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Mitreißend, fesselnd und mysteriös: Chefinspektor Franz Baumgartner, Leiter der Mordgruppe in Graz, rechnet noch in Schilling und glaubt unbeirrbar an das Gute - bis am Mathematikinstitut der Universität eine Reinigungskraft grausam ermordet wird. Neben ihr findet sich eine rätselhafte Botschaft. Eine Verschwörung? Ein wahnsinniger Einzeltäter? Gemeinsam mit der Profilerin Vera Königshofer versucht Baumgartner, in die Psyche des Mörders einzudringen. Was dabei zum Vorschein kommt, droht den idealistischen Ermittler aus der Bahn zu werfen. Ein fulminant-rasantes Krimidebüt - Gänsehaut garantiert!
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Seitenzahl: 305
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Reinhard Kleindl
Gezeichnet
Kriminalroman
Reinhard Kleindl
Gezeichnet
Der Tag, an dem er es tun wollte, war ungewöhnlich sonnig für Anfang November. Er kam ins Schwitzen, als er die Utensilien schleppte, die er für seinen Plan benötigte, den Karton, die Gasflasche, das Maßband. Vor ein paar Tagen war es schon empfindlich kalt gewesen und es hatte geregnet. Es war wahrscheinlich der letzte schöne Tag in diesem Jahr. Bald würde es zum ersten Mal Frost geben und damit war der Herbst endgültig vorbei. Die Bäume hatten bereits das rote Herbstlaub abgeworfen und streckten ihre nackten Äste in den Himmel.
Er rastete, nachdem er alles in den Raum mit der Tafel und den weißen Tischen hinaufgetragen hatte, und sah aus dem Fenster. Unten gingen Leute vorbei, manche noch im T-Shirt, andere schon im Wintermantel. Es würde noch einige Wochen dauern, bis sie sich auf das neue Wetter eingestellt hatten. Er beobachtete sie eine Weile, dann begann er, den Raum, in dem er es später tun wollte, vorzubereiten. Einige Minuten lang rückte er Dinge hin und her, bis er sicher war, dass alles passte. Als er fertig war, genehmigte er sich einen großen Schluck aus seinem Flachmann und holte einen gefalteten Zettel aus seiner Hosentasche, um ein letztes Mal seine Liste und die Grundrissskizze zu kontrollieren. Die Säge, das Maßband, die Flasche, alles war am richtigen Platz. Er steckte den Zettel wieder ein, zog den rechten Gummihandschuh aus, um den Schlüssel aus der Tasche zu holen. Mit der Linken schloss er die Tür, sperrte ab und machte sich in der einsetzenden Dämmerung auf den Weg nach Hause, wo er die letzten Stunden warten würde, bis die Zeit gekommen war.
Es wurde still in der Kantine des Landeskriminalamts. Rainer Swoboda schluckte einen halb gekauten Bissen von seinem Lachsbrötchen hinunter und hustete. Wilszek von der Tatortgruppe nahm einen großen Schluck Sekt, um sich vorzubereiten. Alle richteten den Blick auf Baumgartner. Chefinspektor Franz Baumgartner, der Leiter der Mordgruppe, sah seine Mitarbeiter mit den kleinen, ausdruckslosen Augen an und begann leise zu sprechen.
»Liebe Kollegen, ich darf euch gratulieren. Es war nicht einfach, aber dank unserer Konsequenz und unserer guten Zusammenarbeit hat die Sache ein gutes Ende gefunden. Dafür gab es auch Lob von ganz oben. Manche von euch haben es schon gehört, die Ministerin hat mich heute angerufen und mir persönlich gratuliert. Sie hat unsere innovativen Methoden gelobt – das waren tatsächlich ihre Worte – und betont, dass Cyberkriminalität in Zukunft einen immer höheren Stellenwert einnehmen wird. Ich persönlich denke ja, dass es selbstverständlich ist, dass wir alle uns zur Verfügung stehenden Mittel einsetzen, aber wenn jemand besonderes Lob verdient, dann ist es wohl Oliver Brink, der leider schon nach Hause gefahren ist. Es ist gut zu wissen, dass wir ihn auch in Zukunft wieder als Computerexperten holen können, wenn es nötig ist. So oder so, Lob ist uns natürlich lieber als Kritik, und ich denke, wir können zufrieden sein mit unserer Arbeit.«
Da und dort zeigte sich ein Lächeln und Hoffnung keimte auf, dass es diesmal weniger schlimm werden könnte. Baumgartners Reden waren berüchtigt, fast so berüchtigt wie sein kaffeebraunes Jackett oder seine weißen Tennissocken in den abgetragenen Schuhen. Wie seine Wachsfigurenfrisur mit dem präzise gezogenen Scheitel. Dabei besagten Gerüchte, dass er keine fünfundvierzig war.
Dann kam es.
»Das Wichtigste ist, dass wir die Ordnung wieder hergestellt haben. Diese Ordnung ist es, die erst dem Einzelnen seine Freiheit garantiert, eine eingeschränkte Freiheit, wie wir wissen, innerhalb bestimmter Regeln, aber die einzige, die möglich ist. Ihr müsst immer daran denken: Diese Ordnung, geschaffen durch die Gesetze der Republik Österreich, ist es, für die wir kämpfen. Die wir mit all unserem Einsatz erhalten und garantieren müssen. Vielleicht erinnert ihr euch daran, wenn ihr wieder einmal die Nacht durcharbeiten müsst und einen motivierenden Gedanken braucht. Ich kann daraus immer wieder Kraft schöpfen. Danke.«
Stille. Jemand begann zu klatschen, hörte aber wieder auf, bevor die anderen einstimmen konnten. Baumgartner trank sein Glas leer – sein einziges an diesem Abend, so war es immer – und ging mit einem Käsebrötchen zur Seite. Langsam keimten die Gespräche wieder auf. Sie waren froh, dass sie es überstanden hatten. Das letzte Mal hatte er ihnen erklärt, dass Polizisten Vorbilder zu sein hätten und nicht zu schnell fahren oder falsch parken durften.
Caroline Meier nippte an ihrem Sekt. Sie lächelte still in sich hinein, während sie ihren Chef beobachtete. Dieser Mann hatte gerade einen der schwierigsten Fälle der jüngeren österreichischen Kriminalgeschichte gelöst, aber für ihn selbst schien das keine besondere Bedeutung zu haben. Für ihn ging ein ganz normaler Arbeitstag zu Ende.
Oder doch nicht ganz normal?
Sie hatte das Gefühl, dass irgendetwas anders war als sonst. Bei Baumgartner konnte man das immer schwer beurteilen. Manche hielten ihn für völlig gefühllos, aber das war natürlich Unsinn. Man musste nur genau hinsehen. Baumgartner war keiner, der eine Maske aufhatte oder seine Gefühle unterdrückte. Im Gegenteil.
Meier nahm sich noch ein Brötchen – Salami. Ihre Lieblingssorte, die mit dem Kürbiskernaufstrich, war aus. Der Hosenbund ihrer Jeans spannte bereits, doch sie widerstand der Versuchung, den Knopf zu öffnen. Sie schob sich an den Kollegen vorbei und stellte sich neben Baumgartner, der sein Brötchen kaute und ins Leere starrte.
»Gratuliere, Franz«, sagte sie. »Das war dein Meisterstück. Damit hast du einige beeindruckt.«
Er schien darüber nachzudenken. »Findest du? Es war am Ende viel zu einfach.«
»Bist du nicht zufrieden?«, fragte sie.
»Doch, natürlich.« Er hob sein Brötchen, um noch einmal abzubeißen, hielt aber inne. »Mich ärgert nur, wie oberflächlich die Leute vom Ministerium sind, genauso wie die Medien. Du weißt, wie es bei dem toten Schüler im Stadtpark war. Dort haben wir wirklich erstklassig gearbeitet. Wir haben alle Möglichkeiten ausgeschöpft, und schnell waren wir außerdem, nur genutzt hat es nichts. Wer immer seinen Tod verschuldet hat, läuft immer noch unbehelligt durch die Stadt.«
»Am Ende ist es ausgeglichen«, meinte sie. »Man wird eben am Erfolg gemessen.«
Er starrte in den Raum.
»Weißt du«, sagte er nach einer Weile so leise, dass sie ihn kaum verstand, »manchmal habe ich das Gefühl, dass wir eigentlich machtlos sind.«
»Wie meinst du das?«, fragte Meier.
»Dass wir nur die erwischen, die es uns einfach machen. Die erwischt werden wollen. Nur jeder dritte Mord wird überhaupt entdeckt, wir alle kennen die Zahlen. Das Einzige, was uns rettet, ist, dass die Menschen im Grunde anständig sind. Sonst wären wir völlig überfordert.«
Doch, etwas war anders, dachte sie.
»Klingt das komisch für dich, Anstand? Dieses Wort wird kaum noch verwendet heutzutage. Kennen es die jungen Leute noch?«
»Hattest du Streit mit Isabel?«, fragte sie.
Er schüttelte den Kopf. »Keinen Streit. Du weißt, wir streiten nicht.«
»Aber etwas passt nicht, hab ich recht?«
Da schwieg er. Sie hatte sich also nicht getäuscht.
Zufrieden biss sie von dem Salamibrötchen, das ihr nicht schmeckte. Sie wickelte die angebissene Hälfte in die Serviette und legte sie auf den weißen Besprechungstisch, an dem sie lehnten.
»Weißt du was«, sagte sie, »ich feiere heute mit Klara die Matura ihres Sohnes. Warum kommst du nicht mit? Es gibt eine Kleinigkeit zu essen, und wir haben einen guten Wein.«
»Ich will euch nicht stören.«
»Du störst nicht.«
Er antwortete nicht, und das war völlig ausreichend.
»So, Leute!«, sagte Meier, zur Runde gewandt. »Trinkt aus. Die Brötchen könnt ihr euch einpacken, wenn ihr wollt. Es gibt noch einiges zu tun für morgen. Seht zu, dass ihr die fehlenden Berichte fertig macht. Ihr wisst, so etwas dauert ewig, wenn man es nicht gleich erledigt. Wir sehen uns morgen in der Früh.«
Die Leute von der Tatortgruppe warfen sich vielsagende Blicke zu, als Meier ihren Chef hinausgeleitete wie eine Mutter ihr Kind. Man witzelte gern über die sonderbare Beziehung der beiden. Sie wussten nichts von Meiers Privatleben, von ihrer bunten Patchworkfamilie, und das war auch gut so. Sie zog es vor, das bei der Polizei nicht an die große Glocke zu hängen.
Baumgartner wirkte friedlich, als er in der Wohnung seiner Kollegin am Esstisch saß. Sie wohnte in Sankt Peter, am anderen Ende der Stadt, doch um diese Uhrzeit hatten sie keinen Stau mehr gehabt und waren zügig durchgekommen, trotz Baumgartners defensiver Fahrweise. Caroline Meier und ihre Freundin Klara aßen, tranken und lachten, während Baumgartner hin und wieder an seinem Weinglas nippte, ohne dass sich dessen Inhalt merklich verringerte.
Es hat ihn doch härter erwischt als sonst, dachte Meier. Sie machte sich Sorgen um ihn. Sie war sich nicht sicher, ob ihm bewusst war, wie wichtig Isabel für ihn war.
So eine schöne Frau. Sie war überrascht gewesen, als Baumgartner sie einander vorgestellt hatte. Ein Kauz wie er und diese Frau – sie verstand noch immer nicht, wie das ging. Da hatte es sicher mehrere Interessenten gegeben. Aber sie hatte sich für ihn entschieden.
Genauso wie Sukitsch, der ihm die Leitung der Mordgruppe übertragen hatte, nachdem Kampl in Pension gegangen war. Das hatte auch niemand verstanden. Viel zu jung, hatte es geheißen. Doch Sukitsch hatte ihn gegen seine eigenen Vorgesetzten in Schutz genommen und am Ende recht behalten. Es hatte sich gelohnt und Baumgartner war, spätestens seit dem letzten Fall, der international Aufsehen erregt hatte, vielen Leuten ein Begriff. Der Erfolg war allerdings trügerisch. Er grübelte wieder. Das war kein gutes Zeichen. Baumgartner war nicht so stark, wie sie alle glaubten.
Außerdem sind wir alle müde, dachte sie. Nicht nur er, auch ich. Vor allem ich.
Sie war froh, dass dieser Fall erledigt war. Dass der Druck nun nachließ.
»Franz, du bist so still. Was ist los?«
Klaras Frage ließ sie aus ihren Gedanken aufschrecken.
»Es ist nur der Herbst«, antwortete er. »Jedes Jahr das Gleiche.«
»Ja, furchtbar, nicht wahr? Man kommt von der Arbeit nach Hause und es ist stockdunkel. Ich kann froh sein, wenn ich in der Mittagspause die Sonne sehe! Da muss man ja depressiv werden.«
Er lächelte und Meier sah, dass er in Gedanken ganz woanders war. Sie überlegte, wie sie ihn aufheitern konnte, doch da verwickelte Klara sie wieder in ein Gespräch und brachte sie zum Lachen.
Übertreib nicht, Caroline, ermahnte sie sich. Er ist erwachsen. Und außerdem ist er dein Chef. Bei Ersterem war sie sich allerdings manchmal nicht ganz sicher.
»Ich bin so froh, dass Sven jetzt fertig ist mit dieser Schule«, begann Klara. »Im Nachtermin hat es dann doch noch geklappt. Sein Klassenvorstand war ein richtiger Vollidiot. Hat ständig von Disziplin geredet. Ich hab geglaubt, ich hätte mich verhört, als er damit beim Elternsprechtag kam. Der Herr Doktor. Sein Titel war ihm total wichtig. In Biologie! Das finde ich wirklich lächerlich in Österreich.«
Sie lachte.
»Was findest du lächerlich?«, fragte Baumgartner.
»Dass die Leute solchen Wert auf Titel legen!«
»Na ja, so ein Titel steht für eine gute Bildung«, erwiderte Baumgartner. »Das ist etwas Wichtiges, finde ich.«
»Ja, vor zwanzig, dreißig Jahren! Schau es dir heute an! Überall Quereinsteiger, Schulabbrecher. Flexibilität ist viel wichtiger. Und selbstbewusstes Auftreten.«
»Ja, aber ob das etwas Gutes ist?«
»Willst du lieber die alten Hierarchien? Wo die Leute funktionieren müssen, sich unterordnen? Und dafür kriegen sie dann den Titel, quasi als Stempel. Das ist doch faschistoid, wenn du mich fragst.«
Sie ist heute gut drauf, dachte Caroline Meier. Normalerweise lässt sie sich leichter provozieren. Heute sieht sie wieder aus wie eine Kriegerin. Mit ihren kurzen Haaren und der strengen Brille.
»Habt ihr eigentlich schon bei der Kraftwerksinitiative unterschrieben?«, erkundigte sich Klara.
Baumgartner schien verwirrt. »Was für ein Kraftwerk?«
»Das Wasserkraftwerk, ihr wisst schon. Die Staustufe in der Mur.«
»Man kann für das Kraftwerk unterschreiben?«, fragte Baumgartner.
Klara machte ein Gesicht, als hätte sie etwas falsch verstanden.
»Wie geht es eigentlich Sven auf seiner Maturareise?«, begann Meier.
Da klingelte Baumgartners Telefon. Sofort wurde es still. Er hob ab und am anderen Ende begann jemand zu reden, abgehackt. Meier versuchte zu verstehen, was gesagt wurde, doch es gelang ihr nicht.
»Hmm«, brummte er. »Wann?«
Er nickte. »Verstehe. Gib mir noch mal die genaue Adresse.«
Er holte seinen Terminkalender aus der Tasche und machte eine Notiz.
»Danke«, sagte er und legte auf.
Baumgartner packte Telefon und Kalender wieder ein.
»Was Berufliches?«, fragte Klara, der die Spannung ihrer Freundin nicht entgangen war.
»Mord«, antwortete er.
Während Klara erschrak, erstarrte Meier.
Baumgartner stand auf und nahm sein Jackett von der Sessellehne.
»Franz, ich glaube, ich hab echt schon zu viel getrunken«, sagte Meier.
»Ja, ich weiß. Bleib nur hier, ich mach das. Ich kann noch fahren. Lass dein Handy eingeschaltet und sieh zu, dass du morgen früh bereit bist.«
Er sandte ihr ein undefinierbares Lächeln, dann verschwand er.
Das Erste, was ihm auffiel, war die Plane vor der Tür. Eine durchsichtige Plastikplane, wie sie Wilszek von der Tatortgruppe verwendete, sorgfältig ausgebreitet. Was hatte die hier zu suchen?
Er befand sich in einem Gebäude der Karl-Franzens-Universität, das er nicht kannte. Hier waren das Mathematik- und das Anglistikinstitut untergebracht, wie man ihm erklärt hatte. Es war ein moderner Bau, der kühl wirkte neben den klassizistischen Nachbargebäuden. Große Flächen aus weiß gestrichenem Putz und Beton beherrschten die vier Stockwerke hohe Halle mit dem Glasdach, durch das sich eine Stiege diagonal bis ganz nach oben zog.
SR 11.32 stand auf einem Schild neben der Tür im dritten Stock, die angelehnt war. Baumgartner wunderte sich über den scharfen Geruch, der in der Luft lag. Er kannte diesen Geruch, aber er wusste nicht, woher.
Er stieß die Tür mit dem Ellbogen auf und betrat den verstörendsten Tatort seiner bisherigen Karriere.
»Baumgartner, bleib wo du bist!«, zischte eine Stimme von innen und ließ ihn im Türrahmen stehen bleiben. Es war Wilszek, der unter Flüchen irgendetwas sagte, das Baumgartner nicht verstand. Der Raum beanspruchte seine ganze Aufmerksamkeit.
Es gab wenig, das Baumgartner überraschen konnte. Er registrierte die Dinge mit der Ruhe eines Chirurgen. Gerade diese Gelassenheit gegenüber dem Unmenschlichen, die seine Kollegen manchmal schockierte, weil sie sie als Gefühlskälte interpretierten, konnte man auch für eine Stärke halten. Es stimmte: Er hasste oder liebte die Menschen nicht übermäßig, was er auf Anfrage auch zugab. Wenn man ihn allerdings fragte, warum er sich dann so für sie einsetzte, verstand er die Frage nicht.
Er war gebannt von dem Bild, das sich ihm bot, und versuchte, es zu verstehen. Es gelang ihm nicht. Jemand hatte auf den Boden erbrochen. Nun erkannte er den Geruch wieder.
»So eine Schweinerei, Baumgartner«, sagte Wilszek, der im Overall der Spurensicherung zu ihm an die Tür kam. Er war gebückter als sonst. Martina Holzer kniete hinten im Raum auf dem Boden und sammelte mit einer Pinzette Haare ein. Waren sie nicht normalerweise zu dritt?
»Wenn einer die Nerven nicht hat für den Job, dann soll er es bleiben lassen.«
Wilszeks Ton war härter als gewöhnlich. Baumgartner ließ seinen Blick über die Wand mit der riesigen vertikalen Blutspur wandern, die im kalten Licht der Neonröhre eine unnatürliche Farbe hatte.
»Versprich mir eins, wenn du kotzen musst, geh vor die Tür. Bist du allein?«
Baumgartner nickte. Nun verstand er. Einem von Wilszeks Mitarbeitern war schlecht geworden. Deshalb die Plane.
Er konnte es ihm nicht verdenken.
Wilszek reichte ihm weiße Überschuhe. »Da, für die Füße. Und bleib auf dem Weg. Hier, von der Tür, neben der Toten vorbei.«
Sie traten ein.
»Ich denke, einen Suizid können wir ausschließen«, stellte Wilszek fest, ohne über seinen Witz zu lachen. »Etwas Derartiges habe ich noch nie gesehen.«
Baumgartner lief ein Schauer über den Rücken und er verstand sofort, dass Wilszek recht hatte.
»Was haben wir?«, fragte er und sein Blick blieb wieder an der Blutspur hängen. Das Blut war mit großer Geschwindigkeit gegen die Wand gespritzt, das war ihm sofort klar. Und nicht nur Blut. Auf dem Boden lag eine Frau mit dem Gesicht nach unten. Zu sagen, sie lag auf dem Bauch, war aber auch nicht ganz korrekt, denn die untere Hälfte ihres Körpers war um 180 Grad verdreht, sodass die Zehen nach oben zeigten. Die Leiche war auf Höhe der Brust beinahe zur Gänze durchtrennt.
Da entdeckte Baumgartner die Handkreissäge, und ihn fröstelte. Daneben stand eine große Flasche, aus der ein träger weißer Dunst entwich.
»Hat sie noch gelebt?«, fragte Baumgartner. »Als er –«
»Nein«, unterbrach ihn Wilszek. »Zumindest glaube ich nicht, dass sie bei Bewusstsein war. Er hat sie erdrosselt, mit einem Seil oder etwas Ähnlichem. Wenn du mich fragst, war das die Todesursache. Ganz sicher kann ich es natürlich nicht sagen. Das muss Steger bestätigen. Siehst du die Flasche? Ich habe nicht gleich verstanden, was das sein soll. Beinahe hätte ich meinen Finger hineingesteckt. Flüssiger Stickstoff! Das verwendet man, um biologische Proben zu kühlen. Gibt es sicher hier irgendwo auf der Uni.«
»Aber warum – «
»Keine Ahnung.«
Wilszek wirkte ratlos.
»Ehrlich, Franz, ich bin froh, dass ich nicht in deiner Haut stecke. Sobald ich hier fertig bin, nehme ich Urlaub.«
Sie wussten beide, dass das nicht ging.
»Anzeichen für einen Kampf?«, fragte Baumgartner. »Hat sie sich gewehrt?«
»Nein, überhaupt keine«, antwortete Wilszek. »Ich bin fast sicher, dass er sie betäubt hat. Wie, kann ich noch nicht sagen. Die Würgemale sind sehr scharf umgrenzt, siehst du? Und sonst keine Hämatome.«
»Wer hat sie gefunden?«
»Eine Studentin.«
»Um diese Uhrzeit?«
»Das musst du den Kollegen fragen, der als Erster am Tatort war. Blaschek heißt er.«
Baumgartner nickte. »Wo ist er?«
»Unten, glaube ich. Woher soll ich das wissen? Ich glaube, er wollte den Hausmeister suchen.«
Da erkannte Baumgartner in dem Chaos, dass die Tote etwas trug, das blau war und eine Schürze sein konnte. Sie war an den Rändern zerfetzt und fast schwarz vom Blut. Eine Putzfrau?
Baumgartner wandte sich ab. Man konnte in die Bauchhöhle hineinsehen.
»Wie lange ist sie schon tot?«, fragte er.
»Nicht lange«, antwortete Wilszek. »Das Blut ist noch nicht ganz getrocknet.«
»Irgendwelche Anzeichen für Missbrauch?«
Wilszek zuckte mit den Schultern. »Ihre Hose hat sie an.«
Baumgartner nickte und bemühte sich, jedes Detail zu registrieren, und während er wie gewohnt sorgfältig vorging, war ihm, als hätte ihm jemand einen kalten, glatten Stein in den Magen gelegt.
Baumgartner war froh, in der Heinrichstraße, gleich um die Ecke, ein Café gefunden zu haben, das noch offen hatte. Das »Einstein« war gut besucht, aber die Musik war nicht zu laut.
Er bestellte einen großen Braunen und holte ein Notizbuch aus der Innentasche seines Jacketts. Vor dem Institutsgebäude wartete die Studentin, die die Leiche entdeckt hatte, und auch der Rektor hatte ihn sprechen wollen, doch er ignorierte sie und hielt sein übliches Procedere ein. Er musste so schnell wie möglich eine Beschreibung des Tatorts festhalten, solange der Eindruck noch frisch war.
Auch wenn er diesmal das Gefühl hatte, dass ihn das Bild ohnehin noch länger verfolgen würde.
Er schlug eine neue Seite auf und begann, sie schnell mit kleinen, sauberen Druckbuchstaben zu füllen.
Tote liegt in Seminarraum 11.32 im dritten Stock des Mathematikinstituts der Karl-Franzens-Universität Graz, ca. 1.60 groß, schlank. Dunkle Haare, Pferdeschwanz. Trägt vermutlich eine blaue Schürze. Liegt zwischen Tischen und Katheder, in der Nähe der an den Gang grenzenden Mauer, Kopf Richtung Fenster gewandt. Körper auf Höhe des Brustbeins zu zwei Dritteln durchtrennt. Oberkörper liegt mit dem Gesicht nach unten, Becken und Beine mit dem Gesäß nach unten. Daneben eine elektrische Handkreissäge, noch angesteckt, mit Verlängerungskabel, beides neu. Blut und Gewebereste auf der Säge, Blut und Gewebereste auf Katheder und Wand.
Baumgartner musste absetzen und zwang sich, einen Schluck von dem Kaffee zu trinken, der gebracht worden war, ohne dass er es gemerkt hatte.
Daneben eine offene Flasche mit flüssigem Stickstoff, geschätzte 50 l. Keine Anzeichen für sexuellen Missbrauch. Tod wahrscheinlich durch Erdrosseln, Tatwaffe noch nicht gefunden.
Baumgartner legte seinen Stift beiseite und nahm noch einen Schluck Kaffee.
Vielleicht wusste die Studentin etwas zu berichten. Er fand, dass er sie lange genug hatte warten lassen.
Baumgartner legte ein paar Münzen auf den Tisch und verließ das Lokal.
Als er zum Institutsgebäude zurückkam, sah er vor sich im Licht der Laternen eine bunte Ansammlung von Menschen. Sie bewegten sich klamm und hektisch und erzeugten Dunstwolken, wenn sie sich unterhielten. Ein klarer Sternenhimmel war zwischen den Bäumen sichtbar und versprach eine kalte Nacht. Er zog den Kopf ein und näherte sich, während er überlegte, was er als Erstes tun sollte.
»Baumgartner, gut, dass Sie da sind!«, rief ein Polizist in Uniform, den er nicht kannte.
»Blaschek?«
Der Polizist kam auf ihn zu und reichte ihm die Hand. »Richtig.«
Blaschek war ein kleiner, unaufgeregter Streifenpolizist, der ihm in knappen Worten erzählte, wie er nach dem Notruf hergefahren war und hier die Studentin getroffen hatte, die ihn dann nach oben geführt hatte. Das Mädchen saß ein wenig abseits auf einer Parkbank, trug einen dünnen Mantel und hatte die Arme um den Oberkörper geschlungen.
Baumgartner dankte ihm. In diesem Moment kam Gregor Wolf um die Ecke und beschleunigte seine Schritte, als er ihn sah.
»Sie können jetzt fahren«, sagte er zu Blaschek. »Den Rest schaffen wir allein.«
»Etwas noch«, meinte dieser. »Ich habe den Hausmeister ausfindig gemacht. Er kommt hierher.«
»Danke.«
Blaschek verabschiedete sich mit einem Nicken.
»Wie sieht es aus?«, erkundigte sich Wolf, Baumgartners Stellvertreter als Leiter der Mordgruppe. Er hatte den Reißverschluss seiner Lederjacke bis zum Kinn geschlossen.
Als hätte sich ein Loch zur Hölle aufgetan, dachte Baumgartner und ärgerte sich im selben Moment über den Gedanken.
»Sieh es dir selber an. Wilszek ist oben.«
Wolf kratzte sich an der Wange. Dort prangte ein großes Pflaster. Vor fast einer Woche hatte er sich so übel beim Rasieren geschnitten, dass er genäht werden musste. Er gähnte und machte sich auf den Weg. Im selben Moment dachte Baumgartner, er hätte ihn warnen sollen, doch jetzt war es zu spät. Stattdessen versuchte er, sich zu konzentrieren.
Das Mädchen, die Studentin.
Er wollte gerade zu ihr hinübergehen, als er hinter sich eine bekannte Frauenstimme hörte.
»Herr Baumgartner, einen Moment!«
Baumgartner seufzte. Das Letzte, was er jetzt brauchte, war die Presse.
»Stimmt es, Sie haben die Leiche einer Frau gefunden?«
»Sie sind zu früh«, stellte er fest, ohne sich umzudrehen. »Kommen Sie später wieder.«
»Wann?«
»Das weiß ich noch nicht.«
Sie ließ nicht locker. »Es soll sich um außergewöhnliche Umstände handeln, stimmt das? Mein Chef hat den Redaktionsschluss extra noch um eine Stunde verschoben.«
Baumgartner wandte sich um. Sie trug eines ihrer bunten Kleider, eine kurze Jeansjacke und noch höhere Schuhe als sonst. Er wunderte sich, dass sie nicht fror.
»Sie sind doch im Mailverteiler, nicht wahr? Dann bekommen Sie ohnehin die Presseaussendung. Warten Sie noch eine Stunde.«
»Kommen Sie schon!«, sagte sie beschwörend. »Geben Sie mir irgendwas! Sagen Sie mir nicht, dass das umsonst war. Ich bin extra hergefahren.«
Er sah sie an. »Das tut mir leid für Sie, aber wir wissen noch nichts. Wenn Sie jetzt berichten, riskieren Sie eine Ente. Rufen Sie mich morgen Vormittag an, dann weiß ich mehr.«
Sie wirkte enttäuscht, fragte aber nicht weiter nach. Sie sah sich um und Baumgartner befürchtete kurz, dass sie sich ein anderes Opfer suchen würde, doch schließlich räumte sie das Feld.
Wallner war manchmal lästig, aber Baumgartner konnte ganz gut mir ihr, vielleicht zu gut. Lass dich nicht ausnutzen, hatte Meier gesagt. Aber sie schrieb passable Artikel und hielt sich meistens an die Fakten. Mit ihr konnte man arbeiten, wenn man etwa eine Bitte nach Hinweisen aus der Bevölkerung platzieren wollte. »Graz Kompakt« hatte eine große Reichweite.
In diesem Moment kam ein schweres Motorrad über die gepflasterten Wege gefahren und manövrierte zwischen den Leuten hindurch. Der Fahrer stellte die Maschine neben einer Reihe von Fahrrädern ab, klappte den Ständer aus und nahm den Helm ab. Es war Steger, der Gerichtsmediziner. Baumgartner mochte ihn nicht. Steger trug einen schwarzen Anzug und teuer aussehende Schuhe. Er hängte den Helm auf den Lenker und kontrollierte seine Frisur im Seitenspiegel, dann kam er auf sie zu.
»Baumgartner, dass man Sie wieder einmal trifft! Wie lange ist es her – drei Tage?«
Er lachte laut und begrüßte ihn mit einem festen Händedruck. »Neues Jackett? Steht Ihnen gut!«
»Sie ist oben«, sagte Baumgartner und wandte sich ab. Er ging zu der Bank, auf der die Studentin saß.
»Wie geht es Ihnen?«
Sie wirkte gefasst. »Geht schon, danke.«
»Wie heißen Sie?«
»Margit Lang.«
»Mein Name ist Baumgartner. Ich bin vom Landeskriminalamt und leite die Untersuchung. Es tut mir leid, ich kann mir vorstellen, dass das alles sehr unangenehm für Sie ist. Ich habe nur ein paar Fragen, dann können Sie gehen.«
Sie nickte, ohne ihn anzusehen.
»Wie haben Sie sie gefunden?«, fragte Baumgartner.
»Ich wollte gerade nach Hause gehen, da habe ich im Seminarraum Licht gesehen«, erklärte sie. »Ich dachte, dass Carina noch da ist. Sie lernt manchmal dort. Ich habe die Tür aufgemacht, und dann war da überall Blut.«
»Was haben Sie dann gemacht?«
»Ich bin zurück auf den Gang und habe überlegt, was ich machen soll. Dann habe ich gedacht, dass ich nachsehen muss, was da passiert ist und ob jemand verletzt ist.«
»Sie sind hineingegangen?«
»Ja«, sagte sie und sah ihm in die Augen. »War das falsch?«
»Nein«, beruhigte er sie. »Wir müssen es nur wissen, für die Spurensicherung.«
»Ich habe sie liegen sehen«, fuhr sie fort. »Ich bin sofort raus und runter ins Freie. Dann habe ich die Polizei gerufen.«
»Ist Ihnen dabei jemand aufgefallen?«, fragte Baumgartner. »War jemand in der Nähe?«
»Nein, ich kann mich nicht erinnern.«
»Die Außentür war nicht abgesperrt?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, die war offen.«
»Was war davor?«, fragte er weiter. »Was haben Sie da gemacht?«
»Ich war einen Stock höher, auf dem Gang. Wir haben am Institut keinen Studierraum, deshalb sitzen wir an den Tischen auf den Gängen.«
Baumgartner nickte. »Haben Sie da etwas gesehen oder gehört?«
»Klar«, bestätigte sie. »Es waren Leute im Haus.«
»Wie lange?«
»Ich weiß nicht. Bis acht ist immer irgendwer hier.«
»Ist Ihnen irgendwas Besonderes aufgefallen?«
Sie zögerte. »Da war dieses Geräusch. Ich wusste zuerst nicht – «
»Eine Säge vielleicht?«, bohrte Baumgartner nach.
Sie sah ihn an, dann schien sie zu verstehen und zog die Schultern hoch. »Möglich.«
»Wann war das?«
»Um dreiviertel neun.«
Er holte seinen Notizblock heraus und hielt die Uhrzeit fest.
»Müssen Sie das Institut jetzt sperren?«, fragte sie.
Baumgartner sah von seinem Notizbuch auf. »Warum?«
»Ich habe übermorgen eine wichtige Prüfung. Ich darf da auf keinen Fall durchfallen.«
»Können Sie nicht zu Hause lernen?«, fuhr Baumgartner sie an. Im selben Moment bereute er, das gesagt zu haben. Das Leben ging weiter, und er dachte daran, wie spät sie noch auf dem Institut gewesen war.
»Der Seminarraum wird noch länger gesperrt sein«, antwortete er milder, »aber ich denke, dass Sie morgen wieder ins Haus dürfen.«
Sie nickte. Hinter sich hörte er eine laute Stimme.
»Danke für Ihre Hilfe«, sagte er. »Falls Ihnen noch etwas einfällt, rufen Sie mich bitte an.«
Er gab ihr seine Karte und wandte sich ab.
»Ich sage Ihnen, ich kann mir nicht erklären, wie das passiert ist. Ich habe die Tür abgesperrt, das tue ich immer!«
Der große Mann im schmutzig grauen Mantel musste der Hausmeister sein.
»Aber Sie wussten, dass noch jemand im Gebäude war?«, fragte Wolf, der etwas Verbissenes hatte, das zuvor noch nicht dagewesen war.
»Ich mache jedes Mal meinen Rundgang«, erklärte der Mann. »Manche Studenten haben einen Schlüssel, die können selber raus. Ich vermute, dass einer von denen vergessen hat, die Tür abzusperren. Oder die Putzleute.«
»Kommen Sie, da gehen doch ständig Leute aus und ein«, sagte Baumgartner.
Der Hausmeister schluckte.
»Niemand wird Ihnen einen Vorwurf machen, weil Sie die Tür nicht abgesperrt haben.«
»Aber ich sage Ihnen doch –«
»Im Moment müssen Sie etwas anderes für mich tun«, unterbrach ihn Baumgartner. »Wir vermuten, dass es sich bei der Toten um eine Frau aus dem Putztrupp handelt. Kennen Sie die Putzleute?«
Er nickte eifrig. »Sicher. Manchmal sind sie um neun noch nicht fertig.«
»Ich würde gern wissen, ob Sie die Frau kennen. Ist es in Ordnung, wenn Sie einen Blick auf ihr Gesicht werfen?«
Die Augen des Hausmeisters wurden größer.
»Sie müssen keine Angst haben. Sie sieht ganz friedlich aus«, sagte Baumgartner. Es reichte, wenn er ihm das Gesicht zeigte.
»Gut, in Ordnung.«
Baumgartners Handy klingelte.
Es war Meier.
»Hallo. Was gibt’s?«
»Was ist passiert?«, fragte sie.
»Wir haben alles im Griff«, antwortete er knapp. »Komm morgen auf die Universität zum Mathematikinstitut.«
»Ist es schlimm?«
Baumgartner zögerte.
»Morgen um sieben«, sagte er und legte auf.
Zwei müde wirkende Angestellte der »Bestattung Graz« kamen mit einem Metallsarg aus dem Gebäude. Baumgartner kannte sie vom Sehen. Der eine hatte große Blutflecken auf den Ärmeln seiner Jacke. Es musste schwierig gewesen sein, sie in den Leichensack zu heben.
»Einen Moment!«, rief Baumgartner. Er sah sich um und stellte zufrieden fest, dass niemand fotografierte. Er fragte sich, ob Wallner eine gute Journalistin war.
Er ließ den Sargdeckel wegheben und sorgte dafür, dass der Leichensack nur ein kleines Stück geöffnet wurde. Dann winkte er den Hausmeister herbei.
Dieser näherte sich langsam. Als er in den Sack sehen konnte, nickte er und wirkte erleichtert.
»Die ist vom Putztrupp. Ich glaube, sie heißt Krasniqi.«
Baumgartner holte sein Notizbuch hervor und schrieb den Namen auf. »Vorname?«
»Sara. Ohne h.«
Baumgartner notierte, klappte das Notizbuch zu und gab den Männern ein Zeichen, dass sie den Sarg wieder zumachen konnten.
»Kann ich jetzt gehen?«, fragte der Hausmeister.
»Ja. Aber bitte halten Sie sich zu unserer Verfügung.«
»Geht in Ordnung, Herr Kommissar.«
»Chefinspektor«, sagte Baumgartner und wandte sich Wolf zu.
»Sag Wilszek, ich lege mich eine Stunde hin. Morgen bin ich wieder ansprechbar. Um sieben.«
»Was soll ich tun«, fragte Wolf. »Soll ich hierbleiben?«
»Mach dir das mit ihm aus«, antwortete Baumgartner. »Es reicht, glaub ich, wenn du auf Abruf bereit bist.«
Er holte sein Telefon heraus und wollte gerade im Landeskriminalamt anrufen, für eine erste Presseaussendung, als Wilszek aus dem Gebäude stürmte. »Franz, schau dir das an! Das musst du sehen!«
Er hatte noch seinen Overall und die weißen Überschuhe an, die nach wenigen Schritten schmutzig waren. In der Hand hielt er einen flachen Plastiksack, in dem etwas war, das aussah wie ein Stück Papier.
Baumgartner ging ihm entgegen und betrachtete den kleinen Zettel hinter der transparenten Kunststofffolie.
»Was ist das?«
»Lies!«, sagte Wilszek.
Da sah Baumgartner, dass dort etwas geschrieben stand.
Müde betrat Baumgartner seine Wohnung in der Jakob-Gschiel-Gasse, einen Kilometer nördlich vom Landeskriminalamt. Das Licht war ausgeschaltet und als er es aufdrehte, sah er, dass ein Paar von Isabels Schuhen fehlte.
Baumgartner ging in die Küche, ließ sich ein Glas Wasser ein. Er legte sein Jackett ab, setzte sich mit seinem Notizbuch an den Esstisch und begann, alle Fakten zu notieren, die er heute erfahren hatte.
Als er fertig war, klappte er das Buch zu und lehnte sich zurück. Er sah Isabels letzten Einkaufszettel auf dem Kühlschrank kleben. Milch, stand dort, Nudeln, Waschmittel. Er stand auf, öffnete den Kühlschrank und fand zwei Milchpackungen. Die hatte sie also noch gekauft. Baumgartner ging nachsehen, wie viel Wäsche er hatte, und fand drei Hemden und zwei Hosen. Unterwäsche war genug da. Er ging zurück und sah nochmals in den Kühlschrank. Ob er für die nächsten Tage genug zu essen hatte? Vielleicht sollte er von jetzt an besser ins Gasthaus gehen.
Eine Stunde später lag er im Bett und hatte einen sauren Geschmack im Mund. Er fühlte sich erschlagen und war doch unfähig zu schlafen.
Ein Mord zerstört immer mehr als das Leben eines Menschen, dachte er. Er zerstört die schöne Oberfläche des Alltags der Leute. Es gibt so viele Dinge, die in den Menschen schlummern, die zum Teil gesagt, aber nicht ausgeführt, gedacht, aber nicht gesagt werden, oder aber den Menschen gar nicht bewusst sind. Der Anstand verbietet es – oder einfach die gesellschaftlichen Konventionen. Manchmal fehlt womöglich nur der Mut, eigene Entscheidungen zu treffen, Neuland zu betreten. Baumgartner befürchtete, dass oft wirklich nur der letzte Grund den Gewaltausbruch verhinderte.
Ein Mord ist immer auch etwas Mutiges, dachte er. Wie viele Leute hatten die Nerven, das zu tun, was er heute gesehen hatte? So jemand bricht mit allen gesellschaftlichen Konventionen und befreit sich. Diesen Mut fürchten und bewundern die Leute. Sie spüren eine kompromisslose Ehrlichkeit, eine ehrliche Botschaft.
Die er verstehen musste.
Ihm fiel auf, dass das seltsame Gefühl im Magen immer noch da war. Es war schwächer geworden, aber nicht verschwunden. Das Gefühl war gekommen, als er versucht hatte, zur Routine überzugehen. Normalerweise war die Routine etwas Tröstliches, etwas, woran man sich festhalten konnte. Baumgartner befürchtete, dass das diesmal nicht funktionieren könnte.
Der Täter hatte ihnen eine Nachricht hinterlassen. Dieser Gedanke, dass er getötet hatte, um etwas mitzuteilen, ließ den Stein so schwer werden, dass es schmerzte.
Als er den Zettel in dem Plastiksack entgegengenommen hatte, war ihm sofort klar gewesen, warum Wilszek so aufgeregt war. Darauf stand, sorgfältig mit dem Computer ausgedruckt, ein einziger Satz:
dies ist noetig um auf | die wirklichkeit | aufmerksam zu machen
Baumgartner schreckte aus dem Schlaf hoch. Er brauchte einen Moment, um sich zu orientieren, dann drückte er den Wecker ab, der ein vertrautes, schreiendes Piepen von sich gab.
Draußen war es noch völlig dunkel. Er musste sich überwinden, um die Füße unter der Decke hervorzuschieben und auf den kalten Parkettboden zu stellen. Er rieb sich die Augen. Isabel war nicht gekommen.
Wenige Minuten später saß er bei einer Tasse Kaffee am Küchentisch und hörte dem Geräusch des Kühlschranks zu. Der heiße Milchkaffee wärmte ihn, und er gab sich diesem Gefühl hin. Die Zeitung lag zusammengefaltet neben ihm auf dem Tisch. Der neue Fall war zuerst nur eine dumpfe Ahnung und es dauerte einige Minuten, bis die Details vor seinem inneren Auge wieder erschienen. Er trank seinen Kaffee in einem Zug leer, zog den Mantel an und machte sich auf den Weg, froh, dass er so etwas wie Tatendrang verspürte.
Als Baumgartner auf der Universität eintraf, hatte sich eine erste Ahnung von Helligkeit über den Platz vor dem Mathematikinsititut gelegt und hinter einigen Fenstern brannte Licht. Baumgartner mochte diesen frischen Geruch wenn es noch sehr früh war, doch heute roch es anders, mehr nach altem Rauch und Autoabgasen. Der Verkehr auf der benachbarten Heinrichstraße schwoll bereits an. Geduckte Gestalten kamen vorbei und drehten sich steif nach der Absperrung um, die Wilszek vor dem Institutstor angebracht hatte.
Meier wartete vor dem Eingang, fest in ihren Mantel eingewickelt.
»Warst du schon oben?«, fragte er.
Sie nickte. Ein kaum merkliches Zittern fuhr durch ihren Körper.
»Weißt du schon, was du tun willst?«, erkundigte sie sich.
Er dachte kurz nach, dann sagte er:
»Der Hausmeister hat die Tote identifiziert. Sie heißt Sara Krasniqi. Wir müssen das noch bestätigen. Schau bitte nach, ob sie vermisst wird und besorg mir ihre Daten, nächste Angehörige, Wohnadresse. Wilszek wird eine Liste von Leuten brauchen, die in diesem Gebäude aus und ein gehen. Wir müssen sie fragen, ob sie freiwillig ihre Fingerabdrücke hergeben. Das soll Gregor machen. Am Nachmittag machen wir eine erste Besprechung. Fünfzehn Uhr. Sag den anderen Bescheid.«
»Geht in Ordnung«, antwortete sie und wandte sich ab, um zu telefonieren. Sie schien froh, dass sie etwas zu tun hatte. Er wusste, dass sie ein schlechtes Gewissen hatte, weil sie gestern nicht mehr gekommen war. Er hätte ihr gesagt, dass es keinen Grund dafür gab. Sie wusste das, deshalb sagte sie nichts.
Widerwillig näherte er sich dem Eingang, schlüpfte unter der Absperrung hindurch und ging hinauf zum Tatort, wo Wilszek noch immer am Arbeiten war. Ein junger Mann war diesmal mit dabei. Die große Blutspur an der Wand hatte sich braun verfärbt und erinnerte nun an die Reifenspur eines Autos, das durch Schlamm gefahren war. Wilszeks Assistenten beschäftigten sich mit den Wänden, während er selbst in einer Ecke kniete. Das bedeutete, dass sie beinahe fertig waren. Wilszek arbeitete sich immer spiralförmig von der Leiche aus in den Raum vor.
»Wie sieht es aus?«, fragte Baumgartner. »Habt ihr was?«
Er richtete sich mühsam auf.
»Was glaubst du? Ein Seminarraum eben. Ich würde sagen, wir haben Fingerabdrücke und DNA von so ziemlich allen Mathestudenten. Du wirst mir von allen Proben besorgen müssen.«
»Rede mit Gregor, der macht das.«
Wilszeks Augen waren nur noch schmale Schlitze. Er blinzelte oft, so, als blendete ihn das schwache Morgenlicht von den Fenstern, und lachte leise.
»Gregor und hundert Mathematiker. Das wird sicher witzig.«
»Erklär ihm einfach genau, was du brauchst«, sagte Baumgartner.
Sie schwiegen.
»Was ist hier passiert?«, fragte Baumgartner. Es klang, als ob er mit sich selbst sprach.
»Das musst du herausfinden, Franz. Ich kann es dir nicht sagen.«
»Sag mir trotzdem, was du denkst.«
Wilszek ließ seinen Blick durch den Raum schweifen. »Er muss der Frau aufgelauert und sie dann irgendwie betäubt haben«, meinte er. »Ich bin mir ziemlich sicher, dass es keinen Kampf gab. Die Sache lief recht friedlich ab, wenn man das so nennen kann. Ich glaube nicht, dass jemand etwas gehört hat.«
»Vielleicht hat er sie gekannt?«, schlug Baumgartner vor.
»Möglich. Aber sie hätte sich trotzdem gewehrt.«
Baumgartner nickte. »Und dann?«
»Dann kommt der Teil, den ich nicht verstehe.«