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Bevor der Tod in seinen wohlverdienten Urlaub aufbricht, stellt er den jungen Lehrling Mort als Vertreter ein. Mort hat alle Hände voll zu tun: Überall auf der Scheibenwelt ist seine Sense gefragt, und es gehört zum guten Ton, dass Könige, Zauberer und andere wichtige Persönlichkeiten vor deren Ableben persönlich besucht werden. Doch dann trifft Mort auf eine junge Prinzessin, die Opfer eines Attentats werden soll. Mort rettet sie und bringt damit nicht nur Tods Plan, sondern das gesamte Gefüge der Scheibenwelt durcheinander …
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Übersetzung aus dem Englischen von Andreas Brandhorst
ISBN 978-3-492-97221-5
Mai 2015
© 1987 Terry und Lyn Pratchett
Titel der englischen Originalausgabe:
»Mort«, Victor Gollancz Limited, London, in association with Colin Smythe Ltd.
Deutschsprachige Ausgabe:
© Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2004
Covergestaltung: Guter Punkt, München
Covermotiv: Anke Koopmann, Guter Punkt unter der Verwendung eines Motivs von Katarzyna Oleska
Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH, Krugzell
Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung, können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.
Für Rhianna
Dies ist das von flackerndem Kerzenschein erhellte Zimmer mit den Lebensuhren – zahllose Regale, gefüllt mit kleinen Sanduhren, eine für jeden Lebenden. Der Sand darin rinnt von der Zukunft in die Vergangenheit, und das leise Zischen der einzelnen Körner vereint sich zu lautem Tosen.
Dort ist der Herr des Zimmers; er schreitet durch den Raum und wirkt recht nachdenklich. Sein Name lautet Tod.
Natürlich ist er nicht irgendein Tod, sondern ein ganz besonderer. Sein spezieller Wirkungskreis ist, nun, kein Kreis, sondern die flache, runde Scheibenwelt. Sie ruht auf den Rücken von vier riesigen Elefanten, die wiederum auf der gewaltigen Sternenschildkröte Groß-A’Tuin stehen, und von ihrem Rand ergießt sich ein ewiger Wasserfall in die Unendlichkeit des Alls.
Wissenschaftler haben errechnet, dass die tatsächliche Existenzchance für etwas derart Absurdes ungefähr eins zu einer Million beträgt.
Zauberer hingegen wissen aus Erfahrung, wie oft Unmögliches und Verrücktes zur täglichen Norm werden können.
Tod klickt auf knöchernen Zehen über die schwarzweißen Fliesen und murmelt unter seiner Kapuze, während Skelettfinger über die Regale mit den Lebensuhren tasten.
Schließlich nickt er zufrieden, greift vorsichtig nach einem der gläsernen Behälter und trägt ihn zur nächsten Kerze. Er hält ihn ins Licht und beobachtet aufmerksam das winzige Objekt in seinem Innern.
Der Blick leerer, glühender Augenhöhlen gilt der Weltschildkröte, die durch die Tiefen des Alls wandert, ihr Panzer von Kometen und Meteoriten zerkratzt. Tod weiß: Eines Tages wird selbst Groß-A’Tuin sterben. Welche Herausforderung!
Schließlich betrachtet er das blaugrüne Schimmern der Scheibenwelt, die sich langsam unter ihrer winzigen Satellitensonne dreht.
Das Licht des Tages gleitet zu der langen Gebirgskette, die man Spitzhornberge nennt. In jenem Massiv gibt es viele tiefe Täler, steile Grate und, allgemein gesprochen, zu viel Geografie. Es hat sein eigenes, ganz spezielles Wetter, das zum größten Teil aus Schrapnellregen, Peitschenwind und einer gehörigen Portion Blitz und Donner besteht. Manche Leute behaupten, es liege daran, dass die Spitzhornberge Heimat alter, ungebändigter Magie sind. Na ja, die Leute reden eben viel …
Tod zwinkert, hält nach Einzelheiten Ausschau und sieht ein weites Grasland an den drehwärtigen Hängen der Berge.
Jetzt sieht er einen besonderen Hügel.
Jetzt sieht er ein Feld.
Jetzt sieht er einen laufenden Jungen.
Jetzt beobachtet er.
Seine Stimme klingt wie bleierne Tafeln, die auf rauen Granit herabfallen, als er sagt: JA.
Zweifellos verbarg sich etwas Magisches in dem hügeligen Gelände, und dadurch bekam es eine besondere Farbe, weshalb man die Region oktarines Grasland nannte. Es war einer der wenigen Orte auf der ganzen Scheibenwelt, die das Wachstum reannueller Pflanzen ermöglichten.
Solche Pflanzen wachsen rückwärts in der Zeit. Man bringt die Saat in diesem Jahr aus und erntet in der Vergangenheit.
Morts Familie war darauf spezialisiert, Wein aus reannuellen Trauben herzustellen. Die erlesenen Produkte ihrer Arbeit genossen gerade bei Wahrsagern einen ausgezeichneten Ruf, denn sie versetzten Hellseher und ähnliche Zeitgenossen in die Lage, einen Blick in die Zukunft zu werfen. Es gab dabei nur ein Problem: Man bekam zuerst den Katzenjammer und musste anschließend eine Menge trinken, um ihn loszuwerden.
Die meisten reannuellen Bauern waren groß und kräftig gebaut, und außerdem neigten sie dazu, sich selbst aufmerksam zu beobachten und ständig den Kalender im Auge zu behalten. Wer vergisst, gewöhnliche Saat auszubringen, verliert nur die Ernte. Doch wer es versäumt, Getreide zu säen, das bereits vor zwölf Monaten geerntet wurde, bringt das ganze Gefüge der Kausalität durcheinander und muss damit rechnen, in die eine oder andere peinliche Situation zu geraten.
Die Peinlichkeiten beschränkten sich nicht nur darauf: Mort, jüngster Sohn der Familie, besaß die erstaunliche Gabe, immer wieder für Verlegenheit zu sorgen. Er begegnete den Erfordernissen des Gartenbaus nicht annähernd mit dem nötigen Ernst und zeigte dabei ein Geschick, das sich kaum von dem eines toten Seesterns unterschied. Oh, er ging seinen Verwandten durchaus zur Hand, aber mit jener Art von vager, fröhlicher Hilfsbereitschaft, die ernsthafte Männer schon sehr bald fürchteten, weil sie etwas Ansteckendes und Fatales darin sahen. Mort war groß, hatte rotes Haar und Sommersprossen. Sein Körper schien nur teilweise der Kontrolle des Gehirns zu unterliegen und erweckte den Eindruck, einzig und allein aus Knien zu bestehen.
An diesem besonderen Tag lief Mort über den Hang, winkte und rief unaufhörlich.
Sein Vater und Onkel standen an der Mauer und beobachteten den Jungen verzagt.
»Es ist mir ein Rätsel, dass die Vögel nicht einmal fortfliegen«, sagte Vater Lezek. »Ich würde mich aus dem Staub machen, wenn eine solche Gestalt auf mich zuliefe.«
»Oh, ein wahres Wunder. Der menschliche Körper, meine ich. Sieh dir nur seine Beine an. Man erwartet ständig, dass sie einknicken; stattdessen ist er ziemlich flink damit.«
Mort erreichte das Ende der Ackerfurche. Eine dicke Ringeltaube watschelte gleichgültig beiseite.
»Wenigstens hat er das Herz am richtigen Platz«, sagte Lezek vorsichtig.
»Oh, was man vom Rest allerdings nicht behaupten kann.«
»Er hält das Haus sauber«, fügte Lezek hinzu. »Und er isst nicht viel.«
»O ja, das sehe ich.«
Lezek musterte seinen Bruder, der zum Himmel emporstarrte.
»Wie ich hörte, ist auf deiner Farm eine Stelle frei, Hamesh«, sagte er.
»Oh. Ich habe inzwischen einen Lehrling eingestellt. Glaube ich.«
»Oh«, machte Lezek düster. »Wann denn?«
»Gestern«, log sein Bruder sofort und errötete nicht einmal. »Ein Vertrag mit Unterschrift und Siegel. Tut mir leid. Weißt du, ich habe nichts gegen deinen Sohn. Ein netter Junge – wenn man ihn besser kennt. Es ist nur …«
»Ich weiß, ich weiß«, brummte Lezek. »Er hat zwei linke Hände.«
»Zwei linke Knie«, sagte Hamesh.
Sie beobachteten die Gestalt in der Ferne. Mort war gerade gefallen, und einige Tauben wankten neugierig näher.
»Er ist keineswegs dumm, nein, das bestimmt nicht«, fuhr Hamesh fort. »Ich meine, wirkliche Dummheit sieht anders aus. Glaube ich.«
»Er hat ein Gehirn im Kopf«, räumte Lezek ein. »Manchmal denkt er so angestrengt nach, dass man ihm eine Ohrfeige geben muss, um seine Aufmerksamkeit zu bekommen. Oma hat ihm das Lesen beigebracht. Ich fürchte, die Belastung war zu groß für ihn.«
Mort stand auf, stolperte über den Saum seines Umhangs und fiel erneut.
»Du solltest ihn ein Gewerbe erlernen lassen«, schlug Hamesh vor. »Das Priestertum. Oder vielleicht die Zauberei. Zauberer lesen viel.«
Die beiden Brüder wechselten einen besorgten Blick und stellten sich vor, was Mort anrichten mochte, wenn er magische Bücher in die ungeschickten Hände bekam.
»Es gibt noch andere Berufe«, fügte Hamesh hastig hinzu. »Bestimmt kann sich Mort irgendwo und irgendwie nützlich machen. Glaube ich.«
»Sein Problem besteht darin, dass er zu viel denkt«, sagte Lezek. »Sieh ihn dir nur an. Normale Jungen überlegen nicht, wie man Vögel erschreckt. Man verscheucht sie einfach, und damit hat es sich. Aber Mort braucht für alles Erklärungen. Das bringt ihn in Schwierigkeiten. Ihn und seine Umwelt.«
Hamesh rieb sich das Kinn und überlegte.
»Vielleicht kann sich jemand anderer um dieses Problem kümmern«, sagte er.
Lezeks Gesichtsausdruck veränderte sich nicht, aber in seinen Augen blitzte es kurz.
»Worauf willst du hinaus?«, fragte er.
»Nächste Woche findet in Schafrücken der Gewerbemarkt statt. Schick ihn als Lehrling dorthin. Sein neuer Herr nimmt ihn unter die Fittiche und sorgt dafür, dass er pariert, dass er sich anständig benimmt.«
Lezek starrte über den Acker. Mort betrachtete gerade einen Stein.
»Oh, ich möchte nicht, dass ihm etwas zustößt«, erwiderte er skeptisch. »Seine Mutter und ich … Wir mögen ihn recht gern. Ich meine, man gewöhnt sich an ihn.«
»Es wäre nur zu seinem eigenen Besten. Jemand soll einen Mann aus ihm machen.«
»O ja«, sagte Lezek und seufzte. »Rohmaterial gibt’s sicher genug.«
Mort fand Interesse an dem Stein. Er enthielt kleine, verschnörkelte Schalen, die aus den Anfangstagen der Welt stammten. Niemand wusste, warum der Schöpfer damals solchen Wert darauf gelegt hatte, steinerne Wesen entstehen zu lassen.
Mort interessierte sich für viele Dinge, zum Beispiel dafür, weshalb die menschlichen Zähne so gut zusammenpassten. Er hatte lange über diese Frage nachgedacht. Auch darüber, aus welchen unerfindlichen Gründen die Sonne ausgerechnet am Tag über den Himmel kroch, obgleich ihr Licht während der Nacht weitaus nützlicher gewesen wäre. Er kannte die üblichen Erklärungen, aber sie befriedigten seine Neugier nicht.
Mit anderen Worten: Mort gehörte zu den Leuten, die gefährlicher sind als ein Sack voller Klapperschlangen. Er war entschlossen, über die elementare Logik des Universums Aufschluss zu gewinnen.
Was enorm schwierig sein musste, weil es überhaupt keine gab. Der Schöpfer hatte einige bemerkenswert gute Ideen, als er die Scheibenwelt formte, doch Verständlichkeit stand nicht auf der Liste seiner Optionen.
Tragische Helden stöhnen immer, wenn die Götter ihre Aufmerksamkeit auf sie richten. Doch wirklich arm dran sind diejenigen, die von den Göttern nicht beachtet werden.
Mort hörte die wie üblich verärgert klingende Stimme seines Vaters. Er warf den Stein nach einer Taube, die gleichgültig träge auswich, seufzte und kehrte über den Acker zurück.
Einige Tage später machten sich Vater und Sohn auf den Weg: Am Silvesterabend verließen sie die Berge und reisten nach Schafrücken. Ein verdrießlich und mürrisch wirkender Esel trug den Sack, der Morts geringe Habe enthielt. Das Dorf bestand eigentlich nur aus einem kopfsteingepflasterten Platz, auf vier Seiten von Läden und Geschäften gesäumt, die alle notwendigen Dienstleistungen einer landwirtschaftlichen Gemeinschaft anboten.
Nach fünf Minuten kam Mort aus der Stube des Schneiders und trug ein weites, braunes und undefinierbares Kleidungsstück, von dem sich der frühere Besitzer aus gutem Grund getrennt hatte. Es schien für einen neunzehnbeinigen Elefanten bestimmt zu sein und bot daher genug Platz, um hineinzuwachsen.
Lezek musterte seinen Sohn kritisch.
»Sehr hübsch, wenn man den Preis bedenkt«, behauptete er kühn.
»Es kratzt«, sagte Mort. »Und ich glaube, ich bin hier drin nicht allein.«
»Tausende von Jungen im ganzen Land wären überglücklich, ein so herrlich warmes« – Lezek suchte nach den richtigen Worten – »Gewand ihr Eigen nennen zu können.«
»Kann ich es einem von ihnen überlassen?«, fragte Mort hoffnungsvoll.
»Du musst würdevoll aussehen«, sagte Lezek streng. »Du musst einen guten Eindruck machen, aus der Menge ragen.«
Letzteres fiel ihm bestimmt nicht sehr schwer. Vater und Sohn bahnten sich einen Weg durch das Gedränge auf dem Platz, und jeder von ihnen lauschte den eigenen Gedanken. Für gewöhnlich fand Mort großen Gefallen daran, den Ort zu besuchen. Er mochte die kosmopolitische, internationale Atmosphäre in Schafrücken und hörte gern die fremdartigen Dialekte von Leuten, die aus fünf oder sogar zehn Meilen entfernten Dörfern stammten. Diesmal aber entstand Unbehagen in ihm, und er hatte das ebenso seltsame wie unangenehme Gefühl, sich an etwas zu erinnern, das erst noch geschehen musste.
Der Gewerbemarkt schien auf folgende Weise zu funktionieren: Die nach Arbeit suchenden Männer warteten auf der Mitte des Platzes und bildeten eine lange Reihe. Die meisten von ihnen hatten Zeichen an den Hüten befestigt, um dem Rest der Welt ihren Beruf mitzuteilen: Schäfer trugen Wollstreifen, Fuhrleute ein Büschel aus Pferdehaar, Innenausstatter kleine Fetzen interessanter Sackleinentapeten. Und so weiter und so fort.
Wer sich einen Ausbildungsvertrag erhoffte, stand auf der mittwärtigen Seite des Platzes.
»Gesell dich einfach zu den anderen!«, sagte Lezek und fügte unsicher hinzu: »Dann kommt jemand und bietet dir eine Lehrlingsstelle an. Wenn du einen guten Eindruck machst. Wenn du den Leuten gefällst. Wenn …« Er war plötzlich ziemlich sicher, dass er mit seinem Sohn nach Hause zurückkehren musste.
»Und wenn jemand an mich herantritt?«, fragte Mort. »Was passiert dann?«
»Nun …«, begann Lezek und brach ab. Über diesen Punkt hatte Hamesh geschwiegen. Er besann sich auf sein beschränktes Wissen über Märkte, das vor allen Dingen den Verkauf von Vieh betraf. »Ich nehme an, man zählt deine Zähne und so. Wahrscheinlich wollen sich die Interessenten vergewissern, dass du nicht niest und deine Füße in Ordnung sind. An deiner Stelle würde ich nicht darauf hinweisen, dass du lesen kannst. Damit könntest du eventuelle Lehrmeister beunruhigen.«
»Und dann?«
»Dann begleitest du deinen neuen Herrn und lernst ein Gewerbe«, sagte Lezek.
»Was für eins?«
»Nun … Das Zimmerhandwerk ist nicht übel«, erwiderte Lezek vorsichtig. »Oder die Diebeskunst. Sie gilt durchaus als ehrenhaft. Glaube ich jedenfalls. Ich meine, es muss Leute geben, die stehlen. Sonst wäre das Leben viel zu langweilig.«
Mort starrte zu Boden. Er war ein pflichtbewusster Sohn, wenn er sich an die Tugend des Gehorsams erinnerte, was nicht allzu häufig geschah. Wenn Vater und Schicksal von ihm erwarteten, eine Ausbildung zu beginnen, wollte er wenigstens ein guter Lehrling sein. Das Zimmerhandwerk erschien ihm allerdings wenig geeignet – Holz konnte ziemlich stur sein und neigte dazu, ein beharrliches Eigenleben zu entwickeln. Außerdem splitterte es leicht. Und was die Kunst des Klauens, Stehlens und Entwendens betraf: Die meisten Bewohner der Spitzhornberge waren so arm, dass sie sich keinen offiziellen Dieb leisten konnten.
»Na schön«, sagte Mort schließlich. »Ich versuch’s. Aber was machen wir, wenn mich niemand will?«
Lezek kratzte sich am Kopf.
»Keine Ahnung«, entgegnete er. »Ich schlage vor, wir warten bis zum Ende des Marktes. Bis heute Abend. Besser noch: bis um Mitternacht.«
Und Mitternacht rückte rasch näher.
Raureif bildete eine dünne glitzernde Schicht auf dem Kopfsteinpflaster. Oben im dekorativen Uhrturm öffneten sich kleine Klappen, und winzige Gestalten aus verwittertem Holz und rostigem Eisen krochen hervor, als Ketten rasselten, Zahnräder knirschten und der Gong ertönte.
Noch fünfzehn Minuten. Mort fröstelte, und tief in ihm brannte ein Feuer aus Scham und verzweifelter Hartnäckigkeit, heißer als die Flammen der Hölle. Er blies in die hohlen Hände, um sich irgendwie zu beschäftigen, blickte zum kalten Himmel hoch und versuchte die Blicke der wenigen Nachzügler zu übersehen.
Die meisten Budenbesitzer hatten bereits ihre Sachen gepackt und den Platz verlassen. Selbst der dicke Mann mit den warmen Pasteten pries seine Waren nicht mehr an und biss herzhaft in einen mit Hackfleisch gefüllten Teig, ungeachtet der Gefahren, die er damit für seine Gesundheit heraufbeschwor.
Die letzten jungen Männer waren schon vor Stunden mit den erhofften Lehrverträgen in der Tasche gegangen. Zurück blieb Mort, ein glubschäugiger Bursche mit krummem Rücken und laufender Nase. Der einzige konzessionierte Bettler in Schafrücken glaubte, eine gewisse natürliche Begabung in ihm zu erkennen. Dem Jungen, der links von Mort gewartet hatte, stand eine Ausbildung zum Spielzeugmacher bevor, und die anderen wurden bald zu Steinmetzen, Hufschmieden, Meuchelmördern, Krämern, Böttchern, Betrügern und Pflügern. In einigen Minuten begann das neue Jahr, und hundert Lehrlinge freuten sich auf ihren neuen Beruf, konnten zufrieden in die Zukunft sehen.
Mort fragte sich niedergeschlagen, warum ihm niemand ein Angebot unterbreitete. Den ganzen Abend über hatte er versucht, möglichst würdevoll auszusehen. Er hatte interessierten Ausbildungsherren fest in die Augen geblickt, um sie mit seinem exzellenten Wesen zu beeindrucken und auf außerordentlich positive Charaktereigenschaften hinzuweisen. Doch aus irgendeinem Grund erzielte er nicht die erhoffte Wirkung.
»Möchtest du eine warme Fleischpastete?«, fragte sein Vater.
»Nein.«
»Der Mann verkauft sie recht billig.«
»Nein, danke.«
»Oh.«
Lezek zögerte.
»Ich könnte ihn fragen, ob er einen Lehrling braucht«, schlug er vor. »Ein seriöses Gewerbe, die Gastronomie.«
»Ich glaube, er benötigt keine Hilfe«, sagte Mort.
»Ja, wahrscheinlich hast du recht«, antwortete Lezek. »Eine Art Ein-Mann-Betrieb, nehme ich an. Außerdem geht er gerade heim. Was hältst du davon, wenn wir uns meine Pastete teilen?«
»Ich habe überhaupt keinen Hunger, Paps.«
»Das Fleisch enthält nur wenige Knorpel. Fast gar keine.«
»Nein. Trotzdem vielen Dank.«
»Oh.« Lezek seufzte, stampfte mit den Füßen, um die Kälte zu vertreiben, und pfiff leise vor sich hin. Er wollte irgendetwas sagen, seinem Sohn Mut zusprechen, ihm einen Rat geben, darauf hinweisen, das Leben sei ein dauerndes Auf und Ab. Er wollte den Arm um Morts Schultern legen, ihm die Probleme des Erwachsenwerdens erläutern, ihm mit einigen knappen Worten erklären, in der Welt gehe es meistens recht komisch zu, und man dürfe, bildlich gesprochen, nie zu stolz sein, eine wenigstens einigermaßen genießbare Fleischpastete anzunehmen.
Stattdessen schwieg er und dachte voller Grauen daran, was aus seinem Bauernhof werden sollte, wenn Mort den Anbau reannueller Pflanzen lernen musste.
Inzwischen waren sie allein. Auf den Kopfsteinen wuchs der Raureif, der letzte dieses Jahres.
Hoch oben im Turm machte ein Zahnrad laut und deutlich Knirsch und löste einen Hebel aus, der wiederum einen Sperrbolzen beiseiteschob und ein Bleigewicht herabfallen ließ. Ein geradezu beängstigend klingendes Rasseln erklang, gefolgt von einem metallenen Schnaufen und Keuchen. Die kleinen Klappen öffneten sich, und erneut krochen die Uhr-Zwerge unter dem großen Zifferblatt hervor. Mit steifer mechanischer Fröhlichkeit, als litten sie an robotischer Arthritis, schwangen sie ihre Hämmer, und das laute Hallen des Gongs kündigte ein neues Jahr an.
»Das wär’s«, sagte Lezek hoffnungsvoll. Sie mussten nun eine Unterkunft finden: Niemand, der noch alle seine Sinne beisammen hatte, kraxelte während der Neujahrsnacht in den Spitzhornbergen herum. Irgendein warmer Stall …
»Erst beim letzten Schlag ist es Mitternacht«, stellte Mort sachlich fest.
Lezek hob die Schultern und beugte sich dem Starrsinn seines Sohnes.
»Meinetwegen«, brummte er. »Warten wir noch einige Sekunden.«
Er hatte die Worte gerade ausgesprochen, als er das Klippklapp von Hufen hörte, und es hallte weitaus lauter über den Platz, als normale Akustik erlauben sollte. Eigentlich wurde der Ausdruck Klippklapp dem unheilvollen Pochen überhaupt nicht gerecht. Gewöhnliches Klippklapp deutete auf ein lebhaftes kleines Pony hin, das vielleicht einen Strohhut trug, mit zwei Löchern für die Ohren. Dieses Klippklapp hingegen ließ keinen Zweifel daran, dass niemand mit irgendwelchen Strohhüten rechnen durfte.
Das Pferd erreichte den Platz von der mittwärtigen Straße her. Dampf wallte von den schweißfeuchten weißen Flanken, und Funken stoben vom Kopfsteinpflaster unter den Hufen. Es bewegte sich mit der anmutigen stolzen Eleganz eines edlen Rosses, und es trug keinen Strohhut.
Die hochgewachsene Gestalt auf seinem Rücken war in einen dunklen Umhang gehüllt. Als das Pferd die Mitte des Platzes erreicht hatte, stieg der Reiter langsam ab und tastete nach einem Gegenstand hinter dem Sattel. Schließlich fand er – oder sie – einen Futtersack, streifte den Riemen über die Ohren des Rosses und klopfte ihm freundlich auf den Hals.
Die Luft gewann plötzlich eine schmierige, ölige Qualität, und die Schatten vor Mort wurden dichter, verwandelten sich in Regenbogen, deren Farben auf Dunkelblau und Violett beschränkt blieben. Der Reiter schritt mit wehendem Mantel auf ihn zu, und seine – ihre? – Füße klickten und klackten auf dem Pflaster. Abgesehen davon ertönte nicht das geringste Geräusch. Eine sonderbare gespenstische Stille glitt heran, als die Akustik floh und sich irgendwo verbarg.
Dünnes glattes Eis ruinierte den höchst dramatischen Effekt.
VERDAMMTERMIST!
Es war keine Stimme im eigentlichen Sinn. An den Worten gab es nichts auszusetzen, aber sie erklangen in Morts Kopf, ohne sich mit einem Umweg durch die Ohren aufzuhalten.
Er lief los, um der ausgerutschten Gestalt auf die Beine zu helfen, ergriff eine Hand, die nur aus blanken Knochen bestand, so glatt und vergilbt wie eine alte Billardkugel. Die Kapuze fiel zurück, und darunter kam ein nackter Schädel zum Vorschein. Der Blick leerer Augenhöhlen richtete sich auf den Jungen.
Ganz leer waren sie nicht. Sie ähnelten Fenstern, die einen Ausblick in die Weiten des Alls gestatteten, und tief in ihnen glühten zwei kleine blaue Sterne.
Mort dachte daran, dass er entsetzt sein sollte, und deshalb überraschte ihn die unerklärliche Ruhe in seinem Innern. Vor ihm saß ein Skelett, rieb sich die Knie und brummte leise, aber es war ein lebendes Skelett, das zwar beeindruckend wirkte, ihm jedoch (so seltsam das auch sein mochte) keine Angst machte.
DANKE, JUNGE, sagte der Totenkopf. WIEHEISSTDU?
»Äh«, erwiderte Mort, »Mortimer – Herr. Man nennt mich Mort.«
WELCHINTERESSANTERZUFALL! sprach der Knochenmann. MORT. DERNAMEHATEINENANGEMESSENENGRABESKLANG. BITTEHILFMIRHOCH.
Die Gestalt stand ungelenk auf und strich mit einer fahrigen Geste den Umhang glatt. Mort sah einen breiten Gürtel an der Taille des Skeletts, und daran hing ein Schwert mit weißem Heft.
»Ich hoffe, du bist nicht verletzt, Herr«, sagte er höflich.
Der Totenschädel grinste – in dieser Hinsicht blieb ihm kaum eine Wahl.
MACHDIRKEINESORGENUMMICH. Erst jetzt schien der Knochenmann Lezek zu bemerken, der wie erstarrt stand. Der Blick – fast – leerer Augenhöhlen richtete sich auf ihn, und Mort hielt eine Erklärung für angebracht.
»Mein Vater«, sagte er und versuchte, möglichst unauffällig vor den Reglosen zu treten. »Entschuldige bitte, Herr … Bist du der Tod?«
INDERTAT. DUHASTEINEAUSGEZEICHNETEBEOBACHTUNGSGABE, JUNGE.
Mort schluckte.
»Mein Vater ist ein gutherziger Mann«, sagte er. Nach einigen nachdenklichen Sekunden fügte er hinzu: »Meistens jedenfalls. Wenn’s dir nichts ausmacht … Ich wäre dir sehr dankbar, wenn du ihn verschonen könntest. Äh, ich weiß nicht, was du mit ihm angestellt hast, aber vielleicht bist du so nett, damit aufzuhören. Womit ich dir keineswegs zu nahe treten möchte, Herr.«
Tod wich einen Schritt zurück und neigte den Kopf zur Seite.
ICHHABEFÜRUNSBEIDENURDIEZEITANGEHALTEN, sagte er. DEINVATERWIRDNICHTSSEHENODERHÖREN, DASIHNVERWIRRT. NEIN, JUNGE, ICHBINDEINETWEGENGEKOMMEN.
»Meinetwegen?«
DUMÖCHTESTDOCHEINEANSTELLUNG, ODER?
Allmählich ging Mort ein Licht auf. »Du suchst einen Lehrling?«, fragte er.
Die Augenhöhlen wandten sich ihm zu, und die aktinischen Punkte darin funkelten.
SELBSTVERSTÄNDLICH.
Tod winkte mit einer knöchernen Hand. Violettes Licht glühte, gefolgt von einer Art sichtbarem Plopp, und Lezek zuckte zusammen. Die Zeit erwachte aus ihrem Betäubungsschlaf, woraufhin die Uhr-Zwerge unter dem Zifferblatt erneut ihre Hämmer schwangen. Sie hatten sich nicht verzählt: Nach dem zwölften Gong kehrten sie gehorsam zurück, und hinter ihnen schlossen sich die kleinen Klappen.
Lezek blinzelte.
»Seltsam«, sagte er. »Eben habe ich dich gar nicht gesehen. Muss mit meinen Gedanken ganz woanders gewesen sein.«
ICHHABEDEINEMSOHNANGEBOTEN, INMEINEDIENSTEZUTRETEN, verkündete Tod. ICHNEHMEAN, DUBISTDAMITEINVERSTANDEN, ODER?
»Äh, worin besteht deine Tätigkeit?«, fragte Lezek. Er wirkte überhaupt nicht überrascht, sprach so mit dem Skelett, als sei das die normalste Sache der Welt.
ICHGELEITESEELENINSJENSEITS, erwiderte Tod.
»Oh«, machte Lezek. »Natürlich. Entschuldige! Eine dumme Frage. Dein Aussehen, ich meine, deine Kleidung ist ein deutlicher Hinweis. Eine notwendige Arbeit, da bin ich ganz sicher. Wahrscheinlich mangelt es dir nicht an Aufträgen. Schon lange im Geschäft?«
SEITEINERGANZENWEILE, JA, bestätigte Tod.
»Gut. Ausgezeichnet. Bisher habe ich nicht daran gedacht, dass ein solcher Job für Mort infrage kommen könnte, aber es ist zweifellos ein sehr ehrenvoller Beruf, der Zuverlässigkeit und Ernst erfordert. Genau richtig für meinen Sohn. Äh, wie lautet dein Name?«
TOD.
»Paps …«, begann Mort.
»Klingt nicht vertraut für meine Ohren«, sagte Lezek: »Kommst du weit herum?«
MEINTÄTIGKEITSBEREICHERSTRECKTSICHVONDENDUNKELSTENTIEFENDESMEERESBISZUJENENHÖHEN, DIENICHTEINMALEINADLERERREICHENKANN, erwiderte Tod.
»Ich schätze, das ist weit genug.« Lezek nickte. »Nun, ich …«
»Paps …«, drängte Mort und zupfte am Ärmel seines Vaters.
Tod legte dem Jungen die Hand auf die Schulter.
WASERHÖRTUNDSIEHT, UNTERSCHEIDETSICHVONDEINENWAHRNEHMUNGEN, erklärte er. SEIUNBESORGT, IHMWIRDNICHTSGESCHEHEN. ICHMÖCHTEIHMNURMEINENANBLICKERSPAREN. ODERGLAUBSTDU, ERSÄHEMICHGERNSO, WIEICHWIRKLICHBIN – INFLEISCHUNDBLUT, SOZUSAGEN?
»Aber du bist der Tod«, platzte es aus Mort heraus. »Du streifst umher und … tötest!«
ICHTÖTE?, fragte Tod beleidigt. DAIRRSTDUDICH. DIELEUTEKOMMENVONGANZALLEINUMSLEBEN. ICHKÜMMEREMICHNURUMIHRESEELEN, DASISTALLES. ESWÄRESCHLIESSLICHEINEZIEMLICHVERRÜCKTEWELT, WENNMENSCHENDASZEITLICHESEGNEN, OHNEZUSTERBEN, MEINSTDUNICHTAUCH?
»Nun …«, sagte Mort skeptisch.
Er hatte noch nie das Wort ›fasziniert‹ gehört – es gehörte nicht zum üblichen Vokabular der Familie. Dennoch beschrieb es seine Reaktion ziemlich genau. Ein Teil seines bisher verkannten Selbst wurde neugierig und entwickelt ein Interesse, das mit dem Zögern rang und schon nach wenigen Sekunden triumphierte. Wenn er diese einmalige Chance verstreichen ließ, so glaubte er, würde er das für den Rest seines Lebens bedauern. Er dachte an die Demütigungen des vergangenen Abends, an den langen Weg nach Hause …
»Muss ich sterben, um den Job zu bekommen, oder?«, fragte er.
DEINTODISTKEINESWEGSOBLIGATORISCH, sagte Tod.
»Und die Knochen …«
DUKANNSTHAUTUNDHAARBEHALTEN, WENNDUUNBEDINGTWILLST.
Verständliche Erleichterung durchströmte Mort, und er ließ den angehaltenen Atem entweichen.
»Wenn mein Vater nichts dagegen hat …«, sagte er.
Sie sahen Lezek an, der sich nachdenklich das Kinn rieb.
»Was hältst du davon, Mort?«, fragte er mit der Nervosität eines Fieberopfers. »Vermutlich würden sich viele Leute einen anderen Beruf wünschen. Ich muss zugeben, dass ich mir nicht unbedingt so etwas vorgestellt habe. Aber angeblich hat das Bestattungsgewerbe durchaus seine Vorzüge. Die Wahl liegt bei dir, Sohn.«
»Bestattungsgewerbe?«, wiederholte Mort. Tod nickte und hob in einer verschwörerischen Geste den Zeigefinger zum Mund.
»Es ist … interessant«, sagte Mort langsam. »Ich glaube, ich sollte es versuchen.«
»Äh, wo gehst du deinen Geschäften nach?«, fragte Lezek und erinnerte sich vage daran, schon eine ähnliche Frage gestellt zu haben. »Ist jener Ort weit entfernt?«
NUREINESCHATTENBREITE, antwortete Tod. ICHWARZURSTELLE, ALSDIEERSTEPRIMITIVEZELLEENTSTAND. ICHBINDORT, WOMENSCHENWEILEN. UNDICHWERDEAUCHZUGEGENSEIN, WENNDASLETZTELEBENDENVERBLASSENDENGLANZGEFRIERENDERSTERNEBEKLAGT.
»Oh«, brummte Lezek, »offenbar bist du ziemlich beschäftigt.« Er runzelte verwirrt die Stirn, wie jemand, der angestrengt versucht, sich etwas Wichtiges ins Gedächtnis zurückzurufen. Schließlich gab er es auf.
Tod klopfte ihm kameradschaftlich auf die Schulter und sah dann Mort an.
HASTDUIRGENDWELCHESACHENDABEI?
»Ja«, sagte Mort sofort. Dann fiel ihm etwas ein. »Oh, ich glaube, sie sind noch im Laden. Paps, wir haben meinen Sack beim Schneider vergessen.«
»Bestimmt hat er sein Geschäft längst geschlossen«, erwiderte Lezek. »In der Neujahrsnacht wird gefeiert und nicht verkauft. Dir bleibt wohl nichts anderes übrig, als bis übermorgen zu warten. Äh, bis morgen. Heute ist schon ja morgen. Ich meine …«
ESSPIELTKEINEROLLE, JUNGE, behauptete Tod. WIRBRECHENSOFORTAUF. BESTIMMTHABEICHHIERBALDZUTUN, UNDDANNKÖNNENWIRDEINEHABSELIGKEITENABHOLEN.
»Besuch uns, sobald du Gelegenheit dazu findest«, sagte Lezek. Es schien ihm eine gewisse Mühe zu bereiten, seine Gedanken zu ordnen.
»Ich bin mir nicht sicher, ob das ein gute Idee ist«, wandte Mort ein.
»Tja, nun, äh, auf Wiedersehen, Junge«, stammelte Lezek. »Sei fügsam und fleißig, klar? Und … Entschuldige bitte, Herr, hast du einen Sohn?«
Tod musterte ihn verwundert.
NEIN, sagte er. NEIN, ICHHABEKEINESÖHNE.
»Nun, ich würde gern noch einige letzte Worte an Mort richten, wenn es dir recht ist.«
ICH KÜMMERE MICH INZWISCHEN UMS PFERD, verkündete Tod und zeigte damit weitaus mehr Taktgefühl als sonst.
Lezek legte Mort den Arm um die Schultern, was angesichts des Größenunterschieds nicht unbeträchtliche Akrobatik erforderte, und führte ihn fort.
»Weißt du, was mir dein Onkel Hamesh über das Lehrgewerbe verraten hat?«, flüsterte er.
»Nein.«
»Er gab mir einen wichtigen Hinweis«, vertraute der alte Mann seinem Sohn an. »Er meinte, der Lehrling trete häufig die Nachfolge seines Ausbilders an. Wie gefällt dir diese Aussicht?«
Mort dachte an Knochen, an leere Augenhöhlen, in denen kleine blaue Sterne leuchteten. »Äh, ich weiß nicht so recht …«
»Du solltest gründlich darüber nachdenken«, riet Lezek.
»Ich denke darüber nach, Vater.«
»Viele junge Burschen haben auf diese Weise angefangen, meint Hamesh. Sie machen sich nützlich, gewinnen das Vertrauen ihres Herrn und … Nun, wenn Töchter im Haus sind … Hat, äh, hat er irgendwelche Töchter erwähnt?«
»Er wer?«, fragte Mort.
»Du weißt schon. Der Mann, in dessen Dienste du trittst.«
»Ach, er. Nein. Nein, ich glaube nicht«, sagte Mort langsam. »Vermutlich gehört er nicht zu den Leuten, die Wert auf Ehe und Familie legen.«
»Viele junge Männer verdanken ihren beruflichen Aufstieg gut überlegten Trauungsscheremonien«, sagte Lezek.
»Tatsächlich?«
»Hörst du mir überhaupt zu, Mort?«
»Was?«
Lezek blieb auf dem vereisten Pflaster stehen, griff nach den Schultern des Jungen und drehte ihn zu sich herum.
»So geht das nicht weiter, Sohn«, sagte er. »Reiß dich endlich zusammen! Wenn du es in dieser Welt zu etwas bringen willst, musst du zunächst einmal lernen, richtig zuzuhören. Verstehst du? Hör wenigstens auf mich, deinen Vater.«
Mort sah in das Gesicht seines Vaters. Er wollte ihm viele Dinge sagen: wie sehr er an ihm hing, welche Sorgen er sich machte. Er wollte ihn fragen, was er eben gesehen und gehört zu haben glaubte. Er wollte ihm sagen, dass er das Gefühl hatte, auf einen Maulwurfshügel getreten zu sein und unmittelbar darauf feststellen musste, dass es sich in Wirklichkeit um einen kleinen Vulkan handelte. Er wollte ihn fragen, was er sich unter Trauungsscheremonien vorstellen sollte.
Stattdessen seufzte er. »Ja. Danke für deinen Rat. Äh, ich muss jetzt los. Wenn ich Zeit finde, schreibe ich dir einen Brief.«
»Irgendwann kommt bestimmt jemand vorbei, der ihn uns vorlesen kann«, erwiderte Lezek. »Auf Wiedersehen, Mort.« Er schniefte leise.
»Auf Wiedersehen, Paps«, sagte der Junge. »Ich besuche euch mal.«
Tod hüstelte diskret – es klang, als breche ein von Termiten zerfressener Balken.
WIR MÜSSEN UNS BEEILEN, sagte er. STEIG AUF!
Mort nahm hinter dem reichverzierten, mit silbernen Beschlägen geschmückten Sattel Platz, und Tod beugte sich herab, um Lezek die Hand zu schütteln.
DANKE, sagte er.
»Im Grunde seines Wesens ist er ein guter Junge«, behauptete Lezek. »Obgleich er manchmal mit offenen Augen träumt. Na ja, ich schätze, wir alle waren einmal jung.«
Tod dachte darüber nach.
NEIN, sagte er schließlich. DASGLAUBEICHNICHT.
Er nahm die Zügel, und das Pferd tänzelte herum, wandte sich der randwärtigen Straße zu. Mort drehte den Kopf und winkte verzweifelt.
Lezek erwiderte den Abschiedsgruß. Als das Pferd und die beiden Reiter nicht mehr zu sehen waren, ließ er die Hand sinken und betrachtete sie verwirrt. Die Finger des fremden Mannes … Sie hatten sich irgendwie seltsam angefühlt. Aber er konnte sich beim besten Willen nicht daran erinnern, warum ihm die Berührung so seltsam erschienen war.
Mort hörte, wie die Hufe des prächtigen Rosses über die Kopfsteine klapperten. Es folgte ein dumpferes Pochen, als feste Erde auf das Pflaster folgte, und dann herrschte plötzlich Stille.
Er senkte den Kopf und beobachtete die Landschaft, die sich im perlmuttenen Mondschein unter ihm ausbreitete. Wenn er jetzt fiel, prallte er nur auf leere Luft.
Die Hände schlossen sich fester um den Sattel.
HAST DU HUNGER, JUNGE?, fragte Tod nach einer Weile.
»Ja, Herr.« Die Worte stammten direkt aus dem Magen, bemühten gar nicht erst das Gehirn.
Tod nickte und zügelte das Pferd. Es verharrte mitten in der Leere, und tief unten glitzerte das runde Panorama der Scheibenwelt. Hier und dort verriet sich eine Stadt durch orangefarbenes Glühen, und vom warmen Meer in der Nähe des Randes ging ein vages phosphoreszierendes Schimmern aus. In einigen tiefen Tälern verdunstete langsames, gefangenes Licht zu silbrigem Dampf.1
Doch ein anderes Gleißen überstrahlte alles: Es stieg vom Rand auf, wuchs erhaben den Sternen entgegen. Goldene Mauern umgaben die Welt.
»Wunderschön«, murmelte Mort ergriffen. »Was ist das?«
DIE SONNE BEFINDET SICH DERZEIT UNTER DER SCHEIBENWELT, erklärte Tod.
»Wiederholt sich das in jeder Nacht?«
JA, bestätigte Tod. SO IST DIE NATUR EBEN.
»Wieso erfahre ich erst jetzt davon?«
WEIL SONST NIEMAND ETWAS AHNT. NUR WIR BEIDE WISSEN BESCHEID. UND DIE GÖTTER. SIEHT NETT AUS, NICHT WAHR?
»Ich bin platt!«
Tod beugte sich vor und sah in die Tiefe, beobachtete die Welt der Sterblichen.
ICH WEISS NICHT, WIE’S MIT DIR STEHT, sagte er, ABERICH KÖNNTE JETZT EIN ORDENTLICHES CURRYGERICHT VERTRAGEN.
Es war bereits eine ganze Weile nach Mitternacht, doch in der Zwillingsstadt Ankh-Morpork herrschte noch immer rege Betriebsamkeit. Mort hatte Schafrücken für eine hektische Metropole gehalten, aber im Vergleich zu dem Durcheinander um ihn herum ging es in dem Dorf so geruhsam zu wie auf einem Friedhof.
Immer wieder haben Dichter versucht, Ankh-Morpork zu beschreiben. Nicht einem einzigen von ihnen ist es gelungen. Vielleicht liegt es an der mitreißenden Vitalität der Stadt, oder daran, dass sie mit einer Million Einwohner und ohne einen einzigen Abwasserkanal das eher sensible Gemüt der Poesie zu sehr belastet. Drücken wir es folgendermaßen aus: Ankh-Morpork ist so voller Leben wie ein alter Käse an einem heißen Sommertag, so laut wie Flüche in einer Kirche, so sauber wie ein Schornstein, der seit mindestens einem Jahrhundert nicht mehr gereinigt wurde, so kunterbunt wie ein dicker Bluterguss und so voller quirliger, geschäftiger und nervöser Aktivität wie ein Hundekadaver auf einem Haufen fleischfressender Ameisen.
Überall gab es Tempel, deren Tore weit offen standen. Aus dem halbdunklen Innern der Gebäude drangen Gongschläge, das Rasseln von Becken und, bei besonders konservativen fundamentalistischen Religionen, die kurzen Schreie von Opfern. Hier und dort sah Mort Läden, deren sonderbare Waren bis auf die Straße reichten. Er bemerkte viele lächelnde junge Damen, die sich nur wenig Kleidung leisten konnten. Er bewunderte Jongleure, Feuerspeier und andere Leute, die sofortige Transzendenz versprachen.
Tod schritt ungerührt durch das Chaos. Mort hatte aus irgendeinem Grund damit gerechnet, dass der Knochenmann die Menge wie Rauch durchdrang, aber er wurde enttäuscht. Die schlichte Wahrheit lautete: Wo auch immer sich Tod befand, die Leute wichen ihm aus.
Auf Mort traf das nicht zu. Im allgemeinen Gedränge bildete sich eine Gasse für seinen Lehrmeister, aber hinter ihm schloss sie sich so schnell, dass Mort in Schwierigkeiten geriet. Anders ausgedrückt: Man trat ihm auf die Füße; man stieß ihm Ellenbogen in die Rippen; man versuchte, ihm seltsam riechende Gewürze und sonderbar geformtes Gemüse zu verkaufen; und eine bereits recht betagte Dame behauptete mit kühner Verwegenheit, er sähe wie ein gut situierter junger Mann aus, der bestimmt nichts dagegen hätte, sich ein wenig zu vergnügen.
Mort dankte ihr freundlich und meinte ungeachtet aller Zweifel, er amüsiere sich bereits prächtig.
Tod erreichte die Straßenecke und schnupperte. In der Nähe bewiesen einige Feuerspeier ihre Künste, und das Licht der flackernden Flammen spiegelte sich auf dem glatten Schädel des Knochenmanns wider. Ein Betrunkener taumelte heran, wankte aus keinem ersichtlichen Grund beiseite, runzelte verwirrt die Stirn und setzte dann seinen komplizierten Zickzack-Kurs fort.
DIES IST EINE WAHRE STADT, JUNGE, sagte Tod. WAS HÄLTST DU DAVON?
»Sie scheint recht groß zu sein«, erwiderte Mort unsicher. »Warum gefällt den Menschen eine derartige Enge? Ich meine, hier geht’s zu wie in einem Bienenstock.«
Tod hob die beinernen Schultern.
ICH FÜHLE MICH HIER WOHL, sagte er. ANKH-MORPORK IST VOLLER LEBEN.
»Herr?«
JA?
»Was ist ein Currygericht?«
Das blaue Glühen in den leeren Augenhöhlen strahlte heller.
HAST DU JEMALS IN EINEN FÜNFHUNDERT GRAD HEISSEN EISWÜRFEL GEBISSEN?
»Nein, Herr«, antwortete Mort.
CURRY SCHMECKT SO ÄHNLICH.
»Herr?«
JA?
Mort schluckte. »Entschuldige bitte, Herr, aber mein Vater hat mir gesagt, dass ich fragen soll, wenn ich etwas nicht verstehe.«
EINBEGRÜSSENSWERTERRAT, stellte Tod fest. Er ging durch eine Seitengasse, und erneut teilte sich die Menge vor ihm, als bestünde sie aus entgegengesetzt geladenen Partikeln.
»Herr, mir ist da etwas aufgefallen, äh, man muss sich doch den Tatsachen stellen, nicht wahr, und die besonderen Umstände, ich meine …«
HERAUS DAMIT, JUNGE.
»Wie kannst du überhaupt Speisen zu dir zu nehmen?«
Tod blieb so plötzlich stehen, dass Mort gegen ihn stieß. Als der Lehrling zu sprechen begann, brachte ihn der Knochenmann mit einer brüsken Geste zum Schweigen. Er schien zu lauschen.
WEISST DU, JUNGE, MANCHMAL KANN ICH ZIEMLICH BÖSE WERDEN, sagte Tod mehr zu sich selbst.
Er wirbelte um die eigene Achse und eilte mit langen Schritten und wehendem Kapuzenmantel davon. Die Gasse wand sich an dunklen Mauern und stillen schiefen Häusern entlang, war eigentlich kein Durchgang, sondern eher eine schmale Lücke zwischen den Gebäuden.
Tod blieb an einer alten wackligen Regentonne stehen, streckte den Arm hinein und holte einen kleinen, ziegelsteinbeschwerten Sack hervor. Mit der anderen Hand zog er das Schwert – im Halbdunkel tanzten blaue Funken über die Klinge – und durchtrennte den Strick.
JA, MANCHMAL WERDE ICH RICHTIG WÜTEND, sagte er, öffnete den Beutel und drehte ihn um. Mort beobachtete, wie ein kleines Pelzbündel herausrutschte und auf den Boden fiel. Tod berührte es wie zärtlich mit weißen Fingern.
Nach einigen Sekunden lösten sich graue Rauchfäden von den ertrunkenen Tieren und bildeten drei katzenförmige Wolken. Sie blähten sich auf und erzitterten ein wenig, als seien sie nicht ganz sicher, welche Gestalt sie annehmen sollten. Verwirrte Augen blinzelten und sahen Mort an. Als er versuchte, eins der Katzenphantome zu berühren, stieß er auf keinen Widerstand, spürte nur ein leichtes Prickeln.
IN MEINEM JOB ERLEBT MAN DIE LEUTE NICHT GERADE IN IHRER BESTFORM, erklärte Tod. Er hauchte eins der Tiere an, und die winzige Wolke wehte fort. Ein leises klagendes Miauen ertönte, wie aus weiter Ferne und durch ein langes Blechrohr.
»Es sind Seelen, nicht wahr?«, fragte Mort. »Wie sehen Menschen aus?«
DAS KOMMT GANZ DARAUF AN, erwiderte Tod. ES HÄNGT VON DEN INDIVIDUELLEN MORPHOGENETISCHEN FELDERN AB.
Das Skelett seufzte – Mort verglich das Geräusch mit dem leisen Knistern eines Leichentuchs –, fing die Wolkenkätzchen behutsam ein und verstaute sie irgendwo in seiner schwarzen Robe. Dann richtete er sich auf.
UND JETZT …, sagte er. ICH GLAUBE, ICH HABE DICH SCHON AUF DIE VORZÜGE VON CURRY HINGEWIESEN.
Im Curry-Garten an der Ecke Gottesstraße und Blutgasse waren fast alle Tische besetzt, und die Gäste stammten ausschließlich aus der Creme der Gesellschaft. Zumindest handelte es sich um Leute, die ganz oben schwammen und daher die Bezeichnung ›Creme‹ verdienten. Überall standen Duftbüsche, deren Knospen und Blüten es fast gelang, die allgemeinen Aromen der Stadt zu überlagern, einen Geruch, der dem nasalen Äquivalent eines Nebelhorns gleichkam.
Mort aß mit heißhungrigem Appetit, bezähmte seine Neugier und beobachtete nicht, was Tod mit den Speisen anstellte. Zuerst war der Teller vor ihm gefüllt, und einige Minuten später glänzte er leer, ein deutlicher Hinweis darauf, dass in der Zwischenzeit etwas geschehen sein musste. Mort begann zu ahnen, dass solche Dinge nicht den üblichen Gewohnheiten Tods entsprachen. Vermutlich ging es ihm nur um das Wohlbefinden seines Lehrlings. Er verhielt sich wie ein in die Jahre gekommener Junggesellenonkel, der mit seinem Neffen Urlaub macht und ständig befürchtet, sich falsch zu verhalten und in ein erzieherisches Fettnäpfchen zu treten.
Die anderen Gäste des Lokals schenkten ihnen kaum Beachtung, übersahen Tod selbst dann, als er sich zurücklehnte und eine hübsch verzierte Pfeife anzündete. Unter gewöhnlichen Umständen fällt es niemandem besonders leicht, unbeeindruckt zu bleiben, wenn Rauch aus leeren Augenhöhlen quillt, doch alle Anwesenden brachten es mühelos fertig.
»Ist es Magie?«, fragte Mort.
WAS GLAUBST DU, JUNGE?, erwiderte Tod. BIN ICH WIRKLICH HIER?
»Ja«, sagte Mort langsam. »Ich … ich habe die Leute beobachtet. Sie sehen dich an, aber sie erkennen dich nicht. Glaube ich jedenfalls. Du beeinflusst sie irgendwie.«
Tod schüttelte den Kopf.
SIE SCHAFFEN ES VON GANZ ALLEIN, entgegnete er. MAGIESPIELTDABEIKEINEROLLE. DIELEUTESEHENMICHNICHT, WEILSIEMICHNICHTSEHENWOLLEN. BISIHREZEITABGELAUFENIST. ZAUBERERERKENNENMICHAUFDENERSTENBLICK, EBENSOKATZEN. ABERFÜRDENDURCHSCHNITTLICHENMENSCHENBLEIBEICHUNSICHTBAR. Er blies einen Rauchring an die Decke. SELTSAM, NICHT WAHR?
Mort drehte den Kopf. Der Ring aus blauem Rauch schwebte unter dem Vordach hervor und trieb in Richtung Fluss.
»Ich sehe dich«, sagte er.
DAS IST ETWAS ANDERES.
Der klatschianische Kellner kam und legte die Rechnung vor Tod auf den Tisch. Der Mann war untersetzt und braunhaarig, und seine Frisur erinnerte an eine auseinandergeplatzte Kokosnuss. Verwirrungsfalten bildeten tiefe Täler in dem runden Gesicht, als ihm Tod freundlich zunickte. Der Kellner schüttelte den Kopf wie jemand, der sich von Seife in den Ohren zu befreien versucht, seufzte und ging fort.
Tod griff unter seinen Umhang und holte einen großen Lederbeutel mit Kupfermünzen hervor. Die meisten von ihnen trugen eine blaugrüne Patina hohen Alters. Er beäugte die Rechnung skeptisch und legte zehn kleine Metallscheiben auf den Tisch.
KOMM, sagte er und stand auf. WIRMÜSSENLOS. Mort folgte hastig, als Tod den Curry-Garten verließ und auf die Straße trat. Dort herrschte noch immer rege Betriebsamkeit, obwohl sich am Horizont schon das erste Licht des neuen Tages zeigte.
»Hast du ein bestimmtes Ziel?«
DUBRAUCHSTNEUESACHEN.
»Diese hier sind neu. Ich habe sie erst heute bekommen. Äh, gestern, meine ich.«
IM ERNST?
»Mein Vater meinte, der Schneider in Schafrücken sei für sein gutes Angebot bekannt.«
DADURCH BEKOMMT DIE ARMUT EINEN VÖLLIG NEUEN ASPEKT. Tod schauderte, und seine Knochen klapperten leise.
Kurz darauf erreichten sie eine breitere Straße, die in ein vornehmeres Stadtviertel führte – die Abstände zwischen den einzelnen Fackeln wurden geringer, während sich die zwischen den Müll- und Kehrichthaufen vergrößerten. In diesem Bereich gab es weder Ställe noch Buden am Gehsteig; stattdessen sah Mort richtige kleine Gebäude mit Werbeschildern über den Türen. Es waren keine Geschäfte oder Läden, sondern regelrechte Warenhäuser. In ihnen arbeiteten fest angestellte Verkäufer, und es gab dort bequeme Stühle und sogar Spucknäpfe. Die meisten von ihnen hatten selbst um diese Zeit geöffnet. Aus gutem Grund: Der durchschnittliche ankhianische Händler kann kaum schlafen, weil er dauernd an das Geld denken muss, das er nicht verdient.
»Gehen die Leute hier nie zu Bett?«, fragte Mort.
DIES IST EINE STADT, sagte Tod und öffnete die Tür eines Textilgeschäftes. Als sie es zwanzig Minuten später verließen, strich Mort stolz über einen wie maßgeschneiderten schwarzen Mantel mit silbrig glänzenden Stickmustern – während der Ladeninhaber einige uralte Kupfermünzen in der Hand hielt und sich verwundert fragte, woher sie stammten.
»Woher nimmst du die ganzen Münzen?«, fragte Mort.
OH, DAS IST GANZ EINFACH: ICH NEHME SIE AUS DEM BEUTEL.
Ein fleißiger Friseur, der auch des Nachts die Kasse klingeln hören wollte, bescherte Mort einen Haarschnitt, der bei den jungen Leuten in Ankh-Morpork als letzter Schrei galt (wobei an dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben soll, dass einige Mütter tatsächlich schrien, als sie die neueste Frisur ihrer Sprösslinge sahen). Tod nahm unterdessen in einem zweiten Sessel Platz und summte leise vor sich hin. Zu seiner eigenen Überraschung hatte er ausgesprochen gute Laune.
Nach einer Weile schlug er die Kapuze zurück und sah zum Lehrling des Barbiers auf, der ihm gerade ein Handtuch um den knöchernen Hals schlang. Mort stellte fest, dass er ebenso hypnotisiert und benommen wirkte wie die anderen – lebenden – Menschen, die Tod begegneten.
EINIGE TROPFEN DUFTWASSER UND EINE ORDENTLICHE POLITUR, GUTER MANN, sagte Tod zufrieden.
Ein älterer Zauberer, der sich in einer Ecke des Zimmers den Bart stutzen ließ, zuckte heftig zusammen, als er die düstere Grabesstimme hörte. Tod wusste, wie man einen möglichst großen Effekt erzielte: Wie in Zeitlupe drehte er den Kopf und lächelte sein bestes Totenschädel-Lächeln. Woraufhin der Magier erbleichte und rasch einige Schutzzauber murmelte.
Ein wenig unsicher und mit ungewohnter Kühle an den Ohren kehrte Mort einige Minuten später zu dem Stall zurück, in dem Tods Pferd wartete. Er versuchte angemessen zu stolzieren – sein neuer Haarschnitt und der Mantel schienen eine gewisse Eleganz zu verlangen –, aber irgendwie klappte es nicht richtig.
Mort erwachte.
Eine Zeit lang blickte er an die Decke, während sein Gedächtnis auf die Rückspultaste drückte und die Ereignisse des vergangenen Tages kleinen Eiswürfeln gleich kristallisierten.
Er konnte unmöglich dem Tod begegnet sein. Er konnte unmöglich mit einem Skelett gespeist haben, in dessen fast leeren Augenhöhlen zwei winzige blaue Sterne funkelten. Ein gespenstischer Traum, weiter nichts. Es war völlig absurd, im Soziussitz auf einem großen weißen Pferd zu reiten, das zum Himmel emportrabte und dann …
… wohin galoppierte?
Die Antwort kam mit der Unausweichlichkeit eines Steuerbescheids.
Hierher.