeit, die im Text näher erläutert werden, sowie eine umfangreiche Liste mit Literatur, die Sie in Ihrer weiteren Meditationspraxis und Ihrem Verständnis der Achtsamkeit unterstützen kann.
Denjenigen Lesern, die ernstlich den Weg der Achtsamkeit gehen wollen, um mit ihrer Hilfe ihre innere Einstellung zu Stress, Schmerz und chronischer Krankheit auf heilsame Art zu verwandeln, und dazu dem MBSR-Programm – sei es für die Dauer von acht Wochen oder nach individuellem Zeitplan – folgen möchten, empfehle ich, parallel zur Lektüre des Buches mit Set 1 der Übungs-CDs zu arbeiten (siehe Hinweise im Anhang). Darin finden sich dieselben Anleitungen, mit deren Hilfe auch die Patienten in meinen Kursen die hier beschriebenen Meditationstechniken erlernt haben. Gerade zu Beginn der regelmäßigen Meditationspraxis erleben es fast alle Kursteilnehmer als Erleichterung, sich einer geführten Audio-Anleitung überlassen zu können, bis sie von sich aus »den Dreh heraushaben«, anstatt allein nach den Anweisungen im Buch vorzugehen, so präzise und verständlich diese auch sein mögen. Die CDs tragen ganz erheblich zum Lernfortschritt bei. Mit ihrer Hilfe kommen Sie leichter in den Prozess hinein und sind so weit eher in der Lage, sich auf die »formalen« Meditationsübungen einzulassen und die Achtsamkeit in ihrem Wesen zu erfassen. Sind Sie mit der Technik erst vertrauter und sehen, worum es geht, können Sie nach Belieben ohne die CDs weiterüben, wie es auch viele unserer Patienten tun. Von ehemaligen Kursteilnehmern, denen ich auf meinen Vortragsreisen immer wieder in großer Zahl begegne, weiß ich jedoch, dass sie auch lange Zeit nach Ende des Acht-Wochen-Curriculums weiterhin regelmäßig mit den CDs arbeiten. Und es berührt mich tief zu erleben, mit welchem Einsatz sie sich der Übung der Achtsamkeit widmen, etwas über ihre persönliche Geschichte zu erfahren und darüber, wie sich ihr Leben durch das Üben verändert hat.
Ob Sie nun aber mit oder ohne CD arbeiten: Wenn Sie ähnliche Ergebnisse erzielen wollen, wie sie bei den Teilnehmern der MBSR-Kurse in der Stress Reduction Clinic zu erleben sind, sollte Ihnen klar sein, dass sie sich selbst gegenüber die Verpflichtung eingehen, die in diesem Buch beschriebenen Übungen zur Achtsamkeit nahezu jeden Tag zu absolvieren. Allein die notwendige Zeit für das MBSR-Programm aufzubringen setzt von Anfang an eine große Umstellung der Tagesstruktur voraus. Unsere Patienten sind angehalten, über einen Zeitraum von acht Wochen an sechs Tagen in der Woche täglich fünfundvierzig Minuten mit den CDs zu üben. Aus Folgestudien wissen wir, dass die meisten Kursteilnehmer noch lange nach Absolvieren des Programms selbständig weiter meditieren. Und für viele von ihnen wird die Achtsamkeit schon bald zu einer neuen Form des Seins.
Wenn Sie sich auf Ihre persönliche Entdeckungsreise begeben, um sich weiterzuentwickeln, zu Ihren inneren Heilungskräften zu finden und mit ihnen der ganzen Katastrophe des Lebens zu begegnen, so müssen Sie nur daran denken, sich vorläufig allen Urteilens zu enthalten, um sich den Übungen mit Hingabe und Disziplin zu widmen und zu beobachten, was im Verlauf Ihres Übens mit Ihnen geschieht. Was Sie dabei lernen, kommt weniger von außen, von irgendeiner äußeren Instanz, einer Lehrerautorität oder einem Glaubenssystem, sondern im Wesentlichen aus Ihrem eigenen Inneren, Ihrer eigenen Erfahrung, während sich Ihr Leben von Augenblick zu Augenblick vor Ihnen entfaltet. Unsere Philosophie besagt, dass Sie selbst der beste Experte für Ihr Leben, Ihren Körper und Ihren Geist sind oder zumindest die besten Voraussetzungen mitbringen, zu diesem Experten zu werden, solange Sie nur aufmerksam beobachten. Es ist Teil des Abenteuers Meditation, sich selbst als ein Experiment zu betrachten, um herauszufinden, wer man ist und wozu man in der Lage ist. Oder wie es »Yogi« Berra, der legendäre Spieler der New-York-Yankees-Baseballmannschaft, auf seine unnachahmlich charmant-eigensinnige Art einmal ausdrückte: »Man kann vieles beobachten, wenn man einfach nur hinschaut.«[3]
»O ja, ich hatte meine intensiven Momente, und wenn ich noch einmal von vorn anfangen könnte, würde ich noch mehr davon und im Grunde nichts anderes haben wollen. Einfach nur Augenblicke, einen nach dem anderen, anstatt ein Leben lang auf die Zukunft zu warten.«
Nadine Stair, 85 Jahre, Louisville, Kentucky
Während ich meinen Blick durch die Runde der etwa dreißig neuen Kursteilnehmer schweifen lasse, frage ich mich, welchen Einstieg wir diesmal für unsere gemeinsame Arbeit finden werden. Mehr oder weniger werden sich an diesem Morgen wohl alle fragen, was sie in diesem Raum voller Menschen, die einander völlig fremd sind, eigentlich verloren haben. Edward zum Beispiel hat ein freundliches, offenes Gesicht, und ich überlege, welche Last er wohl täglich mit sich herumschleppt. Er ist vierunddreißig, Versicherungsagent und HIV-infiziert. Peter ist ein siebenundvierzig Jahre alter Geschäftsmann. Vor achtzehn Monaten erlitt er einen Herzinfarkt. Nun ist er hier, um zu lernen, die Dinge etwas ruhiger anzugehen, um keinen zweiten Herzinfarkt zu bekommen. Neben ihm sitzt die intelligente, fröhliche und gesprächige Beverly mit ihrem Mann. Ein sogenanntes zerebrales Aneurysma, ein krankhaft erweitertes Blutgefäß im Gehirn, veränderte ihr Leben von einem Tag auf den anderen, als es zu einer Ruptur des Aneurysmas kam. Sie war zu dem Zeitpunkt zweiundvierzig Jahre alt und fragt sich seither, wer sie in Wirklichkeit ist. Dann ist da noch Marge, vierundvierzig, die von der Schmerzklinik zu uns überwiesen wurde. Sie war von Beruf Krankenschwester, bis sie sich eines Tages eine schwere Knie- und Rückenverletzung zuzog, als sie einen Patienten vor einem Sturz bewahren wollte. Sie leidet seither unter großen Schmerzen und kann sich nur mit Hilfe eines Stockes vorwärtsbewegen. Eine Operation am Knie hat sie bereits hinter sich, und nun steht ihr eine weitere Operation wegen einer Unterleibsgeschwulst bevor, über deren Natur sich die Ärzte noch völlig im Unklaren sind. Die Verletzung und ihre Folgen haben sie vollständig aus der Bahn geworfen. Sie ist ständig angespannt, und schon Kleinigkeiten bringen sie oft völlig aus der Fassung.
Neben Marge sitzt Arthur, sechsundfünfzig, Polizist. Er leidet an schweren Migräne- und häufig auch an Panikanfällen. Margret, neben ihm, ist fünfundsiebzig. Sie hat Schlafstörungen. Dann kommt Phil aus dem französischen Teil Kanadas, ein ehemaliger Lkw-Fahrer, der ebenfalls von der Schmerzklinik überwiesen wurde. Er hat sich beim Anheben einer Palette den Rücken verletzt, und chronische Schmerzen zwangen ihn dazu, seinen Beruf aufzugeben. Er muss lernen, mit den Schmerzen zurechtzukommen, und darüber nachdenken, womit er von nun an Geld verdienen und seine Familie ernähren kann.
Neben Phil sitzt Roger, ein dreißigjähriger Tischler, der sich ebenfalls bei der Arbeit eine Rückenverletzung zugezogen hat und unter starken Schmerzen leidet. Seine Frau, die an einem anderen Kurs teilnimmt, erzählt, dass er über Jahre Missbrauch mit Schmerzmitteln getrieben habe. Sie macht keinen Hehl daraus, dass sie in Roger die Hauptursache für ihren Stress sieht, und ist seiner so überdrüssig, dass die Scheidung für sie feststeht. Während ich zu ihm hinübersehe, frage ich mich, was das Schicksal wohl noch für ihn bereithält und ob er in der Lage sein wird, das Nötige zu tun, um sein Leben wieder ins Lot zu bringen.
Hector kommt aus Puerto Rico, wo er jahrelang professioneller Catcher war. Er ist hier, weil er sich nicht in der Gewalt hat, zu Wutausbrüchen neigt und die Folgen seines aufbrausenden Temperaments dann in Form stechender Brustschmerzen zu spüren bekommt. Mit seiner imposanten Statur überragt er alle anderen im Raum.
Sie alle sind von ihren Ärzten zu uns geschickt worden, damit wir ihnen dabei helfen, Stress abzubauen. Während der nächsten acht Wochen werden wir uns einmal wöchentlich zu einer Sitzung im Medical Center treffen. Warum genau tun wir dies eigentlich? Diese Frage stellt sich mir, während ich mich in der Runde umsehe. Keiner von uns kann diese Frage zu diesem Zeitpunkt beantworten, aber das Ausmaß des an diesem Morgen in diesem Raum versammelten Leidens ist immens. Es ist eine Zusammenkunft von Menschen, die nicht nur körperlich, sondern auch seelisch unter der »ganzen Katastrophe« ihres Lebens leiden.
Bevor der Kurs seinen Gang nimmt, erlebe ich einen Moment des Befremdens über unsere Vermessenheit, all diese Menschen zu dieser Art Unternehmung einzuladen. Ich frage mich: Was können wir eigentlich für all diese Menschen tun, die sich an diesem Morgen hier versammelt haben? Der springende Punkt bei unserer Arbeit ist, dass wir im herkömmlichen Sinn eigentlich gar nichts für unsere Patienten »tun«. Und wollten wir das versuchen, würden wir wohl auch kläglich scheitern. Stattdessen halten wir sie dazu an, selbst etwas für sich zu tun, etwas völlig Neuartiges auszuprobieren, indem sie sich auf das Experiment einlassen, jeden Augenblick ihres Lebens bewusst zu erfahren. Als ich mich einmal mit einer Journalistin über das Thema unterhielt, sagte sie: »Aha, Sie meinen, man soll den Augenblick genießen!« Ich erklärte ihr daraufhin, dass ein hedonistischer Blickwinkel die Sache verfehle, dass es nicht darum gehe, für den Moment, sondern in ihm zu leben.
Die Arbeit mit den Patienten in der Stress Reduction Clinic scheint auf den ersten Blick so simpel, dass es nicht einfach zu verstehen ist, worin sie eigentlich besteht, solange man nicht selbst an ihr teilhat. Ausgangspunkt unserer Arbeit ist die persönliche Situation jedes Einzelnen, wie immer diese beschaffen sein mag. Wir sind bereit, mit jedem Menschen zu arbeiten, der seinerseits bereit ist, in einem gewissen Maß mit sich und an sich selbst zu arbeiten. Niemand wird aufgegeben, auch nicht, wenn sich Rückschläge, Entmutigung oder Versagensideen einstellen. Wir betrachten jeden Augenblick als Neubeginn, als eine Chance, sich neu auszurichten, die innere Arbeit wieder aufzunehmen und mit sich selbst in Kontakt zu kommen.