Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
EIN BRANDHEISSER FALL FÜR FRANZ BAUMGARTNER. Feuer! Und wo zur Hölle steckt Baumgartner? In einem südsteirischen Dorf brennt ein Haus. Die ganze Familie befindet sich währenddessen auf der Hochzeit des Sohnes. Die bettlägerige Großmutter jedoch kommt in den Flammen um. Die Umstände sind mysteriös: Ein folgenschwerer Kabelbrand? Oder doch Vorsatz? Die Grazer Kriminalpolizei übernimmt die Ermittlungen - doch vom leitenden Inspektor Baumgartner fehlt jede Spur. Nicht einmal seine Kollegen wissen, wo er sich aufhält, und kommen gegenüber der Presse in Erklärungsnöte. Also übernimmt Gregor Wolf den Fall und stößt schnell auf Indizien, die auf ein Verbrechen hindeuten. Offenbar hat die Familie Egger viele Feinde - und ganz offensichtlich versucht sie, den Ermittlern etwas zu verheimlichen. Dann taucht plötzlich Baumgartner wieder auf - in einem mehr als desolaten Zustand … Knisternde Spannung und ein sehr spezieller Ermittler Reinhard Kleindl spielt mit dem Feuer: eine dunkle Familiengeschichte, Großstadtflair, ein ebenso charismatischer wie geheimnisvoller Ermittler, Intrigen, Tempo - diese Zutaten machen "Baumgartner und die Brandstifter" zum brandheißen Tipp für Krimifans! ***************** >Mitreißend! Ich konnte das Buch nicht mehr aus der Hand legen.< >Endlich ist der zweite Baumgartner-Krimi da! Ich fand schon den ersten genial. Der zweite hat meine Erwartungen sogar noch übertroffen! Definitiv eine Empfehlung!< >Pures Krimivergnügen: gut gezeichnete Charaktere, eine durch und durch stimmige Handlung und eine außerordentlich rasante Erzählweise.< ***************** Der erste Baumgartner-Krimi von Reinhard Kleindl: Gezeichnet
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 339
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Reinhard Kleindl
Baumgartner und die Brandstifter
Kriminalroman
Reinhard Kleindl
»Alle glücklichen Familien gleichen einander. Jede unglückliche Familie ist auf ihre eigene Weise unglücklich.«
Leo Tolstoi
Normalerweise achtete Alfons Riedl nie auf die offene Landschaft zwischen Spielfeld und Wildon.
In diesem Abschnitt nickte er oft ein vom beruhigenden Schütteln und Rattern des Zuges. Im Zug schlief er so gut wie sonst nirgends, oft nur zwanzig Minuten, aber es war ein leichter, erholsamer Schlaf, der ihm guttat.
Alfons Riedl kannte die Bahnstrecken um Graz gut. Er war jede von ihnen etliche Male gefahren und schlief inzwischen immer an denselben Stellen ein, wenn der Zug über das Land fuhr. Das Land war ihm egal, dort gab es nichts zu sehen. Es waren die Stadtränder, die ihn interessierten. Die Schrebergärten, die verwahrlosten Hinterhöfe. Wo man so schön hinter die Fassaden blicken konnte und sah, wie die Welt wirklich aussah.
Diese Sicht der Dinge hatte er sich als Bankdirektor angeeignet. Die Fähigkeit, hinter die Fassade zu blicken. Er war vielen Männern in feinen Jacketts gegenübergesessen, die Geld von der Bank gewollt hatten, für dieses oder jenes. Manche von ihnen hatten fünfzigtausend Euro Spielschulden, andere eine auf den ersten Blick krude Geschäftsidee, die sich schon nach drei Jahren in pures Gold verwandelte. Zwei Typen, kaum voneinander zu unterscheiden. Er hatte es lernen müssen, hatte Meisterschaft darin entwickelt.
Seither war er die Fassaden leid, die Werbungen, die bunten Plakate, das Halbwissen aus den Zeitungen. So hatte er nach seiner Pensionierung, als ihm allein in seiner Wohnung langweilig geworden war, das Zugfahren entdeckt.
Jeden Samstag fuhr er hinaus, seit nun fast fünf Jahren, heute wieder einmal nach Süden: In der Früh nach Maribor, dort am Ufer der Drau einen Kaffee trinken, und danach wieder zurück nach Graz; auch in einer Hitzewelle wie dieser, wo kaum noch jemand freiwillig vor die Tür ging. Er hatte sich extra eine leichte, weiße Leinenhose gekauft, wie sie ältere italienische Männer manchmal trugen. Um den Kaffee ging es nicht, den hätte er auch woanders trinken können. Der Kaffee war nur die Ausrede für die Zugfahrt.
Eigentlich waren seine Augenlider schon schwer und fielen immer wieder zu. Dass er dennoch genauer hinsah, lag nur an dem Mann, der quer über ein Feld ging. Riedl fragte sich, welchen Grund es dafür gab. Der Zug fuhr hier sehr langsam, und weil der Bahndamm erhöht war, hatte Riedl einen guten Blick auf die Landschaft. Der Mann war kein Bauer, sondern gekleidet wie ein Städter, in Jeans und einem karierten Hemd. Er war definitiv kein Jogger und schien keine Eile zu haben – warum er über das Feld ging und nicht herum, war nicht ersichtlich. Entschlossen setzte er einen Fuß vor den anderen, mit unergründlichem Gesicht.
Der Rauch hatte eigentlich gar nichts mit dem Gehenden zu tun, das erkannte Riedl gleich. Der Mann ging in eine Richtung, die dazu überhaupt nicht passte. Es war einfach nur ein Zufall, doch so war er wach genug gewesen, auch den Rauch zu bemerken: eine Säule, die in den Himmel wuchs, braun und grau und manchmal fast schwarz. Langsam näherte sich der Zug, und nun konnte er auch die Quelle des Rauchs erkennen: ein Bauernhaus. Flammen waren keine zu sehen, aber überraschend viel Qualm. Er stieg schnell auf und verlor sich erst in großer Höhe.
Riedl sah, wie in der Ferne ein Feuerwehrauto auftauchte. Es fuhr über das offene Land und näherte sich mit Blaulicht dem Haus, winzig unter dem wolkenlosen Himmel. Eine Sirene war im Zugabteil nicht zu hören. Aus Riedls Perspektive schien es fast gemächlich zu fahren. Ob das an der Entfernung lag oder an der Fahrtrichtung des Zuges, konnte er nicht sagen. Jedenfalls sah der Wagen, klein und lautlos, wie ein Spielzeug aus. Der Szene fehlte jeglicher Ernst.
Nun drang der Rauch bereits aus mehreren Fenstern; aus einem schlugen plötzlich Flammen. Menschen sah er keine. Die Feuerwehr kommt ein paar Minuten zu spät, dachte er. Der Schaden wird beträchtlich sein.
Es war sicher niemand zu Hause, dachte er. Samstags waren die Bauern auf den Märkten.
Da wurde ihm von einem Moment auf den anderen bang, und er wandte den Blick ab. Während dieser Fahrt konnte er nicht mehr einschlafen und kam müde in Graz an.
Als er am nächsten Tag die Zeitung vom Gang in die Wohnung holte, wartete er nicht einmal, bis der Kaffee fertig durchgelaufen war, sondern blätterte sie gleich durch, bis er die Meldung über den Brand gefunden hatte.
Den Mann auf dem Feld hatte er zu diesem Zeitpunkt längst vergessen.
Michael Egger war ein glücklicher Mann.
Er stand allein vor der Kirche, etwas abseits von den anderen, an den Stamm einer Buche gelehnt und starrte vor sich hin. Das grüne Gilet seines Steireranzugs rieb an der Rinde und wurde schmutzig, doch das war ihm egal, ebenso wie die Schweißflecken unter den Achseln des weißen Hemdes. Der Schatten tat ihm gut, alles andere kümmerte ihn nicht. Egger sah zu, wie sein Sohn mit der Braut für den Fotografen posierte. Die junge Frau dirigierte den schwarz gekleideten Mann mit der Kamera, der ganz erbärmlich schwitzte und dabei nichts von seiner Professionalität einbüßte. Max dagegen wirkte wieder einmal etwas verloren und wagte nicht, sie zu stören. Die Hochzeitsgesellschaft, junge Verwandte in Dirndlkleidern und kurzen Lederhosen, nahm es wahr und man machte sich darüber lustig.
Egger seufzte bei sich. Der Hof war in guten Händen. Eine neue Generation war bereit, die Herausforderung anzunehmen.
Das war nicht immer so klar gewesen. Es hatte dunkle Jahre gegeben, Zeiten großer Zweifel. All das war nun vorbei. Sie konnten es hinter sich lassen, nach vorne blicken.
»Na, Großbauer, wie geht’s dir? Stehst da allein in der Ecke!«
Friederike schmiegte sich an ihn. Er hatte sie nicht kommen gehört. Sie schien rührselig zu werden, ließ sich anstecken vom Glück ihres Sohnes. Egger legte seinen Arm um sie und lächelte nur.
»Bist du stolz?«, fragte sie.
»Stolzer kann man nicht sein«, antwortete er.
»Und du freust dich?«
Er sah sie an. »Was glaubst du denn?«
»Ich frage ja nur«, rechtfertigte sie sich, »stehst da ganz allein und grübelst. Ich will nur wissen, ob alles in Ordnung ist.«
»Schade, dass die Oma nicht da sein kann«, sagte er.
»Ja, das ist es. Aber der Doktor wird es schon wissen. Das lange Sitzen in der Kirche, das wär nichts gewesen für sie.«
»Sie hat immer wieder den Teufel an die Wand gemalt, dass alles schlechter wird. Es hätte ihr gutgetan.«
Friederike schien nachdenklich.
»Und wenn wir noch einen Sprung zu ihr fahren vor dem Essen? Schicken wir die anderen einfach voraus.«
Egger lachte und sah seine Frau an.
»Ihr habt wochenlang jede Kleinigkeit geplant und euch den Kopf zerbrochen, wie ihr es machen wollt. Seitenweise Listen habt ihr geschrieben, alles auf die Minute genau. Und jetzt auf einmal willst du das Protokoll ändern?«
Friederike boxte ihn vorwurfsvoll in die Seite.
»Nur ganz kurz, für die Oma«, sagte sie. »Sie würde sich freuen, oder?«
»Und wie.«
»Es ist eine gute Idee, oder?«
»Eine großartige Idee«, sagte er.
»Gut, dann werd ich mal die Brautleute fragen«, sagte sie und küsste ihn auf die Wange.
Egger blieb unter seinem Baum stehen und sah zu, wie die beiden Frauen die Details besprachen. Sein Sohn stand daneben, schien nicht gefragt zu werden. Schließlich winkte ihn Friederike herbei, und er musste schweren Herzens seinen Schattenplatz aufgeben.
Man erklärte der Hochzeitsgesellschaft, dass alle schon zum Gasthaus fahren konnten. Die Brautleute würden nachkommen.
Eine Stunde später saßen knapp hundert hungrige Hochzeitsgäste an einer liebevoll gedeckten Tafel mit fächerförmig gefalteten Servietten und warteten. Manche bestellten gerade das zweite Bier, andere wurden unruhig. Man zögerte mit dem Essen. Noch immer keine Spur von den Brautleuten.
Es war die Tante, Eggers Schwester, die den Anruf bekam. Sie sagte kaum etwas, nickte nur, doch die Veränderung in ihrem Gesicht ließ alle verstummen.
»Ja, ist gut. Ich sag es ihnen.«
Sie legte auf, holte tief Luft und sagte den anderen, dass die Brautleute nicht mehr kommen würden. Dass etwas passiert war.
Gregor Wolf hatte Schnupfen. Bei dieser Hitze, was für eine Ironie.
Am Dienstag hatte er noch befürchtet, Mittwoch nicht zur Arbeit kommen zu können. Es begann immer mit wunden Schleimhäuten in der Nase und einer allgemeinen Trägheit. Erst ein paar Tage später folgte das Schnäuzen, und manchmal kam Fieber dazu. Meist konnte er schon bei den ersten Symptomen sagen, wie schlimm es werden würde.
Letztes Wochenende waren sie nach der Radtour noch etwas trinken gegangen. Draußen vor dem Lokal war nichts mehr frei gewesen, deshalb hatten sie sich in den klimatisierten Innenraum gesetzt. Das war ein Fehler gewesen, er hatte es gleich bemerkt. Diesmal war er sich sicher gewesen, dass Fieber kommen würde. Doch er hatte gleich Aspirin genommen und sich am Montagabend bei der Apotheke etwas für die Nase geholt. Er wollte nicht einsehen, dass er gerade jetzt krank werden sollte, wo es beruflich so gut lief. So einfach ließ er sich seine gute Laune nicht verderben.
Als er diesen Vormittag ins Landeskriminalamt gekommen war, hatte er vorsorglich eine große Packung Taschentücher in seiner Aktentasche mit dabei gehabt und gleich den kleinen roten Wasserkocher aufgefüllt. Er war fest entschlossen, das durchzustehen.
Wolf war allein in der Kanzlei. Er setzte sich an seinen Schreibtisch und warf einen Blick auf das gelbe Post-it vom Vortag. Es enthielt eine Liste von unerledigten Dingen, gestern Abend hatte er beschlossen, früher Schluss zu machen – eine von vielen kleinen Annehmlichkeiten, wenn man selbst der Chef war. Das Arbeiten am Samstag machte ihm nichts aus. Krank, wie er war, konnte er sowieso keinen Sport machen. Die anderen hatten ihn zu einer weiteren Radtour bei dem schönen Wetter überreden wollen, doch er war klug genug gewesen, ihnen abzusagen. So hatte er gestern früh ins Bett gehen können und konnte heute in Ruhe die vielen Kleinigkeiten erledigen.
Er warf einen Blick auf den Wasserkocher, der schon leise gurgelte, und beschloss, mit Punkt fünf auf seiner Liste zu beginnen. Der Bericht für den Staatsanwalt über die Handgreiflichkeit im türkischen Restaurant Kervan am Griesplatz war schon lang überfällig. Als er sich gerade mit dem Tee an den Schreibtisch setzte, kam der Anruf. Nicht auf dem Festnetztelefon der Kanzlei, sondern auf seinem Mobiltelefon. Er sah, dass die Nummer vom Journaldienst auf dem Display aufleuchtete, stellte die Tasse schnell ab und nahm das Gespräch an.
Die Dame berichtete ihm knapp, was passiert war. Er erklärte, dass er heute sowieso arbeite. Stefan Wilszek sei auch schon auf dem Weg, meinte sie, dann beendeten sie das Gespräch.
Wolf stand auf und nahm abermals das Mobiltelefon in die Hand. Er rief Caroline Meier an und schilderte ihr die Lage. Sie bot an, auch zu kommen, doch er erklärte ihr, dass sie gern zu Hause bleiben konnte. »Bist du sicher?«, fragte sie. Hinter ihr hörte er Stimmengewirr. Er versprach, sich abends noch einmal zu melden. Womöglich mussten sie morgen, Sonntag, eine Besprechung ansetzen. Danach rief er Rainer Swoboda an und bat ihn, auch zu dem Bauernhof zu kommen. »Warum fragst du nicht Caroline?«, wollte Swoboda wissen, der keinerlei Interesse zu haben schien, sein Wochenende zu opfern. »Sie kann heute nicht«, erklärte Wolf. »Und ich brauche vielleicht Hilfe.«
Er ließ Swoboda nicht mehr zu Wort kommen und legte auf. Er stand auf, füllte das restliche heiße Wasser aus dem Kocher in eine Thermoskanne und hängte einen Teebeutel hinein, bevor er sie zuschraubte und unter den Arm klemmte. Er trank seine Tasse in einem Zug leer und stellte sie auf Baumgartners Schreibtisch, wo noch zwei weitere ungewaschene Tassen standen.
Als Gregor Wolf die Autotür öffnete, roch er trotz der geschwollenen Nase gleich, dass es gebrannt hatte. Er dachte unwillkürlich an die Ostern in seiner Kindheit, die Feuer, den Schinken.
Wolf befand sich auf einem Hof, der aus drei Gebäuden bestand: einem Wirtschaftsgebäude mit großen Garagentoren, einem mit gewelltem Eternit verkleideten Bau, der offenbar einmal ein Stall gewesen war, und einem zweistöckigen Wohnhaus mit Balkonen aus dunkel gebeiztem Holz, aus dessen von großen Rußflecken umgebenen Fenstern dünner, grauer Rauch aufstieg. Der Dachstuhl war in der Mitte eingestürzt. Vor dem Haus lag dampfendes, verkohltes Gerümpel. Er erkannte ein Tischbein, ein Telefonkabel und die Reste eines gepolsterten Sitzmöbels. Der geschwärzte Bezug war an manchen Stellen aufgeplatzt, und weißes Futter quoll heraus. Abgesehen davon sah der Hof ungewöhnlich aufgeräumt aus. Der Rasen vor dem Haus war frisch gemäht, und in einem alten hölzernen Karren standen Blumenkisten mit frischen, roten Blüten. Ein Löschwagen der Feuerwehr stand vor dem Haus, die Feuerwehrleute rollten gerade die Schläuche ein. Der Brand war gelöscht.
Neben dem großen Feuerwehrauto parkten ein Rettungsauto und ein Streifenwagen, beide mit eingeschaltetem Blaulicht. Die Sanitäter standen neben ihrem Fahrzeug, zwei hatten die Hände verschränkt, einer rauchte. Hier gab es nichts mehr für sie zu tun. Etwas abseits vom Haus parkten ein alter Mercedes und weiter hinten noch zwei Pkw.
Einer der beiden Beamten stand neben einem kräftigen Mann im Steireranzug, der irgendwie gebückt aussah, und schrieb etwas auf. Der andere ging gerade zum Streifenwagen, als er Wolf entdeckte und ihm zunickte. Sie kannten sich nicht, aber er schien den Dienstwagen des Landeskriminalamts erkannt zu haben. Er kam auf Wolf zu, und sie gaben sich die Hand.
»Planner.«
»Wolf. Ist das Opfer –«
»Kunigunde Egger.«
Wolf nickte. »Ist sie –«
»Noch im Haus, ja«, ergänzte Planner.
»Mein Kollege von der Tatortgruppe ist schon drin, nehme ich an?«
»Ja, er ist mit den Brandermittlern reingegangen. Sieht nicht schön aus, wenn Sie es genau wissen wollen.«
Wolf nickte abermals.
»Bitte schicken Sie mir einen von den Brandermittlern her. Ich würde gern hineingehen.«
»Ist gut«, sagte der Beamte und wandte sich ab.
Gregor Wolf ging zu dem anderen Polizisten. Er vermutete, dass der Mann im grau-grünen Anzug ein Angehöriger des Opfers war.
»Grüß Gott«, sagte Wolf und stellte sich vor. Sie gaben sich die Hand.
»Michael Egger«, sagte der fremde Mann müde. »Ich bin der Sohn.«
»Tut mir leid«, antwortete Wolf. Egger nickte. Er wirkte ungewöhnlich gefasst, dachte Wolf. Nicht traurig, eher erschöpft, als wäre jegliche Kraft aus ihm gewichen. Ähnliches hatte er schon erlebt. Die Leute reagierten sehr unterschiedlich auf solche Katastrophen. Manche verloren sämtliche Hemmungen, ließen sich gehen, doch andere litten still und wurden dabei überraschend aktiv. Leute wie Egger schienen sich ihre Trauer für private Stunden aufzusparen.
»Ist es in Ordnung, wenn ich Ihnen ein paar Fragen stelle?«
Egger nickte abermals. »Gleich?«, fragte er.
»In ein paar Minuten«, sagte Wolf. »Ich möchte mir vorher noch das Haus ansehen.«
Ein weiteres Auto näherte sich dem Bauernhof – Rainer Swoboda. Ihre Begrüßung war unterkühlt. Wolf sah hinüber zur Eingangstür des Wohnhauses, wo bereits Planner mit einer großen, schlanken Frau in einem weißen Anzug der Spurensicherung wartete. Wolf erkannte Pia Leistner von der Brandermittlungsgruppe. Sie begrüßten sich, ohne sich die Hand zu geben, damit Leistners weiße Handschuhe nicht schmutzig wurden. Wolf und Swoboda betraten das Haus und gingen durch einen engen Korridor, in dem noch das Löschwasser stand und wo es paradoxerweise kühler war als draußen. Die Holzdecke war völlig verkohlt und auch die Tapete geschwärzt. Der scharfe, teerige Geruch brannte Wolf in der Nase. Sie hielten auf eine offene Tür zu, die schief in den Angeln hing. Wolf bemerkte sofort, dass sich der Geruch verändert hatte: wie Fleisch, das auf einem Grill verbrannt war. Wolf schloss kurz die Augen, streifte die angebotenen weißen Fußschoner über und trat einen Schritt in den Raum.
Drinnen war es hell. Wolf sah zum Fenster, dessen Scheibe zerbrochen war. Der Geruch hing dennoch dick im Raum, von einigen Möbeln stieg immer noch dünner Rauch auf. In der Mitte stand ein Bett und darin lag, kaum noch erkennbar, eine menschliche Gestalt, gleich schwarz wie die Bettwäsche, die lichterloh gebrannt haben musste. Daneben das Metallgestell eines Rollstuhls.
Plötzlich tauchte Wilszek auf, der neben dem Bett gekniet war und sich gerade aufrichtete.
»Wolf, auch schon da? Du bist zu früh, das wird diesmal dauern.«
Er wirkte erfrischt, der Urlaub hatte ihm offenbar gutgetan.
Wolf atmete flach. »Irgendetwas Interessantes?«
Wilszek breitete die Arme aus.
»Ungewöhnliches, meinst du? Kann ich nicht sagen. Das musst du Pia und ihr Team fragen. Solange sie nicht fertig ist, bin ich hier nur zu Gast. Ich bin froh, dass sie mich auch drüberschauen lässt.«
Er drehte sich zu der verbrannten Leiche um, mit Bedauern, wie es schien.
»Sie hat es nicht aus dem Bett geschafft. Ich denke, als sie den Rauch bemerkt hat, war es schon zu spät. Das kann sehr schnell gehen, hat Pia gesagt. Wir dürfen hoffen, dass sie das Bewusstsein verloren hat, bevor die Flammen auf das Bett übergegriffen haben.«
»Das will ich genau wissen.«
»Ich weiß. Steger wird dir das sagen können. Aber jetzt gehst du besser. Es gibt sowieso nicht viel zu sehen, und die Kollegen von den Brandermittlern sind nicht so entspannt wie ich, wenn andauernd Leute aus- und eingehen.«
»Schon gut. Eventuell machen wir morgen eine Besprechung, ich geb dir noch Bescheid.«
Wilszek seufzte.
»Habe ich schon befürchtet.«
Wolf sah sich nach Swoboda um und stellte fest, dass dieser ihm nicht gefolgt war. Er nickte Wilszek zu und ging hinaus. Als er Swoboda sah, überlegte er, ihn zurechtzuweisen, doch er ließ es bleiben. Es war nicht nötig, nicht in diesem Fall.
Hier lag offensichtlich kein Verbrechen vor. Sie würden natürlich routinemäßig alle Alternativen ausschließen, aber er stellte sich auf keine großen Überraschungen ein.
»Sieh zu, dass du morgen auf Abruf bereit bist«, sagte er zu Swoboda und ging zu Egger. Er wollte ihm erklären, dass er nun Zeit hatte.
»Ich will sie sehen«, sagte Egger.
Wolf sah ihn an. Er wollte eine Bemerkung über den Zustand der Leiche machen, doch er hielt sich zurück. »Das geht nicht«, sagte er nur.
»Das ist mein Haus«, entgegnete Egger. »Da drin liegt meine Mutter. Ich gehe da jetzt hinein.«
Wolf dachte an das Gespräch, das er später noch mit ihm führen musste.
»Herr Egger, tun Sie sich das nicht an.«
Wolf bemerkte, wie Egger zu dem Mercedes hinübersah. Da entdeckte er, dass jemand auf dem Beifahrersitz saß: eine Frau im Dirndlkleid, die starr geradeaus sah.
»Ihre Mutter ist verstorben, Herr Egger. Es tut mir leid. Überlassen Sie das uns. Sie müssen sich jetzt um Ihre Familie kümmern. Sparen Sie sich Ihre Kräfte.«
»Wir haben heute Hochzeit gefeiert«, sagte Egger. »Mein Sohn.«
Da verstand Wolf, warum sie so festlich gekleidet waren, und kurz schnürte es ihm den Hals zu.
»Ich gehe hinein«, erklärte Egger abermals. »Sagen Sie denen, sie sollen mich in mein Haus lassen.«
Egger wandte sich ab und ging in Richtung Tür.
»Warten Sie kurz«, rief Wolf ihm nach. Er holte sein Mobiltelefon hervor und rief Wilszek an. Wolf erklärte ihm die Situation und bat ihn, Egger hineinzuführen. Wilszek klang nicht begeistert, doch der Ton von Wolfs Bitte hatte ihn verstummen lassen. Kurz darauf erschien er an der Tür und holte Egger ab.
Wenige Minuten später erschien Egger wieder. Seine Augen waren gerötet, aber er schien aufrechter zu stehen als vorher.
»Danke«, sagte er.
Als Wolf Michael Egger kurz darauf bei seinem Dienstwagen befragte und dabei Tee aus dem Deckel seiner Thermoskanne schlürfte, wirkte dieser abwesend.
»Sie müssen sich doch erinnern, wann Sie losgefahren sind heute in der Früh. Acht? Neun?«
»Ich glaube acht.«
»Glauben Sie?«
»Meine Frau kann Ihnen das sagen. Oder meine Schwiegertochter.«
Wolf schluckte seinen Ärger hinunter. Der Mann konnte sich überhaupt nicht konzentrieren. Er hatte kleine Augen, als würde er gleich einschlafen. Am besten wäre es wahrscheinlich, wenn er ihn gehen ließ und in den nächsten Tagen aufs Landeskriminalamt holte.
Wolf überlegte.
»Könnte jemand einen Grund gehabt haben, das Haus anzuzünden?«, fragte er nach einer Weile.
Zuerst reagierte Egger überhaupt nicht, bevor er auf einmal hellwach zu sein schien.
»Anzünden? Glauben Sie wirklich –«
»Bitte denken Sie nach. Fällt Ihnen jemand ein?«, setzte Wolf nach.
Eggers Unterlippe begann zu zittern. Er schüttelte den Kopf.
»Es ist unwahrscheinlich«, beruhigte ihn Wolf, als er fand, dass es genug war. »Derzeit deutet nichts darauf hin.«
»Ich möchte jetzt zu meiner Familie«, sagte Egger.
In diesem Haus werdet ihr in nächster Zeit jedenfalls nicht wohnen, dachte Wolf.
»Danke, wir sind fertig für heute. Ich glaube, es wird reichen, wenn wir uns am Montag unterhalten.«
Er sprach ihm noch einmal sein Beileid aus.
Wolf war nachdenklich, als er auf der A9 nach Norden fuhr, schwitzend, weil er nicht wagte, die Klimaanlage einzuschalten.
Bereitwillig ließ er seinen Gedanken freien Lauf, um sich von dem Bild der schwarzen Leiche abzulenken, das immer wieder vor seinen Augen auftauchte.
Er war zufrieden mit sich selbst. Die letzten Wochen waren gut gewesen. Seit er die Leitung der Mordgruppe übernommen hatte, war es ihm gelungen, Ordnung hineinzubringen. Sie hatten einiges aufgearbeitet, was liegen geblieben war. Er hatte das Gefühl, dass die Abläufe nun effektiver waren. Das war viel Arbeit gewesen, aber die Anlaufschwierigkeiten hätten größer sein können, fand er.
Wolf wusste, dass diese Dinge auch Oberst Sukitsch auffielen, und das erfüllte ihn mit Genugtuung. Es tat gut, zu zeigen, dass die Welt nicht zusammenbrach, wenn er nicht da war. Dass manches anders lief, und einiges auch besser.
Wolf schüttelte den Kopf.
Jetzt denke ich schon wieder über ihn nach. Warum eigentlich? Es gibt keinen Grund dafür.
Er musste auf einmal lachen.
Selbst nun, da er weg ist, werde ich ihn nicht los, dachte Wolf, als er von der Autobahn abfuhr. Hartnäckig, wie ein Schnupfen.
Gregor Wolf wusste nicht, wo er war.
Die Dunkelheit um ihn herum war undurchdringlich. Er wusste, dass etwas nicht stimmte, doch was war das gewesen? Gerade noch war er gelaufen, doch jetzt lag er da und konnte sich nicht bewegen.
Wolf hörte Rascheln. Da wurde ihm klar, dass er selbst es war, der diese Geräusche erzeugte. Es waren seine eigenen Hände, die über die Bettdecke strichen. Da war noch ein anderes Geräusch. Ein gleichmäßiges, vertrautes Brummen. Jemand rief auf seinem Mobiltelefon an. Das Läuten hatte ihn aus dem Schlaf gerissen.
»Ja?«
»Oberinspektor Wolf?«
Er erkannte Pia Leistners Stimme.
»Wolf? Sind Sie da?«
»Äh, ja. Ich bin da. Was gibt es?«
»Ich glaube, es ist am besten, Sie kommen sofort her.«
»Zum Bauernhaus?«
»Ja.«
»Gut, ich komme.«
Schwankend richtete er sich auf und ging zum Fenster, um die Jalousien zu öffnen. Das gleißende Sonnenlicht blendete ihn. Er rieb sich seine verquollenen Augen.
Eigentlich hatte er im Fernsehen ein Leichtathletik-Meeting anschauen wollen, doch nach wenigen Minuten waren seine Lider so schwer geworden, dass er sich ins Schlafzimmer gelegt hatte.
Verdammte Verkühlung, nicht einmal fernsehen konnte man.
Er musste unbedingt duschen, doch Leistners Ton war dringlich gewesen. Kein gutes Zeichen, dachte er.
Wolf ging ins Badezimmer, wo er die Kontaktlinsen wieder einsetzte. Er wechselte das T-Shirt, zog sich die Hose an und machte sich auf den Weg.
Pia Leistner begrüßte ihn und drückte ihm die weißen Überschuhe in die Hand, bevor sie ihn zum Haus führte.
Sie kannten sich seit einigen Jahren, hatten aber nie viel miteinander zu tun gehabt. Zwar hatte auch die Mordgruppe immer wieder bei Großbränden ausrücken müssen, aber die Zusammenarbeit mit den Brandermittlern war in Baumgartners Bereich gefallen. Wolf fragte sich, ob sie ihn als neuen Leiter der Mordgruppe akzeptierte. Ihr Auftreten ihm gegenüber war sachlich. Wolf hatte schon vor längerer Zeit feststellen müssen, dass sie ihm gefiel, auch wenn er sie eigentlich zu groß fand.
»Der Brand wurde um 10 Uhr 50 von einem Autofahrer gemeldet. Er hat Rauch aufsteigen sehen.«
»Ich brauche seine Personalien.«
»Bekommen Sie. Anfangs hatten wir Probleme, den Brandherd zu lokalisieren. Das Einzige, was wir gleich sagen konnten, war, dass der Brand nicht vom Zimmer der alten Dame ausging.«
Wolf reagierte erleichtert auf diese Nachricht.
»Wir stellten fest, dass der Ausgangspunkt das Wohnzimmer war.«
Sie blieben stehen, und Wolf erkannte, dass Pia von dem großen Raum sprach, in dem sie sich befanden. Feucht glänzende, schwarze Oberflächen beherrschten das Bild, auf dem Boden verteilten sich formlose Aschehaufen, aus denen verkohlte Holzreste ragten. Er konnte nicht sagen, welche Möbel hier gestanden waren, nur zu seiner Linken sah er ein Drahtgestell mit Spiralfedern, das von einem Sofa stammen musste.
Vom Mittelpunkt des Eggerschen Familienlebens war nichts mehr übrig.
»Die alten Möbel«, erklärte Leistner. »Das Feuer hat sich sehr schnell ausgebreitet, da war nichts mehr zu machen. Wir dachten zuerst an einen Kabelbrand, sie hatten noch einen Röhrenfernseher und andere veraltete Geräte. Doch das bestätigte sich nicht. Auch für eine chemische Selbstentzündung gibt es keine Anzeichen. Wir sind an dem Punkt angelangt, dass wir keine plausible Erklärung für die Brandursache haben.«
»Außer – «
»Außer einer vorsätzlichen Inbrandsetzung.«
»Der Brand wurde also gelegt.«
»Das habe ich nicht gesagt. Wir können es nicht beweisen. Es gibt nur derzeit keine andere Erklärung.«
Wolf gefiel nicht, was er hörte. Es klang nach Arbeit.
»Wurde Benzin verwendet oder etwas Ähnliches?«
»Sie meinen, ein Brandbeschleuniger? Das lässt sich schwer feststellen, Benzin verbrennt ja vollständig. Allerdings wundert mich, dass das Feuer so schnell auf den ganzen Raum übergegriffen hat. Und sehen Sie, hier!«
Leistner zeigte auf eine Stelle auf dem Parkettboden, die überhaupt nicht verkohlt war, nur an den Rändern hatte der Lack Blasen geschlagen. Wolf hockte sich hin und widerstand der Versuchung, die Stelle zu berühren.
»Wie ist das möglich?«
»Es könnte auf einen flüssigen Brandbeschleuniger hindeuten. Denken Sie an eine Benzinlache, die brennt immer nur an der Oberfläche. Alles, was darunter liegt, bleibt verhältnismäßig kühl.«
»Also doch Benzin?«
»Möglich. Aber noch etwas anderes haben wir gefunden, etwas Eigenartiges.«
Sie nahm einen durchsichtigen Plastiksack in die Hand und hielt ihn Wolf unter die Nase. Darin war etwas Kleines, Rundes.
Gregor Wolf kniff die Augen zusammen.
»Was zum Teufel ist das?«
Bevor er nach Hause fuhr, rief er noch Caroline Meier an, dass sie sich morgen um 9 Uhr zu einer Besprechung treffen mussten.
»War es also kein Unfall?«, fragte Meier.
»Ich erklär dir alles morgen. Kannst du bitte noch den anderen Bescheid sagen? Danke.«
Der Duft von frischem Filterkaffee lag in der Luft, als Wolf die Besprechung eröffnete. Mit dabei waren Meier, Swoboda und Oberst Sukitsch.
»Danke, dass ihr gekommen seid. Ich weiß, es ist Wochenende, aber es gibt Neuigkeiten in dem Todesfall von Kunigunde Egger.«
Sukitsch hörte konzentriert zu und kratzte sich hin und wieder mit den Fingern an seiner Glatze, als Wolf alle Fakten zusammenfasste und Stichwörter auf der Flipchart notierte. Der Oberst war der Einzige, der noch gar nichts über den Fall wusste. Er hatte darauf bestanden, auch bei dem Meeting dabei zu sein.
»Gestern Abend hat mich Pia Leistner angerufen, und ich war noch einmal am Brandort. Kurz gesagt: Sie hat keine natürliche Brandursache gefunden. Es gibt nichts, das sich von selbst entzündet haben könnte.«
»Der Brand war also gelegt«, sagte Sukitsch, der angesichts Wolfs Zurückhaltung ungeduldig wurde.
»Leistner wollte sich nicht endgültig festlegen«, sagte Wolf. »Es gab überhaupt nicht viel, was sie mir sicher sagen konnte. Sie meinte nur, sie hat keine Erklärung.«
Sukitsch wartete.
»Außerdem meint sie, dass vielleicht ein Brandbeschleuniger verwendet wurde.«
Wolf erklärte die Sache mit dem Parkettboden.
»Findest du nicht, dass das etwas vage klingt?«, meinte Sukitsch.
»Pia Leistner hat noch etwas Interessantes gefunden.«
Wolf legte einen farbigen Computerausdruck auf den Tisch. Leistner hatte ihm ein Foto zukommen lassen. Darauf war eine kreisrunde, geschwärzte Scheibe abgebildet.
»Es ist stark vergrößert«, sagte Wolf.
»Was ist es?«, fragte Meier.
»Kennt ihr das, wenn bei Kerzen das Ende des Dochts mit einem Stück Metall fixiert ist?«
Plötzlich war es mucksmäuschenstill im Raum.
»Das ist ein Dochthalter. Es sieht so aus, als ob der Brand von einer Kerze ausging.«
»Einer Kerze?«, wiederholte Meier.
»Habe ich doch gesagt. Einer Kerze, die mitten im Raum stand.«
Wolf hatte am Vortag ähnlich reagiert. Er war nur dagestanden, hatte gewartet.
»Und weiter?«
»Nichts weiter«, hatte Leistner erklärt, »die stand da im Raum. Eine Kerze.«
Wolf hatte sie angesehen.
»Eine Kerze. Jemand stellt eine Kerze ins Wohnzimmer, während im Nebenraum eine bettlägerige Frau ist, und gießt Benzin aus. Während die Familie auf einer Hochzeit ist. Was hat das für einen Sinn?«
»Was fragen Sie mich das?«
»Sind Sie sich ganz sicher?«
Leistner hatte die Hände verschränkt.
»Sonst hätte ich Sie nicht hergerufen.«
»Aber kann das auch ein Versehen gewesen sein«, hatte Wolf gesagt.
Leistner hatte nicht geantwortet.
»Haben Sie dafür eine Erklärung?«
»Was sehen Sie mich an? Ihr Job, Wolf.«
»Wo war die Kerze? Sie stand nicht auf dem Tisch, oder?«
Leistner hatte den Kopf geschüttelt.
»Der Tisch war dort drüben. Die Kerze war mitten im Raum.«
»Auf dem Boden?«
»Sagte ich doch.«
»Sagten Sie nicht.«
»Wissen Sie was, Wolf, stellen Sie mir konkrete Fragen, oder lassen Sie es. Lesen Sie meinen Bericht, den kriegen Sie morgen. Dort steht dann genau drin, was ich sicher sagen kann. Und etwas anderes sage ich Ihnen nicht.«
Wolf sah seine Kollegen an, die müde wirkten.
»Die Frage ist also: Wer dringt in ein Haus ein und stellt eine Kerze ins Wohnzimmer? Wenn nebenan eine alte Frau liegt. Und schüttet Benzin aus.«
»Das ist absurd«, sagte Meier.
»Konzentriert euch«, sagte Sukitsch. »Das mit dem Benzin wissen wir nicht sicher, oder? Brandstiftung ist es, wenn jemand die Absicht hatte, das Haus anzuzünden. Das scheint mir hier nicht bewiesen zu sein. Eine Kerze auf dem Boden.«
»Etwas Rituelles?«, fragte Meier.
»Kommt mir nicht schon wieder mit Satanismus«, raunzte Wolf. »Das war letztes Mal eine Sackgasse.«
»Ich weiß es«, sagte Meier plötzlich. Die Familie war auf der Hochzeit, nicht wahr? Vielleicht haben sie in der Früh eine Kerze angezündet und vergessen, sie auszulöschen, bevor sie gefahren sind.«
»Auf dem Boden?«, fragte Sukitsch.
Wolf schüttelte den Kopf.
»Ich habe gestern mit Egger geredet, der sagt, sie sind um acht losgefahren. Der Brand wurde um elf gemeldet. Das passt nicht. Gibt es überhaupt Kerzen, die so lang brennen?«
»Natürlich. Große Kerzen brennen viele Stunden lang.«
Wolf stellte sich die riesige Osterkerze aus seiner Zeit als Ministrant vor. Die Sache wurde immer verwirrender, fand er.
Swoboda räusperte sich. »Vielleicht war es die alte Dame selbst? Wissen wir, ob sie dement war?«
»Ich hatte nicht den Eindruck, dass sie ohne Hilfe aufstehen konnte, aber das lässt sich herausfinden. Guter Punkt. Wir müssen mit ihrem Arzt reden.«
Alle nickten.
»Ein Kind«, sagte Meier plötzlich. »Ich sag euch, das war keine Brandstiftung. Da hat ein Kind gezündelt, das ist alles.«
»Die Kinder der Familie waren alle bei der Hochzeit«, gab Wolf zu bedenken.
»Ich weiß schon. Andere Kinder, meine ich. Nachbarskinder vielleicht.«
»Wie sollen die ins Haus gekommen sein?«, fragte Wolf.
»Woher soll ich das wissen?«, gab Meier scharf zurück.
»Wir müssen uns an die Fakten halten«, sagte Wolf ruhig.
»Ihr müsst auf jeden Fall herausfinden, ob jemand Fremdes im Haus war«, stellte Sukitsch fest. »War abgesperrt? Wie viele Schlüssel gab es?«
Wolf nickte.
»Wir haben eine ganze Menge möglicher Szenarien«, erklärte er. »Wir müssen einfach schauen, welche wir ausschließen können.«
Wolf schrieb einige Begriffe auf die Flipchart. Arzt – Demenz? Tür – Schlüssel? Nachbarn – Kinder?
Er legte den Marker wieder hin.
»Ich werde mich noch einmal mit Egger unterhalten und sehen, ob seine Frau schon vernehmungsfähig ist. Ihr könnt inzwischen die Nachbarn besuchen und fragen, ob sie etwas gesehen haben, ob sie jemanden verdächtigen et cetera.«
»Ich schätze, dass wir frühestens in zwei Stunden dort aufkreuzen können. Die werden alle in der Kirche sein«, sagte Caroline Meier.
»Es ist ja auch Sonntag«, murmelte Swoboda kaum hörbar. »Warum machen wir das nicht morgen?«
»Willst du etwa auch in die Kirche gehen?«, lachte Wolf.
»Rainer hat recht, Gregor. Ihr solltet das wirklich am Montag machen«, sagte Sukitsch.
»Warum? Jetzt sind wir schon hier. Caroline, du gehst sicher nicht in die Kirche, wie ich dich kenne. Warum klapperst du nicht die Nachbarn ab?«
Sukitsch sah Wolf streng an.
»Ich meine es ernst. Lasst euch damit Zeit bis morgen. Bis jetzt gibt es nur Vermutungen. Es ist nicht erwiesen, dass hier überhaupt ein Delikt vorliegt. Hat Pia Leistner ihren Bericht schon fertig?«
»Nein. Sie hat ihn mir für morgen versprochen.«
»Gut, dann warten wir. Vielleicht findet sie ja noch was. Das hier ist noch keine offizielle Mordermittlung, und es ist Wochenende.«
Sukitsch stand auf.
»Sonst noch was?«, fragte er. Wolf kniff die Augen zusammen. Er stellte fest, dass ihm die Leitung der Besprechung soeben entzogen worden war.
»Nein, ich denke nicht.«
»Gut«, sagte Sukitsch. »Ich wünsche euch noch einen schönen Sonntag.«
Gregor Wolf hatte beschlossen, auf eigene Faust noch einmal nach Ehrenhausen zu fahren. Er ärgerte sich über seinen Chef. Baumgartner wäre nie so behandelt worden.
Wolf hatte sich die letzten Monate oft gefragt, ob er froh sein sollte, dass Baumgartner weg war. Seine Freunde hatten ihm gratuliert, auch wenn er ihnen erklärt hatte, dass er nur interimsmäßig Chef der Mordgruppe war und dass bei der Polizei alle mit Baumgartners Rückkehr rechneten. Für seine Freunde war es dennoch ausgemachte Sache, dass Baumgartner weg vom Fenster war, und in Wirklichkeit glaubte er das auch.
Wolf konnte es nicht leugnen: Er bedauerte es nicht. Damit hatte für ihn eine gewisse Normalität Einzug gehalten, die guttat. Nicht, dass er Genugtuung empfand oder sogar Triumph. Er hatte sich geweigert, mit seinen Freunden darauf anzustoßen. Immerhin war ja nicht einmal bekannt, was mit Baumgartner los war. Vielleicht kam er ja doch zurück, mit einer guten Ausrede für seine Abwesenheit. Doch selbst wenn das passierte, war es doch sehr fraglich, ob man ihm so mir nichts, dir nichts den Chefposten der Mordgruppe zurückgeben würde. Jedenfalls fand Wolf, dass Freude unangebracht war. Baumgartner war ein guter Polizist gewesen, er hatte das immer zugegeben, und so jemanden zu verlieren, war kein Grund zum Feiern. Aber andererseits sah er auch keinen Anlass, ihm nachzuweinen, wie es Caroline Meier tat. Das Leben ging weiter. Baumgartner war immer ein wirrer Vogel gewesen, und es war lächerlich, wenn plötzlich alle so überrascht taten.
Ganz traute er der Sache noch nicht. Wenn sie einen Grund gewusst hätten für Baumgartners Abwesenheit, wäre es leichter gewesen. Wenn er sich wieder besoffen hätte, wenn man ihm einen konkreten Fehler hätte vorwerfen können. Es war natürlich offensichtlich, dass die Probleme überhandgenommen hatten. Baumgartner hatte immer dazu geneigt, sich in gewisse Dinge hineinzusteigern. Im Prinzip war er nie einfach nur Polizist gewesen – er hatte seine eigene Vorstellung von Gerechtigkeit verfolgt. Für einen guten Polizisten war er zu wenig Realist. Dass Sukitsch das nie gesehen hatte! Wolf wusste, dass er der bessere Polizist war als Baumgartner, aber jemand, der aufgrund einer vermeintlichen Ungerechtigkeit der Welt leidet wie ein griechischer Tragödienheld, schindet eben mehr Eindruck. Es ärgerte ihn, dass Sukitsch sich davon beeindrucken hatte lassen. Insgeheim vermutete er, dass Baumgartner eine Art privates Experiment von Sukitsch gewesen war. Er hatte ihn zum Chef der Mordgruppe gemacht, einfach nur, um zu sehen, was passierte. Das war unprofessionell, und es war kein Wunder, dass es so geendet hatte.
Doch in Sukitschs Augen war es noch gar nicht vorbei. Das war das Schwierige an der Sache. Bevor Baumgartner nicht wieder auftauchte, wusste man nicht, was man ihm vorwerfen sollte. Vielleicht gab es ja einen guten Grund, warum er verschwunden war? Sukitsch schien das zu glauben, obwohl es Unsinn war.
Auf der A9 verließ Wolf den Kessel des Grazer Beckens und fuhr hinaus in die offene Landschaft.
Er genoss die Fahrt, denn die Hitze hatte nachgelassen. Vor einer Stunde hatte noch die Sonne geschienen, aber nun waren graue Wolken aufgezogen, und Wind rüttelte an seinem Dienstwagen. Es sah aus, als kündigte sich ein Gewitter an. Diesen Sommer hatten sie noch keines gehabt.
In Sichtweite des Hofs hielt er das Auto an. Aus der Ferne sah alles friedlich aus, trotz der Brandspuren am Wohnhaus. Wolf ließ den Blick schweifen. In der Nachbarschaft des Hofs sah er einen Gewerbebetrieb – womöglich eine Autowerkstatt oder eine Spenglerei – sowie einen zweiten Bauernhof. Er beschloss, Letzterem einen Besuch abzustatten.
Es dauerte ein wenig, bis er die richtige Abzweigung fand. Er fuhr einen überraschend schmalen Schotterweg entlang, der zwischen einer irgendwie beliebigen Ansammlung von Gebäuden endete.
Wolf stieg aus, und böiger Wind empfing ihn. Es roch unangenehm nach Vieh – Wolf tippte auf Kühe. Er erkannte, dass der überlange, funktionale Bau vor ihm der Stall war. Etwa fünfzig Meter daneben stand ein Wohnhaus von ähnlicher Größe wie das der Eggers. Das Haus gefiel ihm nicht, doch er konnte nicht sofort feststellen, woran das lag. Eggers Haus hatte freundlicher ausgesehen, selbst nach dem Brand. Lag es nur an dem Blumenschmuck für die Hochzeit?
Nach einer Weile verstand Wolf, dass es keinen Vorgarten gab. Das Haus stand einfach so da, ohne Abgrenzung zur Umgebung. Außerdem lag der Eingang auf der falschen Seite – nicht zum Schotterplatz hin gewandt, auf dem er stand, sondern auf die Seite des Stalls. Auf der gegenüberliegenden Seite war eine Einfahrt, die in die Erde gegraben war und in den Keller führte. Offenbar war dort unten eine Garage, doch es gab keine Fahrspuren, sie wurde offensichtlich nicht benutzt. Dasselbe galt für den Balkon im ersten Stock, auf dem verrostete Haken hingen, die für Blumenkisten gedacht waren. Das Haus wirkte nicht wie das Eigenheim, von dem eine junge Familie träumt.
In der Ferne donnerte es. Wolf ging auf das Haus zu, fand einen Klingelknopf und drückte ihn. Drinnen hörte er eine Glocke schrillen. Wolf wartete, doch nichts passierte. Er klingelte erneut.
Die sind wirklich in der Kirche, dachte er.
Wolf suchte den Postkasten und fand ihn direkt neben der Tür. Er machte mit seinem Mobiltelefon ein Foto vom Namensschild, wandte sich ab und ging zurück zum Auto, während er im Gesicht Regentropfen spürte.
Als er sich noch einmal umdrehte, sah er, wie sich im oberen Stockwerk ein weißer Vorhang bewegte.
Als Swoboda nach Hause kam, war er wütend. Auf dem Weg zur Wohnung hatte ihn der Regen erwischt. Er warf die Tür ins Schloss und ging, ohne die nassen Schuhe auszuziehen, ins Wohnzimmer, wo er im Schrank noch eine Packung Memphis hatte. Er zündete sich an Ort und Stelle eine an und inhalierte den Rauch des abscheulich alten Tabaks tief, während Wasser aus seinen Haaren tropfte. Wind rüttelte am Fenster, doch der Regen schien schon wieder nachzulassen.
Dass er sich das bieten lassen musste, von diesem Jungspund. Nach allem, was er geleistet hatte. Wann war es selbstverständlich geworden, dass sie wochenends arbeiteten? Nicht einmal als Beamter konnte man noch menschenwürdig arbeiten. Geregelt, mit Ruhezeiten, die diesen Namen verdienten.