Die Nachtwächter - Terry Pratchett - E-Book

Die Nachtwächter E-Book

Terry Pratchett

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Beschreibung

Eine geniale Mischung aus Witz, Ironie und philosophischem Tiefsinn.

Durch einen Blitzschlag wird Kommandeur Mumm von der Stadtwache dreißig Jahre in die Vergangenheit versetzt: Im alten Ankh-Morpork herrschen bürgerkriegsähnliche Zustände. Die Wache besteht aus korrupten Versagern, und einer von ihnen ist der junge Obergefreite Sam Mumm, der den schädlichen Einflüssen eines gefährlichen Verbrechers zu erliegen droht ...

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Seitenzahl: 562

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Terry Pratchett, geboren 1948, ist einer der erfolgreichsten Autoren der Gegenwart. Von seinen Romanen wurden weltweit rund 65 Millionen Exemplare verkauft, seine Werke in 37 Sprachen übersetzt. Er lebt mit seiner Frau Lyn in der englischen Grafschaft Wiltshire.

Informationen zu Terry Pratchett auch unter www.pratchett-buecher.de und www.pratchett-fanclub.de.

Terry Pratchett bei Goldmann und Manhattan:

Die Romane von der bizarren Scheibenwelt:

Voll im Bilde · Alles Sense! · Total verhext · Einfach göttlich · Lords und Ladies Helle Barden · Rollende Steine · Echt zauberhaft · Mummenschanz · Hohle Köpfe Schweinsgalopp · Fliegende Fetzen · Heiße Hüpfer · Ruhig Blut! · Der fünfte Elefant Die volle Wahrheit · Der Zeitdieb · Die Nachtwächter · Weiberregiment · Ab die Post · Klonk! · Schöne Scheine · Der Club der unsichtbaren Gelehrten · Steife Prise

Märchen von der Scheibenwelt:

Maurice, der Kater · Kleine freie Männer · Ein Hut voller Sterne · Der Winterschmied · Das Mitternachtskleid

Zwei Scheibenwelt-Romane in einem Band:

Total verhext/Einfach göttlich · Lords und Ladies/Helle Barden · Rollende Steine/ Echt zauberhaft · Mummenschanz/Hohle Köpfe · Schweinsgalopp/Fliegende Fetzen

Von der Scheibenwelt außerdem erschienen:

Wahre Helden. Ein illustrierter Scheibenwelt-Roman · Die Kunst der Scheibenwelt Das Scheibenwelt-Album. Illustriert von Paul Kidby · Mort. Der Scheibenwelt-Comic. Illustriert von Graham Higgins · Wachen! Wachen! Der Scheibenwelt-Comic. Illustriert von Graham Higgins · Nanny Oggs Kochbuch. Mit Rezepten von Tina Hannan. Illustriert von Paul Kidby · Die Straßen von Ankh-Morpork. Eine Scheibenwelt-Karte · Die Scheibenwelt von A - Z · Mythen und Legenden der Scheibenwelt · Witz und Weisheit der Scheibenwelt · Narren, Diebe und Vampire. Die besten Geschichten aus zehn Jahren Scheibenwelt-Kalender

Dazu ist erschienen:

Die gemeine Hauskatze. Illustriert von Gray Jolliffe · Eine Insel. Roman

Außerdem sind Johnny-Maxwell-Romane von Terry Pratchett erschienen:

Nur du kannst die Menschheit retten/Nur du kannst sie verstehen/Nur du hast den Schlüssel. Drei Romane in einem Band

Weitere Bücher von Terry Pratchett sind in Vorbereitung.

Inhaltsverzeichnis

Copyright

Sam Mumm seufzte, als er den Schrei hörte, aber er rasierte sich zu Ende, bevor er etwas unternahm.

Dann zog er seine Jacke an und schlenderte in den wunderschönen Morgen des späten Frühlings hinaus. Vögel zwitscherten in den Bäumen, Bienen summten in Blüten. Der Himmel war dunstig, und Gewitterwolken am Horizont kündigten Regen an. Doch derzeit war es noch heiß und drückend. Und in der alten Jauchegrube hinter dem Schuppen des Gärtners trat ein junger Mann Wasser.

Zumindest trat er.

Mumm wahrte einen gewissen Abstand und zündete sich eine Zigarre an. Es wäre sicher nicht klug gewesen, eine offene Flamme näher an die Grube heranzubringen. Der Sturz vom Dach des Schuppens hatte die Kruste durchbrochen.

»Guten Morgen!«, sagte er munter.

»Guten Morgen, Euer Gnaden!«, erwiderte der fleißige Treter.

Die Stimme war höher, als Mumm erwartet hatte, und er stellte fest, dass der junge Mann in der Jauchegrube eine junge Frau war. Es kam nicht völlig unerwartet – bei der Assassinengilde hatte man begriffen, dass Frauen ihren Brüdern im einfallsreichen Töten durchaus ebenbürtig waren, aber es veränderte die Situation ein wenig.

»Ich glaube, wir sind uns noch nicht begegnet, oder?«, fragte Mumm. »Obgleich du weißt, wer ich bin. Du bist …«

»Wiggs, Herr«, sagte die Schwimmerin. »Jocasta Wiggs. Es ist mir eine Ehre, dich kennen zu lernen, Euer Gnaden.«

»Wiggs?«, wiederholte Mumm. »Berühmte Familie in der Gilde. Übrigens, ›Herr‹ genügt. Ich glaube, ich habe deinem Vater einmal das Bein gebrochen.«

»Ja, Herr«, bestätigte Jocasta. »Ich soll dich von ihm grüßen.«

»Bist du nicht ein wenig zu jung für diesen Kontrakt?«, fragte Mumm.

»Es gibt keinen Kontrakt, Herr«, sagte Jocasta weiter tretend.

»Ich bitte dich, Fräulein Wiggs. Der auf meinen Kopf ausgesetzte Preis ist mindestens …«

»Die Gilde hat den Kontrakt außer Kraft gesetzt, Herr«, sagte die hartnäckige Schwimmerin. »Dein Name steht nicht mehr auf der Liste. Derzeit werden keine Aufträge angenommen, die dich betreffen.«

»Meine Güte, warum nicht?«

»Ich weiß nicht, Herr«, sagte Fräulein Wiggs. Ihre beharrlichen Anstrengungen brachten sie zum Rand der Grube, und dort entdeckte sie, dass das Mauerwerk in ausgezeichnetem Zustand und sehr glatt war und keinen Halt bot. Mumm wusste das, weil er an einem Nachmittag mehrere Stunden damit zugebracht hatte, genau diesen Zustand herzustellen.

»Warum hat man dich dann geschickt?«

»Frau Band meinte, es sei eine gute Übung«, sagte Jocasta. »Donnerwetter, diese Steine sind wirklich sehr glitschig.«

»Ja, das sind sie«, sagte Mumm. »Bist du in letzter Zeit frech zu Frau Band gewesen? Hast du sie irgendwie verärgert?«

»O nein, Euer Gnaden. Aber sie meinte, ich hätte zu großes Selbstvertrauen, und ein Außeneinsatz könnte mir sicher nützen.«

»Ah. Verstehe.« Mumm dachte an Frau Band, die zu den strengeren Lehrern der Assassinengilde zählte. Er hatte gehört, dass sie großen Wert auf praktische Lektionen legte.

»Sie hat dich also mit dem Auftrag geschickt, mich zu töten?«, fragte er.

»Nein, Herr! Es ist eine Übung! Ich habe überhaupt keine Armbrustbolzen dabei! Es ging nur darum, eine Stelle zu finden, von der aus ich auf dich zielen kann. Anschließend sollte ich zurückkehren und Bericht erstatten.«

»Frau Band würde dir glauben?«

»Natürlich, Herr«, sagte Jocasta und wirkte gekränkt. »Gildenehre, Herr.«

Mumm atmete tief durch. »Weißt du, Fräulein Wiggs, in den letzten Jahren haben ziemlich viele deiner Assassinenkollegen versucht, mich zu Hause umzubringen. Ich halte nicht viel davon, wie du vielleicht verstehst.«

»Das ist leicht einzusehen, Herr«, sagte Jocasta im Tonfall einer Person, die weiß: In einer schwierigen Situation muss sie auf den guten Willen von jemandem hoffen, der gar keinen Grund hat, guten Willen zu zeigen.

»Du wärst erstaunt über einige der Fallen, die es hier gibt«, fuhr Mumm fort. »Manche von ihnen sind sehr ausgeklügelt, wenn ich das sagen darf.«

»Ich hätte nie damit gerechnet, dass sich die Ziegel auf dem Dach so verschieben, Herr.«

»Sie sind an geschmierten Schienen befestigt.«

»Ausgezeichnet, Herr!«

»Einige der Fallen würden dich in etwas Tödliches stürzen lassen«, sagte Mumm.

»Da kann ich von Glück sagen, dass ich in diese Grube gefallen bin.«

»Oh, sie wirkt ebenfalls tödlich«, sagte Mumm. »Nach einer Weile.« Er seufzte. Natürlich ging es ihm darum, die Gilde von solchen Dingen abzuhalten, aber … Sein Name stand nicht mehr auf der Liste? Es gefiel ihm nicht, wenn ihm irgendwelche verstohlenen Gestalten nach dem Leben trachteten, Leute, die vorübergehend in den Diensten dieser oder jener Feinde standen. Andererseits hatte er darin immer eine Art Vertrauensvotum gesehen. Es zeigte, dass er die Reichen und Arroganten ärgerte, die es verdienten, geärgert zu werden.

Außerdem war die Assassinengilde leicht zu überlisten. Sie hatte strenge Regeln, an die sie sich um der Ehre willen hielt. Mumm, der sich in praktischen Bereichen nicht mit Regeln belastete, fand das durchaus in Ordnung.

Man hatte seinen Namen von der Liste gestrichen? Die einzige andere Person, die angeblich nicht auf der Liste stand, war der Patrizier Lord Vetinari. Die Assassinen verstanden das Spiel der Politik in Ankh-Morpork besser als sonst jemand, und wenn sie jemanden von ihrer Liste strichen, so glaubten sie, dass der Tod des Betreffenden nicht nur das Spiel verdarb, sondern das Spielbrett zerbrach …

»Ich wäre dir sehr dankbar, wenn du mich herausziehen könntest, Herr«, sagte Jocasta.

»Was? Oh, ja. Tut mir Leid, hab saubere Sachen an«, sagte Mumm. »Aber wenn ich ins Haus zurückkehre, sage ich dem Butler, dass er mit einer Leiter hierher kommen soll. Was hältst du davon?«

»Vielen Dank, Herr. Freut mich, dir begegnet zu sein, Herr.«

Mumm schlenderte zum Haus zurück. Nicht mehr auf der Liste? Konnte er Einspruch erheben? Vielleicht dachten die Assassinen …

Der Duft strich über ihn hinweg. Er sah auf.

In der Nähe blühte ein Fliederstrauch.

Er starrte wortlos.

Verdammt! Verdammt! Jedes Jahr vergaß er es. Nein, das stimmte nicht. Er vergaß es nicht. Er verstaute die Erinnerungen wie altes Silberbesteck, das nicht anlaufen sollte. Und jedes Jahr kehrten sie zurück, scharf und funkelnd, stachen ihm ins Herz. Ausgerechnet heute …

Er streckte die Hand aus, und seine Finger zitterten, als er nach einer Blüte griff und vorsichtig den Stiel brach. Er schnupperte daran, und einige Sekunden blickte er ins Nichts. Schließlich setzte er sich wieder in Bewegung und trug die Blüte vorsichtig ins Ankleidezimmer.

Willikins hatte für heute die offizielle Uniform vorbereitet. Sam Mumm sah verwundert darauf hinab, und dann fiel es ihm ein. Wachkomitee. Na schön. Der verbeulte alte Brustharnisch kam dafür nicht in Frage … Nicht für Seine Gnaden, den Herzog von Ankh und Kommandeur der Stadtwache, Sir Samuel Mumm. In dieser Hinsicht hatte sich Lord Vetinari sehr klar ausgedrückt, verdammter Mist.

Die Tatsache, dass Sam Mumm die Notwendigkeit dieser Sache einsah, machte alles noch ärgerlicher. Er verabscheute die offizielle Uniform, aber inzwischen repräsentierte er etwas mehr als nur sich selbst. Sam Mumm war in einer schmutzigen Rüstung bei Besprechungen erschienen, und selbst Sir Sam Mumm fand immer wieder einen Grund, die ganze Zeit über seine Straßenuniform zu tragen. Aber ein Herzog … Ein Herzog musste feiner aussehen. Ein Herzog konnte nicht einfach den Hintern aus der Hose hängen lassen, wenn er ausländischen Diplomaten gegenübertrat. Auch der alte Sam Mumm hatte seinen Hintern nicht aus der Hose hängen lassen, aber es wäre nicht zu einem Krieg gekommen, wenn er es doch einmal getan hätte.

Der einfache alte Sam Mumm hatte sich gewehrt, die meisten Federn entfernt und die lächerliche Strumpfhose weggeworfen. Das Ergebnis war eine Paradeuniform, deren Träger zumindest den Eindruck erweckte, männlichen Geschlechts zu sein. Aber der Helm war golden verziert, und die nach Maß fertigenden Waffenschmiede hatten einen neuen, glänzenden Brustharnisch mit goldenen Ornamenten gefertigt. Wenn Mumm ihn trug, kam er sich jedes Mal wie ein Klassenverräter vor. Er verabscheute die Vorstellung, dass man ihn für einen jener Leute hielt, die dämliche verzierte Rüstungen trugen. Er verspürte sozusagen das vergoldete schlechte Gewissen.

Er drehte die Fliederblüte zwischen den Fingern hin und her, nahm erneut den berauschenden Duft wahr. Ja … es war nicht immer so gewesen …

Jemand hatte gerade zu ihm gesprochen. Er sah auf.

»Was?«, fragte er scharf.

»Ich habe mich nach dem Befinden Ihrer Ladyschaft erkundigt«, sagte der Butler überrascht. »Ist alles in Ordnung, Euer Gnaden?«

»Was? Oh, ja. Nein. Ich bin soweit in Ordnung. Und Ihre Ladyschaft ebenfalls, danke. Ich habe bei ihr vorbeigeschaut, bevor ich nach draußen gegangen bin. Frau Zufrieden ist bei ihr. Sie meint, es dauert noch eine Weile.«

»Ich werde die Küche trotzdem anweisen, genügend heißes Wasser vorzubereiten, Euer Gnaden, nur für den Fall«, sagte Willikins und half Mumm beim Anlegen des vergoldeten Brustharnischs.

»Ja. Wozu braucht man all das Wasser, was meinst du?«

»Ich weiß es nicht, Euer Gnaden«, erwiderte Willikins. »Wahrscheinlich ist es besser, nicht danach zu fragen.«

Mumm nickte. Sybil hatte mit sanftem Nachdruck darauf hingewiesen, dass er bei dieser Angelegenheit nicht gebraucht wurde. Er musste zugeben, dass es ihm eine gewisse Erleichterung bescherte.

Er reichte Willikins die Fliederblüte. Der Butler nahm sie kommentarlos entgegen und schob sie in ein mit Wasser gefülltes Silberröhrchen, in dem sie stundenlang frisch bleiben würde. Das Röhrchen befestigte er an einem Riemen des Brustharnischs.

»Die Zeit vergeht, Euer Gnaden«, sagte er und staubte ihn mit einer kleiner Bürste ab.

Mumm holte seine Uhr hervor. »In der Tat. Auf dem Weg zum Palast mache ich einen Abstecher zum Wachhaus und unterschreibe dort, was unterschrieben werden muss. Ich bin so schnell wie möglich zurück.«

Willikins bedachte ihn mit einem Blick, in dem für einen Butler ungebührliche Sorge zum Ausdruck kam. »Ich bin sicher, Ihre Ladyschaft wird alles gut überstehen, Euer Gnaden«, sagte er. »Natürlich ist sie nicht, nicht …«

»… nicht mehr jung«, warf Mumm ein.

»Nun, sie ist reicher an Jahren als viele andere Primigravidae«, sagte Willikins glatt. »Aber sie ist auch stabil gebaut, wenn du mir diese Bemerkung gestattest, Euer Gnaden, und ihre Familie hat traditionsgemäß kaum Niederkunftsprobleme …«

»Primi was?«

»Neue Mütter, Euer Gnaden. Es wäre Ihrer Ladyschaft bestimmt lieber, wenn du irgendwelchen Schurken nachjagst, anstatt Löcher in den Bibliotheksteppich zu treten.«

»Da hast du vermutlich Recht, Willikins. Äh … Da fällt mir ein: Eine junge Frau schwimmt in der alten Jauchegrube, Willikins.«

»Sehr wohl, Euer Gnaden. Ich werde sofort den Küchenjungen mit einer Leiter dorthin schicken. Eine Nachricht für die Assassinengilde?«

»Gute Idee. Die junge Dame braucht ein Bad und saubere Klamotten.«

»Ich glaube, der Schlauch in der alten Spülküche wäre vielleicht angemessener, Euer Gnaden? Zumindest zu Anfang?«

»Guter Hinweis. Kümmere dich darum. Ich muss jetzt los.«

Im Hauptbüro des Wachhauses am Pseudopolisplatz rückte Feldwebel Colon geistesabwesend die Fliederblüte zurecht, die er sich wie eine Feder an den Helm gesteckt hatte.

»Sie werden sehr seltsam, Nobby«, sagte er und blätterte lustlos durch den morgendlichen Papierkram. »Typisch für Polizisten. Mir ging’s ebenso, als ich Kinder hatte. Man wird hart.«

»Was meinst du mit hart?«, fragte Korporal Nobbs, der vermutlich der beste lebende Beweis dafür war, dass es einen glatten Übergang zwischen Menschen und Tieren gab.

»Nun …«, sagte Colon und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. »Es ist wie … Nun, wenn du in unser Alter kommst …« Er sah Nobby an und zögerte. Schon seit einigen Jahren gab Nobby sein Alter mit »wahrscheinlich 34« an; die Familie Nobbs konnte nicht gut zählen.

»Ich meine, wenn ein Mann ein … gewisses Alter erreicht«, versuchte er es erneut, »weiß er, dass die Welt nie perfekt sein wird. Er gewöhnt sich daran, dass sie ein wenig …«

»Schmutzig ist?«, vermutete Nobby. Hinter seinem Ohr, wo für gewöhnlich eine Zigarette steckte, zeigte sich eine verwelkende Fliederblüte.

»Genau«, sagte Colon. »Man begreift, dass die Welt nie perfekt sein wird, und deshalb findet man sich mit ihr ab, klar? Aber wenn ein Kind unterwegs ist … dann sieht ein Mann die Sache plötzlich ganz anders. Er denkt: Mein Kind soll in diesem Durcheinander aufwachsen? Wird Zeit, Ordnung zu schaffen. Wird Zeit, die Welt zu verbessern. Ein Mann, der so etwas denkt, wird … eifrig … schneidig. Wenn der Kommandeur von Starkimarm erfährt, wird’s hier ganz schön rundgehen … Guten Morgen, Herr Mumm!«

»Habt ihr gerade über mich gesprochen?«, fragte Mumm und schritt an den Wächtern vorbei, als sie Haltung annahmen. Er hatte kein einziges Wort des Gesprächs mitbekommen, doch in Feldwebel Colons Gesicht konnte er lesen wie in einem offenen Buch, und dieses Buch kannte er inzwischen auswendig.

»Wir haben uns nur gefragt, ob das freudige Ereignis …«, begann Colon und brach ab, als Mumm die Treppe hocheilte, zwei Stufen auf einmal nehmend.

»Nein, es ist noch nicht so weit«, sagte Mumm und öffnete die Tür seines Büros. »Morgen, Karotte!«

Hauptmann Karotte sprang auf und salutierte. »Guten Morgen, Herr! Hat Lady …«

»Nein, Karotte, sie hat noch nicht. Was gab’s während der Nacht?«

Karottes Blick glitt zu der Fliederblüte und kehrte dann zu Mumms Gesicht zurück. »Nichts Gutes, Herr«, sagte er. »Ein weiterer Wächter wurde umgebracht.«

Mumm blieb abrupt stehen. »Wer?«, fragte er.

»Feldwebel Starkimarm, Herr. Es hatte ihn auf der Sirupminenstraße erwischt. Wieder Carcer.«

Mumm sah auf die Uhr. Es blieben noch zehn Minuten, um den Palast zu erreichen. Doch plötzlich spielte die Zeit keine Rolle mehr.

Er nahm am Schreibtisch Platz. »Zeugen?«

»Diesmal gleich drei, Herr.«

»So viele?«

»Alles Zwerge. Starkimarm war nicht einmal im Dienst, Herr. Er hatte seine Schicht beendet, holte sich eine Rattenpastete aus einem Laden, trat auf die Straße und stieß gegen Carcer. Der Mistkerl stach ihm in den Hals und lief davon. Dachte vermutlich, wir hätten ihn gefunden.«

»Wir suchen den Mann seit Wochen! Und er lief dem armen Starkimarm über den Weg, als der Zwerg nur an sein Frühstück dachte? Ist ihm Angua auf der Spur?«

»Sie konnte ihm nur bis zu einer gewissen Stelle folgen, Herr«, sagte Karotte verlegen.

»Warum nur bis zu einer gewissen Stelle?«

»Er – nun, wir nehmen an, dass es Carcer war – ließ auf dem Hiergibt’salles-Platz eine Anisbombe fallen. Fast reines Öl.«

Mumm seufzte. Es war erstaunlich, wie sich die Leute anpassten. In der Wache gab es einen Werwolf. Das sprach sich herum, im Verborgenen. Und so entwickelten sich die Verbrecher weiter, um in einer Gesellschaft zu überleben, in der das Gesetz eine empfindliche Nase hatte. Geruchsbomben waren eine undramatische Lösung des Problems. Man ließ einfach ein Fläschchen mit reinem Pfefferminz- oder Anisöl dort auf die Straße fallen, wo viele Personen darüber hinweggingen, und plötzlich bekam es Feldwebel Angua mit hundert oder sogar tausend hin und her führenden Spuren zu tun, und abends lag sie dann mit Kopfschmerzen im Bett.

Mumm hörte verdrossen zu, als Karotte von Männern berichtete, die aus dem Urlaub zurückgerufen oder für zusätzlichen Dienst eingeteilt worden waren. Er erfuhr von befragten Informanten, gestohlenen Tauben, von offen gehaltenen Ohren, aufgewirbeltem Staub und Gras, dem man beim Wachsen zugehört hatte. Und er wusste, wie wenig das alles brachte. Die Wache bestand noch immer aus weniger als hundert Mann, die Kantinenfrau mitgezählt. Ankh-Morpork hatte eine Million Bewohner und eine Milliarde Verstecke. Die Stadt war praktisch auf Unterschlupfen errichtet worden. Und Carcer kam einem Albtraum gleich.

Mumm kannte diese Art von Wahnsinn, bei dem sich jemand ganz normal verhielt, bis er plötzlich ausrastete und jemand anderen mit einem Schürhaken erschlug, nur weil sich dieser zu laut die Nase geputzt hatte. Aber bei Carcer lag der Fall anders. In seinem Kopf steckte ein doppeltes Selbst, doch zwischen den beiden Persönlichkeiten gab es keinen Konflikt, sondern einen Wettstreit. Bei Carcer saß auf beiden Schultern ein Dämon, und sie feuerten sich gegenseitig an.

Und doch … Er lächelte die ganze Zeit über, auf eine muntere Weise, und er verhielt sich wie ein Gauner, der seinen Lebensunterhalt mit dem Verkauf von Golduhren verdiente, die nach einer Woche grün anliefen. Und er schien immer völlig davon überzeugt zu sein, dass er nichts Unrechtes getan hatte. Er stand dort neben den Leichen, mit Blut an den Händen und gestohlenem Schmuck in den Taschen, und mit einem Gesichtsausdruck verletzter Unschuld fragte er: »Ich? Was soll ich getan haben?«

Und er wirkte völlig glaubwürdig, bis man tief in die frechen, lächelnden Augen sah und ganz unten dem Blick der Dämonen begegnete …

Aber man durfte sich nicht zu viel Zeit dafür nehmen, ihm in die Augen zu sehen, denn es bedeutete, dass man nicht mehr auf seine Hände achtete, von denen eine inzwischen ein Messer hielt.

Durchschnittliche Wächter kamen mit solchen Leuten kaum zurecht. Sie erwarteten von einem Verbrecher, der sich einer Übermacht gegenübersah, dass er aufgab, einen Handel versuchte oder wenigstens stehen blieb. Sie rechneten nicht damit, dass jemand für eine Uhr tötete, die nur fünf Dollar wert war. (Bei einer Uhr im Wert von hundert Dollar sah die Sache anders aus. Immerhin war dies Ankh-Morpork.)

»War Starkimarm verheiratet?«, fragte Mumm.

»Nein, Herr. Er wohnte bei seinen Eltern im Neuen Flickschusterweg.«

Eltern, dachte Mumm. Das machte es noch schlimmer.

»Hat ihnen jemand Bescheid gegeben?«, fragte er. »Und sag jetzt bloß nicht, dass Nobby die traurige Nachricht überbracht hat. Wir wollen keinen weiteren Unsinn in der Art von ›Ich wette einen Dollar, dass du die Witwe Jackson bist‹.«

»Ich habe mich auf den Weg gemacht, Herr. Sofort nachdem wir davon erfuhren.«

»Danke. Wie haben sie es aufgenommen?«

»Mit … würdigem Ernst, Herr.«

Mumm stöhnte. Er konnte sich die Gesichter vorstellen.

»Ich schreibe ihnen den offiziellen Brief«, sagte er und zog die Schreibtischschublade auf. »Jemand soll ihn den Eltern bringen. Und lass ihnen ausrichten, dass ich später vorbeikomme. Dies ist vielleicht nicht der geeignete Zeitpunkt, um …« Nein, Augenblick, es waren Zwerge; sie schämten sich nicht, über Geld zu reden. »Sag ihnen, dass wir uns um die Einzelheiten der Pension kümmern. Er starb im Dienst, was einen Zuschlag bedeutet. Es kommt alles zusammen. Und natürlich steht es ihnen zu.« Er suchte in den Schränken. »Wo ist seine Akte?«

»Hier.« Karotte reichte sie ihm. »Man erwartet uns um zehn im Palast, Herr. Wachkomitee. Aber bestimmt zeigt man Verständnis«, fügte er hinzu, als er Mumms Gesichtsausdruck sah. »Ich räume Starkimarms Spind aus, Herr, und die Jungs machen bestimmt eine Sammlung, für Blumen und so …«

Nachdem der Hauptmann gegangen war, starrte Mumm auf ein leeres Blatt Papier hinab. Eine Akte. Er musste eine verdammte Akte bemühen. Aber heutzutage gab es so viele Wächter …

Eine Sammlung für Blumen. Und für einen Sarg. Man kümmert sich um die eigenen Leute. Das hatte Feldwebel Dickins gesagt, vor langer Zeit …

Mumm konnte nicht gut mit Worten umgehen, und geschriebene fielen ihm noch schwerer. Er warf einen Blick in die Akte, um sein Gedächtnis aufzufrischen, und dann begann er zu schreiben, gab sich dabei alle Mühe.

Es waren gute Worte, und sogar die richtigen, mehr oder weniger. Aber die Wahrheit lautete: Starkimarm war einfach nur ein anständiger Zwerg gewesen, den man dafür bezahlt hatte, ein Wächter zu sein. Er hatte sich um eine Stelle bei der Wache beworben, weil dies als eine gute Berufswahl galt. Die Bezahlung war nicht schlecht, es gab eine ordentliche Pension und eine gute medizinische Versorgung, wenn man den Mut aufbrachte, sich von Igor im Keller behandeln zu lassen. Und nach einem Jahr oder so konnte ein in Ankh-Morpork ausgebildeter Wächter die Stadt verlassen und durfte damit rechnen, in der Wache einer anderen Stadt Arbeit zu bekommen und sofort befördert zu werden. Das geschah ständig. Man nannte sie Sammys, selbst in Städten, die nie etwas von Sam Mumm gehört hatten. Darauf war Mumm durchaus stolz. »Sammys«: So nannte man Wächter, die denken konnten, ohne dabei die Lippen zu bewegen, die sich nicht bestechen ließen – besser gesagt, die sich dabei auf Bier und Krapfen beschränkten; das war selbst für Mumm die Schmiere, die alle Räder laufen ließ – und die im Großen und Ganzen vertrauenswürdig waren. Oder die zumindest ein gewisses Vertrauen verdienten.

Das Geräusch laufender Füße verriet, dass Feldwebel Detritus mit den neuesten Rekruten vom Morgenlauf zurückkehrte. Mumm hörte das Lied, das Detritus ihnen beigebracht hatte. Aus irgendeinem Grund merkte man sofort, dass es von einem Troll stammte.

»Ein dummes Lied jetzt singen wir!

Während wir marschieren hier!

Niemand nicht weiß, warum wir es singen!

Wir nicht können die Worte richtig reimen!«

»Zählt ab!«

»Eins! Zwei!«

»Zählt ab!«

»Viele! Eine Menge!«

»Zählt ab!«

»Äh … was?«

Es wurmte Mumm noch immer, dass viele der neuen Wächter, die die kleine Schule in der alten Limonadenfabrik besuchten, den Dienst unmittelbar nach der Probezeit quittierten. Aber das hatte auch seine guten Seiten. Inzwischen waren die Sammys fast bis Überwald verbreitet, und sie alle brachten die Beförderungen vor Ort in Schwung. Es zahlte sich aus, Namen zu kennen und zu wissen, dass man den Namen beigebracht hatte, vor ihm, Mumm, zu salutieren. Bei dem Hin und Her der Politik redeten die jeweiligen Herrscher oft nicht miteinander, aber über die Nachrichtentürme standen die Sammys ständig miteinander in Verbindung.

Mumm merkte, dass er leise die Melodie eines anderen Lieds summte. Eine Melodie, die er schon seit Jahren vergessen hatte. Sie stand mit dem Flieder in Verbindung, vereinte den Duft mit dem Lied. Mumm hielt inne und fühlte sich schuldig.

Er schrieb die letzten Worte des Briefes, als jemand an die Tür klopfte.

»Bin fast fertig!«, rief er.

»Ich binf, Herr«, sagte Obergefreiter Igor und sah herein. »Igor, Herr«, fügte er hinzu.

»Ja, Igor?«, erwiderte Mumm und fragte sich nicht zum ersten Mal, warum jemand mit Nähten überall am Kopf darauf hinweisen musste, wer er war.1

»Ich wollte nur fagen, daff ich den jungen Starkimarm wieder auf die Beine bringen könnte, Herr«, sagte Igor ein wenig vorwurfsvoll.

Mumm seufzte. Igors Gesicht offenbarte Sorge und Enttäuschung. Man hatte ihn daran gehindert, sein … Gewerbe auszuüben. Er war von Natur aus enttäuscht.

»Darüber haben wir bereits gesprochen, Igor. Es geht nicht darum, ein abgetrenntes Bein wieder anzunähen. Und überhaupt sind die Zwerge strikt gegen so etwas.«

»Es ift überhaupt nichtf Übernatürlichef daran, Herr. Ich bin ein Mann der Naturphilofophie! Und er war noch warm, alf man ihn brachte …«

»Du kennst die Regeln, Igor. Trotzdem vielen Dank. Wir wissen, dass du das Herz am rechten Fleck hast …«

»Fie find an den richtigen Flecken, Herr«, sagte Igor missbilligend.

»Genau das meine ich«, entgegnete Mumm, ohne sich etwas anmerken zu lassen.

»Oh, na gut, Herr«, sagte Igor und gab sich geschlagen. Er zögerte kurz, bevor er fragte: »Wie geht es Ihrer Ladyschaft, Herr?«

Mumm hatte damit gerechnet. Es war eine schreckliche Sache, aber seine Vorstellungskraft hatte ihm bereits die Möglichkeit dargeboten, dass Igor und Sybil im gleichen Satz auftauchten. Was nicht heißen sollte, dass er Igor ablehnend gegenüberstand. Ganz im Gegenteil. Ohne Igors genialen Umgang mit der Nadel wäre so mancher Wächter nicht mehr auf den Straßen der Stadt unterwegs gewesen. Aber …

»Gut«, sagte Mumm abrupt. »Es geht ihr gut.«

»Wie ich hörte, war Frau Zufrieden ein wenig besorgt…«

»Igor, es gibt da einige Dinge … Äh, weißt du irgendetwas über Frauen und Babys?«

»Nicht in dem Finne, Herr, aber wenn ich etwaf auf der Platte liegen habe und ordentlich darin kramen kann, werde ich mit allem fertig …«

An dieser Stelle streikte Mumms Vorstellungskraft.

»Danke, Igor«, brachte er hervor, ohne dass seine Stimme zitterte. »Frau Zufrieden ist eine sehr erfahrene Hebamme.«

»Wie du meinft, Herr«, erwiderte Igor mit Zweifel in jedem Wort.

»Und jetzt muss ich gehen«, sagte Mumm. »Ein langer Tag wartet auf mich.«

Er lief die Treppe hinunter, gab den Brief Feldwebel Colon und nickte Karotte zu. Mit langen Schritten gingen sie in Richtung Palast.

Als sich die Tür geschlossen hatte, sah einer der Wächter von seinem Schreibtisch auf. Er war bisher bemüht gewesen, einen Bericht zu schreiben und, typisch für Polizisten, darin die Dinge zu erwähnen, die eigentlich hätten geschehen sollen.

»Feldwebel?«

»Ja, Korporal Ping?«

»Warum tragen einige von euch violette Blumen, Feldwebel?«

Die Atmosphäre im Wachraum veränderte sich auf subtile Weise  – viele aufmerksam lauschende Ohren saugten alle Geräusche ab. Keiner der Wächter an den Tischen schrieb mehr.

»Ich meine, ich erinnere mich daran, dass du letztes Jahr eine solche Blume getragen hast, so wie Reg und Nobby, und ich habe mich gefragt, ob man das von uns allen erwartet …« Ping sprach nicht weiter. Colons normalerweise freundlich blickende Augen waren zu schmalen Schlitzen zusammengekniffen und verkündeten: Du stehst auf dünnem Eis, Junge, und unter dir knackt es …

»Ich meine, unsere Hauswirtin hat einen Garten, und dort könnte ich mir leicht eine Blume besorgen …«, fuhr Ping fort, bestrebt, Selbstmord zu begehen.

»Du würdest heute eine Fliederblüte tragen?«, fragte Colon leise.

»Ich meine nur, wenn du Wert darauf legst, könnte ich gehen und …«

»Warst du dabei?«, fragte Colon und stand so plötzlich auf, dass sein Stuhl umfiel.

»Immer mit der Ruhe, Fred«, murmelte Nobby.

»Ich wollte nicht …«, begann Ping. »Ich meine … Ob ich wo dabei war, Feldwebel?«

Colon beugte sich über den Schreibtisch, bis nur noch wenige Zentimeter sein rundes, rotes Gesicht von Pings Nase trennten. »Wenn du nichts über das Wo weißt, kannst du auch nicht dabei gewesen sein«, sagte er noch immer leise. Dann richtete er sich wieder auf. »Nobby und ich haben jetzt etwas zu erledigen«, fügte er hinzu. »Rühren, Ping. Wir gehen jetzt.«

»Äh …«

Dies war kein guter Tag für Korporal Ping.

»Ja?«, fragte Colon.

»Äh … die Vorschriften, Feldwebel … Du bist der ranghöchste Offizier, und ich bin heute der Offizier vom Dienst, andernfalls würde ich dich nicht fragen … Wenn du das Wachhaus verlässt, Feldwebel, musst du mir sagen, wohin du gehst. Falls sich jemand mit dir in Verbindung setzen möchte. Ich muss es im Buch notieren. Mit dem Stift und so«, fügte er hinzu.

»Weißt du, welcher Tag heute ist, Ping?«, fragte Colon.

»Äh … der fünfundzwanzigste Mai, Feldwebel.«

»Und weißt du, was das bedeutet, Ping?«

»Äh …«

»Es bedeutet«, sagte Nobby, »dass jeder, der wichtig genug ist, um zu fragen, wohin wir gegangen sind …«

»… weiß, wohin wir gegangen sind«, sagte Colon.

Hinter ihnen fiel die Tür zu.

Der Friedhof der Geringen Götter war für die Leute bestimmt, die nicht wussten, was als Nächstes geschehen würde. Sie wussten nicht, woran sie glauben sollten oder ob es ein Leben nach dem Tod gab, und oft wussten sie auch nicht, was plötzlich geschehen war. Mit liebenswürdiger Ungewissheit waren sie durchs Leben gegangen, bis sie schließlich die letzte Gewissheit getroffen hatte. Unter den letzten Ruhestätten in Ankh-Morpork war dieser Friedhof die Schublade mit der Aufschrift »Verschiedenes«. Die hier Beerdigten ruhten in freudiger Erwartung von … nicht viel.

Die meisten Wächter wurden hier bestattet. Nach einigen Jahren fiel es Polizisten schwer genug, an Menschen zu glauben, geschweige denn an etwas, das sie nicht sehen konnten.

Diesmal regnete es nicht. Der Wind schüttelte die rußigen Pappeln an der Mauer und ließ sie rascheln.

»Wir hätten Blumen mitbringen sollen«, sagte Colon, als sie durch das hohe Gras gingen.

»Ich könnte einige von den frischen Gräbern stibitzen, Feldwebel«, schlug Nobby vor.

»So etwas möchte ich jetzt nicht von dir hören, Nobby«, erwiderte Colon streng.

»Entschuldige, Feldwebel.«

»Bei solch einer Gelegenheit sollte ein Mann an seine unsterbliche Seele wie-sah-wie des mächtigen, endlosen Stroms der Geschichte denken. Das würde ich tun, wenn ich du wäre, Nobby.«

»Einverstanden, Feldwebel. Ich denke daran. Wie ich sehe, ist schon jemand da, Feldwebel.«

An einer Mauer wuchs ein Fliederstrauch. Besser gesagt: Irgendwann einmal war dort ein Fliederstrauch gepflanzt worden, und im Lauf der Zeit hatten sich Hunderte von geschmeidigen Schösslingen gebildet, was den Strauch in ein Dickicht verwandelte. Jeder Zweig trug malvenfarbene Blüten.

Inmitten der wuchernden Vegetation waren die Gräber gerade noch zu erkennen. Vor ihnen stand Treibe-mich-selbst-in-den-Ruin Schnapper, der am wenigsten erfolgreiche Geschäftsmann von Ankh-Morpork. Er trug eine Fliederblüte am Hut.

Er bemerkte die Wächter und nickte ihnen zu. Sie erwiderten den Gruß. Schweigend blickten sie auf die sieben Gräber hinab. Nur eins von ihnen war gepflegt. Dort glänzte ein völlig moosfreier Grabstein, der Rasen war kurz geschnitten, die steinernen Kanten makellos.

Die hölzernen Gedenktafeln der anderen Gräber waren von Moos bewachsen, doch beim mittleren war es weggekratzt worden, sodass ein Name zu lesen war:

Darunter hatte jemand mit großer Sorgfalt folgende Worte ins Holz geritzt:

Ein großer Kranz aus Fliederblüten, geschmückt mit einem violetten Band, ruhte auf dem Grab. Und darauf, ebenfalls von einem violetten Band umschlungen, lag ein Ei.

»Frau Palm, Frau Battye und einige der Mädchen waren früher hier«, sagte Schnapper. »Und Madame denkt natürlich immer an das Ei.«

»Es ist nett, dass sie sich immer daran erinnern«, meinte Feldwebel Colon.

Wieder schwiegen die drei Männer, denn sie waren nicht mit einem Vokabular für solche Gelegenheiten ausgestattet. Schließlich fühlte sich Nobby verpflichtet, etwas zu sagen.

»Er gab mir einmal einen Löffel«, teilte er der Welt mit.

»Ja, ich weiß«, sagte Colon.

»Mein Vater stahl ihn mir, als er aus dem Gefängnis kam, aber es war mein Löffel«, beharrte Nobby. »Das bedeutet einem Jungen viel, ein eigener Löffel.«

»Außerdem war er der Erste, der mich zum Feldwebel ernannte«, meinte Colon. »Später bin ich natürlich wieder degradiert worden, aber ich wusste, dass ich es erneut schaffen konnte. Er war ein guter Polizist.«

»Er kaufte eine Pastete von mir«, sagte Schnapper. »Hatte gerade erst mit dem Geschäft begonnen. Er aß sie ganz. Spuckte nich ts aus.«

Wieder folgte Stille.

Nach einer Weile räusperte sich Feldwebel Colon, ein Hinweis darauf, dass ein gewisser Moment vorüber war. Muskeln entspannten sich.

»Wir sollten einmal mit einer Hippe hierher kommen und alles in Ordnung bringen«, sagte Colon.

»Das sagst du immer, Feldwebel, jedes Jahr«, erwiderte Nobby, als sie fortgingen. »Aber wir tun’s nie.«

»Wenn ich einen Dollar für jede Beerdigung eines Polizisten bekommen würde, bei der ich dabei gewesen bin, dann hätte ich … neunzehn Dollar und fünfzig Cent«, sagte Colon.

»Fünfzig Cent?«, wiederholte Nobby.

»Nun, Korporal Hildebiddel ist rechtzeitig aufgewacht und hat an den Sargdeckel geklopft«, erklärte Colon. »Das war vor deiner Zeit. Alle sprachen von einer erstaunlichen Genesung.«

»Herr Feldwebel?«

Die drei Männer drehten sich um. Mit einer Art Hochgeschwindigkeitsschleichen näherte sich ihnen der dürre, in Schwarz gekleidete Erste Eheliche, Totengräber des Friedhofs.

Colon seufzte. »Ja, Erster?«, fragte er.

»Guten Morgen, o ihr …«, begann der Totengräber, aber Feldwebel Colon winkte mit dem Zeigefinger.

»Hör auf damit«, sagte er. »Du bist doch schon einmal gewarnt worden. Lass den Kram mit dem ›komischen Totengräber‹. Er ist nämlich gar nicht komisch, und schon gar nicht clever. Sag einfach, was du zu sagen hast. Ohne irgendwelche dummen Dinge.«

Erster wirkte niedergeschlagen. »Nun, ihr Herren …«

»Wir kennen uns seit Jahren, Erster«, sagte Colon müde. »Versuch’s einfach.«

»Der Diakon möchte die Gräber ausheben, Fred«, sagte Erster in schmollendem Tonfall. »Mehr als dreißig Jahre sind vergangen. Wird längst Zeit für die Gruft.«

»Nein«, sagte Fred Colon.

»Aber ich habe dort unten ein hübsches Regal für sie, Fred«, bat Erster. »Ganz vorne. Wir brauchen den Platz, Fred! Hier gibt’s nur noch Stehplätze, das ist die Wahrheit! Selbst die Würmer müssen im Gänsemarsch hinein! Ganz vorne, Fred, wo ich mit ihnen reden kann, wenn ich Tee trinke. Wie wär’s damit?«

Die Wächter und Schnapper wechselten einen Blick. Die meisten Bewohner der Stadt hatten einmal die Gruft des Ersten Ehelichen besucht, wenn auch nur als Mutprobe. Für viele von ihnen war es ein Schock zu erfahren, dass eine feierliche Bestattung nicht für die Ewigkeit war, sondern nur für ein paar Jahre, damit »meine kleinen kriechenden Helfer«, wie es Erster ausdrückte, ihre Arbeit erledigen konnten. Anschließend wurden die Gruft und ein Eintrag in einem der großen Bücher zur letzten Ruhestätte.

Erster lebte dort unten, als Einziger, wie er betonte. Und er mochte die Gesellschaft.

Erster war auf gewissenhafte Art sonderbar.

»Es ist nicht deine Idee?«, fragte Fred Colon.

Erster blickte auf seine Füße. »Der neue Diakon ist ein wenig, äh, neu«, sagte er. »Du weißt schon … eifrig. Sorgt für Veränderungen.«

»Hast du ihm erklärt, warum die Gräber nicht angerührt werden dürfen?«, fragte Nobby.

»Er meinte, das sei alles längst Geschichte«, entgegnete Erster.

»Seiner Ansicht nach sollten wir die Vergangenheit hinter uns lassen.«

»Hast du ihm gesagt, dass er sich an Lord Vetinari wenden soll?«, fragte Nobby.

»Ja, und er meinte, Seine Exzellenz sei bestimmt ein fortschrittlich eingestellter Mann, der sich nicht an Relikten der Vergangenheit festklammert«, erwiderte Erster.

»Scheint tatsächlich neu zu sein«, kommentierte Schnapper.

»Ja«, brummte Nobby. »Klingt ganz nach jemandem, der nicht sehr alt wird. Schon gut, Erster. Du kannst sagen, dass du uns gefragt hast.«

Der Totengräber wirkte erleichtert. »Danke, Nobby. Und ich möchte noch sagen: Wenn eure Stunde schlägt, Leute, bekommt ihr ein Regal mit guter Aussicht. Ich habe eure Namen in meinem Buch notiert, für die, die nach mir kommen.«

»Nun, das ist, äh, sehr nett von dir, Erster«, sagte Colon und fragte sich, ob es das wirklich war. Aus Platzmangel wurden die Knochen in der Gruft nach Größe gelagert, nicht nach ihren Eigentümern. Es gab Zimmer mit Rippen und ganze Alleen aus Oberschenkelknochen. Und die Regale beim Eingang waren voller Totenschädel, denn eine Gruft ohne Totenschädel verdiente es nicht, Gruft genannt zu werden. Wenn einige der Religionen Recht hatten und eines Tages tatsächlich eine körperliche Wiederauferstehung anstand, dann drohte ein ziemliches Durcheinander, überlegte Colon.

»Ich habe genau die richtige Stelle für …«, begann Erster und unterbrach sich. Verärgert streckte er den Arm aus. »Ihr wisst doch, dass ich ihn hier nicht sehen will!«

Die Männer drehten sich um. Korporal Reg Schuh schritt mit feierlichem Ernst über den Kiesweg, einen ganzen Strauß Fliederblüten an den Helm gebunden. Über der Schulter trug er eine Schaufel mit langem Griff.

»Es ist nur Reg«, sagte Fred. »Er hat ein Recht darauf, hier zu sein, Erster. Das weißt du.«

»Er ist tot! Und ich dulde keine Toten auf meinem Friedhof!«

»Hier wimmelt’s von ihnen, Erster«, sagte Schnapper in dem Versuch, den Totengräber zu beruhigen.

»Ja, aber die laufen nicht herum!«

»Komm schon, Erster, du regst dich jedes Jahr auf«, sagte Fred Colon. »Er kann doch nichts für die Art und Weise, wie er ums Leben gekommen ist. Ein Zombie muss nicht unbedingt eine schlechte Person sein. Er ist ein nützlicher Bursche, Reg. Außerdem wär’s hier viel ordentlicher, wenn sich jeder so um sein Grab kümmern würde wie er. Morgen, Reg.«

Reg Schuh nickte den vier Männern zu, als er näher kam. Sein Gesicht war grau, aber ein Lächeln stand darauf.

»Und er hat seine eigene Schaufel mitgebracht«, grummelte Erster. »Abscheulich!«

»Ich habe das, was er macht, immer für recht, äh, nett gehalten«, sagte Fred. »Lass ihn in Ruhe, Erster. Wenn du jetzt Steine nach ihm wirfst wie im vorletzten Jahr, wird Kommandeur Mumm davon erfahren, und dann gibt’s Ärger. Du kennst dich aus mit … mit …«

»Leichen«, warf Nobby ein.

»Aber … Nun, du warst nicht dabei, Erster«, sagte Colon. »So ist das eben. Aber Reg war dabei. Und wenn du nicht dabei warst, Erster, kannst du es auch nicht verstehen. So, und jetzt geh los und zähl wieder die Schädel, ich weiß, dass dir das gefällt. Tschüs, Erster.«

Erster Ehelicher sah ihnen nach, und Feldwebel Colon glaubte, einen Maß nehmenden Blick zu spüren.

»Ich habe mich immer über seinen Namen gewundert«, sagte Nobby und winkte zum Abschied. »Ich meine … Ehelicher?«

»Man kann es einer Mutter nicht vorwerfen, wenn sie stolz ist, Nobby«, erwiderte Colon.

»Worüber sollte ich sonst noch Bescheid wissen?«, fragte Mumm, als er sich zusammen mit Karotte einen Weg durch das Gedränge auf den Straßen bahnte.

»Wir haben einen Brief von den Schwarzbandlern2 bekommen, Herr. Sie weisen darauf hin, dass die Speziesharmonie in der Stadt einen großen Schritt vorankäme, wenn du bereit wärst …«

»Sie wollen einen Vampir in der Wache?«

»Ja, Herr. Ich glaube, viele Mitglieder des Wachkomitees halten es trotz deiner Bedenken für eine gute Idee …«

»Sehe ich wie eine Leiche aus?«

»Nein, Herr.«

»Dann lautet die Antwort nein. Was sonst noch?«

Karotte blätterte in den Unterlagen, die dick in der Klammer eines Klemmbretts steckten. »Die Times berichtet, dass Borograwien Mouldawien überfallen hat«, sagte er.

»Sollten wir uns darüber freuen? Kann mich nicht daran erinnern, wo das ist.«

»Beide Länder gehörten früher zum Dunklen Reich, Herr. Direkt neben Überwald.«

»Auf welcher Seite stehen wir?«

»Die Times meint, wir sollten das kleine Mouldawien gegen den Aggressor unterstützen, Herr.«

»Mir gefällt Borograwien bereits«, sagte Mumm. In der vergangenen Woche hatte die Times eine wenig schmeichelhafte Karikatur von ihm gebracht, und was noch schlimmer war: Sybil hatte um das Original gebeten und es rahmen lassen. »Was bedeutet das für uns?«

»Vermutlich mehr Flüchtlinge, Herr.«

»Bei den Göttern, wir haben keinen Platz mehr! Warum kommen sie alle hierher?«

»Sie suchen nach einem besseren Leben, Herr.«

»Nach einem besseren Leben?«, wiederholte Mumm. »Hier?«

»Ich glaube, in ihrer Heimat stehen die Dinge schlechter, Herr«, sagte Karotte.

»Um was für Flüchtlinge handelt es sich?«

»Größtenteils um Menschen, Herr.«

»Soll das heißen, dass die meisten von ihnen Menschen sind, oder ist jedes einzelne Individuum größtenteils menschlich?«, erkundigte sich Mumm. Wenn man eine Weile in Ankh-Morpork gelebt hatte, lernte man, die richtigen Fragen zu stellen.

»Äh, abgesehen von den Menschen scheint es in der betreffenden Region nur eine andere nennenswerte Spezies zu geben, die so genannten Kwetsch, Herr. Sie leben im tiefen Wald und sind von Kopf bis Fuß behaart.«

»Tatsächlich? Nun, vermutlich finden wir mehr über sie heraus, wenn man uns bittet, einen von ihnen in die Wache aufzunehmen«, sagte Mumm bitter. »Und sonst?«

»Eine Nachricht, die zu Hoffnung Anlass gibt, Herr«, sagte Karotte und lächelte. »Erinnerst du dich an die Jugendbande, die sich ›Steinklopfer‹ nennt?«

»Was ist damit?«

»Sie hat gerade ihren ersten Troll aufgenommen.«

»Wie bitte? Ich dachte, die Burschen hätten es sich zum Ziel gesetzt, Trolle zu verprügeln! Das ist doch der Sinn der ganzen Sache!«

»Offenbar findet der junge Kalzit ebenfalls Gefallen daran, Trolle zu verdreschen.«

»Und das ist gut?«

»Ich schätze, in gewisser Weise ist es ein Schritt nach vorn, Herr.«

»Vereint im Hass, meinst du?«

»Ich denke schon, Herr«, sagte Karotte. Er blätterte vor und zurück. »Was habe ich sonst noch? O ja, das Patrouillenboot ist erneut gesunken …«

Was habe ich falsch gemacht?, dachte Mumm, als die Litanei weiterging. Früher einmal bin ich Polizist gewesen. Ein richtiger Polizist. Ich habe Verbrecher verfolgt. Ich war ein Jäger. Ich war das, was ich am besten konnte. Allein das Gefühl der Straße unter den Stiefelsohlen verriet mir, wo in der Stadt ich mich befand. Und was ist aus mir geworden? Ein Herzog! Kommandeur der Wache! Ein Politiker! Ich muss wissen, wer Tausende von Meilen entfernt gegen wen kämpft, nur für den Fall, dass es deshalb hier bei uns Unruhen gibt!

Wann bin ich zum letzten Mal auf Streife gegangen? Letzte Woche? Vor einem Monat? Und es ist nie eine richtige Streife, weil die Feldwebel allen mitteilen, dass ich unterwegs bin, und jeder verdammte Obergefreite hat seinen Brustharnisch auf Hochglanz poliert und sich rasiert, wenn ich eintreffe, selbst wenn ich durch die Seitenstraßen schleiche (und zumindest dieser Gedanke machte ihn ein wenig stolz, denn es bedeutete, dass die Feldwebel der Wache nicht dumm waren). Ich stehe nicht mehr die ganze Nacht im Regen. Ich kämpfe nicht mehr mit irgendeinem Halunken im Rinnstein um mein Leben. Ich laufe nicht mehr, sondern schlendere nur. All das hat man mir genommen. Und wofür?

Bequemlichkeit, Einfluss, Geld, eine wundervolle Ehefrau …

… äh …

Nun, das war eine gute Sache, natürlich, aber … trotzdem …

Verdammt. Aber ich bin kein Polizist mehr. Heute bin ich ein … ein Verwalter. Ich muss mit dem verfluchten Komitee reden, als bestünde es aus Kindern. Ich besuche Empfänge und trage eine verdammte Spielzeugrüstung. Es ist alles Politik und Papierkram. Es ist alles zu groß.

Wo sind die Tage geblieben, an denen alles so einfach war?

Dahingewelkt wie der Flieder, dachte Mumm. Sie betraten den Palast und gingen die Treppe hinauf zum Rechteckigen Büro.

Der Patrizier von Ankh-Morpork stand am Fenster und sah nach draußen, als sie eintraten. Sonst hielt sich niemand im Zimmer auf.

»Ah, Mumm«, sagte er, ohne sich umzudrehen. »Ich habe damit gerechnet, dass du dich verspätest. Unter den besonderen Umständen hielt ich es für besser, die Mitglieder des Komitees fortzuschicken. Sie bedauerten es ebenso wie ich, von Starkimarms Tod zu hören. Zweifellos hast du den offiziellen Brief geschrieben.«

Mumm warf Karotte einen fragenden Blick zu. Der Hauptmann rollte mit den Augen, hob und senkte die Schultern. Vetinari fand Dinge sehr schnell heraus.

»Ja, das stimmt«, bestätigte Mumm.

»Und noch dazu an einem so schönen Tag wie heute«, sagte Vetinari. »Allerdings ist ein Gewitter hierher unterwegs, wie ich sehe.« Er drehte sich um. Eine Fliederblüte zierte seine Jacke.

»Geht es Lady Sybil gut?«, fragte er und setzte sich.

»Das weißt du vermutlich besser als ich«, erwiderte Mumm.

»Gewisse Dinge brauchen Zeit«, sagte Vetinari glatt und rückte die Papiere auf seinem Schreibtisch zurecht. »Mal sehen, mal sehen … Es gab da noch einige kleine Angelegenheiten, um die ich mich kümmern wollte … Ah, der übliche Brief von unseren religiösen Freunden im Tempel der Geringen Götter.« Er zog ihn aus dem Stapel und legte ihn beiseite. »Ich glaube, ich werde den neuen Diakon zum Tee einladen und ihm die Angelegenheit erklären.

Nun, abgesehen davon … Ah, ja, die politische Situation in … Ja?«

Die Tür öffnete sich. Drumknott, der Sekretär des Patriziers, kam herein.

»Eine Nachricht für Seine Gnaden«, sagte er, reichte sie aber Lord Vetinari. Der Patrizier schob sie sehr höflich über den Schreibtisch, und Mumm entfaltete den Zettel.

»Eine Semaphor-Nachricht!«, entfuhr es ihm. »Wir haben Carcer in der Neuen Aula in die Enge getrieben! Ich muss sofort dorthin!«

»Wie aufregend«, sagte Lord Vetinari und stand ruckartig auf. »Der Ruf zur Jagd. Aber ist es notwendig, dass du dich persönlich darum kümmerst, Euer Gnaden?«

Mumm bedachte ihn mit einem durchdringenden Blick. »Ja«, erwiderte er. »Denn wenn ich mich nicht auf den Weg mache, wird irgendein armer Kerl versuchen, den Mistkerl zu verhaften. Das lernen die Wächter in der Ausbildung.« Er wandte sich an Karotte. »Gib die Meldung sofort weiter, Hauptmann! Winksprüche über die Nachrichtentürme, Tauben, Kuriere, alles. Jeder soll diesem Ruf folgen. Aber niemand – ich wiederhole: niemand – soll versuchen, ihn ohne die Hilfe vieler anderer Wächter gefangen zu nehmen! Verstanden? Und Knuddel Winzig soll losfliegen! Oh, verdammt …«

»Was ist, Herr?«, fragte Karotte.

»Die Nachricht stammt von Kleinpo. Sie hat die Mitteilung direkt hierher geschickt. Was macht sie dort draußen? Sie gehört zur forensischen Abteilung, nicht zu den Streifen! Meine Güte, sie wird versuchen, sich an die Vorschriften zu halten!«

»Sollte sie das nicht?«, fragte Vetinari.

»Nein. Carcer braucht einen Pfeil ins Bein, nur um seine Aufmerksamkeit zu wecken. Man muss zuerst schießen…

»Und später Fragen stellen?«, vermutete Vetinari.

Mumm zögerte kurz an der Tür. »Es gibt nichts, das ich ihn fragen möchte.«

Auf dem Hiergibt’salles-Platz musste Mumm seinen Schritt verlangsamen, um wieder zu Atem zu kommen, und darüber ärgerte er sich sehr. Vor einigen Jahren wäre er gerade erst richtig in Schwung gekommen! Doch das über die Ebene heranziehende Gewitter trieb die Hitze vor sich her, und es geziemte sich nicht für den Kommandeur, keuchend am Ort des Geschehens einzutreffen. Als er hinter einer Marktbude innehielt und nach Luft schnappte, musste er feststellen, dass er nicht einmal genug Atem für einen längeren Satz hatte.

Zu seiner großen Erleichterung wartete eine völlig unverletzte Grinsi Kleinpo an der Universitätsmauer auf ihn. Sie salutierte.

»Zur Stelle, Herr«, sagte sie.

»Mm«, erwiderte Mumm.

»Ich habe zwei Trolle bei der Verkehrskontrolle bemerkt und sie zur Wasserbrücke geschickt, Herr«, sagte Korporal Kleinpo. »Dann erschien Feldwebel Detritus, und ich habe ihn aufgefordert … ihn gebeten, das Universitätsgelände durchs Haupttor zu betreten und einen hohen Ort aufzusuchen. Als Feldwebel Colon und Nobby eintrafen, habe ich sie zur Größenbrücke gesandt …«

»Warum?«, fragte Mumm.

»Weil ich bezweifle, dass er sich in diese Richtung wenden wird«, erwiderte Grinsi, wobei ihr Gesicht ein sorgfältiges Bild der Unschuld zeigte. Mumm musste sich darauf konzentrieren, mit dem Nicken aufzuhören. »Es kamen immer mehr Wächter, und ich habe sie aufgefordert, den ganzen Bereich zu umstellen. Wie dem auch sei: Ich glaube, er ist irgendwo dort oben und bleibt dort.«

»Warum?«

»Wie soll er sich den Weg durch einen ganzen Haufen Zauberer freikämpfen, Herr? Seine beste Chance besteht darin, über die Dächer zu klettern und an irgendeinem ruhigen Ort auf den Boden zurückzukehren. Dort oben gibt es viele Verstecke, und er könnte es bis zur Pfirsichblütenstraße schaffen, ohne herunterzukommen.«

Forensische Abteilung, dachte Mumm. Ha! Und mit ein bisschen Glück weiß der Bursche nichts von Knuddel.

»Gut überlegt«, sagte er.

»Danke, Herr. Hättest du etwas dagegen, näher an die Mauer heranzutreten, Herr?«

»Warum?«

Etwas schlug auf das Pflaster auf. Von einem Augenblick zum anderen stand Mumm flach an die Mauer gepresst.

»Er hat eine Armbrust, Herr«, sagte Grinsi. »Wir glauben, sie stammt von Starkimarm. Aber er kann nicht besonders gut damit umgehen.«

»Ausgezeichnet, Korporal«, sagte Mumm schwach. »Gute Arbeit.« Er sah zum Platz zurück. Wind zerrte an den Markisen der Marktbuden. Die Verkäufer bedeckten ihre Waren und blickten gelegentlich zum Himmel empor.

»Wir können ihn nicht einfach dort oben lassen«, fuhr er fort. »Wenn er aufs Geratewohl schießt, wird er früher oder später jemanden treffen.«

»Warum sollte er aufs Geratewohl schießen, Herr?«

»Carcer braucht keinen Grund«, sagte Mumm. »Er braucht nur einen Vorwand.« Eine Bewegung weckte seine Aufmerksamkeit, und er lächelte.

Ein großer Vogel stieg über der Stadt auf.

Der Reiher brummte klagend und versuchte, in weiten Kreisen an Höhe zu gewinnen. Die Stadt drehte sich unter Korporal Knuddel Winzig, als er die Knie noch fester an den Leib des Vogels presste und ihn mit dem Wind fliegen ließ. Kurze Zeit später landete der Reiher auf dem Kunstturm, dem höchsten Gebäude der Stadt, und kam nach einigen torkelnden Schritten zum Stehen.

Mit einer geübten Bewegung durchschnitt der Gnom den Strick, mit dem das mobile Semaphor befestigt war, und sprang dann in den Kompost aus Efeulaub und alten Rabennestern, der auf dem Turm eine Art Teppich bildete.

Der Reiher beobachtete ihn mit großäugiger Dummheit. Knuddel hatte ihn auf die übliche Weise der Gnome gezähmt: Man malte sich grün an, wartete im Sumpf und quakte; wenn dann ein Reiher kam, um einen zu fressen, lief man über seinen Schnabel nach oben und gab dem Vogel eins auf die Rübe. Bis er wieder zu sich kam, hatte man ihm das spezielle Öl – Knuddel war einen ganzen Tag lang mit der Herstellung beschäftigt gewesen, und der Gestank hatte alle Wächter aus dem Wachhaus vertrieben  – in die Nasenlöcher gepustet, und dann sah der Vogel einen an und glaubte, seine Mutter zu sehen.

Ein Reiher war nützlich, denn er konnte Ausrüstung tragen. Für Verkehrspatrouillen zog Knuddel einen Sperber vor, weil er besser über einer Stelle kreisen konnte.

Er ließ die Arme des tragbaren Semaphors an dem Pfahl einrasten, den er hier vor einigen Wochen vorbereitet hatte, zog dann ein winziges Fernrohr aus der Satteltasche des Reihers, band es an die steinerne Kante und blickte fast senkrecht in die Tiefe. Knuddel mochte solche Momente. Nur bei diesen Gelegenheiten waren alle anderen kleiner als er selbst.

»Nun … mal sehen, was wir sehen können«, brummte er.

Er sah die Universitätsgebäude. Er sah den Uhrturm des Alten Tom und die unverkennbare Masse von Feldwebel Detritus, der zwischen den nahen Schornsteinen kletterte. Das gelbe Licht des heranziehenden Unwetters spiegelte sich auf den Helmen der Wächter wider, die tief unten durch die Straßen eilten. Und dort, geduckt hinter einer Brüstung …

»Na bitte«, sagte Knuddel leise und streckte die Hand nach den Griffen des Semaphors aus.

»D … T … R … T … S Stop N … W … T Stop L … T … R Stop T … M«, sagte Grinsi.

Mumm nickte. Detritus befand sich auf dem Dach unweit des Alten Tom. Und Detritus trug eine Belagerungsarmbrust, die nicht einmal drei Männer hätten heben können und die so umgebaut war, dass sie ein ganzes Pfeilbündel abfeuerte. Die an dem Vorgang beteiligten Kräfte ließen die Pfeile meistens in der Luft zerbrechen, was dazu führte, dass das Ziel von einer sich ausdehnenden Wolke aus brennenden Splittern getroffen wurde. Mumm hatte verboten, diese Waffe gegen Personen einzusetzen, aber sie bot eine ausgezeichnete Möglichkeit, in ein Gebäude zu gelangen. Man konnte damit Vorder- und Hintertür gleichzeitig öffnen.

»Er soll einen Warnschuss abgeben«, sagte Mumm. »Wenn er Carcer mit dem Ding trifft, finden wir nicht einmal seine Leiche.« Und es gefiele mir sehr, seine Leiche zu finden, dachte er.

»Ja, Herr.« Grinsi zog zwei weiße Signalarme hinter dem Gürtel hervor, wandte sich dem Kunstturm zu und winkte eine kurze Nachricht. Der ferne Knuddel schickte eine Antwort.

»D … T … R … T … S Stop W … R … N … S … H … S … S«, murmelte Grinsi, als sie den Rest der Mitteilung winkte. murmelte Grinsi, als sie den Rest der Mitteilung winkte.

Wieder kam eine kurze Bestätigung zurück. Dann stieg eine rote Rakete vom Turm auf und explodierte, was alle aufmerksam werden ließ. Mumm beobachtete, wie die Mitteilung weitergegeben wurde.

Überall bei den Universitätsgebäuden gingen Wächter in Deckung. Sie wussten, was Detritus’ Armbrust anrichten konnte.

Der Troll brauchte einige Sekunden, um die Buchstabenkombination zu verstehen. Dann ertönte in der Ferne ein dumpfes Pochen, gefolgt von einem Geräusch, das nach dem Summen höllischer Bienen klang, und dann krachte es. Dachziegel und Mauerwerk barsten. Trümmerstücke regneten auf den Hiergibt’salles-Platz hinab. Ein ganzer Schornstein, komplett mit einer kräuselnden Rauchfahne, knallte nur wenige Meter neben Mumm auf die Straße.

Das Prasseln von Mörtel- und Holzstücken schloss sich an, gefolgt von einem sanften Schauer aus Taubenfedern.

Mumm schüttelte den Staub von seinem Helm. »Ja, ich schätze, jetzt ist er gewarnt«, sagte er.

Ein halber Wetterhahn landete neben dem Schornstein.

Grinsi blies einige Federn von ihrem Fernrohr und richtete es auf den Kunstturm. »Knuddel teilt mit, dass er sich jetzt nicht mehr bewegt, Herr«, berichtete sie.

»Tatsächlich? Was für eine Überraschung.« Mumm rückte seinen Gürtel zurecht. »Und jetzt kannst du mir deine Armbrust geben. Ich gehe nach oben.«

»Herr, du hast gesagt, dass niemand versuchen soll, ihn zu verhaften! Deshalb habe ich dir die Nachricht geschickt!«

»Stimmt. Ich werde ihn verhaften. Jetzt. Während er seine Körperteile zählt, um sich zu vergewissern, dass er noch alles beisammen hat. Gib Detritus Bescheid, denn ich möchte nicht als hundertsechzig Pfund Appetithäppchen enden. Und klapp den Mund ruhig wieder zu! Bis wir uns weitere Waffen, Rüstungen und Verstärkung besorgt haben, ist der Bursche irgendwo untergetaucht.«

Bei den letzten Worten lief er bereits.

Mumm erreichte eine Tür und sprang hindurch. In der Neuen Aula wohnten Studenten, aber es war erst halb elf, die meisten von ihnen lagen noch im Bett. Einige Gesichter spähten in den Flur, als Mumm zur Treppe eilte und seinen Weg nach oben fortsetzte, langsamer und seiner Zukunft weniger sicher. Im obersten Stock zögerte er. Er war schon einmal hier gewesen … Ja, dort stand eine Tür einen Spaltbreit offen, gewährte Blick auf Mopp und Eimer, was darauf hindeutete, dass es sich um das Zimmer des Hausmeisters handelte.

Und ganz hinten führte eine Leiter aufs Dach.

Mumm spannte vorsichtig die Armbrust.

Carcer verfügte also ebenfalls über eine Armbrust der Wache. Es waren gute, klassische Ein-Schuss-Modelle, doch es dauerte eine Weile, sie erneut zu laden. Wenn Carcer auf Mumm schoss, ohne zu treffen, so hatte er damit eine Chance vertan. Eine zweite würde er kaum bekommen.

Mumm kletterte die Leiter hoch, und das Lied fiel ihm wieder ein.

»Sie fliegen mit den Füßen nach oben, mit den Füßen, mit den Füßen …«, hauchte er.

Er verharrte dicht unter dem Rand der offenen Dachklappe. Carcer fiel bestimmt nicht auf den alten Helm-am-Stock-Trick herein, nicht mit nur einem Schuss. Es blieb Mumm also nichts anderes übrig, als ein Risiko einzugehen.

Er hob den Kopf, drehte ihn schnell und duckte sich wieder, um eine Sekunde später durch die Öffnung zu hechten. Er rollte sich ab, kam halb hoch und stellte fest: Er lebte noch. Es war niemand in der Nähe.

Neben ihm neigte sich ein Giebeldach nach oben. Mumm schlich los, duckte sich neben einen Schornstein, in dem Holzsplitter steckten, und blickte zum Turm.

Der Himmel darüber war blauschwarz. Unwetter gewannen viel Persönlichkeit, wenn sie über die weite Ebene zogen, und dieses wirkte wie ein Champion. Doch helles Sonnenlicht fiel auf den Kunstturm, und ganz oben flackerten die kleinen Punkte von Knuddels verzweifelten Signalen.

O … O … O

Wächter in Schwierigkeiten. Einem Bruder droht Gefahr.

Mumm wandte sich um. Niemand näherte sich ihm. Vorsichtig schob er sich um den Schornstein herum, und dort war Carcer. Er steckte zwischen zwei anderen Schornsteinen, für alle verborgen – nur Mumm und Knuddel auf dem Kunstturm konnten ihn sehen.

Carcer zielte.

Mumm drehte den Kopf und hielt nach dem Ziel Ausschau.

Etwa fünfzig Meter entfernt kletterte Karotte übers Dach des Forschungstrakts für hochenergetische Magie.

Der verdammte Narr hatte es noch nie gut verstanden, sich zu verstecken. Oh, er duckte sich und kroch, aber dadurch wirkte er irgendwie noch auffälliger. Er beherrschte nicht die Kunst, sich unsichtbar zu denken. Dort war er nun und stapfte durch das Chaos auf dem Dach, ebenso deutlich zu sehen wie eine große Ente in einer kleinen Badewanne. Und er hatte sich ohne Unterstützung aufs Dach begeben.

Narr …

Carcer zielte sorgfältig. Auf dem Dach des Forschungstrakts lagen alte Ausrüstungsgegenstände aller Art durcheinander, und Karotte befand sich nun hinter der erhöhten Plattform mit den so genannten »Zaubererkugeln« – sie leiteten überschüssige Magie ab, wenn bei Experimenten weiter unten etwas schief ging, was recht häufig geschah. Hinter der Plattform bot Karotte kein besonders gutes Ziel.

Mumm hob seine Armbrust.

Donner … rollte. Es klang nach einem gewaltigen Eisenwürfel, der über die Treppe der Götter rollte, ein knisterndes, grollendes Krachen, das den Himmel zerriss und die Gebäude der Stadt erzittern ließ.

Carcer sah auf und bemerkte Mumm.

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Night Watch« 2002 bei Doubleday/Transworld Publishers, London.

3. Auflage

Copyright © der Originalausgabe 2002

by Terry und Lyn Pratchett Copyright © der Karte 2002 by Stephen Briggs Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2003 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH Umschlaggestaltung: Design Team München Umschlagillustration: Agt. Schlück/Josh Kidby

Redaktion: Michael Ballauff NG· Herstellung: sc

eISBN 978-3-641-09735-6

www.goldmann-verlag.de

www.randomhouse.de

Leseprobe

1

Der Igor, der als forensischer Spezialist und Doktor für die Wache arbeitete, war recht jung (soweit man das von einem Igor sagen konnte, denn unter Igors wurden nützliche Gliedmaßen und Organe so weitergegeben wie Taschenuhren bei gewöhnlichen Leuten) und dachte sehr modern. Er ölte sein Haar, hatte eine Tolle, trug Schuhe mit Kreppsohlen und vergaß manchmal das Lispeln.

2

Die überwaldische Liga der Enthaltsamkeit, bestehend aus früheren Vampiren, die jetzt ein schwarzes Band tragen, als Zeichen dafür, dass sie dem klebrigen Zeug abgeschworen haben und, wirklich, viel lieber singen und ein gesundes Tischtennisspiel zu schätzen wissen.