Die Gelehrten der Scheibenwelt - Terry Pratchett - E-Book

Die Gelehrten der Scheibenwelt E-Book

Terry Pratchett

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Beschreibung

Drei unnachahmlich unterhaltsame Sachbücher aus Sicht der Gelehrten der Scheibenwelt – unverzichtbar für alle Terry-Pratchett-Jünger: Als Ergebnis eines missglückten Experiments besitzen die Zauberer der Unsichtbaren Universität plötzlich ein Miniaturweltall: die irdische Rundwelt. Unter Führung der weisen Magier verfolgen wir die Geschichte unseres Universums vom Urknall bis zum Internet und darüber hinaus.

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Entdecke die Welt der Piper Fantasy: Übersetzung aus dem Englischen von Andreas Brandhorst und Erik Simon Andreas Brandhorst übersetzte die erzählenden, Erik Simon die wissenschaftlichen Kapitel. Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe 2. Auflage 2013 ISBN 978-3-492-95952-0 © 2000, 2002 Terry und Lyn Pratchett, foat Enterprises, Jack Cohen Titel der englischen Originalausgabe: »The Science of Discworld«, Ebury Press / Random House, London 2002 Deutschsprachige Ausgabe: © Piper Verlag GmbH, München 2006 Umschlaggestaltung: Guter Punkt, München Umschlagabbildung: Katarzyna Oleska Datenkonvertierung: CPI – Clausen & Bosse, Leck

»Jede hinreichend entwickelte Technik unterscheidet sich nicht mehr von Magie.«

ARTHUR C. CLARKE

»Jede Technik, die sich von Magie unterscheidet, ist nicht hinreichend entwickelt.«

GREGORY BENFORD

»Die Wahrheit ist deshalb soviel seltsamer als Fiktion, weil sie nicht konsistent sein muß.«

MARK TWAIN

»Es gibt nirgends Schildkröten.«

PONDER STIBBONS

Die Geschichte beginnt hier …

Es war einmal die Scheibenwelt. Und es gibt sie noch heute.

Die flache Scheibenwelt wird von einer riesigen Schildkröte durchs All getragen und ist Gegenstand von – bisher – dreiundzwanzig Romanen, vier Karten, einer Enzyklopädie, zwei Trickserien, T-Shirts, Schalen, Modellen, Abzeichen, Bier, Stickereien, Stiften und Postern. Wenn dieses Buch erscheint, dürfte es auch entsprechendes Talkumpuder und Parfüm geben. (Wenn nicht, ist es nur eine Frage der Zeit.)

Mit anderen Worten: Die Scheibenwelt erfreut sich großer Beliebtheit.

Und sie funktioniert mit Magie.

Rundwelt – unser Heimatplanet und das Universum, in dem er sich befindet – funktioniert auf der Grundlage von Naturgesetzen. Genau genommen funktioniert sie einfach. Wir beobachten sie dabei und ziehen Schlußfolgerungen, womit wir bei der Basis der Wissenschaft wären.

Eigentlich sollte man meinen, daß sich Magier und Wissenschaftler stark voneinander unterscheiden. Hier haben wir einige Leute, die sich sonderbar kleiden, ganz offensichtlich in einer eigenen Welt leben, eine besondere Sprache sprechen und häufig Bemerkungen von sich geben, die in krassem Gegensatz zum gesunden Menschenverstand stehen. Dort sehen wir Menschen, die sich seltsam kleiden, eine besondere Sprache sprechen, ganz offensichtlich in einer eigenen Welt leben und … äh …

Vielleicht sollten wir es andersherum versuchen. Existiert eine Verbindung zwischen Magie und Wissenschaft? Ist die Magie der Scheibenwelt mit ihren exzentrischen Zauberern, realistisch denkenden Hexen, dummen Trollen, feuerspeienden Drachen, sprechenden Hunden und einem personifizierten Tod imstande, uns die logische, durch und durch rationale Wissenschaft der Erde näherzubringen?

Wir glauben schon.

Den Grund dafür erklären wir gleich. Zuerst möchten wir darauf hinweisen, was das Buch ›Die Gelehrten der Scheibenwelt‹ nicht ist. Derzeit sind mehrere Bücher in der Art von The Science of the X-Files oder Die Physik von Star Trek erhältlich. Sie berichten von Bereichen der heutigen Wissenschaft, die vielleicht einmal zu betreffenden Ereignissen oder Apparaten führen könnten. Sind bei Roswell Außerirdische abgestürzt? Könnte jemals ein Warptriebwerk entwickelt werden, das die Energie von Antimaterie verwendet? Stehen uns irgendwann einmal die schier unerschöpflichen Batterien zur Verfügung, die offenbar in den Taschenlampen von Scully und Mulder stecken?

Wir hätten auf eine solche Weise vorgehen können. Wir hätten darauf hinweisen können, daß Darwins Evolutionstheorie erklärt, wie sich niedere Lebensformen zu höheren entwickeln. Wenn man von derartigen Voraussetzungen ausgeht, wäre es durchaus möglich, daß aus einem Mensch ein Orang-Utan wird (und dabei Bibliothekar bleibt, weil es keine höheren Lebensformen als Bibliothekare gibt). Wir hätten darüber spekulieren können, welche DNS-Sequenzen Asbestschichten im Innern von Drachen ermöglichen. Vielleicht wären wir sogar in Versuchung geraten, die Entstehung einer zehntausend Kilometer langen Schildkröte zu erklären.

Wir beschlossen aus gutem Grund, auf so etwas zu verzichten. Nun, eigentlich aus zwei guten Gründen.

Der erste Grund ist: So etwas wäre dumm gewesen.

Und zwar wegen des zweiten Grunds. Auf der Scheibenwelt spielt die Wissenschaft keine Rolle. Warum also sollten wir von einer solchen Annahme ausgehen? Drachen speien kein Feuer, weil sie Asbestlungen haben, sondern weil alle wissen, daß Drachen Feuer speien.

Der Motor der Scheibenwelt geht über Magie und Wissenschaft hinaus. Ihre Antriebskraft besteht aus dem narrativen Imperativ, aus der Macht einer Geschichte. Ihr kommt eine ähnliche Rolle zu wie dem sogenannten Phlogiston, einer Substanz, die, wie man im achtzehnten Jahrhundert glaubte, allen brennbaren Körpern beim Verbrennungsvorgang entweicht. Im Universum der Scheibenwelt gibt es das Narrativium. Es zeigt sich im Spin eines jeden Atoms und kommt im Dahintreiben aller Wolken zum Ausdruck. Es macht die Bewohner der Scheibenwelt zu dem, was sie sind, und es gibt ihnen die Möglichkeit, auch weiterhin zu existieren und an den Geschichten mitzuwirken.

Auf der Rundwelt geschehen die Dinge, weil sie geschehen möchten.* [* In gewisser Weise. Die Dinge geschehen, weil sie den Naturgesetzen gehorchen. Ein Stein hat keine feststellbare Meinung in Hinsicht auf Gravitation.] Das Universum nimmt kaum Rücksicht auf die Wünsche seiner Bewohner und ist auch nicht da, um eine Geschichte zu erzählen.

Mit Magie kann man einen Prinzen in einen Frosch verwandeln. Mit Wissenschaft kann man einen Frosch in einen Doktor der Philosophie verwandeln – und behält den Frosch, mit dem man begonnen hat.

Das ist die übliche Ansicht in bezug auf die Wissenschaft von Rundwelt. Allerdings bleibt dabei vieles unberücksichtigt, was die Wissenschaft eigentlich ausmacht. Sie existiert nicht in einem abstrakten Sinn. Man könnte das ganze Universum in seine Einzelteile zerlegen, ohne eine Spur von Wissenschaft zu finden. Bei der Wissenschaft handelt es sich um eine Struktur, die von Menschen geschaffen und entwickelt wurde. Menschen wählen Dinge, die sie interessieren oder für wichtig halten. Oft geht es in diesem Zusammenhang auch um ihre Phantasie.

Narrativium ist überaus wirkungsvoll. Wir haben immer dazu geneigt, dem Universum Geschichten aufzuzwingen. Als die Menschen zum erstenmal zu den Sternen emporblickten, sahen sie keine unvorstellbar weit entfernten Sonnen, sondern riesige Stiere, Drachen und mythische Helden.

Diese menschliche Eigenschaft nimmt keinen Einfluß auf die Beschaffenheit der Naturgesetze – zumindest keinen großen –, aber sie bestimmt, welche Naturgesetze wir überhaupt untersuchen möchten. Außerdem müssen die Naturgesetze des Universums imstande sein, all jene Dinge hervorzubringen, die wir beobachten, wodurch auch die Wissenschaft eine Art narrativen Imperativ bekommt. Menschen denken in Geschichten.* [* Es dauerte drei Jahre, bis uns die Bedeutung dieses Satzes aufging. Dann schrieben wir Die Philosophen der Rundwelt: Mehr von den Gelehrten der Scheibenwelt.] Zumindest in einem klassischen Sinn lief die Wissenschaft auf das Entdecken von ›Geschichten‹ hinaus. Man denke an Bücher mit Titeln wie Die Geschichte der Menschheit (The Story of Mankind), Die Abstammung des Menschen oder Stephen Hawkings Eine kurze Geschichte der Zeit.

Unter den Geschichten der Wissenschaft könnte die Scheibenwelt eine sehr wichtige Funktion ausüben: Was wäre wenn? Die Scheibenwelt ermöglicht Gedankenexperimente: Wie sähe die Wissenschaft aus, wenn das Universum anders beschaffen wäre oder sich die Wissenschaft in einer anderen Richtung entwickelt hätte? Wir können die Wissenschaft von außen betrachten.

Für einen Wissenschaftler besteht ein Gedankenexperiment aus einer Art geistigen Diskussion. Anschließend versteht man die Dinge so gut, daß man keine echten Experimente durchführen muß, was nicht nur Zeit und Geld spart, sondern einen auch davor bewahrt, peinliche Resultate zu erzielen. Auf der Scheibenwelt geht man praktischer an diese Sache heran. Dort geht es bei Gedankenexperimenten um Dinge, die nicht möglich sind und auch gar nicht funktionieren würden, wenn sie möglich wären. Das von uns geplante Gedankenexperiment ist vielen Wissenschaftlern vertraut, obwohl sie es vielleicht gar nicht wissen. Man braucht es auch gar nicht in die Praxis umzusetzen, denn es dreht sich ja gerade um etwas, das nicht funktionieren würde. Viele der wichtigsten Fragen der Wissenschaft – und unserer Auffassung von ihr – betreffen nicht die wahre Natur des Universums. Wir fragen uns vielmehr, was geschähe, wenn das Universum anders beschaffen wäre.

Jemand fragt: »Warum bilden Zebras Herden?« Man könnte nach einer Antwort suchen, indem man Soziologie und Psychologie von Zebras untersucht. Oder man stellt eine ganz andere Frage: »Was geschieht, wenn sie keine Herden bilden?« Eine der offensichtlichsten Antworten lautet: »Dann wäre die Wahrscheinlichkeit viel größer, daß sie von Löwen gefressen werden.« Dies läßt sofort den Schluß zu, daß Zebras Herden bilden, um sich zu schützen. Wir haben eine wichtige Erkenntnis in Hinsicht auf Zebras gewonnen, indem wir die Möglichkeit in Erwägung zogen, daß sie sich anders verhalten.

Ein weiteres und ernsteres Beispiel dafür bietet die Frage »Ist das Sonnensystem stabil?« oder »Könnte es sich dramatisch verändern, wenn es zu einer geringfügigen Störung käme?« Im Jahr 1887 bot der schwedische König Oskar II. 2500 Kronen für die Antwort. Hundert Jahre brauchten die Mathematiker der Erde, um eine eindeutige Antwort zu finden. Sie lautet: »Vielleicht.« (Es war eine gute Antwort, aber sie wurde nicht bezahlt. Das Geld hatte jemand bekommen, der es versäumte, die richtige Antwort zu liefern und dessen prämierter Artikel im interessantesten Abschnitt einen großen Fehler aufwies. Die Korrektur dieses Fehlers führte zur Chaostheorie, die wiederum den Weg für das ›Vielleicht‹ bereitete. Manchmal besteht die beste Antwort aus einer noch interessanteren Frage.) Bei Stabilität geht es nicht um die aktuelle Verhaltensweise eines Systems, sondern um die Frage, wie es auf Störungen reagiert. Mit anderen Worten: Stabilität und Was-wäre-wenn-Situationen stehen in einem unmittelbaren Zusammenhang.

Da ein großer Teil der Wissenschaft die substanzlose Welt der Gedankenexperimente betrifft, muß sich unser Verständnis der Wissenschaft sowohl mit imaginären als auch mit realen Welten befassen. Die wahrhaft menschliche Qualität besteht daher nicht aus Intelligenz, sondern aus Phantasie. Und in dieser Hinsicht bildet die Scheibenwelt einen besonders geeigneten Ausgangspunkt. Sie bietet ein konsistentes, gut entwickeltes Universum mit eigenen Regeln, und es leben überzeugend reale Personen darin, trotz der großen Unterschiede zwischen den dortigen ›Naturgesetzen‹ und unseren. Viele von ihnen wurzeln im ›gesunden Menschenverstand‹, einem natürlichen Feind der Wissenschaft.

In den Scheibenwelt-Geschichten ist immer wieder die Rede von der Unsichtbaren Universität, dem wichtigsten magischen Bildungsinstitut weit und breit. Die Zauberer* [* Wie die Bewohner einer beliebigen Rundwelt-Universität haben sie unbegrenzte Zeit für Forschung, verfügen über unbegrenzte finanzielle Mittel und brauchen sich keine Sorgen über die Amtszeit machen. Darüber hinaus sind sie sprunghaft, beweisen bei ihrer Boshaftigkeit großen Einfallsreichtum, widersetzen sich neuen Ideen, bis alte daraus werden, sind in den seltsamsten Momenten äußerst kreativ und streiten dauernd – in dieser Hinsicht haben sie überhaupt keine Ähnlichkeit mit ihren wissenschaftlichen Kollegen in Rundwelt.] sind ein recht lebhafter Haufen, immer dazu bereit, eine Tür mit der Aufschrift ›Unbedingt geschlossen lassen‹ zu öffnen oder nach einem zischenden Gegenstand zu greifen. Sie machten einen recht nützlichen Eindruck auf uns …

Wenn wir – oder sie – die Magie der Scheibenwelt mit Rundwelts Wissenschaft vergleichen, so finden wir erstaunlich viele Parallelen und Gemeinsamkeiten. Den Zauberern der Unsichtbaren Universität muß Rundwelt natürlich wie eine Parodie ihrer eigenen Welt erscheinen. Auch die Unterschiede zwischen den beiden Welten erwiesen sich als sehr aufschlußreich. Die Wissenschaft erscheint in einem ganz neuen Licht, wenn man auf Fragen in der Art von ›Wie sieht Molch-DNS aus?‹ verzichtet und statt dessen fragt: ›Wie würden die Zauberer wohl reagieren, wenn man so über Molche nachdenkt?‹

Es gibt keine Wissenschaft als solche auf der Scheibenwelt, und deshalb mußten wir diese Lücke füllen. Die Zauberer sollten mit magischen Mitteln die Möglichkeit erhalten, eine eigene Form der Wissenschaft zu entwickeln, ein kleines ›Universum‹, in dem Naturgesetze die Magie ablösen. Und während die Zauberer herausfinden, wie aufgrund der Naturgesetze interessante Dinge geschehen, die Steine, Bakterien und Zivilisationen betreffen, beobachten wir sie dabei, wie sie … nun, uns beobachten. Es ist eine Art rekursives Gedankenexperiment oder eine russische Matrjoschka-Puppe, bei der das kleinste Exemplar das größte enthält.

Und dann fanden wir heraus, daß … Oh, das ist eine andere Geschichte.

TP, IS & JC IM DEZEMBER 1998

PS. Auf den nachfolgenden Seiten kamen wir nicht umhin, Schrödingers Katze, das Zwillingsparadoxon und die Sache mit der Taschenlampe zu erwähnen, die vor einem Raumschiff leuchtet, das mit Lichtgeschwindigkeit fliegt. Die Regeln der Gilde wissenschaftlicher Autoren verlangten von uns, diese Dinge zu erwähnen. Wir haben uns allerdings bemüht, uns an den betreffenden Stellen möglichst kurz zu fassen.

Es ist uns auch gelungen, außerordentlich wenige Worte über die Hose der Zeit zu verlieren.

PPS. Manchmal ändern Wissenschaftler ihre Meinung. Neue Entwicklungen führen dazu, daß sie ihren Standpunkt neu überdenken. Wenn Sie das beunruhigt, bedenken Sie, wieviel Schaden der Welt von Leuten zugefügt wird, für die neue Entwicklungen kein Grund zum Überdenken sind.

Die Änderungen in dieser neuen Auflage widerspiegeln drei Jahre wissenschaftlichen Fortschritts … vorwärts und rückwärts. (Sie werden beides finden.) Wir haben zwei völlig neue Kapitel eingefügt: eins über das Leben der Dinosaurier, da das vorhandene Kapitel über den Tod der Dinosaurier uns etwa deprimierend erschien, und eins über kosmische Katastrophen, denn in vielerlei Hinsicht ist das Universum deprimierend.

Die Scheibenwelt-Geschichte hat sich im Vergleich zur Wissenschaft als robuster erwiesen. Wie zu erwarten war. Die Scheibenwelt hat eben viel mehr Sinn als die Rundwelt.

TP, IS & JC IM JANUAR 2002

EINS

Die Spaltung des Thaums

Manche Fragen sollten nicht gestellt werden. Doch sie waren praktisch unausweichlich.

»Wie funktioniert es?« fragte Erzkanzler Mustrum Ridcully, Rektor der Unsichtbaren Universität.

Diese Frage verabscheute Ponder Stibbons fast ebensosehr wie die Frage ›Wieviel kostet es?‹ Es handelte sich um zwei der schwierigsten Fragen, mit denen ein Forscher konfrontiert wurde. Er war de facto für die magische Entwicklung an der Universität zuständig, und in dieser Funktion vermied er finanzielle Fragen um jeden Preis.

»Auf eine recht komplexe Art und Weise«, antwortete er schließlich.

»Ah.«

»Ich wüßte gern, wann wir den Squashplatz zurückbekommen«, ließ sich der Oberste Hirte vernehmen.

»Du spielst nie, Oberster Hirte«, sagte Ridcully und sah an der großen schwarzen Vorrichtung hinauf, die auf dem alten Universitätshof stand.* [* Das von den Zauberern gespielte ›echte‹ Squash hat kaum Ähnlichkeit mit der schweißintensiven Hochgeschwindigkeitsversion, die man anderenorts kennt. Zauberer sehen keinen Sinn darin, sich schnell zu bewegen. Der Ball wird eher träge geschlagen. Allerdings sorgen magische Inkonsistenzen im Boden und in den Wänden dafür, daß der Ball nicht unbedingt von der gleichen Wand abprallt, an die er stößt. Später begriff Ponder Stibbons, daß es besser gewesen wäre, diesem Punkt größere Beachtung zu schenken. Für ein magisches Teilchen gibt es nichts Aufregenderes, als auf sich selbst zu treffen.]

»Aber vielleicht möchte ich es eines Tages. Und es wird verdammt schwer, wenn uns dabei dieses Ding im Weg steht. Wir müßten ganz neue Regeln bestimmen.«

Draußen sammelte sich Schnee an den hohen Fenstern. Dies war der längste Winter seit Menschengedenken. Er war sogar so lang, daß das Menschengedenken kürzer wurde, denn einige der ältesten Bewohner der Stadt starben. Der Frost durchdrang sogar die dicken Mauern der Unsichtbaren Universität, sehr zum Verdruß der Fakultät. Zauberer können mit Entbehrungen und Unannehmlichkeiten aller Art fertig werden, vorausgesetzt natürlich, sie betreffen andere.

Aus diesem Grund war Ponder Stibbons’ Projekt endlich genehmigt worden, nach drei langen Jahren des Wartens. Sein Hinweis, die Spaltung des Thaums würde die Grenzen des Wissens zurückdrängen, stieß auf taube Ohren. Die Grenzen von irgend etwas zurückzudrängen … Die Zauberer verglichen diesen Vorgang damit, einen sehr großen feuchten Stein hochzuheben. Als Ponder betonte, die Spaltung des Thaums werde die Gesamtsumme menschlicher Zufriedenheit vergrößern, bekam er zur Antwort, alle seien bereits recht zufrieden.

Schließlich sprach er davon, daß die Spaltung des Thaums gewaltige Mengen magischer Energie freisetze, die sich leicht in billige Wärme umwandeln lasse. Das funktionierte. Die Fakultät zeigte nur mäßiges Interesse, wenn es um Wissen an sich ging, aber ihr Enthusiasmus wuchs erheblich, wenn man ihr warme Schlafzimmer in Aussicht stellte.

Die anderen Zauberer wanderten auf dem Hof umher, der jetzt nicht mehr annähernd soviel Platz bot wie früher, und betasteten den Apparat. Der Erzkanzler nahm die Pfeife aus dem Mund und klopfte sie geistesabwesend an der mattschwarzen Vorrichtung aus.

»Äh … das solltest du besser unterlassen, Herr«, sagte Ponder.

»Warum denn?«

»Weil … weil, äh …, weil die Möglichkeit besteht, daß …« Ponder unterbrach sich. »Um zu vermeiden, daß es hier schmutzig wird, Herr.«

»Ah. Guter Hinweis. Das Ding könnte also nicht explodieren, oder?«

»Äh … nein, Herr. Haha«, erwiderte Ponder kummervoll. »Dazu ist viel mehr erforderlich, Herr …«

Mit einem lauten Pochen prallte ein Squashball erst von der Wand und dann von der Außenhülle des Apparats ab. Er schlug dem Erzkanzler die Pfeife aus dem Mund.

»Das warst du, Dekan«, sagte Ridcully vorwurfsvoll. »Meine Güte, jahrelang beachtet ihr den Hof überhaupt nicht, und plötzlich wollt ihr alle … Stibbons? Stibbons?«

Er stieß den leitenden Forschungsmagier der Universität an, der sich geduckt hatte. Ponder Stibbons hob den Kopf ein wenig und blickte durch die Lücken zwischen den Fingern.

»Es wäre wirklich eine gute Idee, wenn sie damit aufhören würden, Squash zu spielen, Herr«, flüsterte er.

»Das finde ich auch. Es gibt nichts Scheußlicheres als einen schwitzenden Zauberer. He, hört auf. Und kommt näher. Stibbons will uns jetzt alles erläutern.« Er bedachte den jungen Zauberer mit einem durchdringenden Blick. »Bestimmt wird es ein sehr informativer und interessanter Vortrag, nicht wahr, Stibbons? Er wird uns jetzt erklären, wofür er 55 879,45 AM$ ausgegeben hat.«

»Und warum er einen wundervollen Squashplatz ruinieren mußte«, fügte der Oberste Hirte hinzu. Er klopfte mit seinem Schläger an den Apparat.

»Und ich möchte wissen, ob dieses Ding sicher ist«, verlangte der Dekan. »Ich bin dagegen, an der Physik herumzupfuschen.«

Ponder Stibbons verzog das Gesicht.

»Ich versichere dir, Dekan: Die Wahrscheinlichkeit dafür, daß die … äh … Reaktionsmaschine jemanden tötet, ist sogar noch größer als die, beim Überqueren der Straße überfahren zu werden«, sagte er.

»Tatsächlich? Oh, na schön.«

In Gedanken wiederholte Ponder den improvisierten Satz und beschloß, ihn unter den gegebenen Umständen nicht zu korrigieren. Gespräche mit den alten Zauberern ähnelten dem Versuch, ein Kartenhaus zu bauen: Wenn irgend etwas stehenblieb, atmete man ganz vorsichtig und griff nach der nächsten Karte.

Ponder hatte ein kleines System entwickelt, das er insgeheim Lügen-für-Zauberer nannte. Es war zu ihrem eigenen Besten, sagte er sich. Es hatte keinen Sinn, den Vorgesetzten alles zu verraten. Viele Dinge erforderten ihre Aufmerksamkeit, und sie wollten ihre Zeit nicht damit vergeuden, sich Erklärungen anzuhören. Es wäre falsch gewesen, sie mit Einzelheiten zu belasten. Eigentlich wünschten sie sich nur kleine Geschichten, die sie verstanden; anschließend gingen sie fort und hörten auf, sich Sorgen zu machen.

Auf der anderen Seite des Hofes hatten Ponders Studenten etwas vorbereitet. Mehrere Rohrleitungen führten durch die Wand des nahen Forschungstrakts für hochenergetische Magie und verbanden ein Terminal mit HEX, der Denkmaschine der Unsichtbaren Universität. Daneben stand ein Sockel mit einem großen roten Hebel, an dem jemand ein rosarotes Band befestigt hatte.

Ponder sah auf seine Notizen und blickte dann zur Fakultät.

»Ähm …«, begann er.

»Ich habe irgendwo ein Halsbonbon«, sagte der Oberste Hirte und klopfte auf seine Hosentaschen.

Ponder betrachtete erneut seine Notizen und fühlte sich von schrecklicher Hoffnungslosigkeit erfaßt. Er konnte die Thaumspaltung gut erklären, vorausgesetzt, die zuhörende Person wußte bereits darüber Bescheid. Bei den alten Zauberern hingegen mußte er die Bedeutung eines jeden Wortes erklären, manchmal sogar von Worten wie ›und‹ und ›oder‹.

Sein Blick glitt zur wassergefüllten Karaffe auf dem Pult, und er beschloß zu improvisieren.

Ponder hob ein Glas Wasser.

»Wußtet ihr«, sagte er, »daß das thaumische Potential in diesem Wasser … ich meine, sein magisches Feld, hervorgerufen vom Narrativiumgehalt, der uns mitteilt, daß es sich um Wasser handelt, und der dafür sorgt, daß der Inhalt des Glases Wasser bleibt und sich nicht etwa in, haha, eine Taube oder einen Frosch verwandelt … Nun, wußtet ihr, daß eine Freisetzung der entsprechenden Energie ausreichen würde, um diese ganze Universität bis zum Mond zu bringen?«

Er strahlte.

»Dann sollte sie besser im Glas bleiben«, bemerkte der Professor für unbestimmte Studien.

Ponders Lächeln erstarrte.

»Natürlich können wir nicht die gesamte Energie gewinnen«, fuhr er fort. »Aber wir …«

»Genug, um einen kleinen Teil der Universität zum Mond zu bringen?« fragte der Dozent für neue Runen.

»Der Dekan könnte einen Urlaub vertragen«, meinte der Erzkanzler.

»Diese Bemerkung gefällt mir nicht, Erzkanzler.«

»Ich wollte nur die Stimmung ein wenig verbessern, Dekan.«

»Aber wir können genug Energie für viele nützliche Dinge freisetzen«, erklärte Ponder und hatte bereits Mühe.

»Wir wär’s damit, mein Arbeitszimmer zu heizen?« warf der Dozent für neue Runen ein. »Heute morgen trug das Wasser im Krug schon wieder eine Eisschicht.«

»Genau!« sagte Ponder und griff nach einer Lüge-für-Zauberer. »Wir können die Energie verwenden, um einen großen Kessel zu erhitzen! Darum geht es! Alles ist völlig harmlos und überhaupt nicht gefährlich! Deshalb hat mir der Universitätsrat den Bau gestattet! Ihr hättet mir doch nicht erlaubt, etwas Gefährliches zu konstruieren, oder?«

Er trank das Wasser.

Die versammelten Zauberer wichen mehrere Schritte zurück.

»Laß uns wissen, wie’s dort oben aussieht«, bat der Dekan.

»Bring einige Steine mit oder so«, schlug der Dozent für neue Runen vor.

»Wink uns zu«, meinte der Oberste Hirte. »Wir haben ein ziemlich gutes Teleskop.«

Ponder starrte auf das leere Glas hinab und rückte seine mentale Perspektive erneut zurecht.

»Äh … nein«, sagte er. »Der Treibstoff muß im Innern der Reaktionsmaschine untergebracht werden. Und dann … und dann …«

Ponder gab auf.

»Die Magie dreht sich im Kreis und gerät schließlich unter den eingebauten Kessel, und dann ist es in der Universität angenehm warm«, erklärte er. »Irgendwelche Fragen?«

»Was ist mit der Kohle?« fragte der Dekan. »Es ist einfach unerhört, wieviel die Zwerge heutzutage dafür verlangen.«

»Nein, Herr«, antwortete Ponder. Eine Schweißperle rann ihm über die Schläfe. »Die Wärme ist … gratis.«

»Tatsächlich?« erwiderte der Dekan. »Dann sparen wir eine Menge Geld, nicht wahr, Quästor? He, wo ist der Quästor?«

»Oh … äh … der Quästor hilft mir heute, Herr«, murmelte Ponder. Er deutete zu einem hohen Balkon. Dort stand der Quästor, lächelte sein verträumtes Lächeln und hielt eine Axt in der Hand. Ein Seil war am Geländer befestigt und führte zu einer langen, schweren Stange, die mitten über der Reaktionsmaschine schwebte.

»Es ist … äh … nicht ganz auszuschließen, daß der Apparat zuviel Magie produziert«, erläuterte Ponder. »Die Stange besteht aus Blei und Ebereschenholz. Beides zusammen dämpft magische Reaktionen. Wenn es zu … Ich meine, wenn wir die Dinge ein wenig beruhigen wollen, schlägt der Quästor das Seil durch, und dann fällt die Stange ins Zentrum der Reaktionsmaschine.«

»Welche Aufgabe nimmt der neben ihm stehende Mann wahr?«

»Das ist mein Assistent Adrian Rübensaat. Er fungiert als für den Notfall bestimmtes und absolut zuverlässiges Sicherheitssystem.«

»Was ist seine Aufgabe?«

»Er soll ›Um Himmels willen, schlag das Seil durch!‹ rufen, falls es notwendig werden sollte, Herr.«

Die Zauberer nickten. Nach den Maßstäben von Ankh-Morpork, wo man den Daumen als Temperaturmesser verwendete, waren das geradezu extreme Sicherheitsmaßnahmen.

»Nun, mir scheint, hier kann überhaupt nichts schiefgehen«, sagte der Oberste Hirte.

»Wie kam dir der Einfall für diese Sache, Stibbons?« fragte Ridcully.

»Nun, ein großer Teil basiert auf meinen eigenen Forschungsarbeiten, aber einige wichtige Anregungen gaben mir die Schriftrollen von Loko aus der Bibliothek, Herr.« Ponder glaubte, sich hier auf sicherem Boden zu bewegen. Die Zauberer wußten alte Weisheit zu schätzen, sofern sie alt genug war. Sie verglichen Weisheit mit Wein: Sie wurde immer besser, je länger man sie sich selbst überließ. Vermutlich lohnte es gar nicht, Dinge zu kennen, über die seit Jahrhunderten niemand Bescheid wußte.

»Loko … Loko … Loko …«, murmelte Ridcully. »Das ist oben in Überwald, nicht wahr?«

»Ja, Herr.«

»Ich glaube, ich erinnere mich daran«, sagte Ridcully und rieb sich den Bart. »Ein tiefes Tal, umgeben von einem Ring aus Bergen? Ja, ein sehr tiefes Tal, wenn ich mich recht entsinne.«

»In der Tat, Herr. Nach dem Bibliothekskatalog wurden die Schriftrollen von der Krustlich-Expedition in einer Höhle entdeckt …«

»Dort gibt’s jede Menge Zentauren und Faune und andere seltsam aussehende magische Geschöpfe. Hab mal davon gelesen.«

»Tatsächlich, Herr?«

»Und starb Stanmer Krustlich nicht an Planeten?«

»Leider kenne ich mich nicht mit …«

»Eine sehr seltene magische Krankheit, soweit ich weiß.«

»Mag sein, Herr, aber …«

»Wenn ich jetzt darüber nachdenke …«, fuhr Ridcully fort. »Einige Monate nach ihrer Rückkehr erkrankten alle Teilnehmer der Expedition an irgendwelchen ernsten magischen Leiden.«

»Äh … ja, Herr. Man glaubte, ein Fluch liege auf dem Land. Was natürlich Unsinn ist.«

»Ich muß diese Frage stellen, Stibbons: Könnte dieser Apparat explodieren und die ganze Universität zerstören?«

Ponder seufzte innerlich. In Gedanken prüfte er den Satz und suchte Zuflucht bei der Wahrheit. »Nein, Herr.«

»Versuch einmal, ganz ehrlich zu sein, Stibbons.« Und genau darin bestand das Problem mit dem Erzkanzler. Die meiste Zeit über schritt er umher und schrie die Leute an. Aber wenn er seine Gehirnzellen einmal Aufstellung beziehen ließ, so zeigten sie sofort auf den nächsten schwachen Punkt.

»Nun … in dem sehr unwahrscheinlichen Fall, daß ein ernster Unfall passiert … Die Explosion würde nicht nur die Universität zerstören, Herr.«

»Was müßte damit rechnen, vernichtet zu werden?«

»Äh … alles, Herr.«

»Du meinst, alles, was sich in der Nähe der Universität befindet?«

»Alles in einem Radius von fünfzigtausend Meilen, Herr. Nach HEX’ Berechnungen geschähe es innerhalb eines Sekundenbruchteils. Wir hätten nicht einmal Gelegenheit, etwas davon zu bemerken.«

»Und die Chancen dafür stehen …?«

»Etwa eins zu fünfzig, Herr.«

Die Zauberer entspannten sich.

»Das ist ziemlich sicher. Bei einer solchen Wahrscheinlichkeit würde ich nicht einmal auf ein Pferd setzen«, sagte der Oberste Hirte. An der Innenseite seines Schlafzimmerfensters hatte sich eine ein Zentimeter dicke Eisschicht gebildet. So etwas sorgte dafür, daß man Risiken aus einem ganz neuen Blickwinkel sah.

ZWEI

Squashplatz-Wissenschaft

Ein Squashplatz kann benutzt werden, um Dinge viel schneller als ein kleiner Gummiball laufen zu lassen …

Am 2. Dezember 1942 trat auf einem Squashplatz im Keller von Stagg Field an der Universität von Chicago eine neue Ära der Technik ins Dasein. Es war eine Technik, aus dem Krieg geboren, doch eine ihrer Folgen war es, daß die Aussicht eines Krieges so schrecklich wurde, daß Krieg im weltweiten Maßstab langsam und zögernd immer unwahrscheinlicher wurde.* [* Oder doch weniger radioaktiv. Wir können nur das Beste hoffen.] In Stagg Field brachte der in Rom geborene Physiker Enrico Fermi mit seinem Team von Wissenschaftlern die erste sich selbst aufrechterhaltende nukleare Kettenreaktion zustande. Daraus entstanden die Atombombe und später die friedliche Nutzung von Kernenergie. Doch es gab eine viel wesentlichere Folge: die Morgenröte der Großen Wissenschaft und ein neuer Stil technischer Veränderung.

Niemand spielte im Keller von Stagg Field Squash, als sich der Reaktor dort befand – doch viele Leute, die auf dem Squashplatz arbeiteten, hatten dieselbe Einstellung wie Ponder Stibbons … größtenteils unersättliche Neugier, aber auch Zeiten nagenden Zweifels mit einem Anflug von Entsetzen. Neugier brachte alles in Gang, und am Ende stand das Entsetzen.

Nach einer langen Folge von physikalischen Entdeckungen im Zusammenhang mit dem Phänomen der Radioaktivität fand Fermi 1934 heraus, daß interessante Dinge geschehen, wenn man Substanzen mit ›langsamen Neutronen‹ beschießt – mit subatomaren Teilchen, die von radioaktivem Beryllium ausgesandt und durch Paraffin geleitet wurden, um sie zu verlangsamen. Wie Fermi entdeckte, waren langsame Neutronen genau das Richtige, um andere Elemente zu überreden, ihrerseits radioaktive Teilchen auszusenden. Das sah interessant aus, also lenkte er Ströme von langsamen Neutronen auf alles, was ihm in den Sinn kam, und schließlich probierte er es mit dem damals kaum bekannten Element Uran, das seinerzeit hauptsächlich als Quelle von gelben Pigmenten diente. In einem Vorgang, der wie Alchimie wirkte, verwandelte sich das Uran in etwas anderes, wenn die langsamen Neutronen hineinprasselten – doch Fermi konnte nicht herausbekommen, was es war.

Vier Jahre später wiederholten drei Deutsche – Otto Hahn, Lise Meitner und Fritz Straßmann – Fermis Experimente, und als die besseren Chemiker fanden sie heraus, was mit dem Uran passiert war. Auf rätselhafte Weise hatte es sich in Barium, Krypton und eine kleine Menge anderer Substanz verwandelt. Meitner erkannte, daß dieser Vorgang der ›Kernspaltung‹ auf bemerkenswerte Weise Energie freisetzte. Jeder wußte, daß die Chemie Stoffe in andere Arten von Stoffen umwandeln kann, doch nun wurde ein Teil der Materie des Urans in Energie umgewandelt, etwas, was noch nie jemand beobachtet hatte. Wie es sich ergab, hatte Albert Einstein aufgrund theoretischer Überlegungen gerade diese Möglichkeit mit seiner berühmten Formel vorhergesagt – einer Gleichung, die der Orang-Utan-Bibliothekar der Unsichtbaren Universität* [* Er war das Opfer eines magischen Unglücksfalls, der ihm ziemlich gut gefiel. Aber das wissen Sie ja.] in folgende Form bringen würde: »Ugh«.* [* Es heißt, jede Formel halbiere die Verkaufszahlen eines populärwissenschaftlichen Buches. Das ist Unsinn – wenn es wahr wäre, dann wäre von Roger Penrose’ Computerdenken (The Emperor’s New Mind) ein Achtel Exemplar verkauft worden, während der tatsächliche Absatz in die Hunderttausende geht. Aber nur für den Fall, daß etwas Wahres an dem Mythos sein sollte, haben wir diese Beschreibung der Formel gewählt, um die potentiellen Verkaufszahlen unseres Buches zu verdoppeln. Sie wissen alle, welche Formel wir meinen. In mathematischen Symbolen findet man sie auf Seite 138 von Stephen Hawkings Eine kurze Geschichte der Zeit (deutsche Paperback-Ausgabe bei Rowohlt); wenn also der Mythos wahr ist, hätte er doppelt so viele Exemplare verkaufen können – ein schwindelerregender Gedanke.] Einsteins Formel sagt uns, daß die in einer bestimmten Menge Materie ›enthaltene‹ Energie gleich der Masse dieser Materie ist, multipliziert mit der Lichtgeschwindigkeit und dann nochmals mit der Lichtgeschwindigkeit multipliziert. Wie Einstein sofort feststellte, ist das Licht so schnell, daß es sich überhaupt nicht zu bewegen scheint, also ist seine Geschwindigkeit ausgesprochen groß … und mit sich selbst multipliziert, ist sie riesig. Mit anderen Worten: Aus einem winzigen Stück Materie kann man eine gewaltige Menge Energie gewinnen, wenn man nur eine Methode findet, wie man das anstellt. Nun war Lise Meitner auf den Trick gekommen.

Ob eine einzelne Gleichung nun die Verkaufszahlen eines Buches halbiert oder nicht, sie kann die Welt von Grund auf verändern.

Hahn, Meitner und Straßmann veröffentlichten ihre Entdeckung im Januar 1939 in der britischen wissenschaftlichen Zeitschrift Nature. Neun Monate später befand sich Großbritannien im Krieg, einem Krieg, der durch die militärische Anwendung ihrer Entdeckung beendet werden sollte. Es ist eine Ironie, daß das größte wissenschaftliche Geheimnis des Zweiten Weltkriegs kurz vor Kriegsbeginn preisgegeben wurde, und es zeigt, wie wenig sich die Politiker damals der Möglichkeiten der Großen Wissenschaft – zum Guten oder zum Bösen – bewußt waren. Fermi erkannte augenblicklich, was in dem Artikel in Nature steckte, und zog einen weiteren hochrangigen Physiker hinzu, Niels Bohr, der auf einen neuen Dreh kam: die Kettenreaktion. Wenn eine besondere, seltene Form von Uran namens Uran-235 mit langsamen Neutronen beschossen wird, dann zerfällt sie nicht nur in andere Elemente und setzt Energie frei – sie sendet auch weitere Neutronen aus. Die ihrerseits weiteres Uran-235 beschießen … Die Reaktion hält sich selbst in Gang, und die freigesetzte Energie kann gigantisch sein.

Würde es funktionieren? Konnte man auf diese Weise ›etwas umsonst‹ bekommen? Es war von Anfang an klar, daß es nicht einfach wäre, dies herauszufinden, da Uran-235 mit gewöhnlichem Uran (Uran-238) vermischt ist, und es herauszuholen, ist so, als suche man eine Nadel in einem Heuhaufen und die Nadel bestehe aus Stroh.

Es gab nochmehr Sorgen … Vor allem: Würde das Experiment vielleicht zu erfolgreich sein, indem es eine Kettenreaktion auslöste, die sich nicht nur auf den im Experiment verfügbaren Vorrat an Uran-235 erstreckte, sondern auch alles andere auf der Erde erfaßte? Finge die Atmosphäre vielleicht Feuer? Die Berechnungen legten den Schluß nahe: wahrscheinlich nicht. Sollten außerdem die Alliierten die Kernspaltung nicht bald zum Funktionieren bringen, so bestand Anlaß zu der Befürchtung, daß die Deutschen ihnen zuvorkommen würden. Wenn zur Entscheidung stand, ob wir die Welt in die Luft jagen würden oder der Feind es täte, war klar, was zu tun war.

Wenn man darüber nachdenkt, ist das kein glücklicher Satz.

Loko hat bemerkenswerte Ähnlichkeit mit Oklo im Südosten von Gabun, wo es Uranlagerstätten gibt. In den siebziger Jahren fanden französische Wissenschaftler Beweise, daß ein Teil dieses Urans entweder ungewöhnliche intensive Kernreaktionen durchgemacht hat oder viel, viel älter als der übrige Planet ist.

Es könnte ein archäologisches Relikt einer uralten Zivilisation sein, deren Technik bis zur Atomenergie vorgedrungen war, doch eine langweiligere und plausiblere Erklärung besagt, daß Oklo ein ›natürlicher Reaktor‹ war. Rein zufällig enthielt diese Ansammlung von Uran mehr Uran-235, und über Hunderttausende von Jahren hinweg fand eine spontane Kettenreaktion statt. Die Natur brachte das lange vor der Wissenschaft fertig, und ohne Squashplatz.

Es sei denn, es wäre doch ein archäologisches Relikt einer uralten Zivilisation.

Bis gegen Ende 1998 war der natürliche Reaktor in Oklo auch der beste Beweis, den wir finden konnten, um zu zeigen, daß eine der größten Was-wäre-wenn-Fragen der Wissenschaft eine uninteressante Antwort hat. Die Frage lautet: ›Was wäre, wenn die Naturkonstanten gar nicht konstant sind?‹

Unseren wissenschaftlichen Theorien liegen etliche Zahlen zugrunde, die ›Grundkonstanten‹. Dazu gehören die Lichtgeschwindigkeit, das Plancksche Wirkungsquantum (grundlegend für die Quantenmechanik), die Gravitationskonstante (grundlegend für die Gravitationstheorie), die Elementarladung des Elektrons und so weiter. Alle anerkannten Theorien gehen davon aus, daß diese Werte vom allerersten Moment an, da unser Universum explosionsartig ins Dasein trat, immer gleich geblieben sind. Unsere Berechnungen über die Anfänge des Universums stehen und fallen damit, ob diese Werte gleich blieben; wenn sie sich geändert hätten, wüßten wir nicht, welche Werte wir in die Berechnungen einsetzen sollen. Es ist, als wolle man seine Einkommenssteuer ausrechnen, wenn einem niemand die Steuersätze sagt. Von Zeit zu Zeit treten vereinzelte Wissenschaftler mit einer irregulären Was-wäre-wenn-Theorie auf, in der sie die Möglichkeit ausprobieren, daß eine oder mehrere Grundkonstanten nicht konstant sind. Der Physiker Lee Smolin hat sogar eine Theorie sich entwickelnder Universen präsentiert, die aus Baby-Universen mit unterschiedlichen Grundkonstanten knospen. Dieser Theorie zufolge versteht sich unser Universum besonders gut darauf, solche Babys zu erzeugen, und ist auch besonders gut für die Entwicklung von Leben geeignet. Diese beiden Eigenschaften, behauptet er, träfen nicht zufällig zusammen. (Die Zauberer an der Unsichtbaren Universität würden sich mit derlei Ideen übrigens leicht anfreunden – hinreichend hoch entwickelte Physik ist ja von Magie nicht zu unterscheiden.)

Oklo sagt uns, daß sich die Grundkonstanten in den letzten zwei Milliarden Jahren nicht verändert haben – das ist etwa das halbe Alter der Erde – und ein Zehntel vom Alter des Universums. Der Schlüssel der Beweisführung ist eine spezielle Kombination von Grundkonstanten, die ›Feinstrukturkonstante‹ genannt wird.* [* Die Feinstrukturkonstante ist definiert als das Quadrat der Elektronen-Elementarladung, geteilt durch das doppelte Produkt aus dem Planckschen Wirkungsquantum, der Lichtgeschwindigkeit und der elektrischen Feldkonstanten. (Mit einer handlichen Lüge könnte man sich die letztere Größe vorstellen als ›die Art, wie das Vakuum auf eine elektrische Ladung reagiert‹.) Danke.] Ihr Wert kommt 1/137 sehr nahe (und eine Menge Tinte wurde aufgebracht, um diese ganze Zahl 137 zu erklären, zumindest bis genauere Messungen den Wert als 137,036 bestimmten). Die Feinstrukturkonstante hat den Vorteil, daß ihr Wert nicht von den gewählten Maßeinheiten abhängt – anders als beispielsweise die Lichtgeschwindigkeit, die einen anderen Zahlenwert hat, je nachdem ob man sie in Meilen pro Sekunde oder in Kilometern pro Sekunde ausdrückt. Der russische Physiker Alexander Schljachter hat die verschiedenen Chemikalien im ›Atommüll‹ des Oklo-Reaktors untersucht und ermittelt, wie groß die Feinstrukturkonstante vor zwei Milliarden Jahren gewesen sein muß, als der Reaktor in Betrieb war. Das Ergebnis war derselbe Wert wie heute mit einer Genauigkeit von einigen Zehnmillionsteln.

Ende 1998 hat jedoch eine Gruppe Astronomen unter der Leitung von John Webb eine sehr genaue Untersuchung des Lichts angestellt, das von Quasaren ausgestrahlt wird, extrem fernen, aber sehr hellen Körpern. Sie fanden feine Abweichungen in bestimmten Eigenschaften des Lichts, die Spektrallinien genannt werden und mit den Schwingungen unterschiedlicher Arten von Atomen zusammenhängen. Was sie entdeckt zu haben scheinen, läuft darauf hinaus, daß vor vielen Jahrmilliarden – lange vor dem Oklo-Reaktor – die Atome nicht ganz genauso wie heute schwangen. In sehr alten Gaswolken aus frühen Stadien des Universums weicht die Feinstrukturkonstante um ein Fünfzigtausendstel vom heutigen Wert ab. Nach den Maßstäben dieses speziellen Gebiets der Physik ist das eine sehr große Abweichung. Soweit man es feststellen kann, geht dieses unerwartete Ergebnis nicht auf Meßfehler zurück. Eine 1994 von Thibault Damour und Alexander Poljakow aufgestellte Theorie weist auf eine mögliche Variation in der Feinstrukturkonstante hin, liefert aber nur ein Zehntausendstel der Abweichung, die Webbs Gruppe gefunden hat.

2001 analysierte ein anderes Team unter der Leitung von John Webb die Absorption des Lichts ferner Quasare durch interstellare Gaswolken und teilte mit, die Feinstrukturkonstante sei seit dem Urknall um ein Hunderttausendstel angestiegen. Wenn dieses Ergebnis zutrifft, folgt daraus, daß sich die Gravitationskraft sowie die schwache und die starke Kernkraft im Laufe der Zeit allesamt verändert haben müssen. Die Arbeit wird derzeit auf mögliche systematische Fehler überprüft, die zu denselben Beobachtungen führen könnten.

Die Sache ist ziemlich rätselhaft, und die meisten Theoretiker halten sich vernünftigerweise mit ihrem Urteil zurück und warten weitere Forschungen ab. Doch es könnte ein Vorzeichen sein: Vielleicht werden wir bald akzeptieren müssen, daß es in den fernen Bereichen von Raum und Zeit feine Unterschiede bei den Gesetzen der Physik gibt. Sie werden wohl kaum schildkrötenförmig sein, aber … anders.

DREI

Ich kenne meine Zauberer

Es dauerte nicht lange, bis die Fakultät mit dem kollektiven Zeigefinger auf den philosophischen Kern des Problems deutete, das die Vernichtung alles Existierenden betraf.

»Wenn niemand Gelegenheit erhält, etwas davon zu bemerken, so kann es überhaupt nicht geschehen sein«, sagte der Dozent für neue Runen. Sein Schlafzimmer befand sich auf einer der kälteren Seiten der Universität.

»Und niemand würde uns Vorwürfe machen«, fügte der Dekan hinzu. »Selbst wenn es geschähe.«

Die entspannte Reaktion der Zauberer ermutigte Ponder. »Es gibt einige theoretische Hinweise darauf, daß nichts zerstört wird, und zwar wegen der nichttemporalen Natur der thaumischen Komponente.«

»Wie bitte?« fragte Ridcully.

»Eine Fehlfunktion würde nicht in dem Sinne zu einer Explosion führen, Herr«, sagte Ponder. »Soweit ich das feststellen kann, würden die Dinge auch nicht aufhören, von jetzt an zu existieren. Wir müßten vielmehr damit rechnen, daß sie nie existiert haben, wofür der multidirektionale Kollaps des thaumischen Felds verantwortlich ist. Aber da es uns gibt, Herr, leben wir allem Anschein nach in einem Universum, wo es zu keinem Zwischenfall kam.«

»Ah, das kenne ich«, sagte Ridcully. »Es ist wegen der Quanten, nicht wahr? Es existieren andere Versionen von uns im Universum nebenan, und dort kam es zu einem Zwischenfall, der den armen Burschen das Leben kostete, stimmt’s?«

»Ja, Herr. Ich meine, nein. Sie blieben am Leben, weil der Apparat, den der andere Ponder Stibbons konstruierte, in die Luft flog, was dazu führte, daß der alternative Ponder Stibbons nie existierte und den Apparat also gar nicht bauen konnte … Nun, das ist zumindest die Theorie.«

»Bin froh, daß wir das geklärt haben«, sagte der Oberste Hirte munter. »Wir sind hier, weil wir hier sind. Und da wir schon einmal hier sind, können wir es auch warm haben.«

»Dann sind wir uns ja einig«, meinte Ridcully. »Stibbons, du kannst deine Höllenmaschine in Gang setzen.« Er nickte in Richtung des roten Hebels.

»Die Ehre wollte ich eigentlich dir überlassen, Erzkanzler«, erwiderte Ponder und verneigte sich. »Du brauchst nur den Hebel zu betätigen. Dadurch löst sich die … äh … Sicherheitssperre, was den Treibstoff in die Austauscheinheit strömen läßt, in der es daraufhin zu einer einfachen Oktiron-Reaktion kommt. Sie verwandelt Magie in Wärme und erhitzt das Wasser im Boiler.«

»Es ist also tatsächlich eine Art großer Kessel?« fragte der Dekan.

»In gewisser Weise, ja«, antwortete Ponder und versuchte, das Gesicht nicht zu verziehen.

Ridcully griff nach dem Hebel.

»Vielleicht möchtest du einige Worte sprechen, Herr«, sagte Ponder.

»Ja.« Ridcully überlegte kurz, und dann erhellte sich seine Miene. »Bringen wir’s schnell hinter uns, damit wir zu Mittag essen können.«

Die Zauberer applaudierten. Ridcully betätigte den Hebel. Der Zeiger eines Zifferblatts an der Wand bewegte sich und verließ die Nullposition.

»Nun, es ist nichts explodiert«, stellte der Oberste Hirte fest. »Wozu dient das Zifferblatt?«

»Oh, äh … es zeigt an, welche Zahl der Apparat erreicht hat«, sagte Ponder.

»Ah, verstehe.« Der Oberste Hirte griff nach dem Mantelaufschlag. »Ich glaube, heute gibt’s Entenbraten mit grünen Erbsen«, fügte er in einem weitaus interessierter klingenden Tonfall hinzu. »Gute Arbeit, Stibbons.«

Die Zauberer schlenderten fort, offenbarten dabei aber eine auffällige Zielstrebigkeit – immerhin wartete das Essen auf sie.

Ponder atmete erleichtert auf. Und eine Sekunde später schluckte er erschrocken, als er begriff, daß der Erzkanzler nicht etwa gegangen war, sondern sich den Apparat aus der Nähe ansah.

»Äh … möchtest du noch etwas wissen, Herr?« fragte er nervös.

»Wann hast du dieses Ding wirklich eingeschaltet, Stibbons?«

»Herr?«

»Jedes einzelne Wort in dem Satz hat eine klare, unmißverständliche Bedeutung. Habe ich sie in der falschen Reihenfolge aneinandergereiht?«

»Ich … wir … haben den Apparat kurz nach dem Frühstück in Betrieb genommen«, erwiderte Ponder schwach. »Was den Zeiger des Zifferblatts betrifft … Adrian Rübensaat hat ihn mit Hilfe eines Fadens bewegt.«

»Ist das Ding explodiert, als es zu arbeiten begann?«

»Nein, Herr! Wir … Nun, wir hätten es doch gemerkt, Herr!«

»Ich dachte, niemand hätte Gelegenheit bekommen, etwas davon zu bemerken, Stibbons.«

»Nun, das stimmt auch, ich meine …«

»Ich kenne dich, Stibbons«, sagte Ridcully. »Du würdest nie etwas der Öffentlichkeit vorstellen, ohne dich vorher zu vergewissern, daß es funktioniert. Niemand wünscht sich Eier im Gesicht, oder?«

Ponder dachte daran, daß Eier im Gesicht kaum mehr eine Rolle spielten, wenn das Gesicht nur noch in Form einer Partikelwolke existierte, die sich mit Dunkelgeschwindigkeit* [* Sie wurde bisher noch nicht gemessen. Man glaubt, daß die Dunkelheit viel schneller ist als das Licht, da es ihr immer gelingt, dem Licht auszuweichen.] ausdehnte.

Ridcully schlug an die schwarze Außenfläche des Apparats, was Ponder zum Anlaß nahm, heftig zusammenzuzucken.

»Schon warm«, sagte der Erzkanzler. »Ist da oben alles in Ordnung, Quästor?«

Der Quästor nickte glücklich.

»Wunderbar. Gute Arbeit, Stibbons. Laß uns jetzt zu Mittag essen.«

Nach einer Weile, als das Geräusch der Schritte längst verklungen war, merkte der Quästor, daß sich außer ihm niemand mehr auf dem Hof befand.

Der Quästor war keineswegs verrückt, wie manche Leute glaubten. Ganz im Gegenteil: Er stand mit beiden Beinen fest auf der Erde. Allerdings handelte es sich dabei um die Erde eines anderen Planeten, der rosarote Wolken und glückliche Kaninchen anzubieten hatte. Er zog jene Welt der wirklichen vor – dort schrien die Leute zuviel, und deshalb verbrachte er dort möglichst wenig Zeit. Unglücklicherweise verlangten die Mahlzeiten eine Rückkehr in die Realität, denn auf dem Planeten Nett wurde kein Essen serviert.

Er lächelte auch weiterhin verträumt, legte die Axt beiseite und schritt von dannen. Es ging darum, daß der komische Apparat nicht gefährlich wurde, und das schaffte er sicher auch allein.

Ponder Stibbons war leider viel zu besorgt, um aufzupassen, und die anderen Zauberer fanden nichts dabei, daß der Mann, der sie vor der thaumischen Katastrophe schützen sollte, Blasen in sein Glas Milch blies.

VIER

Wissenschaft und Magie

Wenn wir wollten, könnten wir zu mehreren Aspekten von Ponder Stibbons’ Experiment etwas sagen und die damit verknüpfte Wissenschaft beschreiben. Beispielsweise gibt es einen Hinweis auf die Multiversum-Interpretation der Quantenmechanik, wo jedesmal, wenn eine Entscheidungssituation mehrere Möglichkeiten zuläßt, Milliarden von Universen von unserem abzweigen. Und da gibt es die inoffizielle Standardprozedur für Eröffnungszeremonien, wo ein Mitglied des Königshauses oder der Präsident einen großen Hebel umlegt oder einen großen Knopf drückt, um ein großes Monument der Technik in Gang zu setzen – das hinter den Kulissen schon seit Tagen in Betrieb ist. Als Königin Elizabeth II. Calder Hall eröffnete, das erste britische Kernkraftwerk, ist genau das passiert – mitsamt großem Zeiger und allem Drum und Dran.

Aber für die Quanten ist es noch ein bißchen zu früh, und die meisten von uns haben Calder Hall völlig vergessen. Jedenfalls müssen wir mit dringlicheren Themen fertig werden. Nämlich mit der Beziehung zwischen Wissenschaft und Magie. Beginnen wir mit der Wissenschaft.

Das menschliche Interesse für das Wesen des Weltalls und unseren Platz darin reicht weit, weit zurück. Den frühen Humanoiden beispielsweise, die in den afrikanischen Savannen lebten, kann schwerlich entgangen sein, daß der Nachthimmel voll heller Lichtflecken war. In welchem Stadium ihrer Evolution sie sich zu fragen begannen, was es wohl mit den Lichtern auf sich habe, ist ein ungelöstes Rätsel, aber als sie genug Intelligenz entwickelt hatten, um Stöcke in eßbare Tiere zu stechen und Feuer zu benutzen, mögen sie wohl nicht zum Nachthimmel aufgeschaut haben, ohne sich zu fragen, wozu er zum Teufel da sei (und in Anbetracht der traditionellen fixen Ideen der Menschheit, ob er irgendwas mit Sex zu tun habe). Der Mond jedenfalls war beeindruckend – groß, hell, und er änderte seine Gestalt.

Wesen, die tiefer auf der Evolutionsleiter standen, haben den Mond zweifellos wahrgenommen. Nehmen wir zum Beispiel die Schildkröte – ein besser zur Scheibenwelt passendes Tier wird man schwerlich finden. Wenn in unserer Zeit Schildkröten auf den Strand kriechen, um ihre Eier zu legen und sie im Sand zu vergraben, richten sie es zeitlich irgendwie so ein, daß, wenn die Jungen schlüpfen, sie zum Meer krabbeln können, indem sie auf den Mond zu halten. Wir wissen das, weil die Lichter moderner Gebäude sie verwirren. Dieses Verhalten ist bemerkenswert, und es genügt durchaus nicht, alles auf den ›Instinkt‹ zu schieben und so zu tun, als sei das eine Antwort. Was ist denn Instinkt? Wie funktioniert er? Wie ist er entstanden? Ein Wissenschaftler möchte plausible Antworten auf solche Fragen, nicht bloß einen Vorwand, unter dem man sie abhaken kann. Es ist anzunehmen, daß die mondsüchtigen Neigungen der kleinen Schildkröten und die unheimliche Genauigkeit, mit der ihre Mütter den richtigen Zeitpunkt finden, sich gemeinsam entwickelt haben. Bei Schildkröten, die rein zufällig ihre Eier zum richtigen Zeitpunkt legten, so daß beim Schlüpfen der Jungen der Mond seewärts vom Strand stand, und deren Junge zufällig auf das helle Licht zusteuerten, erreichten mehr von der nächsten Generation das Meer als bei den anderen. Um aus diesen Tendenzen eine universelle Eigenschaft aller Schildkröten zu machen, bedurfte es nur einer Methode, sie an die nächste Generation weiterzugeben, und da kommen die Gene ins Spiel. Jene Schildkröten, die auf eine brauchbare Navigationsstrategie gestoßen waren und über die Gene diese Strategie an ihre Nachkommen weitergeben konnten, hatten mehr Erfolg als die anderen. Also gediehen sie und verdrängten die anderen, und bald gab es nur noch Schildkröten, die sich nach dem Mond orientieren konnten.

Schwimmt Groß-A’Tuin, die Schildkröte, die die Elefanten trägt, die die Scheibenwelt tragen, auf der Suche nach einem fernen Licht durch die Tiefen des Raumes? Vielleicht. Laut Das Licht der Phantasie »haben die Philosophen viele Jahre lang darüber diskutiert, wohin Groß-A’Tuin unterwegs sei, und ihre größte Sorge besteht darin, es möglicherweise nie zu erfahren. In zwei Monaten werden sie eine Antwort auf ihre Frage bekommen. Und dann haben sie wirklich Grund, sich Sorgen zu machen …« Denn wie ihr ans Erdendasein gefesseltes Gegenstück ist Groß-A’Tuin auf Fortpflanzung aus, was in diesem Fall heißt, sie begibt sich zum Ort ihrer eigenen Eiablage, um zuzuschauen, wie die Jungen ausschlüpfen. Die Geschichte endet damit, daß sie wieder in die kühlen Tiefen des Raumes hinausschwimmt, umkreist von acht kleinen Schildkröten (die anscheinend später ihre eigenen Wege gegangen sind und jetzt vielleicht sogar ganz kleine Scheibenwelten tragen) …

Das Interessante an den Tricks der irdischen Schildkröten ist die Tatsache, daß die Tiere in keiner Phase zu wissen brauchen, daß ihre Zeitplanung an die Bewegung des Mondes geknüpft ist, oder auch nur, daß der Mond existiert. Die Sache würde aber nicht funktionieren, wenn die kleinen Schildkröten den Mond nicht wahrnähmen, daher ziehen wir den Schluß, daß sie es tun. Wir können aber nicht auf die Existenz eines Schildkröten-Astronomen schließen, der sich über den rätselhaften Gestaltwandel des Mondes wundert.

Als eine bestimmte Gruppe von Affen auf der Bildfläche erschien, die im gesellschaftlichen Aufstieg begriffen waren, begannen sie jedoch solche Fragen zu stellen. Je besser die Affen es verstanden, diese Fragen zu beantworten, um so verwirrender wurde das Weltall; Wissen bringt neues Unwissen hervor. Die Botschaft, die sie mitbekamen, lautete: Dort Oben ist es ganz anders als Hier Unten.

Sie wußten nicht, daß Hier Unten ein ziemlich guter Ort zum Leben für Wesen wie sie war. Es gab Luft zum Atmen, Tiere und Pflanzen zum Essen, Wasser zum Trinken, Boden, auf dem man stehen, und Höhlen, in denen man sich vor dem Regen und den Löwen in Sicherheit bringen konnte. Sie wußten, daß es veränderlich war, chaotisch, unvorhersehbar …

Sie wußten nicht, daß es Dort Oben – im übrigen Universum – anders ist. Der größte Teil davon ist leerer Raum, ein Vakuum. Vakuum kann man nicht atmen. Wo kein Vakuum ist, befinden sich größtenteils riesige Kugeln von überhitztem Plasma. Auf einer Feuerkugel kann man nicht stehen. Und der größte Teil dessen, was weder Vakuum noch Feuer ist, ist lebloses Gestein. Gestein kann man nicht essen.* [* Freilich, Salz kann man essen. Aber außerhalb der Scheibenwelt geht niemand in ein Restaurant, um ein Basalt-Balti zu bestellen.] Später sollten sie das erfahren. Eines wußten sie aber: daß es Dort Oben nach menschlichen Zeitmaßen ruhig, geordnet, regelmäßig zuging. Und auch kalkulierbar – man konnte seinen Steinkreis danach stellen.

Das alles erzeugte ein allgemeines Gefühl, der Unterschied zwischen Dort Oben und Hier Unten habe einen Grund. Hier Unten war offensichtlich für uns bestimmt. Dort Oben war es ebenso offensichtlich nicht. Also mußte es für jemand anders bestimmt sein. Und die neue Menschheit machte sich schon Gedanken über geeignete Bewohner, und sie tat das schon immer, seit sie sich in Höhlen vor dem Donner verkroch. Die Götter! Die waren Dort Oben und blickten herab! Und ganz offensichtlich hatten sie das Sagen, denn die Menschheit hatte es offensichtlich nicht. Als Zugabe erhielt man gleich noch eine Erklärung für alles Hier Unten, was weitaus verwickelter als das war, was man Dort Oben sah, eine Erklärung für Gewitter und Erdbeben und Bienen. Die wurden von den Göttern regiert.

Das war ein hübsches Bündel. Es gab uns ein Gefühl von Wichtigkeit. Zumal die Priester machten es wichtig. Und da Priester Leute waren, die einem die Zunge herausreißen lassen oder einen ins Löwenland verbannen konnten, wenn man ihre Meinung nicht teilte, wurde das im Handumdrehen zu einer ungeheuer beliebten Theorie, wenn auch vielleicht nur deshalb, weil die Anhänger anderer Theorien nicht reden konnten oder irgendwo auf einem Baum saßen.

Und dennoch … Es kam immer wieder vor, daß ein Verrückter ohne Selbsterhaltungstrieb geboren wurde, der die ganze Geschichte für unbefriedigend hielt und den Zorn der Priesterschaft riskierte, indem er das sagte. Solche Leute fand man schon zur Zeit der Babylonier, deren Zivilisation zwischen 4000 und 300 v. Chr. zwischen und an den Flüssen Euphrat und Tigris blühte. Die Babylonier – ein Begriff, der einen ganzen Haufen halbunabhängige Völker umfaßt, die in einzelnen Städten wie Babylon, Ur, Nippur, Uruk, Lagasch und so weiter lebten – verehrten die Götter jedenfalls so, wie es alle anderen auch taten. Eine ihrer Geschichten ist beispielsweise die Grundlage für die biblische Erzählung von Noah und seiner Arche. Aber sie interessierten sich auch lebhaft dafür, was diese Lichter am Himmel tatsächlich taten. Sie wußten, daß der Mond rund ist – eher eine Kugel als eine flache Scheibe. Wahrscheinlich wußten sie auch, daß die Erde rund ist, da sie bei Mondfinsternissen einen runden Schatten auf den Mond warf. Sie wußten, daß das Jahr ungefähr 365 Tage lang ist. Sie kannten sogar die ›Präzession des Frühjahrspunktes‹, eine zyklische Veränderung, die in rund 26 000 Jahren einen Umlauf vollendet. Sie machten diese Entdeckungen, indem sie sorgfältig aufzeichneten, wie sich Mond und Planeten am Himmel bewegten. Babylonische astronomische Aufzeichnungen von 500 v.Chr. sind bis heute erhalten geblieben.

Aus solchen Anfängen entstand eine alternative Erklärung des Weltalls. Götter kamen darin nicht vor, zumindest nicht direkt, also traf sie bei der Priesterklasse auf wenig Gegenliebe. Manche Nachfahren dieser Klasse versuchen sogar heute noch, die Erklärung auszulöschen. Die traditionellen Priesterschaften (denen damals wie heute oft einige sehr intelligente Leute angehörten) haben im Laufe der Zeit eine Anpassung an diese gottlose Denkweise erarbeitet, aber sie ist weiterhin unbeliebt bei Postmodernisten, Kreationisten, Boulevardastrologen und anderen Leuten mit einer Vorliebe für Antworten, die man sich zu Hause selbst zurechtschustern kann.

Der gegenwärtig übliche Name für das, was unter anderem ›Ketzerei‹ und ›Naturphilosophie‹ genannt worden ist, lautet natürlich ›Wissenschaft‹.

Die Wissenschaft hat ein sehr seltsames Bild vom Universum entwickelt. Sie geht davon aus, daß das Weltall nach Regeln funktioniert. Regeln, die niemals verletzt werden. Regeln, die wenig Raum für die Launen von Göttern lassen.

Diese Betonung der Regeln stellt die Wissenschaft vor eine entmutigende Aufgabe. Sie muß erklären, wie eine Menge glühendes Gas und Gestein Dort Oben auch nur im entferntesten das Hier Unten hervorbringen kann, indem sie einfache Regeln befolgt, etwa ›große Dinge ziehen kleine Dinge an, und obwohl auch kleine Dinge große Dinge anziehen, tun sie es zu schwach, als das man es bemerken würde‹. Hier Unten scheint von einer strengen Befolgung von Regeln keine Spur zu sein. Einen Tag gehst du auf Jagd und erlegst ein Dutzend Gazellen; tags darauf erlegt ein Löwe dich. Hier Unten scheint die deutlichste Regel zu heißen: »Es gibt keine Regeln.« Abgesehen von der einen Regel, die man wissenschaftlich als ›Excreta passiert eben‹ ausdrücken könnte. Wie das Harvardsche Gesetz des Verhaltens von Tieren es formuliert: »Versuchstiere verhalten sich unter sorgfältig kontrollierten Laborbedingungen so, wie es ihnen gerade paßt.« Nicht nur Tiere: Jeder Golfspieler weiß, daß ein so einfaches Ding wie eine harte, federnde Kugel mit einem Pünktchenmuster darauf niemals tut, was man von ihm erwartet. Und was das Wetter betrifft …

Die Wissenschaft hat sich nun in zwei große Bereiche getrennt: die Wissenschaften vom Leben, die uns etwas über Lebewesen sagen, und die physikalischen Wissenschaften, die alles übrige behandeln. Historisch gesehen ist ›getrennt‹ entschieden das treffende Wort – die wissenschaftlichen Herangehensweisen dieser beiden großen Bereiche haben etwa soviel gemein wie Kreide und Käse. In der Tat ist ja Kreide eine Gesteinsart und gehört also eindeutig zu den geologischen Wissenschaften, während Käse, von der Tätigkeit von Bakterien an Körperflüssigkeiten von Kühen erzeugt, in die Zuständigkeit der biologischen Wissenschaften fällt. Beide Bereiche sind zweifellos Wissenschaft und betonen gleichermaßen die Rolle des Experiments zur Überprüfung von Theorien, doch ihre gewohnten Denkmuster folgen unterschiedlichen Bahnen.

Bisher zumindest.

Mit dem Herannahen des dritten Jahrtausends greifen immer mehr Aspekte der Wissenschaft über die Grenzen der Fachgebiete hinaus. Kreide zum Beispiel ist mehr als nur ein Gestein. Kreide ist das Überbleibsel der Schalen und Skelette von Millionen winziger Meereslebewesen. Und die Herstellung von Käse hängt von Chemie und Sensortechnik nicht weniger ab als von der Biologie des Grases und der Kühe.

Der ursprüngliche Grund für diese Spaltung der Wissenschaft war die ausgeprägte Empfindung, daß Leben und Nicht-Leben extrem unterschiedliche Dinge sind. Nicht-Leben ist einfach und gehorcht mathematischen Regeln; Leben ist komplex und gehorcht überhaupt keinen Regeln. Wie gesagt, Hier Unten scheint es ganz anders zu sein als Dort Oben.

Doch je mehr wir in die Bedeutung mathematischer Regeln eindringen, um so flexibler scheint ein auf Regeln der Physik gegründetes Universum zu sein. Und umgekehrt: Je besser wir die Biologie verstehen, um so wichtiger werden ihre physikalischen Aspekte – denn Leben ist keine besondere Art von Materie, also muß es ebenfalls den Regeln der Physik gehorchen. Was wie eine breite, unüberbrückbare Kluft zwischen den Wissenschaften vom Leben und den physikalischen Wissenschaften aussah, schrumpft so rasch, daß es sich als nicht viel mehr als eine dünne Linie erweist, die in den Sand der Wissenschaftswüste geritzt ist.

Wenn wir diese Linie überschreiten wollen, müssen wir unsere Denkweise allerdings einer Revision unterziehen. Nur zu leicht fällt man in alte – und unangebrachte – Gewohnheiten zurück. Um diesen Punkt zu veranschaulichen und ein Thema einzuführen, das sich durch das Buch ziehen wird, wollen wir betrachten, was uns die technischen Probleme, auf den Mond zu gelangen, über die Funktionsweise von Lebewesen sagen.

Das Haupthindernis bei der Beförderung eines Menschen auf den Mond ist nicht die Entfernung, sondern die Gravitation. Man könnte in etwa dreißig Jahren zu Fuß zum Mond gehen – vorausgesetzt, man hätte einen Weg, Luft und das übliche Zubehör eines erfahrenen Reisenden –, wenn es nicht den größten Teil der Strecke bergauf ginge. Man braucht Energie, um einen Menschen von der Oberfläche des Planeten bis hinauf zu dem neutralen Punkt zu bringen, wo die Anziehungskraft des Mondes die Erdanziehung aufhebt. Die Physik liefert die definitive Untergrenze für die Energie, die man aufbringen muß – das ist der Unterschied zwischen der ›potentiellen Energie‹ einer Masse, die sich im neutralen Punkt befindet, und der potentiellen Energie derselben Masse an der Erdoberfläche. Der Energieerhaltungssatz besagt, daß es mit weniger Energie nicht zu machen ist, egal, wie schlau man es anfängt.

Gegen die Physik kommt man nicht an.

Deswegen ist Raumforschung so teuer. Man braucht eine Menge Treibstoff, um einen Menschen mit einer Rakete in den Weltraum zu bringen. Und noch schlimmer: Man braucht weiteren Treibstoff, um die Rakete hinaufzubringen … und weiteren, um den Treibstoff hinaufzubringen … und … So oder so, wir scheinen am Grunde des Gravitationsbrunnens der Erde festzusitzen, und das Ticket nach draußen muß ein Vermögen kosten.

Wirklich?

Zu verschiedenen Zeiten sind ähnliche Berechnungen auf Lebewesen angewandt worden, und das mit bizarren Ergebnissen. Es ist ›bewiesen‹ worden, daß Känguruhs nicht springen, Hummeln nicht fliegen können und daß Vögel aus ihrer Nahrung nicht genug Energie gewinnen können, damit es wenigstens für die Nahrungssuche reicht. Es ist sogar ›bewiesen‹ worden, daß Leben unmöglich ist, da lebende Systeme einen immer höheren Grad an Ordnung erreichen, während aus der Physik folgt, daß in allen Systemen die Unordnung immer weiter zunimmt. Die wichtigsten Schlußfolgerungen, die Biologen aus derlei Übungen gezogen haben, sind eine tiefe Skepsis gegenüber der Brauchbarkeit der Physik für die Biologie und das angenehme Gefühl der Überlegenheit, da doch Leben offensichtlich weitaus interessanter als Physik ist.

Die richtige Schlußfolgerung lautet, daß man sehr vorsichtig mit den stillschweigenden Voraussetzungen umgehen muß, die man bei solchen Berechnungen macht. Nehmen wir zum Beispiel das Känguruh. Man kann ausrechnen, wieviel Energie ein Känguruh für einen Sprung aufwendet, man kann zählen, wie viele Sprünge es pro Tag macht, und eine Untergrenze für seinen täglichen Energiebedarf ableiten. Bei einem Sprung verläßt das Känguruh den Boden, steigt hoch und kommt wieder herunter, also ist die Berechnung dieselbe wie bei einer Raumrakete. Wenn man alles zusammenzählt, findet man heraus, daß der tägliche Energiebedarf eines Känguruhs etwas zehnmal höher ist als die Energie, die es aus seiner Nahrung gewinnen kann. Schlußfolgerung: Känguruhs können nicht springen. Da sie nicht springen können, können sie keine Nahrung finden, also sind sie alle tot.

Sonderbarerweise wimmelt es in Australien von Känguruhs, die zum Glück keine Ahnung von Physik haben.

Wo liegt der Fehler? Die Berechnung behandelt ein Känguruh, als wäre es ein Sack Kartoffeln. Anstelle von, sagen wir, tausend Känguruhsprüngen pro Tag ermittelt sie die Energie, die benötigt wird, um einen Sack Kartoffeln tausendmal vom Boden zu heben und zurückfallen zu lassen. Aber wenn man sich eine Zeitlupenaufnahme von einem Känguruh ansieht, wie es durchs australische Hinterland hüpft, sieht es nicht wie ein Sack Kartoffeln aus. Es federt zurück, springt dahin wie eine große Gummifeder. Während die Beine sich nach oben bewegen, bewegen sich Kopf und Schwanz nach unten und speichern Energie in den Muskeln. Wenn dann die Füße auf den Boden treffen, wird diese Energie freigesetzt, um den nächsten Sprung auszulösen. Da der größte Teil der Energie geborgt und zurückgezahlt wird, wird pro Sprung nur eine winzige Menge Energie benötigt.

Nun ein Assoziationstest für Sie. ›Sack Kartoffeln‹ verhält sich zu ›Känguruh‹ wie ›Rakete‹ – wozu? Eine mögliche Antwort wäre ein Weltraumlift. In der Oktobernummer 1945 von Wireless World erfand der Science Fiction-Autor Arthur C. Clarke das Konzept einer geostationären Umlaufbahn, das jetzt praktisch allen Nachrichtensatelliten zugrunde liegt. In einer bestimmten Höhe – etwa 35 000 km über der Erdoberfläche – umkreist ein Satellit die Erde exakt synchron mit der Erddrehung. Also sieht es vom Erdboden so aus, als würde sich der Satellit nicht bewegen. Das ist nützlich für die Kommunikation: Man kann seine Satellitenantenne in einer festen Richtung einstellen und bekommt immer zusammenhängende, intelligente Signale oder, wenn das nicht möglich ist, so doch wenigstens MTV.

Fast dreißig Jahre später machte Clarke ein Konzept von weitaus größerem technischen Veränderungspotential populär. Man bringt einen Satelliten in eine geostationäre Bahn und läßt ein langes Kabel zum Boden herabhängen. Es muß ein phänomenal starkes Kabel sein. Wir haben die nötige Technik noch nicht, aber ›Nanotubes‹, Kohlenstoff-Nanofasern, die jetzt im Labor entwickelt werden, kommen diesen Vorstellungen nahe. Wenn man mit der Technik klarkommt, kann man einen 35 000 km hohen Aufzug bauen. Die Kosten wären enorm, doch dann könnte man Dinge in den Weltraum befördern, indem man sie einfach am Kabel hochzieht.

Ach, aber gegen die Physik kommt man nicht an! Die benötigte Energie wäre genau dieselbe, als wenn man eine Rakete benutzte.

Natürlich. Wie die Energie, die man braucht, ein Känguruh in die Höhe zu bringen, die gleiche ist wie bei einem Sack Kartoffeln.

Der Trick besteht darin, eine Möglichkeit zu finden, wie man Energie borgt und zurückzahlt. Der Witz ist: Wenn der Aufzug erst einmal vorhanden ist, kommt nach einer Weile genausoviel herunter, wie hinauffährt. Wenn man auf dem Mond oder auf den Planetoiden Metalle abbaut, wird eigentlich sogar mehr herunter- als heraufkommen. Die Stoffe, die herabfahren, liefern die Energie für jene, die hinauffahren. Im Gegensatz zu einer Rakete, die jedesmal verbraucht wird, wenn man sie abschießt, versorgt sich ein Weltraumlift selbst.

Das Leben ist wie ein Weltraumlift. Womit sich das Leben selbst versorgt, ist nicht Energie, sondern Organisation. Wenn man erst einmal ein derart hochorganisiertes System hat, daß es Kopien von sich selbst herstellen kann, ist der Grad der Organisation nicht mehr ›teuer‹. Die ursprüngliche Investition mag riesig gewesen sein, wie für den Weltraumlift, doch nachdem sie einmal gemacht wurde, ist der Rest umsonst.

Wenn Sie Biologie verstehen wollen, dann brauchen Sie die Physik von Weltraumlifts, nicht die von Raketen.

Wie kann die Magie der Scheibenwelt die Wissenschaft der Rundwelt erhellen? Genauso, wie sich die Kluft zwischen den physikalischen und den biologischen Wissenschaften als viel schmaler erwiesen hat, als wir immer dachten, wird auch die Kluft zwischen Wissenschaft und Magie immer schmaler. Je weiter unsere Technik fortschreitet, um so weniger kann der durchschnittliche Nutzer die mindeste Ahnung haben, wie sie funktioniert. Im Ergebnis wirkt sie immer mehr wie Zauberei. Wie Clarke erkannte, ist diese Tendenz unvermeidlich; Gregory Benford ist weitergegangen und hat sie für wünschenswert erklärt.

Technik funktioniert, weil derjenige, der sie ursprünglich baute, genug von den Regeln des Universums herausgefunden hatte, damit sie das tat, was von ihr verlangt wurde. Man braucht die Regeln nicht richtig zu kennen, damit das klappt, nur richtig genug – Raumraketen funktionieren gut, obwohl ihre Flugbahnen nach Newtons Ansatz für die Regeln der Gravitation berechnet werden, der weniger genau als der von Einstein ist. Doch was man erreichen kann, ist nachdrücklich eingeschränkt auf das, was die Regeln des Universums zulassen. Bei der Magie hingegen funktionieren Dinge, weil jemand es will. Man muß immer noch den richtigen Zauberspruch finden, doch vorangetrieben wird die Entwicklung von den Wünschen der Menschen (und natürlich von Wissen, Fertigkeit und Erfahrung des Ausführenden). Das ist einer der Gründe, warum Wissenschaft oft unmenschlich erscheint, denn sie betrachtet, wie das Universum uns vorantreibt, statt umgekehrt.

Magie ist jedoch nur ein Aspekt der Scheibenwelt. Auf der Scheibenwelt gibt es auch jede Menge Wissenschaft – oder zumindest rationale Vorgehensweisen. Bälle werden geworfen und gefangen, die Biologie des Flusses Ankh ähnelt der irdischer Sümpfe oder Rieselfelder, und das Licht breitet sich mehr oder weniger geradlinig aus. Allerdings sehr langsam. Wie wir in Das Licht der Phantasie lesen: »Ein neuer Scheibenwelttag dämmerte, aber nur sehr langsam, und zwar aus folgendem Grund: Wenn Licht auf ein starkes magisches Feld trifft, vergißt es plötzlich, was Eile bedeutet. Es wird geradezu träge. Und auf der Scheibenwelt war die Magie besonders stark ausgeprägt. Deshalb glitt das mattgelbe Glühen der Dämmerung wie eine sanfte, liebkosende Hand über die Landschaft – goldenem Sirup gleich, wie manche Leute meinen.« Dieselbe Passage teilt uns mit, daß es neben rationalen Verfahrensweisen in der Scheibenwelt jede Menge Magie gibt: unverhüllte Magie, die das Licht verlangsamt, Magie, die es der Sonne erlaubt, die Welt zu umkreisen, vorausgesetzt, daß gelegentlich einer der Elefanten ein Bein hebt, um die Sonne durchzulassen. Die Sonne ist klein, nahe und bewegt sich schneller als ihr eigenes Licht. Das scheint keine schwerwiegenden Probleme mit sich zu bringen.

Magie gibt es auch in unserer Welt, aber von anderer, weniger offensichtlicher Art. Sie ereignet sich in der Umgebung eines jeden, in all den kleinen Zusammenhängen, die wir nicht verstehen, sondern einfach hinnehmen. Wenn wir den Schalter betätigen und das Licht angeht. Wenn wir uns in den Wagen setzen und den Motor anlassen. Wenn wir alle diese unwahrscheinlichen und lächerlichen Dinge tun, durch die dank biologischer Zusammenhänge Kinder entstehen. Gewiß verstehen viele Leute – oft ziemlich genau und in Einzelheiten –, was auf bestimmten Gebieten vor sich geht, doch früher oder später erreichen wir alle unseren magischen Ereignishorizont. Clarkes Gesetz stellt fest, daß jede hochentwickelte, weit fortgeschrittene Technik wie Magie aussieht. Unter ›fortgeschritten‹ wird hier für gewöhnlich verstanden: ›wie sie uns von hochentwickelten Außerirdischen oder von Menschen aus der Zukunft gezeigt wird‹, wie wenn man Neandertalern Fernsehen zeigt. Doch wir sollten uns bewußt sein, daß das Fernsehen für fast alle seine heutigen Benutzer Magie ist – für die Leute hinter der Kamera wie für die, die vor dem beweglichen Bild in dem komischen Kasten auf dem Sofa sitzen. An einer bestimmten Stelle in dem Vorgang, um es mit den Worten des Karikaturisten S. Harris zu sagen, ›geschieht ein Wunder‹.

Die Wissenschaft gewinnt die Aura von Magie, weil das Grundmuster einer Zivilisation nach einer Art narrativem Imperativ voranschreitet – es ergibt eine zusammenhängende Geschichte. Um 1970 hielt Jack in einer Schule einen Vortrag über ›Die Möglichkeit von Leben auf anderen Planeten‹.* [* Jetzt als Buch erschienen: Evolving the Alien (Wie der Außerirdische entwickelt wird) von Jack Cohen und Ian Stewart.] Er sprach von der Evolution, davon, woraus Planeten bestehen – alles, was man in so einem Vortrag erwartet. Die erste Frage kam von einem etwa fünfzehnjährigen Mädchen, das fragte: »Sie glauben an die Evolution, nicht wahr?« Der Lehrer wollte die Frage als ›unangebracht‹ übergehen, aber Jack antwortete trotzdem und sagte (ziemlich hochtrabend): »Nein, ich glaube nicht an die Evolution, wie die Leute an Gott glauben … Wissenschaft und Technik werden nicht von Leuten vorangebracht, die etwas glauben, sondern von Leuten, die etwas nicht wissen