Das Licht der Fantasie - Terry Pratchett - E-Book
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Das Licht der Fantasie E-Book

Terry Pratchett

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Beschreibung

Ein Fichtenstamm bewahrt den ungeschickten Rincewind vor dem Absturz vom Rand der Scheibenwelt. Der Zauberer findet sich in einem von intelligenten Bäumen bevölkerten Wald wieder und trifft erneut auf den Touristen Zweiblum. Währenddessen droht der Planet von einem roten Stern verschlungen zu werden. Nur ein Zauberspruch kann die Scheibenwelt noch retten, doch der befindet sich ausgerechnet in Rincewinds Kopf …

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Seitenzahl: 345

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Entdecke die Welt der Piper Fantasy:

Übersetzung aus dem Englischen von Andreas Brandhorst

ISBN 978-3-492-97224-6

Mai 2015

© 1986 Terry Pratchett

Titel der englischen Originalausgabe:

»The Light Fantastic«, Colin Smythe Ltd., Great Britain 1986

Deutschsprachige Ausgabe:

© Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2005

Covergestaltung: Guter Punkt, München

Covermotiv: Anke Koopmann, Guter Punkt unter der Verwendung eines Motivs von Katarzyna Oleska

Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH, Krugzell

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung, können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

Die Sonne ging zögernd auf, als wüsste sie nicht so recht, ob es die Mühe lohnte.

Ein neuer Scheibenwelttag dämmerte, aber nur sehr langsam. Und zwar aus folgendem Grund:

Wenn Licht auf ein starkes magisches Feld trifft, vergisst es plötzlich, was Eile bedeutet. Es wird geradezu träge. Und auf der Scheibenwelt war die Magie besonders stark. Deshalb glitt das mattgelbe Glühen der Dämmerung wie eine sanfte, liebkosende Hand über die schlafende Landschaft – goldenem Sirup gleich, wie manche Leute meinen. Es hielt inne, um Täler zu füllen. Es kroch müde an Berghängen empor. Als es Cori Celesti erreichte, das zehn Meilen hohe Massiv aus grauem Fels und grünem Eis in der Scheibenmitte, türmte es sich zu großen Haufen auf, um jenseits des Gipfels mit der eher bescheidenen Wucht einer ins Alter gekommenen Lawine durch die dunkle Landschaft zu rollen.

Ein solcher Anblick bot sich auf keiner anderen Welt.

Natürlich gab es auch keine andere Welt, die auf den Rücken von vier Elefanten ruhte, die ihrerseits auf dem Panzer einer riesigen, durchs Universum spazierenden Schildkröte standen. Ihr Name – oder seiner, wie manche Philosophen behaupteten – lautete Groß-A’Tuin. Sie – oder er, wie auch immer – spielt keine große Rolle in der folgenden Geschichte. Doch um die Scheibenwelt richtig zu verstehen, muss man wissen, dass es sie – oder ihn – gibt, unter den Bergwerken, Meeresquellen und angeblich fossilen Knochen, die der Schöpfer nur deshalb zurückgelassen hat, um Archäologen zu verwirren und ihnen Flausen in den Kopf zu setzen.

Groß-A’Tuin, die Sternenschildkröte: gefrorenes Methan auf dem Panzer, pockennarbig von Meteoritenkratern, bedeckt von einer Patina Asteroidenstaub. Groß-A’Tuin: Augen wie unauslotbar tiefe Seen, das Gehirn so groß wie ein Kontinent, die Gedanken gemächlich vorrückende Gletscher. Groß-A’Tuin: Das Glimmen der Sonnen und Galaxien spiegelt sich auf ihrem gewaltigen Leib wider, während sie durch die galaktische Nacht wandert und die Scheibenwelt mit sich trägt. Größer als alles, was man sich vorstellen kann. So alt wie die Zeit selbst. So geduldig wie ein Fels.

Einige Gelehrte glauben, Groß-A’Tuin führe kein besonders beneidenswertes Leben. Sie irren sich, das Gegenteil trifft zu: Groß-A’Tuin vergnügt sich prächtig.

Sie – oder er – ist das einzige Geschöpf im ganzen Universum, das genau weiß, welches Ziel es anstrebt.

Natürlich haben die Philosophen viele Jahre lang darüber diskutiert, wohin Groß-A’Tuin unterwegs sei, und ihre größte Sorge besteht darin, es vielleicht nie zu erfahren.

In zwei Monaten werden sie eine Antwort auf ihre Frage bekommen. Und dann haben sie wirklich Grund, sich Sorgen zu machen …

Ein anderes Problem, das die Fantasievolleren Gelehrten der Scheibenwelt schon seit einer ganzen Weile beschäftigt, ist Groß-A’Tuins Geschlecht. Sie verwenden viel Zeit und Mühe darauf, diesen Punkt zu klären.

Der neueste in diesem Zusammenhang unternommene Versuch kommt gerade in Sicht, während Groß-A’Tuin wie eine riesige Haarbürste aus Schildpatt durch die Unendlichkeit marschiert.

Die bronzene Kapsel des Mächtigen Reisenden ist völlig außer Kontrolle geraten und fällt an der Schildkröte vorbei. Es handelt sich um eine Art steinzeitliches Raumschiff, von Krulls Priesterastronomen erbaut und über die Kante der Scheibenwelt gestoßen – was der landläufigen Meinung widerspricht, es gebe kein Reiseunternehmen, das gratis arbeitet.

Im Innern der Kapsel sitzt Zweiblum, der erste Tourist der Scheibenwelt. Er hat einige aufregende Monate damit verbracht, sie zu erforschen, und jetzt verlässt er sie recht überstürzt. Die Gründe dafür sind kompliziert, haben jedoch mit dem Versuch zu tun, aus Krull zu fliehen.

Ein Versuch, so sei hinzugefügt, der tausendprozentig erfolgreich war.

Obwohl alles darauf hindeutet, dass Zweiblum auch der letzte Tourist der Scheibenwelt sein wird, genießt er die Aussicht. Zwei Meilen über ihm stürzt der Zauberer Rincewind durchs Nichts, gekleidet in etwas, das auf der Scheibenwelt als Raumanzug gelten mag. Man stelle sich ihn als Taucheranzug vor, von jemandem entwickelt, der nie das Meer gesehen hat. Vor sechs Monaten war Rincewind ein ganz normaler gescheiterter Magier. Dann begegnete er Zweiblum, der ihn mit einem enormen Gehalt in seinen Dienst lockte und zum Reiseführer ernannte. Seitdem hat Rincewind die meiste Zeit damit verbracht, entsetzt Pfeilen auszuweichen, gejagt zu werden und über bodenlosen Abgründen zu hängen, selbstverständlich mit wenig Aussicht auf Rettung. Oder in die Tiefe zu stürzen, so wie jetzt.

Er genießt die Aussicht keineswegs, denn sein ganzes bisheriges Leben zieht an ihm vorbei, und die Erinnerungen versperren ihm den Blick auf die Umgebung. Er erfährt nun, wie wichtig es ist, nicht den Helm zu vergessen, wenn man einen Raumanzug benutzt.

An dieser Stelle könnte eine längere Schilderung folgen, die erklärt, weshalb die beiden Männer von der Scheibenwelt fallen und warum Zweiblums Truhe – die zuletzt verzweifelt versuchte, ihm auf Hunderten von kleinen Beinen zu folgen – alles andere als ein gewöhnliches Gepäckstück ist. Doch derartige Erläuterungen würden viel Zeit und Platz erfordern und könnten mehr Probleme schaffen als lösen. Man denke nur an den berühmten Philosophen Ly Tin Weedle, dem jemand während eines Festes die Frage stellte: »Was machst du denn hier?« Die Antwort dauerte drei Jahre.

Weitaus wichtiger ist ein Ereignis weit oben, über A’Tuin, den Elefanten und Rincewind, der vergeblich nach Luft schnappt und langsam blau anläuft. Die Struktur von Raum und Zeit wird gleich durch die Mangel gedreht.

Fühlbare Magie lag wie Staub in der Luft, und ätzender Rauch wallte. Er stammte von Kerzen aus schwarzem Wachs, nach dessen Ursprung ein kluger Mann besser nicht fragen sollte.

Der Raum befand sich im Kellergewölbe der Unsichtbaren Universität, des wichtigsten magischen Lehrinstitutes auf der Scheibenwelt, und wirkte außerordentlich seltsam. Zum Beispiel schien er zu viele Dimensionen aufzuweisen, die sich den Blicken des Beobachters entzogen und gerade außerhalb seines Wahrnehmungsbereichs lauerten. Okkulte Symbole bedeckten die Wände, und das Achtgefaltete Siegel Der Stasis beanspruchte den größten Teil des Bodens. Angeblich, so hieß es in magischen Kreisen, hatte es die gleiche Mannstoppwirkung wie ein kräftiger Schlag mit einem dicken Knüppel.

Die Einrichtung des Zimmers beschränkte sich auf ein Pult aus dunklem Holz, dem man die Form eines Vogels gegeben hatte. Besser gesagt: die eines geflügelten Wesens, das man sich nicht zu genau ansehen sollte. Auf dem Pult lag ein Buch, mit einer schweren Kette und mehreren Vorhängeschlössern gesichert.

Ein großes, aber nicht besonders eindrucksvolles Buch. Andere Bücher in der Universität wiesen mit kostbaren Edelsteinen und erlesenem Holz geschmückte Deckel auf oder waren in Drachenhaut gebunden. Die Hülle dieses Exemplars hingegen bestand aus schäbigem Leder. Es sah ganz nach der Art von Büchern aus, die in den Bibliothekskatalogen als ›ein wenig mitgenommen‹ beschrieben wurden – obwohl natürlich keine Seite fehlte und niemand auf den Gedanken kam, irgendein Kapitel mitzunehmen. Ebenso gut hätte man versuchen können, sich ein Stück glühendes Eisen in die Tasche zu stecken – man verbrennt sich nicht nur die Finger daran.

Metallspangen hielten es geschlossen. Sie waren nicht verziert, einfach nur dick und schwer. Wie die Kette, die nicht nur dazu diente, das Buch am Pult zu sichern, sondern verhindern sollte, dass es sich öffnete.

All diese Dinge deuteten auf jemanden hin, der eine ganz bestimmte Absicht verfolgte. Auf jemanden, der einen Teil seines Lebens damit verbracht hatte, wilde Elefanten zu zähmen und widerspenstige Kobolde zu überreden, ihm den Flur zu schrubben.

Die magische Aura verdichtete sich und wogte. Die Seiten des Buches knisterten auf eine unheimliche, aufsässige Weise, und blaues Licht quoll zwischen ihnen hervor. Die Stille in dem Raum war wie eine Hand, die sich langsam zur Faust ballte.

Mehrere Zauberer in langen Nachthemden wechselten sich darin ab, durch das kleine Gitter in der Tür zu starren. Kein Magier konnte schlafen, während sich derart seltsame Dinge zutrugen: Pure thaumaturgische Energie verdichtete sich und zog wie eine Flutwelle durch die gesamte Universität.

»Also gut«, erklang eine Stimme. »Was geht hier vor? Und warum hat man mir nicht Bescheid gegeben?«

Galder Wetterwachs, Oberster Meisterbeschwörer des Ordens vom Silbernen Stern, Imperialer Lord des Sakralen Stabes, Ipsissimus der Achten Stufe und dreihundertvierter Kanzler der Unsichtbaren Universität, bot einen imposanten Anblick, selbst in seinem roten Nachthemd mit den Stickmustern mystischer Runen und mit der großen Bommelmütze, die ihm in die Stirn rutschte. Nicht einmal der wurstartige Kerzenhalter in der einen Hand beeinträchtigte seine Autorität, ganz zu schweigen von den flauschigen Pompom-Pantoffeln.

Sechs besorgte Gesichter sahen ihn an.

»Äh, man hat dich unterrichtet«, sagte einer der Untermagier.

»Deshalb bist du hier«, fügte ein anderer hinzu.

»Ich meine, warum wurde ich nicht vorher verständigt?«, erwiderte Galder scharf und trat mit entschlossenen Schritten auf die Tür zu.

»Äh, vorher gab es keinen Grund, deine Ruhe zu stören«, lautete die durchaus vernünftige Antwort.

Galder brummte, kniff die Augen zusammen und wagte einen kurzen Blick durchs Gitter.

Die Luft in der Kammer glitzerte, und winzige Funken stoben, als Staubkörner in dahinströmender purer Magie verbrannten. Das Siegel Der Stasis warf Blasen und kräuselte sich an den Kanten.

Das Buch auf dem Pult hieß ›Oktav‹ und war natürlich kein gewöhnliches Buch.

Es gibt viele berühmte Bücher über Magie. Man nehme nur das Nekrotelicomnicon mit den Seiten aus uralter Eidechsenhaut. Oder das Buch über Ausflüge Kurz Vor Mitternacht, geschrieben von einer geheimnisvollen und nicht sehr fleißigen Lama-Sekte. Manche erinnern sich vielleicht auch an den Lachsalven-Grimoire, der angeblich den einzigen echten Witz des ganzen Universums enthält. Aber alles sind nur wertlose Pamphlete im Vergleich mit dem Oktav, das der Schöpfer kurz nach der Vollendung Seines Hauptwerkes zurückließ, in für ihn typischer Gedankenlosigkeit.

Die acht in den Seiten gefangenen Zauberformeln führten ein geheimes, komplexes Eigenleben, und man vertrat allgemein die Ansicht, dass …

Galder runzelte die Stirn, als er das Zimmer beobachtete, in dem sich die pure Magie entfaltete. Natürlich gab es jetzt nur noch sieben Formeln. Irgendein junger und völlig unbegabter Zauberlehrling hatte einen verstohlenen Blick ins Buch geworfen; dabei war einer der magischen Sprüche entkommen und hatte sich im Bewusstsein des Betreffenden niedergelassen. Bisher war es niemandem gelungen, die Gründe für den unliebsamen Zwischenfall herauszufinden. Galder versuchte sich an den Namen des Idioten zu erinnern. Heinzwind? Geißkind?

Oktarines und violettes Feuer züngelte über den Buchrücken. Ein dünner Rauchfaden kräuselte vom Pult empor, und die dicken Metallspangen, die das Oktav geschlossen hielten, bogen sich langsam.

»Warum sind die Zauberformeln in solche Aufregung geraten?«, fragte einer der jüngeren Magier.

Galder zuckte mit den Schultern. Er durfte sich zwar nichts anmerken lassen, aber seine Besorgnis nahm immer mehr zu. Als erfahrener Zauberer der achten Stufe konnte er die undeutlichen Schemen erkennen, die hier und dort in der vibrierenden Luft Gestalt annahmen, ihm zuwinkten und erwartungsvoll grinsten. So wie ganze Schwärme von Stechmücken aufsteigen, wenn ein Gewitter naht, lockten wirklich dichte Ansammlungen magischer Kraft Wesenheiten aus den chaotischen Kerkerdimensionen an – abscheuliche Dinge aus wirr angeordneten Organen und Spucke, die ständig nach einer Lücke suchten, durch die sie in die Welt der Menschen gelangen konnten.1

Dem musste Einhalt geboten werden.

»Ich brauche einen Freiwilligen«, sagte Galder fest.

Niemand gab einen Mucks von sich. Die einzigen Geräusche stammten aus dem Raum: ein leises, dumpfes Knacken von Metall, das einer zu großen Belastung ausgesetzt war.

»Na schön«, brummte Galder Wetterwachs. »Wenn das so ist, benötige ich einige silberne Pinzetten, zwei Becher Katzenblut, eine kleine Peitsche und einen Stuhl …«

Es heißt, Stille sei das Gegenteil von Lärm. Aber das stimmt nicht. Stille ist nur die Abwesenheit von Geräuschen. Im Vergleich zu der samtenen Implosion von Geräuschlosigkeit, welche die Zauberer mit der Wucht einer auseinanderplatzenden Kuckucksuhr traf, wäre Stille ein geradezu ohrenbetäubender Radau gewesen.

Eine dicke Säule aus flackerndem Licht wuchs aus dem Buch, fraß sich funkenstiebend durch die Decke und verschwand.

Galder starrte zum Loch hoch und ignorierte die schwelenden Stellen in seinem Bart. Mit einer dramatischen Geste hob er den rechten Arm.

»Zum oberen Keller!«, rief er und eilte die Treppe hoch. Die Troddeln seiner Pantoffeln schwangen wie Schlegel hin und her, und das Nachthemd wehte wie eine Fahne. Die anderen Zauberer folgten ihm und stolperten übereinander, als jeder versuchte, der Letzte zu sein.

Trotzdem trafen sie alle rechtzeitig ein, um zu sehen, wie sich der Feuerball aus okkulter Potenzialität durch die Decke des nächsten Zimmers brannte.

»Argh!«, stieß der jüngste Zauberer hervor und deutete auf den Boden.

Der Raum hatte zur Bibliothek gehört – bis die Magie hindurchgerast war und alle Möglichkeitspartikel durcheinandergebracht hatte. Daher gab es guten Grund anzunehmen, dass sowohl die kleinen violetten Wassermolche als auch die Ananassoße zuvor Bücher gewesen waren. Und einige Zauberer schworen später, in dem Orang-Utan, der traurig und kummervoll inmitten des Chaos hockte, den Obersten Bibliothekar erkannt zu haben.

Galder blickte nach oben. »Zur Küche!«, donnerte er, watete durch die Ananassoße und erreichte kurz darauf die nächste Treppe.

Niemand fand heraus, in was sich der große gusseiserne Herd verwandelt hatte, denn er war durch die Wand gebrochen und verschwunden, bevor die atemlosen Zauberer ins Zimmer stürmten und sich mit weit aufgerissenen Augen umsahen. Den fürs Gemüse zuständigen Koch entdeckte man nach einer Weile im Suppentopf. Er brabbelte unverständliche Dinge, wie zum Beispiel: »Die Haxen! Die grässlichen Haxen!«

Die letzten magischen Schwaden trieben weitaus träger als vorher durch die Decke.

»Zum Großen Saal!«

In diesem Bereich war die Treppe wesentlich breiter und besser beleuchtet. Die in aromatischen Ananasduft gehüllten Zauberer keuchten, und die sportlicheren unter ihnen brachten die letzten Stufen hinter sich, als der Feuerball die Mitte des zugigen Raums erreichte, der das Zentrum der Universität darstellte. Dort verharrte er reglos. Die einzigen Bewegungen stammten von kleinen Auswüchsen, die sich an der Oberfläche bildeten und leise zischten.

Zauberer rauchen, wie jedermann weiß. Das erklärte vermutlich den Chor aus asthmatischem Husten und Blasebalgschnaufen, der hinter Galder ertönte, als er versuchte, die Lage einzuschätzen. Und überlegte, ob er beginnen sollte, sich nach einem Versteck umzusehen. Er schnappte sich einen ängstlichen Novizen.

»Hol die Seher, Kristallschauer, Weitblicker, Rätseldeuter, Omenbefrager und Kaffeesatzleser aus den Betten!«, wies er den Lehrling an. »Dieses Phänomen muss untersucht werden!«

Etwas formte sich im Innern des Feuerballs. Galder schirmte die Augen ab und beobachtete, wie der Schatten Konturen gewann. Ja, kein Zweifel: das Universum.

Er war deshalb völlig sicher, weil er in seinem Arbeitszimmer ein Modell des Universums aufbewahrte, von dem alle meinten, es sei viel beeindruckender als das Original. Angesichts der Möglichkeiten, die Saatperlen und silbernes Filigran boten, schien der Schöpfer ratlos mit dem Kopf geschüttelt zu haben.

Doch das winzige Universum im Innern des Feuerballs wirkte unheimlich und … na ja, echt. Es mangelte ihm nur an Farbe, denn alles beschränkte sich auf milchiges Weiß.

Galder sah Groß-A’Tuin, die vier Elefanten auf ihrem – oder seinem – Rücken und auch die Scheibenwelt. Aus seinem Blickwinkel ließ sich auf ihrer Oberfläche kaum etwas erkennen, aber mit kalter Gewissheit wusste er, dass alle Einzelheiten genau nachgebildet waren. Er bemerkte eine winzige Reproduktion des Massivs Cori Celesti und erinnerte sich an die zänkischen, ein wenig kleinbürgerlichen Götter, die auf dem Gipfel des riesigen Gebirges wohnten, in einem Palast aus Marmor und Alabaster, gekleidet in völlig unmodische, dreiteilige Gewänder aus kitschigem Mokett, die sie in heiliger Geschmacksverirrung ›Würdentracht‹ nannten. Alle Bewohner der Scheibenwelt, die Wert auf Kultur legten, empfanden es als Ärgernis, dass das Kunstverständnis ihrer Götter nicht über singende Türklingeln hinausging.

Das kleine Embryonenuniversum bewegte sich langsam, kippte ein wenig …

Galder versuchte zu schreien, brachte aber keinen Ton hervor.

Das Gebilde dehnte sich aus, langsam, aber mit der unaufhaltsamen Schicksalhaftigkeit einer Explosion.

Zuerst entsetzt und dann erstaunt beobachtete Galder, wie ihn der Rand des kleinen Universums durchdrang, so mühelos wie ein Gedanke. Er streckte die Hand aus, und die geisterhaft blassen Schemen von Hügeln und Bergen glitten in geschäftiger Stille an seinen Fingern vorbei.

Groß-A’Tuin, größer als ein Haus, war bereits im Boden versunken.

Die Zauberer hinter Galder standen bis zu den Hüften in Seen. Ein Boot, kleiner als ein Fingerhut, weckte kurz Galders Aufmerksamkeit, bevor die Strömung es durch die Wand trug.

»Zum Dach!«, brachte er hervor und deutete mit dem zitternden Zeigefinger nach oben.

Einige Magier, die ihre Hustenanfälle überwunden hatten und noch nicht in Panik geraten waren, folgten ihm durch Kontinente, die durch festen Stein schwebten.

Draußen herrschte noch immer die Dunkelheit der Nacht, doch ein fahles Glimmen kündigte den neuen Tag an. Ein sichelförmiger Mond ging gerade unter. Ankh-Morpork, die größte Stadt in der Nähe des Runden Meeres, schlief.

Obwohl, diese Behauptung ist nicht ganz richtig.

Die Bürger der Stadt, die sich normalerweise damit beschäftigten, Gemüse zu verkaufen, Hufeisen zu schmieden, kostbaren Jadeschmuck herzustellen, Geld zu wechseln und Tische zu zimmern, lagen tatsächlich in ihren Betten und träumten süß. Jedenfalls die meisten. Bis auf diejenigen, die an Schlaflosigkeit litten. Oder gerade aufgestanden waren, um auf die Toilette zu gehen. Die anderen Bewohner der Stadt, die nicht ganz so viel von Recht und Ordnung hielten, waren putzmunter. Sie schlichen durch Häuser, in denen sie eigentlich überhaupt nichts zu suchen hatten, schnitten Kehlen durch, prügelten sich und lauschten lauter Musik in stickigen Kellern. Mit anderen Worten: Sie hatten mächtig Spaß. Die überwiegende Mehrheit der Tiere schlief. Abgesehen natürlich von den Ratten. Und den Fledermäusen. Was die Insekten betraf …

Die Sache ist: Allgemein beschreibende Formulierungen sind selten genau und waren unter der Herrschaft von Olaf Quimby II. als Patrizier von Ankh verboten. Er erließ ein entsprechendes Gesetz, um Berichte glaubwürdiger zu machen. Wenn es zum Beispiel in einer Legende von einem kühnen Helden hieß: »Alle bewunderten seine Tapferkeit«, so fügte jeder Barde, dem etwas an seinem Leben lag, hastig hinzu: »… bis auf einige Leute in seinem Heimatdorf, die ihn für einen Aufschneider hielten, und viele andere Leute, die noch nie etwas von ihm gehört hatten.« Dichterische Gleichnisse beschränkten sich auf Bemerkungen wie: »Sein mächtiges Ross war so schnell wie der Wind an einem recht ruhigen Tag, sagen wir: bei Windstärke drei.« Für unvorsichtige Behauptungen über Prinzessinnen, die so schön gewesen seien, dass sie alle Männer verzauberten, mussten hieb- und stichfeste Beweise vorgelegt werden, etwa die granitene Hand eines zu Stein erstarrten Minnesängers.

Quimby wurde schließlich von einem wütenden Poeten getötet. Er kam bei einem Experiment ums Leben, das auf dem Palastgelände stattfand und ein Sprichwort beweisen sollte: »Die Feder ist mächtiger als das Schwert.« Zu seinem Gedenken erweiterte man es um den Zusatz: »Aber nur, wenn das Schwert sehr klein und die Feder besonders groß und spitz ist.«

Nun gut. Ungefähr siebenundsechzig – vielleicht auch achtundsechzig – Prozent der Stadtbewohner schliefen. Die anderen Bürger, die unterdessen ihren überwiegend ungesetzlichen Geschäften nachgingen, bemerkten nichts von der fahlen Flut, die durch die Straßen strömte. Nur die Zauberer – daran gewöhnt, Unsichtbares zu erkennen – beobachteten, wie sie übers Land schwappte.

Die Scheibenwelt ist flach und hat deshalb keinen richtigen Horizont. Wenn sich abenteuerlustige Seefahrer mit närrischen Vorstellungen von Kugeln auf die Suche nach den Antipoden machen, stellen sie rasch fest, warum ferne Schiffe über den Rand der Welt zu fallen scheinen. Die Erklärung ist ganz einfach: Sie fallen wirklich über die Kante.

Doch in der dunstigen, staubigen Luft war selbst die Reichweite von Galders Blick begrenzt. Er hob den Kopf. Mit seinen achttausendachthundertachtundachtzig Stufen überragte der Turm der Kunst die Universität, und er stand in dem Ruf, das älteste Gebäude auf der ganzen Scheibenwelt zu sein. Vom Zinnendach aus, das Raben und beunruhigend aufmerksamen Wasserspeiern als Treffpunkt diente, konnte der Zauberer bis zum Rand der Scheibe sehen. Nachdem er zuvor etwa zehn Minuten lang hingebungsvoll gekeucht hatte.

»Von wegen«, brummte Galder. »Es hat doch schließlich seine Vorteile, Magier zu sein, oder? Abrakadabra, hol’s der Teufel! Ich will fliegen! Herbei, ihr Mächte der Luft und Finsternis!«

Er streckte eine knorrige Hand aus und deutete auf eine bröckelige Stelle der Brustwehr. Oktarine Funken sprangen unter nikotingelben Fingernägeln hervor und zerstoben am verwitterten Gestein weiter oben.

Fels brach und fiel. Mithilfe eines genau berechneten Austauschs von Bewegungsmomenten stieg Galder auf, und das Nachthemd flatterte an seinem knochigen Leib. Immer höher schwebte er und flog durch das blasse Glühen, wie ein … In Ordnung, wie ein älterer und mächtiger Zauberer, der emporgerissen wurde, weil er dem Universum an der richtigen Stelle einen Tritt gegeben hatte.

Er landete auf einigen alten Nestern, rang um sein Gleichgewicht und genoss den schwindelerregenden Anblick der Scheibenwelt-Dämmerung.

Zu dieser Zeit des langen Jahres befand sich das Runde Meer fast auf Cori Celestis Sonnenseite, und als das Tageslicht die steilen Hänge hinabglitt und die Region von Ankh-Morpork erreichte, wuchs der spitze Schatten des Massivs in die Länge wie der lange Zeiger einer göttlichen Sonnenuhr. Nachtwärts lieferte sich eine Linie aus weißem Dunst ein Wettrennen mit dem Licht in Richtung Rand.

Hinter Galder knarrten trockene Zweige. Er drehte sich um und sah Ymper Trymon, den zweithöchsten Magier des Ordens. Nur Ymper war imstande, ihm auf den Turm zu folgen.

Galder achtete zunächst nicht auf ihn, hielt sich vorsichtshalber an der Brustwehr fest und verstärkte seinen persönlichen Schutzzauber. Das Gewerbe der Magie gewährte denjenigen, die ihm nachgingen, für gewöhnlich eine besonders hohe Lebenserwartung, und dieser Umstand erschwerte Beförderungen. Deshalb versuchten jüngere Zauberer häufig, den langen Weg zu Ruhm und Macht abzukürzen, indem sie in die Fußstapfen toter Vorgänger traten und die Stelle des Meisters einnahmen, den sie zuvor, auf mehr oder weniger elegante Weise, umgebracht hatten. Außerdem hielt Galder Trymons Gebahren für sehr verdächtig. Er rauchte nicht, trank nur abgekochtes Wasser, und was noch weitaus schlimmer war: Er schien klug und gewitzt zu sein. Er lächelte nicht oft, mochte Zahlen und Organisationsdiagramme, die viele Kästchen enthielten, mit Pfeilen, die auf andere Kästchen zeigten. Kurz gesagt: Trymon gehörte zu den Männern, die Worte wie ›Personal‹ benutzten und sie ernst meinten.

Die sichtbaren Regionen der Scheibenwelt waren nun mit einem weiß schimmernden Film bedeckt, der sich allen Konturen anpasste.

Als Galder auf seine Hände starrte, stellte er fest, dass sich darauf ein dünnes Netzwerk aus glänzenden Linien gebildet hatte, die allen seinen Bewegungen folgten.

Diesen Zauber kannte er. Er hatte ihn selbst einmal benutzt, in einer kleineren, wesentlich beschränkteren Form. »Es ist der Zauber des Wandels«, sagte Trymon. »Die ganze Welt wird verändert.«

Einige Leute, dachte Galder grimmig, hätten den Anstand, ein Ausrufezeichen hinter eine solche Bemerkung zu setzen.

Unmittelbar darauf vernahm er ein zartes Zirpen, als zerbreche das Herz einer an Liebeskummer leidenden Maus.

»Was war das?«, fragte er.

Trymon neigte den Kopf zur Seite.

»Cis, glaube ich«, sagte er.

Galder schwieg. Der weiße Glanz verflüchtigte sich, und der Wind trug den beiden Zauberern die ersten Geräusche der erwachenden Stadt entgegen. Nichts schien sich verändert zu haben. Warum die Mühe, nur um alles so zu lassen, wie es ist?, dachte Galder.

Er klopfte die Taschen seines Nachthemds ab und fand das Gesuchte schließlich hinter dem einen Ohr. Rasch streckte er sich den feuchten Zigarettenstummel zwischen die Lippen, schnippte mit den Fingern, beschwor ein magisches Feuer und sog so lange, bis farbige Schlieren vor seinen Augen erschienen. Er hustete kurz mehrmals.

Galder überlegte angestrengt.

Er versuchte sich zu erinnern, ob ihm einer der Götter einen Gefallen schuldete.

Die seltsamen Vorgänge auf der Scheibenwelt verwunderten die Götter ebenso wie die Zauberer, doch selbst wenn sie in der Lage gewesen wären, etwas gegen das seltsame Glühen zu unternehmen (was bezweifelt werden muss): Ihr Hauptaugenmerk galt dem äonenlangen Kampf gegen die Eisriesen, die sich weigerten, ihnen den Rasenmäher zurückzugeben.

Niemand wusste, was sich zugetragen hatte, doch es gab einige Hinweise, und einer betraf den Umstand, dass Rincewind – der bei der Rückschau auf sein vergangenes Leben gerade eine recht interessante Stelle erreichte, bei der er als Fünfzehnjähriger erste Erfahrungen mit dem anderen Geschlecht sammelte – plötzlich feststellte: Er war entgegen aller Erwartungen noch immer am Leben und hing kopfüber in einem Baum.

Nach unten zu kommen, war nicht weiter schwer. Er fiel einfach von Ast zu Ast, landete schließlich auf einem Polster aus Fichtennadeln, schnappte nach Luft und wünschte sich, ein anständigerer Mensch gewesen zu sein.

Irgendwo, dachte er, gab es vermutlich eine Erklärung für alles. Im einen Augenblick stirbt man, nach einem Sturz über den Rand der Welt, und im nächsten findet man sich in einer Fichte wieder …

Rincewind runzelte die Stirn.

Und wie immer bei solchen Gelegenheiten rührte sich die Zauberformel in seinem Bewusstsein.

Die Lehrer hatten ihn mehrmals darauf hingewiesen, dass er für die Kunst der Magie ebenso viel Talent hatte wie Fische fürs Bergsteigen. Wahrscheinlich hätte man ihn irgendwann aus der Unsichtbaren Universität verstoßen – er konnte Zaubersprüche nicht im Gedächtnis behalten, und wenn er rauchte, drehte sich ihm der Magen um. Doch richtig problematisch wurde seine Lage erst, als ihm die dumme Idee kam, in das Zimmer mit dem Oktav zu schleichen und einen Blick ins angekettete Buch zu werfen.

Und was alles noch schlimmer machte: Niemand vermochte herauszufinden, wer oder was die Vorhängeschlösser aufgeschlossen hatte.

Der Zauberspruch war kein besonders anspruchsvoller Untermieter in Rincewinds Geist. Er hockte einfach nur da, wie eine alte Kröte im Teich. Doch immer dann, wenn sich der Magier müde und abgespannt fühlte – oder wenn er sich fürchtete, wie jetzt –, regte sich die Formel und wollte ausgesprochen werden. Keiner wusste, was geschehen würde, wenn man einen der Acht Großen Zaubersprüche für sich allein murmelte, doch die meisten Leute hielten es für besser, in einem solchen Fall weit, weit weg zu sein.

Rincewind gewann plötzlich den Eindruck, dass ihn die thaumaturgische Formel am Leben erhalten wollte – eine überraschende Erkenntnis für jemanden, der gerade vom Rand der Welt gestürzt war und auf einem Haufen Fichtennadeln saß.

»Ist mir ganz recht«, brummte er leise.

Er setzte sich auf und beobachtete den Wald. Rincewind kam aus der Stadt; er hatte zwar gehört, dass es Pflanzenkenner gab, die Bäume in verschiedene Gruppen und Untergruppen einteilten, aber sein Wissen beschränkte sich darauf, dass das dicke Ding, an dem keine Blätter hingen, in den Boden gehörte. Langsam drehte er den Kopf. Hier ragten viel zu viele Stämme in die Höhe, ohne erkennbare Ordnung. Und seit einer halben Ewigkeit schien hier niemand mehr gefegt zu haben.

Er erinnerte sich an die Behauptung, man könne sich orientieren, indem man feststellt, auf welcher Seite eines Stammes Moos wächst. Doch bei diesen Bäumen gab es überall Moos, hölzerne Warzen und dürre, verkrüppelte Äste. Wenn Bäume wie Menschen sind, dachte er, dann gehören diese Bäume in Schaukelstühle vor einem warmen Kamin.

Er versetzte dem nächsten Stamm einen ärgerlichen Tritt. Der Baum reagierte sofort und warf eine wohlgezielte Eichel auf ihn. »Au!«, entfuhr es Rincewind. Gleich darauf ertönte eine Stimme, die sich anhörte wie das Öffnen einer uralten Tür. »Geschieht dir ganz recht.«

Eine Zeit lang war es still.

Dann fragte Rincewind: »Hast du das gesagt?«

»Ja.«

»Und das auch?«

»Ja.«

»Oh.« Er dachte kurz nach und fügte schließlich hinzu: »Ich nehme an, du kennst nicht zufällig, vielleicht, äh, den Weg aus dem Wald?«

»Nein«, sagte der Baum. »Ich komme nicht viel herum.«

»Scheint ein ziemlich langweiliges Leben zu sein.«

»Keine Ahnung«, erwiderte der Baum. »Ich kenne kein anderes, bin immer nur ein Baum gewesen.«

Rincewind sah ihn sich genauer an. Der Stamm wirkte völlig normal, ebenso die Zweige und Blätter.

»Bist du ein magisches Wesen?«, fragte er.

»So eine Frage hat man mir noch nie gestellt«, antwortete der Baum. »Na ja, ich denke schon.«

Es ist unmöglich, mit einem Baum zu sprechen, überlegte Rincewind. Wenn ich anfange, mit Bäumen zu reden, bin ich verrückt. Und da ich nicht verrückt bin, können Bäume nicht sprechen.

Beeindruckt von seiner Logik sagte er: »Leb wohl.«

»He, geh noch nicht fort«, sagte der Baum, begriff dann aber, dass es keinen Zweck hatte. Er sah Rincewind nach, der durchs Gebüsch davonstapfte, konzentrierte sich dann wieder auf seine Empfindungen, spürte das Licht der Sonne auf den Blättern, lauschte dem leisen Gurgeln des Wassers, das über die Wurzeln plätscherte, fühlte, wie in den Kapillaren Saft emporstieg, der dem Wechselspiel von Sonne und Mond folgte. Ein langweiliges Leben, dachte er. Wie seltsam. Natürlich ist uns Bäumen manchmal langweilig. Kein Wunder, wenn man dauernd an einer Stelle steht. Aber das ganze Leben? Und dann: Werde ich jemals etwas anderes sein?

Zwar sprach Rincewind nie wieder mit diesem einen Baum, aber das kurze Gespräch legte den Grundstein für die erste Baum-Religion, die sich im Laufe der Zeit in allen Wäldern auf der Scheibenwelt ausbreitete. Ihr Glaubenssatz lautete folgendermaßen: Ein Baum, der ein anständiges und tadelloses Leben führt, sich niemals etwas zuschulden kommen lässt, kann auf ein Leben nach dem Tod hoffen. Wenn er keine Sünde auf sich lädt, wird er in Form von fünftausend Rollen Toilettenpapier wiedergeboren.

Einige Meilen entfernt legte Zweiblum seine anfängliche Überraschung darüber ab, wieder auf der Scheibenwelt zu sein. Er saß auf der Hülle des Mächtigen Reisenden, der durch die dunklen Wasser eines großen, von Bäumen gesäumten Sees schwamm.

Erstaunlicherweise machte er sich keine großen Sorgen. Zweiblum war Tourist, der erste Vertreter dieser neuen Spezies auf der Scheibenwelt. Seine Existenz basierte auf der unerschütterlichen Überzeugung, dass ihm eigentlich nichts wirklich Schlimmes zustoßen konnte, weil er sich mit der Rolle eines Beobachters zufriedengab. Er glaubte auch, dass ihn alle Leute verstanden, wenn er laut und deutlich sprach, hielt Fremde zunächst immer für vertrauenswürdig und meinte, mit gutem Willen und vernünftigem Verhalten ließen sich alle Probleme lösen.

Im Prinzip verlieh ihm diese Einstellung eine Überlebenschance, die kaum größer war als die einer Seifenblase, aber Rincewind musste immer wieder verblüfft zur Kenntnis nehmen, dass Zweiblums Philosophie funktionierte. Wenn er mit einer Gefahr konfrontiert wurde, reagierte er mit solcher Gelassenheit, dass die Gefahr den Mut verlor, aufgab und verschwand.

Allein der Umstand, dass er nicht mehr atmen konnte, brachte Zweiblum nicht aus der Fassung. Seiner Meinung nach ließ es eine moderne Gesellschaft bestimmt nicht zu, dass Leute einfach so ertranken.

Die einzigen Sorgen, die er sich machte, betrafen sein Gepäck. Trost spendete ihm die Erinnerung, dass die Truhe aus intelligentem Birnbaumholz bestand und klug genug war, allein zurechtzukommen …

In einem anderen Teil des Waldes unterzog sich ein junger Schamane gerade einem höchst bedeutsamen Teil seiner Ausbildung. Er verspeiste den sakralen Pilz, rauchte das heilige Rhizom, puderte sich sorgfältig ein und steckte die mystischen Kräuter und Beeren in verschiedene Körperöffnungen. Anschließend nahm er mit überkreuzten Beinen unter einer Kiefer Platz und konzentrierte sich zunächst darauf, eine Verbindung zu den ebenso sonderbaren wie wundervollen Geheimnissen im Herzen des Seins herzustellen. Doch schon nach kurzer Zeit richtete sich sein Bemühen vor allen Dingen darauf, seinen Kopf am Auseinanderplatzen zu hindern – der obere Teil des Schädels schien bestrebt zu sein, abzuheben und fortzufliegen.

Blaue vierseitige Dreiecke zogen brennend durch sein Blickfeld. In unregelmäßigen Abständen rang er sich ein wissendes Lächeln ab und gab so ausdrucksvolle Laute wie »Oh!« und »Ah!« von sich.

Etwas bewegte sich vor ihm in der Luft, und unmittelbar darauf entstand ein Phänomen, das der junge Schamane später folgendermaßen beschrieb: »Eine Art Explosion, die umgekehrt verlief, du weißt schon, was ich meine.« Plötzlich erschien dort, wo zuvor nur Leere gewesen war, eine große, ziemlich mitgenommen aussehende Holzkiste.

Mit einem dumpfen Pochen fiel sie ins welke Laub, streckte Dutzende von kleinen Beinen, drehte sich schwerfällig um und sah den Schamanen an. Sie hatte natürlich kein Gesicht, aber trotz des mykologischen Dunstes, der den jungen Mann umgab, zweifelte er nicht daran, dass die Truhe ihren Blick auf ihn richtete. Und einen ziemlich finsteren noch dazu. Es ist erstaunlich, wie unheilvoll ein Schlüsselloch und mehrere Spangen aussehen können.

Tiefe Erleichterung durchströmte ihn, als die Truhe mit den hölzernen Schultern zuckte, sich umwandte und in langsamem Galopp davonlief.

Mit einer übermenschlichen Anstrengung gelang es dem Schamanen, aufzustehen und einige Schritte zu gehen. Nach wenigen Metern blieb er stehen, starrte zu Boden und gab die Verfolgung auf, weil sich seine Beine zu verknoten drohten.

Unterdessen hatte Rincewind einen Pfad gefunden. Er verlief nicht gerade, beschrieb immer wieder Kurven, die den Zauberer störten, und außerdem fehlte ihm ein anständiges Kopfsteinpflaster. Aber immerhin gab er ihm die Möglichkeit, sich die Zeit zu vertreiben.

Einige Bäume versuchten, ihn in ein Gespräch zu verwickeln, aber inzwischen war Rincewind so gut wie sicher, dass es keine normale Verhaltensweise für Bäume war, und deshalb beachtete er sie nicht.

Stunden vergingen. Um ihn herum herrschte Stille, abgesehen vom Summen lästiger Insekten, die ihn dauernd zu stechen versuchten, dem gelegentlichen Knacken eines herabfallenden Zweiges und dem Flüstern der Bäume, die sich über Religion und den Ärger mit Eichhörnchen unterhielten. Rincewind begann sich sehr einsam zu fühlen. Er stellte sich vor, wie er für immer und ewig durch den Wald irrte, auf Blättern schlief und sich von, von … von den Dingen ernährte, die ein solcher Ort anbot. Bäume, dachte er und schnitt eine Grimasse. Nüsse und Beeren. Vermutlich blieb ihm nichts anderes übrig, als …

»Rincewind!«

Er hob den Kopf und sah Zweiblum, der über den Weg wanderte – klatschnass und ganz offensichtlich quietschvergnügt. Hinter ihm lief die Truhe wie ein treuer Hund. (Sie bestand aus intelligentem Birnbaumholz, und alle Gegenstände, die aus diesem Holz bestehen, folgen ihren Eigentümern überallhin. Es wurde oft benutzt, um Koffer für die Grabbeilagen sehr reicher Könige anzufertigen, die ihr Leben im Jenseits nicht ohne frische Unterwäsche beginnen wollten.)

Rincewind seufzte. Bisher hatte er angenommen, der Tag könne nicht noch schlimmer werden.

Ein besonders nasser und kalter Regen fiel. Rincewind und Zweiblum saßen unter einem Baum und beobachteten ihn.

»Rincewind?«

»Hm?«

»Warum sind wir hier?«

»Manche Leute meinen, der Schöpfer des Universums habe die Scheibenwelt und alles darauf erschaffen. Andere sind der Ansicht, es sei eine sehr komplizierte Geschichte, bei der es angeblich um die Hoden des Himmelsgottes und die Milch der Himmlischen Kuh geht. Einige behaupten, wir verdanken unsere Existenz nur der völlig zufälligen Zunahme von Wahrscheinlichkeitspartikeln. Aber wenn du fragst, warum wir uns hier befinden, obgleich wir vom Rand der Scheibe gefallen sind … Nun, ich habe nicht die geringste Ahnung. Vermutlich ist alles nur ein dummes Versehen.«

»Oh. Glaubst du, in diesem Wald gibt es etwas zu essen?«

»Ja«, erwiderte der Zauberer bitter. »Uns.«

»Ich habe einige Eicheln, wenn ihr möchtet«, sagte der Baum freundlich.

Einige Sekunden lang herrschte regenfeuchte Stille. »Rincewind, der Baum hat gerade gesagt …«

»Bäume können nicht sprechen«, unterbrach ihn Rincewind nervös. »Es ist sehr wichtig, das nicht zu vergessen.«

»Aber du hast doch gehört, wie er …«

Rincewind seufzte. »Hör mal«, brummte er. »Im Grunde genommen ist es ein biologisches Problem, nicht wahr? Wenn man reden will, braucht man die dafür notwendige organische Ausrüstung, zum Beispiel Lunge, Lippen und …«

»Stimmbänder«, warf der Baum ein.

»Ja, genau«, bestätigte Rincewind. Er schwieg und starrte missmutig in den Regen.

»Ich dachte, Zauberer wüssten alles über Bäume, das Leben in der Wildnis und dergleichen«, sagte Zweiblum vorwurfsvoll. Normalerweise wies sein Tonfall immer darauf hin, dass er Rincewind für einen außerordentlich fähigen und kompetenten Zauberer hielt, doch diesmal vibrierte Zweifel in der Stimme des Touristen. Rincewind glaubte seine Ehre bedroht.

»Das stimmt auch«, versicherte er.

»Dann sag mir, was das dort für ein Baum ist.« Zweiblum streckte die Hand aus, und Rincewind hob den Kopf.

»Buche«, erwiderte er sofort.

»Nun, um ganz genau zu sein …« begann der Baum, brach aber ab, als er den Blick des Zauberers bemerkte.

»Seltsam, die Früchte sehen aus wie Eicheln«, sagte der Tourist.

»Tja, äh, es handelt sich um die sessile beziehungsweise ungestielte Abart«, fügte Rincewind hinzu. »Die Bucheckern weisen tatsächlich eine große Ähnlichkeit mit Eicheln auf. Sie täuschen praktisch alle.«

»Donnerwetter!«, entfuhr es Zweiblum. »Und der Busch dort drüben?«

»Mistel.«

»Aber die Dornen und roten Beeren …«

»Na und?«, entgegnete Rincewind streng und sah den Touristen scharf an. Nach einer Weile senkte Zweiblum den Blick.

»Nichts weiter«, sagte er schüchtern. »Wahrscheinlich habe ich mich geirrt.«

»Ja.«

»Aber darunter wachsen einige große Pilze. Kann man sie essen?«

Rincewind betrachtete sie vorsichtig. Sie waren tatsächlich recht groß, und auf ihren breiten roten Hüten glänzten weiße Flecken. Der Zauberer wusste es natürlich nicht, aber sie gehörten zu einer Art, die der Waldschamane (der einige Meilen entfernt gerade versuchte, mit einem Felsen Freundschaft zu schließen) nur dann verspeiste, wenn er sich zuvor an einem großen, besonders schweren Stein festgebunden hatte. Schließlich seufzte Rincewind, trat in den Regen und sah sich die Pilze genauer an.

Er kniete im Laub und spähte unter einen Hut. Nach einigen Sekunden schluckte er und brummte unsicher: »Ich glaube, wir sollten sie von unserem Speisezettel streichen.«

»Warum?«, rief Zweiblum. »Sind die Lamellen nicht gelb genug?«

»Doch, das schon.«

»Die Stiele«, sagte der Tourist. »Ich schätze, mit den Stielen ist etwas nicht in Ordnung.«

»Eigentlich sehen sie ganz normal aus.«

»Der Hut«, entfuhr es Zweiblum. Er strahlte. »Der Hut hat die falsche Farbe.«

»Da bin ich mir nicht ganz sicher.«

»Na schön: Warum können wir sie nicht essen?«

Rincewind hustete. »Wegen der winzigen Türen und Fenster«, ächzte er. »Es sind keine gewöhnlichen Pilze, sondern kleine Häuser.«

Donner grollte über die Unsichtbare Universität. Regen strömte auf die Dächer herab und gurgelte aus den Wasserspeiern. Das heißt: nicht aus allen. Zwei der schlaueren von ihnen hatten sich unter dem Durcheinander aus Schindeln in Sicherheit gebracht; sie zogen es vor, im Trocknen zu sitzen.

Weit unten, im Großen Saal, standen die acht mächtigsten Zauberer der Scheibenwelt an den Spitzen eines zeremoniellen Oktagramms. Na ja, die Wahrheit lautet: Eigentlich waren sie gar nicht die mächtigsten Zauberer, aber sie verfügten über große Erfahrung in der Kunst des Überlebens, was angesichts der großen Konkurrenz in der Welt der Magie aufs Gleiche, hinauslief. Hinter jedem Zauberer der achten Stufe warteten mehrere des siebten Rangs und warteten auf eine Gelegenheit, seinen Posten einzunehmen. Ältere Zauberer mussten, um den nächsten Geburtstag feiern zu können, einen besonderen Spürsinn entwickeln, zum Beispiel in Hinsicht auf giftige Skorpione in ihren Betten. Ein altes Sprichwort beschrieb ihre Lage recht treffend: Wenn ein Zauberer müde wird, nach Glassplittern in seinem Essen zu suchen, ist er des Lebens müde.

Der älteste Zauberer, Grauhalt Spold von den Uralten und Einzig Wahren Weisen des Ungebrochenen Kreises, stützte sich schwer auf seinen dicken Stock und sprach folgende Worte:

»Beeil dich, Wetterwachs. Mir tun die Füße weh.«

Galder hatte nur eine Kunstpause eingelegt. Er warf Grauhalt einen finsteren Blick zu.

»Nun gut. Ich will mich kurzfassen …«

»Dafür wäre ich dir sehr dankbar.«

»Wir alle haben um Rat gesucht, was die Ereignisse von heute Morgen betrifft. Kann jemand von uns behaupten, ihn gefunden zu haben?«

Die Zauberer wechselten argwöhnische Blicke. Nur bei einer Aufsichtsratssitzung zum Zwecke der Profitverteilung herrschte ebenso großes gegenseitiges Misstrauen wie bei der Versammlung alter Magier. Andererseits: Sie alle hatten einen anstrengenden und überaus enttäuschenden Tag hinter sich, und so etwas schlägt aufs Gemüt. Normalerweise recht informative Dämonen, aus den Kerkerdimensionen herbeigerufen, zuckten mit schuppenbesetzten oder horngepanzerten Schultern und lehnten es ab, Auskunft zu geben. Magische Spiegel zerbrachen. Tarotkarten verloren auf rätselhafte Weise ihre Symbole. Kristallkugeln zeigten nichts weiter als grauen Dunst. Selbst Teeblätter, von Zauberern für gewöhnlich als banal und wenig vertrauenswürdig geschmäht, weigerten sich, bedeutungsvolle Muster auf dem Boden der Tassen zu bilden.

Mit anderen Worten: Die Magier wussten nicht mehr ein noch aus. Galder Wetterwachs bemerkte die Verlegenheit seiner Kollegen und nickte.

»Dann schlage ich hiermit das Ritual von AshkEnte vor«, sagte er mit großem Ernst.

Er musste zugeben, dass er mit einer ganz bestimmten Reaktion rechnete, mit Bemerkungen wie: »Nein, nicht das Ritual von AshkEnte! Der Mensch ist nicht dazu bestimmt, sich in solche Dinge einzumischen!«

Doch zu seiner großen Überraschung hörte er zustimmendes Gemurmel.

»Gute Idee.«

»Klingt vernünftig.«

»Lasst uns gleich damit anfangen.«

Ein wenig verärgert wies Galder einige jüngere Zauberer an, verschiedene magische Werkzeuge in den Saal zu bringen.

Es wurde bereits angedeutet, dass es etwa zu dieser Zeit in der Bruderschaft der Zauberer zu Meinungsverschiedenheiten in Hinsicht auf angemessene Anwendung von Zauberei kam.

Insbesondere jüngere Zauberer hielten es für geboten, das Image der Magie zu verbessern. Sie sprachen sich dafür aus, das Herumpfuschen mit Wachs und Knochen zu beenden und den magischen Forschungen eine moderne Basis zu geben. Dabei dachten sie an umfangreiche Entwicklungsprogramme und dreitägige Konferenzen in guten Hotels, bei denen sie magisch-wissenschaftliche Magazine mit Titeln wie ›Ist die Geomantie überholt?‹ und ›Die Bedeutung von Siebenmeilenstiefeln in der präindustriellen Gesellschaft‹ lesen konnten.

Trymon zum Beispiel beschwor seit einer Weile kaum noch Magie und beschäftigte sich in erster Linie damit, den Orden mit Sanduhr-Präzision zu leiten und zahlreiche interne Mitteilungen zu schreiben. In seinem Arbeitszimmer hing eine große Karte mit vielen bunten Stecknadeln, kleinen Fähnchen und einem komplexen Liniengewirr. Niemand verstand, was sie darstellen sollte, aber alle fanden sie sehr beeindruckend.