Ghostbound 3: Spellbound - C. M. Singer - E-Book

Ghostbound 3: Spellbound E-Book

C. M. Singer

4,9

Beschreibung

Glaubst du an ein Happy End? In Elizabeths und Daniels Leben könnte es nach den schicksalhaften Geschehnissen auf Camley Hall nicht besser laufen und die Zukunft strahlt ihnen in leuchtenden Farben entgegen. Doch dann bricht eine Reihe kleinerer und größerer Katastrophen über sie herein. Als Daniels Grab grausam geschändet wird, überschlagen sich die Ereignisse und Elizabeth und ihre Freunde müssen sich fragen, ob sie es wirklich nur mit einer Pechsträhne zu tun haben, oder ob jemand mit ihnen noch eine offene Rechnung zu begleichen hat. Der abschließende Band 3 der fantastischen Ghostbound-Trilogie!

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Inhaltsverzeichnis
Spellbound
Vita

C. M. Singer

spellbound

Band 3 der Ghostbound-Trilogie

© 2015 Amrûn Verlag Jürgen Eglseer, Traunstein

Mehr über C. M. Singer finden Sie unterwww.cmsinger.de

Covergestaltung: Magdalena Braun Lektorat: Romana Grimm & Tamara Fehn

Korrektorat: Kora Kutschbach

Alle Rechte vorbehalten

ISBN – 978-3-944729-56-5

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Für alle treuen Leser und Wegbegleiter, die geduldig auf diesen Band gewartet haben.

1

Wehe, es war nicht wichtig! Elizabeth Parker zog die Schultern hoch und schlang die Arme um die Brust, um sich gegen den grässlichen Wind und die Kälte zu wappnen. Sie an einem Tag wie diesem von einer Minute zur nächsten nach Kew zu bestellen, war wirklich mutig von ihrem Verlobten. Oder einfach nur dumm. Das würde sie entscheiden, wenn sie endlich wusste, warum sie alles stehen und liegen gelassen hatte, um mit einem Taxi zu der genannten Adresse im Londoner Außenbezirk zu kommen.

Sie sah zu dem freistehenden Haus auf, vor dem der Taxifahrer sie eben abgesetzt hatte. Es war ein hübsches Stadthaus im viktorianischen Stil, dessen weiße Fassade mit dem frisch gefallenen Schnee um die Wette strahlte. Die gesamte, leicht abschüssige Straße war gesäumt mit gepflegten alten Häusern und knorrigen Kastanienbäumen.

An einem anderen Tag hätte Elizabeth jedes Detail gewürdigt und in sich aufgenommen, denn sie liebte Gebäude aus dieser Epoche. Doch nicht heute. An diesem Nachmittag wollte sie so schnell wie möglich hinter sich bringen, weswegen auch immer sie hier war, und zu den Aufgaben zurückkehren, die auf sie warteten.

Immerhin waren sie erst vor wenigen Tagen aus ihrem achtwöchigen Urlaub zurückgekehrt. Neben einem üblen Jetlag plagte sie auch die Sehnsucht nach der warmen Sonne Mexikos, der letzten Station ihrer Reise, welche sie zuvor nach Italien und Kalifornien geführt hatte. Die Koffer waren noch immer nicht vollständig ausgepackt und Wäsche türmte sich auf jedem freien Fleck ihrer kleinen Wohnung. Und warum um alles in der Welt hatten sie ausgerechnet heute Abend ihre zwei besten Freunde zu einem Weihnachtsessen eingeladen? Auch ohne Jetlag eilte Elizabeth nicht gerade der Ruf einer Küchenfee voraus.

Der Sargnagel für ihre Laune war jedoch das ernüchternde Meeting am Vormittag gewesen: Eine angesehene Londoner Zeitung hatte ihr zunächst eine regelmäßige Zusammenarbeit in Aussicht gestellt, doch nun konnte – oder wollte – man ihr plötzlich keine festen Zusagen mehr machen. Und das, obwohl der Zeitung im vergangen Herbst dank Elizabeths Insiderartikeln über den Thuggee-Kult wochenlang top Auflagen beschert gewesen waren! Man hatte sie mit einem lapidaren: »Bei Bedarf melden wir uns bei Ihnen«, abgespeist, frohe Weihnachten gewünscht und anschließend zur Tür gebracht wie einen lästigen Staubsaugerverkäufer!

Elizabeth versuchte, den noch immer schwelenden Ärger abzuschütteln, schloss kurz die Augen und atmete tief durch. Sie fühlte sich zurückgeworfen in einen harten und erbarmungslosen Alltag. Das brachte es auf den Punkt. Gott, vor fünf Tagen hatte sie noch warme Sonnenstrahlen auf ihrer Haut und feinen Sandstrand unter ihren Füßen gespürt. Sie hatten sich treiben lassen und nur getan, wonach ihnen der Sinn stand. Hätte es nicht ewig so weitergehen können?

Seufzend öffnete sie die Augen, gab sich einen Ruck und trat durch das hüfthohe Gartentor aus schwarzem Schmiedeeisen. Ein gepflasterter Weg führte zu der mit Bleiglas verzierten Haustür. Was um alles in der Welt konnte es hier nur so Wichtiges geben?

Daniel hatte am Telefon nichts verlauten lassen, ja, er hatte regelrecht geheimnisvoll geklungen. Und aufgeregt. Er hatte nur gemeint, sie solle schnellstmöglich zu dieser Adresse kommen und ihn dort treffen.

Und wie kam er überhaupt hierher? Hatte er nicht einen Bank­termin in der City gehabt? Anschließend wollte er noch einiges für das Dinner besorgen, aber Kew lag nun wirklich nicht auf dem Weg.

Sie klingelte, woraufhin eine melodische Glocke ertönte. Noch während sie ihre widerspenstigen dunklen Locken aus dem Gesicht strich, um sich ein wenig repräsentativer zu machen, wurde die Tür von einem älteren Herren mit geröteten Wangen geöffnet. Er trug einen Nadelstreifenanzug und hatte sich seinen Mantel über den Arm gelegt. Es sah aus, als wollte er gerade gehen.

»Ah, Sie müssen Miss Parker sein«, begrüßte er sie mit sonorer Stimme und streckte ihr die freie Hand entgegen. »Mansfield. Nigel Mansfield, zu Ihren Diensten. Bitte, treten Sie doch ein«, schob er eilends nach, während er Elizabeths Hand schüttelte.

»Freut mich, Sie kennenzulernen, Mr Mansfield«, entgegnete Elizabeth mit kaum verhohlener Verwunderung. Sie kam seiner Aufforderung nach und wollte eben nach Daniel fragen, als dieser polternd die Treppe herunterkam.

»Liz!«, rief er aufgekratzt. »Da bist du ja endlich!« Die letzten drei Stufen nahm er mit einem Satz. Er landete direkt neben ihr und strahlte sie an.

Beim Anblick ihres Prinzen verflog etwas von Elizabeths schlechter Laune, und ihr Herz vollführte einen kleinen freudigen Salto. Diese Wirkung hatte er immer auf sie.

Daniel trug einen engen schwarzen Pulli mit V-Ausschnitt, unter dem ein Teil seines silbernen Sonnenamuletts hervorblitzte, sowie eine ausgewaschene, locker auf den Hüften sitzende Jeans. Seine leicht gewellten, honigblonden Haare fielen ihm in die Stirn und über die Ohren, was Elizabeth sehr mochte, denn Daniel hatte sein Haar auch früher, in seiner alten Gestalt, auf diese ungezähmte Art getragen. Ihr gefielen auch die langen Koteletten und der Dreitagebart, da sie seine kantigen, aber doch jungenhaften Züge etwas älter und rauer erscheinen ließen. Aber am meisten liebte sie die klaren grünen Augen, die dank seiner Urlaubsbräune noch mehr leuchteten als sonst. Sie waren die einzige Verbindung zu Daniels ursprünglichem Gesicht und ein Spiegel seiner strahlenden Seele.

Kaum zu glauben, dass dieser Mann mich heiraten will, dachte Elizabeth zum millionsten Mal. An diesen Gedanken würde sie sich wohl erst gewöhnen, wenn tatsächlich ein Ehering an ihrem Finger steckte.

»Hi«, sagte sie lächelnd, griff nach Daniels Hand und reckte sich ihm für einen kleinen Begrüßungskuss entgegen. Sobald sich ihre Lippen trafen, schmolz ein weiterer Klumpen Anspannung dahin, und sie fühlte sich deutlich ruhiger. Dennoch fragte sie: »Was gibt es denn so Dringendes, das nicht warten kann?«

Anstatt ihr zu antworten, wandte sich Daniel an den Mann, der mit geduldiger Miene und gefalteten Händen an der Tür wartete. »Mr Mansfield, ich will Sie nicht länger aufhalten. Vielen Dank für Ihre Bemühungen und Ihr Entgegenkommen.«

»Es war mir ein Vergnügen, Mr Morgan. Sie haben meine Karte, rufen Sie mich an, wenn Sie etwas brauchen.« Er nickte Elizabeth mit einem verschmitzten Zwinkern zu und ließ sie mit Daniel allein.

Sobald sich die Tür hinter Mr Mansfield geschlossen hatte, legte Daniel die Arme um Elizabeth und zog sie in eine stürmische Umarmung, die ihr einen Moment lang den Atem raubte.

»Danny«, lachte sie, »nun mach es doch nicht so spannend.«

»Komm mit«, war alles, was er entgegnete. Er nahm sie bei der Hand und führte sie mit federnden Schritten in den rückwärtig gelegenen Teil des Hauses. »Was sagst du?«, fragte er, als sie in einem großzügig geschnittenen Raum mit frisch abgezogenem Holzboden, deckenhohen Fenstern und einem offenen Kamin standen.

»Wozu?« Der Raum war vollkommen leer.

»Na, hierzu.« Daniel machte eine alles umfassende Geste.

»Äh … hübsch?« Ungeduld schlich sich zurück in ihre Stimme. Konnte Daniel nicht endlich zum Punkt kommen?

Er bedachte sie mit einem merkwürdigen Blick, als überraschte ihn ihre Reaktion, dann zog er sie ums Eck, wo eine Theke den Wohnraum von einer modernen Küche mit hellen Fronten und Granit­arbeitsflächen trennte. »Das ist alles komplett neu«, informierte er sie. »Das ganze Haus wurde erst kürzlich renoviert. Und hast du den Garten gesehen, als du gekommen bist? Er erstreckt sich bis hinunter zum Themseufer.«

»Ja, aber …«, setzte Elizabeth an, doch Daniel schleppte sie bereits weiter. Er zog sie hinter sich her die Treppe hinauf, die durch ein buntes Jugendstilfenster an der Stirnseite in warme Sommertöne getaucht wurde, und dann weiter den Gang entlang, bis zu einem halbrunden Erkerzimmer, das sogar an einem grauen Winternachmittag wie diesem lichtdurchflutet war.

»Ist das nicht perfekt?«, wollte Daniel wissen. Seine Stimme vibrierte schier vor Begeisterung.

Elizabeth stand kurz davor, die Geduld mit ihm zu verlieren. »Perfekt wofür, Danny?«, fragte sie eine Spur gereizter.

»Na, als Arbeitszimmer für dich.« Er ließ ihre Hand los und machte zwei weit ausgreifende Schritte auf die Fensterfront zu. »Hier könnte dein Schreibtisch stehen, mit Blick ins Grüne. Und dort«, er zeigte auf die Wand zur Rechten, »dort könntest du deine Bücherregale unterbringen.«

Endlich verstand Elizabeth, was vor sich ging. Vor Verblüffung klappte ihr Kiefer nach unten. »Wa- ...«

»Komm mit, ich zeige dir das Schlafzimmer. Es nimmt die gesamte oberste Etage ein und hat einen offenen Dachstuhl. Und ich bin gespannt, was du zum Badezimmer sagst.« Wieder zerrte er an ihrer Hand, doch Elizabeth stemmte sich vehement dagegen. Sie hatte nicht vor, sich noch irgendetwas in diesem Haus anzusehen.

»Du zitierst mich hierher, um mit mir eine Hausbesichtigung zu machen?« Sie sprach mit zusammengebissenen Zähnen. Ihre Stimme ähnelte gefährlich einem Knurren. »Zwei Tage vor Weihnachten? Ich wusste ja noch nicht mal, dass wir ein Haus suchen!«

Daniels Enthusiasmus war nicht zu bremsen. Elizabeths Stimmungsumschwung entging ihm dabei völlig. Mit einem Schulterzucken meinte er: »Wir können doch nicht ewig in dem winzigen Apartment in Southwark wohnen. Und als ich dieses Haus sah, wusste ich sofort, dass es dir gefallen wird. Dass es genau das Richtige für uns ist.« Er deutete nach unten. »Im Keller gibt es sogar einen ausgebauten Hobbyraum, den ich schalldicht verkleiden und als Musikzimmer nutzen kann.« Er trat auf sie zu und schloss sie in die Arme. »Willkommen zuhause, Baby.«

Elizabeth dämmerte es. »Moment!« Brüsk schob sie ihn von sich. »Du willst mir doch nicht etwa sagen, dass du das Haus bereits gekauft hast, oder?«

»Doch«, grinste Daniel. »Mr Mansfield eben war der Makler. Wir haben alles in trockene Tücher gebracht, bevor du kamst. Es fehlt nur noch die Unterschrift des Notars. Ich bin Mr Mansfield heute Vormittag zufällig in der Bank begegnet. Er ließ seine Mappe mit Exposés fallen, und das für dieses Haus segelte mir praktisch vor die Füße. Als ich die Fotos sah, hat es mich sofort angesprochen, und ich musste es mir einfach ansehen.« Sein Grinsen wurde noch breiter. »Und sobald ich hier war, hatte ich ein beinahe … vertrautes Gefühl. Es war schon fast unheimlich. Ich wusste, dass es perfekt für uns ist. Alt, aber modern ausgestattet. In der Stadt, aber im Grünen. Und es ist sofort beziehbar. So, als ob es auf uns gewartet hätte. Das muss Schicksal sein!«

Elizabeth spürte, wie ihr Blut zu brodeln begann. Zornesröte stieg ihr ins Gesicht. »Du … du …«, stotterte sie. Erst zwei Sekunden später brachte sie einen vollständigen Satz heraus. »Du hast tatsächlich ein Haus für uns gekauft, ohne vorher mit mir darüber zu sprechen? Ohne es mir vorher zu zeigen?«

Das schien seinem Enthusiasmus nun doch einen kleinen Dämpfer verpasst zu haben, denn er blinzelte sie verblüfft an. »Ich dachte, es wäre eine schöne Überraschung.«

»Eine spontane Einladung zu einem romantischen Abendessen ist eine schöne Überraschung«, konterte Elizabeth. »Oder ein Strauß roter Rosen oder Theaterkarten. Aber ein Haus? Das ist ja wohl doch etwas über das Ziel hinausgeschossen, oder Danny?«

Als hätte jemand einen Lichtschalter umgelegt, erlosch auch die letzte Begeisterung in Daniels Augen und machte einem verletzten Ausdruck Platz. Doch Elizabeth war so in Fahrt, dass sie das kaum registrierte. »Wie kommst du darauf, du könntest eine so wichtige Entscheidung alleine treffen? Okay, es ist dein Geld, aber bedeutet das, dass ich deshalb kein Mitspracherecht habe?«

»Natürlich nicht«, erwiderte Daniel, in dessen Stimme sich nun ebenfalls Zorn geschlichen hatte. »Und du weißt ganz genau, dass es unser Geld ist.«

Das wusste Elizabeth in der Tat. Das Geld, der Rest von Sir Thomas Hamiltons Erbe, hatte Daniel von Anfang an als Basis für ihr gemeinsames Leben betrachtet. Doch auch dieses Wissen stoppte nicht den zerstörerischen Tornado, in den sie sich verwandelt hatte. »Triffst du ab jetzt etwa alle Entscheidungen für mich mit? Ist es das, was du unter einer Beziehung, unter einer Partnerschaft verstehst? Denn wenn ...«

»Herrgott noch mal, Liz, beruhige dich!«, fuhr Daniel dazwischen. Seine erhobene Stimme hallte von den Wänden des leeren Raumes wider. »Ich wollte dir eine Freude machen, das ist alles. Und du tust so, als ob ich ...« Er unterbrach sich, da sein Handy klingelte. Unterdrückt fluchend holte er es aus der Jeanstasche. Nach einem Blick auf das Display nahm er den Anruf entgegen. »Hi, Tony … Nein, du störst nicht«, brummte er, bevor er sich von Elizabeth wegdrehte und Anthony Wood – seinem besten Freund und ehemaligen Partner bei der London Metropolitan Police – eine Weile stumm zuhörte. »Klar, kann ich machen«, sagte er, nachdem Wood geendet hatte. »Ja, ich weiß, wo das ist. Und wann? ... Okay, ich treffe dich dort. Bis gleich.« Er steckte das Handy zurück in die Hosentasche. »Tony hat mich gebeten, ihm bei der Befragung einer Jugendbande zu helfen«, informierte er Eliza­beth mit matter Stimme, aus der jede Emotion verschwunden war. »Eine belanglose Routinesache, aber er meinte, mit meinem Draht zu Teenagern könnte ich hilfreich sein. Du kannst dich hier ja noch etwas umsehen, und dir dein Urteil bilden. Wenn du gehst, sperr ab. Die Schlüssel und die Unterlagen liegen auf dem Küchentresen. Wir reden nachher weiter … bei dir.« Damit wandte er sich um, hauchte, ohne ihr in die Augen zu sehen, einen flüchtigen Kuss auf ihre Stirn und eilte dann hinaus auf den Gang und die Treppe hinunter. Sekunden später hörte Elizabeth, wie die Haustür mit einem Knall ins Schloss fiel.

Eigentlich hatte sie ihm an den Kopf werfen wollen, wie typisch es für ihn war, sich einfach aus dem Staub zu machen, sobald eine Diskussion unangenehm wurde, und dass er nur deshalb einen so guten Draht zu Teenagern besaß, weil er selbst alles andere als erwachsen war. Doch angesichts seines letzten Satzes und der Art, wie er sich verabschiedet hatte, war ihr jedes Wort im Hals stecken geblieben. Wie ein bedröppelter Hund stand sie im leeren Zimmer und starrte die Tür an, durch die er eben verschwunden war.

Wir reden nachher weiter … bei dir. Nicht daheim oder bei uns. Bei ihr. Und der gehauchte Kuss auf ihre Stirn, ausgerechnet von ihm, der sonst dazu neigte, sich mit so überschwänglichen Küssen zu verabschieden, als sähen sie sich für Wochen nicht mehr. Und nicht zuletzt dieser enttäuschte, dieser verletzte Ausdruck in seinem Gesicht. Gott, sie hatte ihn nicht einfach nur vor den Kopf gestoßen, sie hatte ihm gleich einen ganzen Prügel übergezogen.

Auf einmal fühlte sie sich unglaublich müde. Langsam, als zögen Bleigewichte an ihren Füßen, setzte sie sich in Bewegung. Sie wollte nur nach Hause, in ihr Apartment, das Daniel allem Anschein nach plötzlich zu eng geworden war, sich auf der Couch einrollen und warten, bis er zurückkam.

Doch stattdessen sah sie sich das Haus an. Sie stieg die Treppe hinauf ins Obergeschoss und blickte sich um. Das Zimmer verfügte über hohe Wände, Dachschrägen, einen hellen Holzboden sowie einen offenen Kamin und wirkte durch die zahlreichen Fenster und teilweise freigelegten Dachbalken noch großzügiger und luftiger. Kein Wunder, dass Daniel so begeistert gewesen war. Aber hatte er das Haus deshalb gleich kaufen müssen? Nicht auszudenken, was ein Stadthaus wie dieses in einer solchen Lage kostete!

Neuer Ärger brandete in ihr auf. Begeisterung hin oder her, aber wie hatte er diese Entscheidung ohne sie treffen können? Wieso kam er überhaupt darauf, dass sie so leben wollte? Glaubte er etwa, sie erwartete Luxus? Er hatte immer davon gesprochen, dass ihnen Hamiltons Geld ein gutes Leben sichern sollte, aber das hier?

Ja, das Haus war beeindruckend, nein, es war mehr als das. Es war atemberaubend! Aber es passte nicht zu ihnen. Es war zu groß und zu teuer. Dieses grandiose Haus – das waren nicht sie. Das brauchten sie nicht. Nun, zumindest nicht Elizabeth, denn plötzlich war sie sich nicht mehr sicher, was Daniels Vorstellung von einem guten Leben war. Dachte er dabei etwa an sowas hier?

Während ihrer Reise war er nicht erpicht darauf gewesen, in den teuersten Hotels abzusteigen. Im Gegenteil, er hatte jede liebevoll geführte Pension einem Luxushotel vorgezogen. Hatten sich seine Ansprüche plötzlich geändert?

Elizabeth verließ das Obergeschoss und stieg die mit flauschigem Teppich ausgelegte Treppe hinunter. Eher flüchtig warf sie einen Blick in eines der drei Zimmer im ersten Stock. Was sollten sie denn bitte aus all diesen Räumen machen? Gästezimmer? Weitere Arbeits- oder Hobbyzimmer? Oder gar Kinderzimmer?

Schlagartig sackte Elizabeths Magen ein Stück nach unten. War es das? Wollte Daniel ein Heim für eine … eine Familie? Sie wusste ja, dass Daniel ein Familienmensch war, und grundsätzlich stand diesem Thema dank seines neuen Körpers auch nichts mehr im Weg. Aber Himmel, sie waren doch erst seit ein paar Monaten zusammen und hatten bisher noch nie ernsthaft über Kinder gesprochen!

Zum allerersten Mal schlich sich die Frage in Elizabeths Bewusstsein, ob sie es mit der Verlobung vielleicht nicht doch überstürzt hatten. Und dieser zuvor nie gekannte Zweifel brannte wie Essigsäure in ihren Adern.

2

»Na endlich habt ihr mal einen richtigen Streit. Das wurde auch Zeit. Ich habe mir ja schon Sorgen gemacht! So viel Eintracht kann auf Dauer nicht gesund sein.«

Elizabeth musste schmunzeln. Ihre Freundin hatte eine so trockene und pragmatische Art, die Dinge zu sehen, dass es eine wahre Freude war. Genau deshalb hatte sie Vivian auch angerufen und ihrem Ärger Luft gemacht, selbst wenn sie nicht alle Details mit ihrer Freundin teilen konnte.

Für Vivian, wie auch für den Rest der Welt, hieß ihr Verlobter David Morgan, handelte mit raren Oldtimern, und war Elizabeth im Zuge ihrer Nachforschungen zum Mord an Detective Sergeant Daniel Mason begegnet. Nur eine Handvoll Menschen wussten, dass der im Alter von vierunddreißig Jahren ermordete Daniel Mason und der siebenundzwanzigjährige David Morgan ein und dieselbe Person waren. Zumindest im Kern.

»Du wirst sehen«, fuhr Vivian fort, »ein kleines Gewitter tut hin und wieder richtig gut. Und dann erst der Versöhnungssex.« Sie schnurrte ins Telefon.

Jetzt lachte Elizabeth sogar laut auf. »Wir hatten schon den einen oder anderen Streit, glaub mir!« Das Telefon war auf Lautsprecher gestellt und lag vor ihr auf der Arbeitsplatte, während sie das Gemüse für die Beilage kleinschnitt. Mit dem Kochen hatte sie begonnen, nachdem sie die Wohnung einigermaßen vorzeigbar gemacht hatte. Nun lagen wenigstens keine Kleiderstapel mehr herum, das Bügelbrett war weggeräumt und das Bad geputzt. Das Rinderfilet schmorte bereits seit fünfzehn Minuten im Ofen und sogar ihre Weihnachtsdekoration hatte sie aus dem Keller geholt. Sobald sie mit den Vorbereitungen für das Essen fertig war, wollte sie der Wohnung noch ein wenig festlichen Glanz verleihen.

Beckett hatte sich auf einem Küchenstuhl zu einer schwarzen Kugel zusammengerollt und schenkte ihrem Treiben keinerlei Beachtung. Offiziell gehörte der Kater ihr zwar nicht, aber er war ein regelmäßiger Gast, und seit ihrer Rückkehr schien er besonders anhänglich geworden zu sein.

»Aber apropos Gewitter«, wechselte Elizabeth das Thema. »Wie läuft es mit Ethan?« Die Beziehung ihrer Freundin war ein ständiges Auf und Ab und bei den Geschichten, die sie über Ethan erzählte, fragte sich Elizabeth regelmäßig, warum Vivian nicht schon längst einen Schlussstrich gezogen hatte.

»Im Moment ist er kaum zu ertragen. Der Job stresst ihn, aber ich bringe ihn nicht dazu, sich etwas Neues zu suchen. Und Weihnachten hasst er ja wie der Teufel das Weihwasser. Er ist ein richtiger Stimmungstöter.«

Während Elizabeth weiter mit ihrer Freundin plauderte, warf sie immer wieder nervöse Blicke auf die Uhr über der Spüle. Wenn Daniel nicht bald auftauchte, würden sie keine Gelegenheit mehr haben, über das Haus zu sprechen, bevor Wood und dessen Freundin Susan eintrafen. Aber vermutlich war genau das sein Plan und er war der Meinung, wenn er gemeinsam mit den beiden heimkäme, könnte er damit der anstehenden Diskussion aus dem Weg gehen.

Aber nicht mit mir, Freundchen, dachte Elizabeth ärgerlich. So kannst du die Unterhaltung vielleicht hinauszögern, aber ganz sicher nicht umgehen. Und zu der sowieso schon langen Liste an Diskussionspunkten gesellte sich dank dieser Taktik nur ein weiterer hinzu. Nämlich der, dass er sie entgegen seines Versprechens mit den Dinnervorbereitungen alleine gelassen hatte. Tja, wenn Daniel nicht wie vereinbart die Mince Pies besorgte, gab es eben keinen Nachtisch.

»Habt ihr eigentlich Pläne für Silvester?«, fragte Vivian gerade, als Elizabeth das Anklopfen eines zweiten Anrufs in der Leitung hörte. »Ethan und ich gehen zu einer privaten Party am Berkley Square. Vielleicht habt ihr zwei ja auch Lust. Es ist eine Mottoparty über Die Wilden 20er. Ihr könntet auch noch Freunde mitbringen, wenn ihr wollt. Je mehr, desto lustiger. Die Gastgeber sind Ethans Boss und seine Frau. Die können sich das leisten. Und sie meinten, wir könnten so viele Leute anschleppen, wie wir wollen.«

»Das klingt super, danke für die Einladung, Viv«, erwiderte Elizabeth. »Ich werde das klären. Hör mal, eben kommt ein anderer Anruf rein, wahrscheinlich ist das meine bessere Hälfte. Ich melde mich morgen bei dir.« Nach einer hastigen Verabschiedung nahm sie den zweiten Anruf entgegen, doch es war nicht Daniel. »Tony, sag mir jetzt bitte nicht, dass ihr euch verspätet. Der Braten ist schon im Ofen!«

»Elizabeth …« Woods Stimme klang heiser und verlor sich, als wüsste er plötzlich nicht mehr, was er hatte sagen wollen. Im Hintergrund war hektisches Gemurmel zu hören.

Verdutzt hielt Elizabeth in ihrer Schneidearbeit inne und legte das Messer beiseite. Hatte Daniel seinem Freund etwa von seiner missglückten Überraschung erzählt und ihn vorgeschickt, um sie zur Vernunft zu bringen?

»Was ist los?«, fragte sie argwöhnisch.

»Elizabeth«, begann Wood erneut. Sie konnte hören, wie er tief Luft holte. »Es ist etwas passiert  …«

Elizabeth spürte ein Kribbeln in den Fingern. Sie nahm das Telefon von der Arbeitsfläche und hob es ans Ohr. Eine vage Vorahnung beschlich sie, die sie nicht in Worte fassen konnte.

Woods sonst so beherrschte Stimme bebte, als er endlich fortfuhr: »Danny  … Er ist niedergeschossen worden.«

Elizabeth stieß ein Keuchen aus. Das Blut sackte aus ihrem Kopf, und ihre Hände begannen zu zittern.

»Einer der Jungs hatte plötzlich eine Pistole in der Hand.« Er klang, als könnte er noch immer nicht begreifen, was geschehen war. »Es hätte jeden treffen können. Jeden. Er hat einfach um sich geschossen … völlig irre … wahllos, auf alles, was sich bewegte ...«

»Und Danny?«, brachte Elizabeth mühevoll hervor. Die aufsteigende Panik schnürte ihr die Kehle zu. »Wie geht es ihm? Wo ist er jetzt?«

In Woods Schweigen mischte sich der schrille Klang eines Martinshorns. Dann hörte sie sein raues Flüstern, das kaum gegen den Lärm in Hintergrund ankam. »Wir sind auf dem Weg ins St. Mary´s Hospital. Und Elizabeth … es sieht nicht gut aus. Du solltest dich beeilen.«

Wie in Trance beendete sie den Anruf, legte aber das Telefon nicht weg. Ins Leere starrend und leicht schwankend stand sie in der Küche. Ihre Knie drohten nachzugeben. Mit der freien Hand hielt sie sich an der Kante der Arbeitsfläche fest, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Nein, war alles, was sie dachte. Nein, nein, nein!

Endlich löste sie sich aus ihrer Schockstarre. Mit dem Gefühl, nicht genügend Luft zu bekommen, eilte sie in den Flur, wo sie in ihre Stiefel stieg und nach ihrem Mantel und der Handtasche griff. Sobald die Wohnungstür hinter ihr ins Schloss fiel, stürmten tausend Gedanken auf einmal ihr überlastetes Gehirn. Niedergeschossen, war der lauteste dieser Gedanken, während sie die Treppen hinunter hastete und umständlich ihren Mantel überzog. Das bedeutete, Daniel war verletzt, aber am Leben. Doch so, wie Wood geklungen hatte, bestand kein Zweifel daran, wie ernst es um Daniel stand.

Lieber Gott, er darf nicht sterben, flehte sie innerlich. Nicht schon wieder. Sie konnte das unmöglich ein weiteres Mal durchstehen.

Sie rannte den schmalen Weg zur nächsten Hauptstraße entlang und hielt wild winkend ein Taxi an. Völlig außer Atem nannte sie dem Fahrer ihr Ziel, dann kletterte sie auf den Rücksitz.

Die Fahrt war die reinste Folter. Es herrschte Feierabendverkehr und hatte geschneit, was in London wie gewöhnlich ein Verkehrschaos zur Folge hatte und Elizabeth eine Menge Zeit mit ihren quälenden Gedanken bescherte. Fröstelnd verschränkte sie die Arme vor der Brust und drückte sich in die Ecke der Rückbank. Die Seitenscheiben des Taxis waren beschlagen, doch sie machte sich nicht die Mühe, sie freizuwischen. Die Absätze ihrer Stiefel klackten ein wildes Stakkato auf den schneenassen Wagenboden. Am Rande registrierte sie die besorgten Blicke des Taxifahrers im Rückspiegel. Möglich, dass er gefragt hatte: »Miss, geht es Ihnen gut?«, doch sie schloss fest die Augen und murmelte wie ein Mantra vor sich hin: »Er wird nicht sterben! Er wird nicht sterben!«

Aber was, wenn doch? Ihre Lider flogen auf. Was, wenn der Tod sich den einen wiederholte, der ihm entkommen war? Wood hatte gesagt, die Kugeln hätten jeden treffen können … aber getroffen hatten sie nur Daniel. Als wären sie von einer unsichtbaren Macht zu ihrem Ziel gelenkt worden ...

Sie spann den Faden weiter. Wenn er tatsächlich starb, wie würde er dann in seiner körperlosen Gestalt aussehen? Wie damals, als sie ihn kennengelernt hatte? Groß, breitschultrig, mit dunklen Haaren und vielen kleinen Lachfältchen um die Augen? Oder so wie heute, in der letzten Sekunde, bevor ihn die Kugel getroffen hatte?

Würde es ihr überhaupt möglich sein, ihn zu sehen? Sie konnte nur beten, dass die Verbindung zwischen ihnen, die damals dank des magischen Sonnenamuletts zustande gekommen war, noch immer bestand.

Eine eisige Faust schloss sich um Elizabeths Herz. Aber was, wenn er gar nicht in dieser Welt bleiben wollte? Vielleicht zog er es ja diesmal vor, hinüberzuwechseln. Immerhin hatte sie ihn heute Nachmittag enttäuscht … nein, sie hatte ihn verletzt! Was, wenn er entschied, dass sie es nicht wert war, in der diesseitigen Welt auf unbestimmte Zeit festzusitzen?

Ein verzweifeltes Schluchzen stieg in ihr empor. Warum hatte sie auch dermaßen überreagiert? Er war doch nur er selbst gewesen. Ein übermütiger, impulsiver Enthusiast. Ein Kindskopf mit keinem Verhältnis zu Geld, der ihr eine Freude machen wollte und dabei etwas über das Ziel hinausgeschossen war. Er war einfach nur ihr Daniel gewesen, ihr ganz persönliches Wunder, und sie hatte reagiert wie eine schlecht gelaunte Gewitterhexe!

Die Eishand um ihr Herz drückte noch fester zu, als sie erkannte, dass es allein ihre Schuld war. Wenn sie ihn mit ihrer ablehnenden Reaktion nicht so enttäuscht hätte, wäre es ihm sicherlich wichtiger gewesen, ihr weiterhin das Haus zu zeigen und Pläne zu schmieden, anstatt Wood bei einer unwichtigen Befragung zu unterstützen. Wäre sie nur ein wenig mehr auf ihn eingegangen, wäre er nicht zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen.

Das Taxi schleppte sich Meter um Meter durch den stockenden Verkehr und Elizabeth hatte das Gefühl, bald den Verstand zu verlieren. Ihre Kiefer pressten so fest aufeinander, dass sie schmerzten. Sie würde sich nie verzeihen, wenn sie zu spät ankam.

Endlich bogen sie in die Zufahrt zum St. Mary´s Hospital ein, einem unpersönlichen, in den Siebzigern erbauten Betonklotz. Das Taxi durfte nicht bis zum Eingangsbereich vorfahren, da dieser den Ambulanzen vorbehalten war, und musste einige hundert Meter entfernt am Besucherparkplatz halten. Elizabeth wartete nicht, bis der Fahrer ihr den Preis nannte. Sie reichte ihm hastig eine Fünfzigpfundnote und sprang aus dem Wagen. Sie hörte noch ein verdutztes: »Miss, Ihr Wechselgeld«, doch da hetzte sie bereits den spärlich beleuchteten Fußgängerweg entlang Richtung Haupteingang, nicht darauf achtend, dass die glatten Sohlen ihrer Stiefel wiederholt den Halt auf den vereisten Steinplatten verloren und sie gefährlich ins Schlittern geriet.

Als sie jedoch einige Meter vor sich eine vornübergebeugte Gestalt auf einer Bank sitzen sah, kam Elizabeth wankend zum Stehen. Ihre Brust zog sich krampfhaft zusammen. Sie presste beide Hände auf ihren Mund, um ein klägliches Wimmern zurückzuhalten.

Es war Daniel, der da unter einem winterlich kahlen Baum auf der Bank saß, und mit auf den Boden gesenktem Blick auf sie zu warten schien. Bis auf die schwarze Wolljacke sah er genauso aus wie vor wenigen Stunden, als sie ihn das letzte Mal gesehen hatte. Lebend gesehen hatte.

Sie kam zu spät. Die Ärzte hatten sein Leben nicht retten können, daran bestand für sie kein Zweifel. Wenn es anders gewesen wäre, hätte sie ihn in einem Bett im Krankenhaus vorgefunden, an tausend Schläuche angeschlossen und von piependen Geräten umgeben. Doch er saß hier draußen in der Kälte, allein und augenscheinlich unversehrt.

»Gütiger Gott, Danny«, wisperte Elizabeth.

Daniel blickte auf. Zunächst schien er sich darüber zu freuen, sie zu sehen, doch dann breitete sich Bestürzung auf seinen Zügen aus. »Liz!«, rief er. »Oh nein, nicht doch!« Ächzend erhob er sich. Mit steifen Schritten und um den Bauch geschlungenen Armen kam er ihr entgegen.

»Oh Danny«, schluchzte sie, unfähig, sich auch nur einen Millimeter vorwärts zu bewegen. »Das ist einfach nicht fair.«

»Nein, Baby, nein«, sagte Daniel gequält. »Mir geht es gut.« Er hatte sie erreicht und hob die Hände an ihr Gesicht.

Die Berührung war ein Schock. Erwartet hatte sie die hauchzarte, von einem kühlen, elektrisierenden Prickeln begleitete Berührung körperloser Hände. Doch Daniels Finger waren zwar winterlich kalt, aber überaus solide, als sie über ihre tränennassen Wangen streichelten.

»Ich lebe«, versicherte er und legte seine Stirn an ihre. »Hörst du mich? Ich lebe.«

Fassungslos starrte Elizabeth zu ihm auf. »Aber Tony meinte doch …« Zitternd tastete sie nach seiner Brust, hinauf zu seinen Schultern, seinem Hals, über das Gesicht und durch seine Haare. Als wollte sie überprüfen, dass nicht nur seine Finger und seine Stirn, sondern auch der Rest von ihm körperlich waren.

Einen Moment später schluchzte sie erneut auf, diesmal durch und durch erleichtert. »Oh, Gott sei Dank!« Sie schlang die Arme um seinen Oberkörper und drückte sich fest an ihn. Der vertraute Duft nach Sommergewitter stieg ihr in die Nase, ein Zeugnis für Daniels Seelenwanderung. Der sonst kaum wahrnehmbare Geruch war jetzt besonders ausgeprägt.

»Ich schwöre, ich werde Tony umbringen«, knurrte sie, ehe sie ihre Lippen auf Daniels presste und ihn überglücklich küsste. Ihre Finger krallten sich dabei mit aller Kraft in den dicken Wollstoff seiner Jacke.

Daniel erwiderte ihren Kuss nicht weniger überschwänglich, doch dann schob er sie stöhnend von sich. »Sachte, Liz.«

Überrascht sah sie ihm ins Gesicht. Erst jetzt fiel ihr auf, wie blass er war. Dank der Dunkelheit und seiner sonnengebräunten Haut war ihr das bis eben entgangen. Zudem lagen seine Augen in dunklen Schatten und glitzerten fiebrig. Sofort war sie wieder alarmiert. »Wie schwer bist du verletzt?«, verlangte sie zu wissen und suchte seinen Körper nach Blut ab, wobei sie bemerkte, dass er eine Jeans trug, die eindeutig nicht seine war.

Seufzend knöpfte Daniel die Jacke auf. Darunter kam ein blauer Pullover zum Vorschein, der ebenfalls nicht ihm gehörte. Vorsichtig hob er den Saum an und entblößte damit eine Bandage, die einmal komplett um seinen Rumpf gewickelt war. Etwas rechts und in Höhe des Bauchnabels war Blut durch den weißen Stoff gesickert.

Elizabeth schluckte hart und streckte die Finger nach dem Verband aus. »Wie schlimm ist es?«

»Nur ein Kratzer, nicht der Rede wert«, erwiderte Daniel. Rasch zog er den Pulli wieder nach unten.

»Nicht der Rede wert, pfff!«

Der gebrummte Kommentar kam von Wood, der eben zu ihnen trat. »Der Papierkram ist erledigt«, informierte er Daniel, während er sich mit Daumen und Zeigefinger die müden Augen rieb. »Aber sie übernehmen keinerlei Verantwortung, falls dir etwas zustößt.«

»Man wollte dich hierbehalten und du bist dennoch gegangen?«, fragte Elizabeth aufgebracht. Dann erinnerte sie sich an Woods Anruf und richtete drohend einen Finger auf den blonden Polizisten: »Und du! Wie konntest du mich dermaßen in Panik versetzen? Ich wäre fast durchgedreht vor Sorge!«

Woods stahlblaue Augen wanderten fragend zu Daniel, der Elizabeths Hand nahm, mit den Schultern zuckte und meinte: »Sag´s ihr ruhig.«

Wood schnaubte, und Elizabeth fiel auf, wie grau und eingefallen auch er wirkte. Um genau zu sein, sah er sogar noch schlechter aus als Daniel. Sie hatte ihn schon einmal in solch einer Verfassung erlebt, und zwar einen Tag, nachdem sein bester Freund und Partner in einer Seitengasse in Soho erstochen worden war. Gleichzeitig bemerkte sie noch etwas anderes: Dunkle Flecken auf Woods Jeans, die verdächtig nach Blut aussahen. »Was soll Tony mir sagen? Und warum kannst du es mir nicht selbst erzählen, Danny?«

»Weil ich mich an kaum etwas erinnere.«

Wood holte tief Luft. »Also schön.« Er schob die Hände in die Taschen seiner schwarzen Daunenjacke und zog die Schultern hoch. »Ich habe nicht übertrieben, Elizabeth. Als ich dich anrief, war ich mit im Krankenwagen und das Rettungsteam gab Danny kaum noch eine Chance. Ja, sie bezweifelten sogar, dass er den Transport ins Krankenhaus übersteht.«

»Aber …« Verwirrt blickte Elizabeth zu Daniel auf, der mit gerunzelter Stirn auf seine Füße starrte. »Heißt das, die Sanitäter haben sich geirrt?«

»Nein, Elizabeth. Als sie eintrafen, war Danny schon nichtmehr ansprechbar. Und …« Wood musste schlucken. »Und er hatte extrem viel Blut verloren. Noch im Krankenwagen erhielt er eine Bluttransfusion.« Die Erinnerung an das Geschehene schien ihm zuzusetzen, was Elizabeth aus eigener Erfahrung nur zu gut nachvollziehen konnte. Unwillkürlich schmiegte sie sich enger an Daniel.

Wood räusperte sich.

»Und dann …«, sagte er rau, »dann setzte sein Herz aus.«

»Was?«, japste Elizabeth entsetzt. Ihr Blick suchte erneut Daniels, der sie nun ansah, als schämte er sich für all die Sorgen, die er ihr und Wood bereitete.

Aber wie war das möglich? Wie konnte er hier stehen, aus eigener Kraft, wenn er kurz zuvor einen Herzstillstand erlitten hatte und fast verblutet wäre?

Zumindest war ihr nun klar, warum er fremde Kleidung trug. Seine Sachen waren blutdurchtränkt und deshalb nicht mehr zu gebrauchen gewesen. Und bei den dunklen Flecken auf Woods Hose handelte es sich tatsächlich um Blut. Daniels Blut!

»Doch noch bevor sie die Wiederbelebungsmaßnahmen einleiten konnten, geschah etwas Seltsames«, fuhr Wood indes fort und blickte ebenfalls Daniel an. Ungläubiges Staunen lag in seinen Augen. »Ein … ein Beben ging durch seinen Körper.« Er schüttelte den Kopf. »Anders kann ich es nicht beschreiben. Alle Muskeln schienen sich anzuspannen, und er bäumte sich auf. So … so als hätte jemand ein Stromkabel an seine Brust gehalten.«

»Vielleicht hat ein Sanitäter einen Defibrillator benutzt?«, schlug Elizabeth mit schwacher Stimme vor. Sie wollte sich die Details gar nicht vorstellen. Und vor allem wollte sie nicht daran denken, dass sie sich, während das Ganze passiert war, bei Vivian über Daniel ausgelassen hatte.

»Nein«, widersprach Wood ihrem Einwand. »Sie waren noch damit beschäftigt, ihn vorzubereiten.« Ein kleines Lächeln stahl sich auf seine Lippen. »Aber einen Moment später schlägt der Mistkerl auch schon die Augen auf, als wäre nichts gewesen, und will wissen, warum ihn alle so komisch ansehen.«

»Ich schaute in eine Runde sehr überraschter Gesichter«, verteidigte sich Daniel.

Elizabeth starrte ihn sprachlos an. »Du musst sofort zurück ins Krankenhaus, Danny«, sagte sie, als sie ihre Stimme wiedergefunden hatte. »Sie müssen dich unter Beobachtung halten. Du wärst fast gestorben, Himmel noch mal. Was, wenn ...«

»Liz«, unterbrach er sie. »Das geht nicht.«

»Was? Warum nicht?«

»Weil er aus Sicht der Ärzte gar nicht hier stehen dürfte«, antwortete Wood für Daniel. »Rein medizinisch lässt sich das nicht erklären.«

Daniel nickte zustimmend. »Um zu verstehen, wie ich mich so schnell erholen konnte, würden sie eine Laborratte aus mir machen.«

»Oh.« Langsam dämmerte es Elizabeth. »Es hat etwas mit Hamiltons Lebensenergie zu tun, nicht wahr?« Während des Rituals, dem Daniel seinen neuen Körper zu verdanken hatte, war Sir Thomas Hamiltons Lebensenergie zusammen mit dessen Erinnerungen auf Daniel übergegangen.

»Ganz genau«, bestätigte er. »Ich schätze, es war noch etwas überschüssige Lebensenergie in mir. Zusammen mit dem Sonnenamulett hat sie wie ein Rettungsnetz gewirkt und das Gröbste wiederhergestellt.« Eine Hand wanderte hinauf zu seiner Brust, wo sich unter der Jacke und dem Pulli das magische Medaillon verbarg. »Ich kann seine Hitze noch immer spüren.«

»Ja, sowas kann man Ärzten vermutlich nur schwer erklären«, murmelte Elizabeth. Ihr war schwindelig und sie hatte das Gefühl, als stünde ihr Verstand kurz davor, die Segel zu streichen. »Und sie ließen dich einfach so gehen?«

»Ich wurde gar nicht erst offiziell aufgenommen. Ich bin gegangen, bevor mich ein Krankenhausarzt untersucht hat.«

»Dein Glück, dass die Sanitäter viel zu perplex waren, um dich aufzuhalten«, sagte Wood. »Ich glaube, die zweifeln noch eine Weile an ihrem Urteilsvermögen. Deshalb sind sie auch gleich darauf eingegangen, als ich sie vorhin darum gebeten habe, keinen Bericht über ein Schussopfer einzureichen. Vermutlich sind sie froh, dieses Wunder keinem erklären zu müssen.«

Daniel seufzte. »Leute, können wir bitte zuhause weiterreden? Mir ist verdammt kalt und ich bin am Verhungern.«

»Zuhause«, wiederholte Elizabeth lächelnd. »Ja, lasst uns zuhause weiterreden. Aber wir werden uns was bestellen müssen. Das Rinder­filet ist jetzt vermutlich ein Brikett.«

3

»Ein glatter Durchschuss«, murmelte Susan. Behutsam betastete sie die dunkelroten Ränder um Daniels Wunde. »Die Kugel ist am Bauch eingedrungen, hat den Körper quer durchschlagen und ist seitlich am Rücken ausgetreten.« Ungläubig schüttelte die ausgebildete Krankenschwester, die zuletzt als Altenpflegerin gearbeitet hatte, den Kopf. »Verrückt. Es sieht aus, als wäre die Verletzung mindestens zwei Wochen alt.« Ihre blauen Augen waren groß und rund, als sie zu Daniel aufsah, der mit entblößtem Oberkörper vor ihr stand. »Hast du Schmerzen?«

»Nur wenn ich lache«, erwiderte er mit zusammengebissenen Zähnen, was Elizabeth mit einem Augenrollen quittierte.

»Ich habe dir sicherheitshalber Schmerzmittel mitgebracht. Und auch eine antibakterielle Wundsalbe und Verbandszeug. Tony, kannst du mir bitte meine Tasche bringen? Sie steht noch im Flur.«

»Klar.« Wood war eben im Bad in die frischen Sachen geschlüpft, die Susan ihm gebracht hatte. Er ging in den Flur und kam gleich darauf mit einer braunen Ledertasche zurück.

»Was riecht hier eigentlich so merkwürdig?« Susan hob schnuppernd die Nase. »Riecht wie … Ozon.«

»Das ist Danny«, erklärte Elizabeth, die auf der Seitenlehne der Couch saß. »Seine … Essenz. Als er körperlos war, roch er nur bei Sonnenauf- und -untergang nach Sommergewitter. Jetzt duftet er immer danach, allerdings normalerweise nur ganz schwach. Im Moment ist es sehr ausgeprägt.«

»Er riecht wie ein Gewitter?« Mit skeptisch hochgezogenen Augenbrauen trat Wood an Daniel heran, um ebenfalls an ihm zu schnuppern, woraufhin Daniel ihn mit einem ärgerlichen »Lass das!« wie eine Fliege verscheuchte.

Während Susan die Wunden versorgte, fragte sie: »Warum warst du heute überhaupt bei diesem Polizeieinsatz dabei, Danny?«

»Blondie hier hatte Sehnsucht nach den alten Zeiten«, antwortete er zwinkernd. »Nach einem Partner, der ihm den Rücken frei hält und dem er vertrauen kann.«

Wood ließ sich mit einer Flasche Bier in der einen und einem Stück Pizza in der anderen Hand in den Sessel neben der Couch sinken. »Du kannst dir ab jetzt die Blondie-Sprüche sparen, Goldlöckchen! Und erzähl mir nicht, dass du die alten Zeiten nicht genauso vermisst wie ich.«

Daniel grinste ihn über Susans Kopf hinweg an. »Du meinst die schlechte Bezahlung und die miesen Arbeitszeiten?«

»Vergiss nicht den ungenießbaren Kaffee im Büro.«

»Ach, hör auf, sonst fange ich noch an zu heulen!«

Verblüfft verfolgte Elizabeth das Geplänkel der zwei Freunde. Unglaublich, dass sie schon wieder lachen konnten. Ihr selbst steckte der Schreck so tief in den Knochen, dass ihre im Schoß gefalteten Hände noch immer zitterten und sie nicht den geringsten Appetit verspürte.

Nachdem Susan den neuen Verband befestigt hatte, zog Daniel seinen Pulli über und nahm sich ein Stück von der Salamipizza, die auf der als Couchtisch dienenden alten Reisetruhe lag. Leise ächzend setzte er sich auf das Sofa und lehnte sich so zurück, dass sein Kopf an Elizabeths Hüfte ruhte.

Zärtlich strich sie ihm die Haare aus der Stirn. Seine Haut war feucht und glühte förmlich. Auch seine Augen hatten nach wie vor diesen fiebrigen Glanz. »Ich glaube, du brauchst etwas Nahrhafteres als das«, sagte sie. »Eine Suppe vielleicht. Irgendetwas, das dich wieder zu Kräften bringt.«

»Nicht nötig, Liz«, versicherte er und schenkte ihr sein entwaffnendstes Lächeln. Mit Genuss biss er in die Pizza. »Das hier ist genau richtig. Das perfekte Weihnachtsessen.«

»Auf Alkohol solltest du aber verzichten«, bemerkte Susan, die sich ebenfalls an der Pizza bediente und an Daniels anderer Seite niederließ. Mit einem eleganten Schwung warf sie ihr schwarzes Haar über die Schultern zurück. »Und jetzt erzählt mal. Was genau ist passiert?«

Typisch Susan, dachte Elizabeth mit einem innerlichen Kopfschütteln. Manchmal wünschte sie sich ein ebenso sonniges Gemüt. Allerdings musste sie zugeben, dass auch sie darauf brannte, zu erfahren, wie Daniel bei einer angeblich harmlosen Befragung niedergeschossen werden konnte.

»Es war reine Routine.« Wood schnappte sich ein zweites Pizzastück. »Eine Jugendgang, die wir als Zeugen zu einer Reihe von Raubüberfällen befragten. Hätte ich es für gefährlich gehalten, hätte ich Danny niemals darum gebeten, mitzukommen. Immerhin ist er jetzt Zivilist.«

»Und was lief schief?« Elizabeth legte ihre Hand in Daniels Nackenbeuge und kraulte seinen Haaransatz.

»Wenn ich das nur wüsste«, seufzte Wood. »Danny hat es wie immer geschafft, Zugang zu den Jungs zu finden, und sie haben mehr oder weniger offen mit uns geredet. Aber da war noch ein anderer Teenager, der die ganze Zeit ein Stück abseits stand und unsere Unterhaltung beobachtete. Ich weiß nicht mal, ob er zur Gang gehörte, oder nicht …«

»Und plötzlich, ohne die geringste Vorwarnung, zieht der Kerl eine Knarre aus der Jackentasche und eröffnet das Feuer«, nahm Daniel den Faden auf. »Er sagt kein Wort, sondern ballert einfach wild darauf los, sodass die Kugeln uns nur so um die Ohren pfeifen.«

»Die Gang rannte davon«, berichtete Wood weiter, »und wir gingen hinter einem Auto in Deckung.« Er blickte zu Daniel. »Ich dachte schon, wir hätten Glück gehabt, und die Kugeln hätten uns komplett verfehlt, doch da sieht Danny an sich hinab und hebt mit einem Gesichtsausdruck, den man nur als verblüfft bezeichnen kann, seine blutige Hand.« Wood konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. »Und das Einzige, was dieser Schwachkopf sagt, bevor er wegkippt, ist: Verdammt, Liz wird mich umbringen.«

»Das habe ich ganz sicher nicht gesagt«, widersprach Daniel lachend.

»Und ob du das hast, Danny Boy. Du erinnerst dich nur nicht.«

Nun musste selbst Elizabeth lächeln. Sie beuge sich zu Daniel und küsste ihn auf die Stirn. »Vor mir brauchst du keine Angst haben, Danny. Aber du solltest dich in Zukunft vor Jugendlichen in Acht nehmen. Erst Simon und dann dieser Junge heute. Teenager scheinen es wirklich auf dich abgesehen zu haben.«

»Ich weiß, Baby.« Er fing ihren Nacken ein und zog sie noch ein Stück weiter nach unten, um sie auf den Mund zu küssen.

»Wäre es möglich, dass Danny gar nicht mehr sterben kann?«, fragte Susan. Nachdenklich tippte sie sich mit ihrem Zeigefinger ans Kinn.

Drei geweitete Augenpaare richteten sich auf sie. Wood verschluckte sich sogar an seinem Bier, während Elizabeth verstört überlegte, ob Susan Recht haben könnte und wenn ja, ob das dann eine gute oder eher erschreckende Nachricht wäre.

»Ich meine«, fuhr Susan unbeeindruckt fort, »wir wissen doch nicht, was Hamiltons Ritual tatsächlich bewirkt hat. Vielleicht ist es eine Art Nebenwirkung, dass, naja … keine noch so ernste Wunde ihn töten kann.«

Daniel räusperte sich. »Also dank Hamiltons Erinnerungen, die ja zusammen mit seiner Lebensenergie auf mich übergingen, habe ich doch eine ziemlich genaue Vorstellung davon, was das Ritual bewirkt hat, und Unsterblichkeit gehört definitiv nicht dazu. Unsere beiden Seelen sind bei dem Ritual in diesen Körper gefahren. Hamilton hatte geplant, ihn zu übernehmen, während ich als Energiequelle aufgezehrt werden sollte. Doch Liz und das Sonnenamulett haben dafür gesorgt, dass es umgekehrt ablief.« Er runzelte die Stirn und senkte den Blick. »Ich hatte heute unglaublich viel Glück, das ist alles. Es war noch ein Rest von Hamiltons Lebensenergie vorhanden, der mit Hilfe des Amuletts nutzbar gemacht werden konnte. Aber ein weiteres Mal würde ich wohl nicht davon kommen.«

»Ich dachte, du hättest Hamiltons Erinnerungen alle weggesperrt, weil sie dir Albträume verursachen?«, hakte Susan neugierig nach.

»Nicht nur Albträume«, murmelte Daniel kaum hörbar.

Elizabeth wusste, dass er damit die Horrorbilder aus Hamiltons unnatürlich langem Leben meinte, die auch im Wachzustand aufblitzten. Vor einer Weile hatte er allerdings herausgefunden, dass die Albträume und Flashbacks verebbten, wenn er nicht mehr auf die Erinnerungen und das Wissen des alten Bastards zugriff, oder, wie er es ausdrückte, sie in einen Safe in seinem Kopf verbannte.

Lauter sagte Daniel: »Dieses Thema habe ich gleich zu Anfang in Hamiltons Erinnerungen erforscht, lange bevor ich das alles weggepackt habe. Schließlich wollte ich wissen, was genau geschehen ist und was mich erwartet.« Er sah Susan scharf an. »Und dabei würde ich es jetzt gerne belassen, Sue.«

Zwei Atemzüge lang herrschte befangenes Schweigen, dann wechselte Wood geschickt das Thema: »Morgen ist also der große Tag, was? Antrittsbesuch bei den Schwiegereltern in spe.«

»Das war zumindest der Plan«, sagte Elizabeth. »Aber jetzt werden wir das natürlich noch mal verschieben.« Ihr Magen krampfte sich bei der Aussicht zusammen, ihren Eltern zu gestehen, dass Daniel nach nur vier Monaten um ihre Hand angehalten hatte. Nun, eigentlich war es sogar noch früher gewesen, aber das brauchte sie ihnen ja nicht auf die Nase zu binden. Für ihre Eltern war es schwer genug gewesen zu akzeptieren, dass ihre einzige Tochter mit einem beinahe Fremden auf eine zweimonatige Reise ging. Einem Mann, der ihnen noch nicht einmal persönlich vorgestellt worden war. Doch nun, zu Weihnachten, ließ sich das nicht weiter hinauszögern. Allerdings sollten sie beide dafür möglichst in Topform sein.

»Nein, Liz, das geht schon«, winkte Daniel ab. »Wir haben das jetzt so lange vor uns hergeschoben, deine Eltern werden noch denken, ich hätte Angst vor ihnen.«

Elizabeth zog die Augenbrauen hoch. »Die solltest du auch haben, Detective.«

»Sie hat Recht, Kumpel«, meinte Wood. »Während des ersten Besuchs bei Sues Eltern fühlte ich mich wie ein Frosch auf dem Seziertisch!«

»Sie wollten eben sichergehen, dass sich im Kern des Frosches auch wirklich ein Prinz verbirgt«, gab Susan spitz zurück. »Und da muss man bei dir manchmal ganz schön tief graben.«

Wood verzog das Gesicht und hob die Bierflasche an seine Lippen. »Und ich dachte immer, der Frosch wird von der Prinzessin geküsst und nicht von der Hexe.«

»Tony!«, schnappte Elizabeth.

»Nein, schon gut«, sagte Susan schnell, wobei sie sichtlich ein Kichern hinunterschlucken musste. »Seit zwei Monaten bin ich tatsächlich eine Hexe.« Sie schob den Ärmel ihrer roten Tunika zurück und präsentierte ein kleines, verschlungenes Tattoo auf der Innenseite ihres Handgelenks.

»Kurz, nachdem ihr abgereist seid, habe ich sie Sandra Headway vorgestellt«, erklärte Wood.

»Wir haben uns auf Anhieb verstanden und sie meinte, ich hätte ein außergewöhnliches Gespür für Magie.« Susan strahlte bis über beide Ohren. »Wir haben uns einige Male getroffen und viel geredet und dann hat sie mir angeboten, mich als ihre persönliche Schülerin anzunehmen! Könnt ihr euch vorstellen, was das für eine Ehre ist? Deshalb habe ich mir auch noch keinen neuen Job gesucht, sondern konzentriere mich voll und ganz auf die Ausbildung. Wer weiß, vielleicht mache ich ja irgendwann meinen eigenen Zauberladen auf?«

»Das ist großartig, Sue«, sagte Daniel. »Ich bin mir sicher, dass du eine sehr gelehrige Schülerin bist.«

»Stimmt«, pflichtete Elizabeth ihm bei. »Sue als Wicca-Hexe. Das passt!« Ihre Freundin hatte sich schon immer für alles Übernatürliche und Magische begeistert. Es schien nur natürlich, dass sie nun auch offiziell Einlass in diese Kreise gefunden hatte.

»Danke.« Susan zog ihren Ärmel zurück und schaffte es dabei, dass ihr Lächeln zu gleichen Teilen stolz und verlegen wirkte.

»Neulich hat mein kleiner Zauberlehrling unser Apartment mit einem Schutzzauber belegt«, erzählte Wood mit finsterer Miene. »Jetzt überläuft es mich jedes Mal kalt, wenn ich nach Hause komme!«

Susan verdrehte die Augen. »Ich habe dir schon tausend Mal gesagt, dass du dir das nur einbildest! Er wirkt nur bei Leuten, die uns nicht wohlgesonnen sind. Je schlechter ihre Energie, desto unbehaglicher sollten sie sich fühlen.«

»Ist das nicht wunderbar?«, seufzte Wood. »Ich bin umgeben von Medien, Seelenwanderern und Hexen. Oh, schöne neue Welt.«

»Ach komm, Tony«, sagte Elizabeth lächelnd. »Ich bin doch auch nichts weiter als ein Second-Hand-Medium. Ich sehe Geister nur, wenn ich gleichzeitig Danny berühre.«

»Danke, Elizabeth«, erwiderte Wood trocken. »Jetzt fühl ich mich gleich weit weniger unzulänglich.«

»Leg dir doch auch ein magisches Hobby zu«, schlug Susan neckend vor.

»Ja, zum Beispiel Kaffeesatzlesen«, meinte Daniel.

Wood schnaubte verächtlich. »Dann doch lieber Kristallkugelstoßen!«

Damit war auch die letzte Anspannung verflogen und sie verbrachten den restlichen Abend so gut gelaunt und unbeschwert, wie er ursprünglich geplant gewesen war. Als Wood und Susan kurz vor Mitternacht frohe Weihnachten wünschten und sich verabschiedeten, hatte Elizabeth beinahe vergessen, was der Tag ansonsten für sie parat gehalten hatte.

Allerdings drängten sich die Ereignisse erneut in ihr Bewusstsein, sobald sie ihre Gäste zur Tür begleitet hatte und Daniel anschließend mit erschöpft zurückgelegtem Kopf und geschlossenen Augen auf der Couch vorfand. Er wirkte, als wäre selbst der Weg vom Sofa ins Bett zu viel für ihn.

Sein desolater Anblick versetzte Elizabeth einen Stich. Sie hätten den Abend viel früher beenden und ihm Gelegenheit zur Erholung geben sollen.

»Hast du Schmerzen?«, fragte sie leise, ließ sich mit untergeschlagenen Beinen neben ihm nieder und kuschelte sich vorsichtig an ihn.

Daniel schlug die Augen auf und rollte den Kopf in ihre Richtung. »Ja, ein wenig. Aber das ist schon in Ordnung.« Er legte einen Arm um sie. »Schmerzen bedeuten, dass ich am Leben bin.«

»Gott sei Dank! Mir wird ganz anders, wenn ich daran denke, dass dich die Kugel unter normalen Umständen getötet hätte ...«

»Das Gefühl, noch da zu sein, obwohl ich es eigentlich nicht mehr dürfte, kenne ich mittlerweile recht gut, glaub mir!« Er lächelte sie müde an und sang leise: »It´s a kind of magic ...«

»Ja, das ist es.« Elizabeth tippte mit der Stirn an seine Schläfe. Sie genoss die Vertrautheit, die Wärme seines Körpers und die Geborgenheit, die er ausstrahlte. Himmel, beinahe hätte sie das alles heute wieder verloren! Es konnte so schnell gehen. Ein Autounfall ... ein unvorsichtiger Schritt auf der Treppe ... eine verirrte Kugel. Jeder Tag, den sie zusammen hatten, war ein kostbares Geschenk.

»Es tut mir leid«, flüsterte Daniel.

»Es ist doch nicht deine Schuld, dass so ein Irrer wild um sich schießt.«

Er streichelte über ihren Kopf. »Das meinte ich nicht. Ich rede von dem Haus. Du hattest Recht, es ist mit mir durchgegangen. Ich war so begeistert davon und so überzeugt, dass es dir gefallen wird, dass ich nicht mehr nachgedacht habe.«

»Mir tut es leid, dass ich so zickig war. Du hattest mich auf dem gänzlich falschen Fuß erwischt. Wenn ich nicht vorher schon so geladen gewesen wäre, hätte ich nicht dermaßen überreagiert.«

»Und warum warst du so geladen, Baby?«

»Mr Morrison, der Chefredakteur, verzichtet nun doch auf eine feste Zusammenarbeit«, erklärte sie knapp. Angesichts dessen, was Daniel passiert war, fand Elizabeth ihren beruflichen Rückschlag schrecklich banal.

»Was für ein Idiot.«

Sie zuckte mit den Schultern. »Ich werde jetzt wohl doch das Buch über die Thuggees schreiben. Das bringt bestimmt einiges ein. Zumindest, wenn es rauskommt, solange das Interesse der Medien noch vorhanden ist.« Sie seufzte tief. »Wenn die Feiertage rum sind, mache ich mich an die Arbeit. Ich habe so viel Material, da sollte es sich eigentlich wie von selbst schreiben.«

Sie schwiegen eine Weile, dann fragte sie leise: »Findest du unsere Wohnung wirklich so schlimm?«

»Was? Wie kommst du denn darauf?«

Sie richtete sich etwas auf, um Daniel anzusehen, der sie mit verwirrt gekräuselter Stirn betrachtete. »Naja, weil du bei dem Haus sofort zugeschlagen hast. Und es ist ja auch nicht irgendein kleines Häuschen. Es ist pompös. Versteh mich nicht falsch«, schob sie eilends hinterher. »Es ist toll. Aber eben riesig und … einschüchternd.«

»Liz …«, versuchte Daniel sie zu unterbrechen, doch Elizabeth war noch nicht fertig.

»Denkst du etwa, wir brauchen all den Luxus und so viel Platz?«

»Nein, das denke ich ganz und gar nicht. Glaub mir, bis heute habe ich keinen Gedanken an einen Umzug verschwendet. Es war einzig und allein dieses Haus, das mich regelrecht in seinen Bann gezogen hat.« Sein Blick wurde liebevoll, und er strich erneut durch ihr Haar. »Es ist mir völlig egal, wo und wie wir wohnen, Liz, solange wir nur zusammen sind. Und was deine ursprüngliche Frage angeht«, er schüttelte amüsiert den Kopf. »Ich finde diese Wohnung hier überhaupt nicht schrecklich. Ganz im Gegenteil! Sie spiegelt perfekt deine Persönlichkeit wider. Wie könnte ich mich da nicht wohlfühlen?«

Mit dieser Antwort war Elizabeth mehr als zufrieden. Erleichtert streichelte sie über seine stoppelige Wange.

»Meine Sonne.« In seinen Augen lag nun so viel Wärme, dass Elizabeth nur so dahinschmolz.

»Meine Welt«, hauchte sie, bevor sie ihre Lippen für einen zärtlichen Kuss auf seine legte. Jeder Zweifel, der sie heute Nachmittag noch geplagt haben mochte, war verflogen. Das war der Mann, den sie morgen voller Stolz ihren Eltern als ihren Verlobten vorstellen würde. Der Mann, dem ihr Herz und ihre Seele gehörten.

Unversehens vertiefte Daniel den Kuss. Gleichzeitig schob er eine Hand unter ihren Pulli und ließ sie über die Taille auf den Rücken wandern.

Elizabeths Herzschlag geriet aus dem Takt. Hitze breitete sich kribbelnd in ihr aus und stieg hinauf bis zu ihrem Scheitel.

Auch Daniels andere Hand hatte ihren Weg unter Elizabeths Pullover gefunden und strich genüsslich über ihren Bauch nach oben Richtung Brust. Seine Finger waren kühl, aber Elizabeth empfand es als angenehm. Zielsicher erreichten sie den BH und tauchten darunter hindurch.

»Vorsichtig, Detective«, keuchte sie. »Fang nichts an, was du nicht auch zu Ende bringst.«

»Wer sagt, dass ich es nicht zu Ende bringe?« Seine Hand legte sich um ihre Brust und streichelte sie sanft. Sein Daumen zeichnete kleine Kreise auf der sensiblen Haut und ließ einen Schauder über ihren Rücken rieseln.

»In deinem Zustand?«

Daniel begann, mit dem Mund an ihrem Ohr zu spielen. »Ich lebe noch, das muss gefeiert werden.« Sein heißer Atem streifte ihre Ohrmuschel. »Oder findest du nicht?«

»Oh, auf jeden Fall«, japste Elizabeth, den Kopf nach hinten biegend, weg von seinen sündigen Lippen, die ihr jede Willensstärke raubten. Gleichzeitig presste sich durch diese Bewegung ihre Brust fester an seine Handfläche und ein Zittern ging durch ihren Körper. »Aber du hast Fieber. Und deine Wunde …« Ihre eigenen Finger glitten bereits über sein Kinn, dann am Hals abwärts und verharrten schließlich auf seiner sich hebenden und senkenden Brust. Im Gegensatz zu ihrem Verstand hatte sich ihr Körper längst seinen verführerischen Avancen ergeben. »Ich will dir nicht weh tun.«

»Dann sei zärtlich«, raunte er und zog sie an sich, um mit ihr in einem Kuss zu versinken, der alle Bedenken endgültig zum Schweigen brachte.

4

»Danny! Danny, wach auf!«

Im gedämpften Licht der Nachttischlampe rüttelte Elizabeth an Daniels Schulter, mittlerweile alles andere als sanft, doch er ließ sich noch immer nicht wecken. Selbst Beckett, der am Fußende des Bettes lag, hob mit verschreckt aufgerichteten Ohren den Kopf.

Daniel hatte noch nie im Schlaf gesprochen, schon gar nicht in einer anderen Sprache. Geschrien und geächzt, ja. Auch um sich geschlagen. Aber das hier war neu und mit Sicherheit keiner der Albträume, die ihn regelmäßig heimgesucht hatten, ehe er Hamiltons Erinnerungen in den hintersten Winkel seines Bewusstseins verbannt hatte.

Endlich wachte er auf, doch so, wie er sie anfunkelte, schien er über die Störung nicht gerade erfreut zu sein.

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