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Schlafende Giganten
Als die kleine Rose eines Abends beim Spielen in einer Höhle eine gewaltige Metallhand entdeckt, ahnt sie noch nicht, dass dieser Fund ihr ganzes Leben verändern wird. Siebzehn Jahre später will sie, inzwischen eine herausragende Physikerin, das noch immer ungelöste Rätsel aufklären. Gemeinsam mit einem Expertenteam aus Wissenschaftlern und Militärs findet Rose heraus, dass die Hand zu einem riesigen Roboter gehört, dessen Körperteile über den ganzen Globus verteilt sind. Doch wer hat den Roboter gebaut? Wann wurde er in der Erde vergraben? Und was bedeuten die seltsamen Zeichen auf dem Metall?
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Seitenzahl: 427
Das Buch
Deadwood, USA: Als die kleine Rose Franklin an ihrem elften Geburtstag beim Spielen im Wald eine gewaltige Hand aus Metall entdeckt, ahnt sie noch nicht, dass dieser Fund ihr Leben für immer verändern wird. Siebzehn Jahre später ist Rose eine der besten Physikerinnen des Landes und soll, gemeinsam mit einem Expertenteam aus Wissenschaftlern und Militärs, das Geheimnis der mysteriösen Hand lösen. Auf die ersten Experimente folgt der Schock: Die Hand wurde bereits vor über 6 000 Jahren vergraben – zu einer Zeit, als die Menschen noch nicht einmal das Rad erfunden hatten! Doch wer hat die Hand gebaut, wenn es Menschen nicht gewesen sein können? Was bedeuten die seltsamen Zeichen, die in das Metall geritzt sind? Und wo ist der Rest des Körpers? Für Rose und ihr Team beginnt eine gnadenlose Schnitzeljagd rund um den Globus – eine Schnitzeljagd voller Gewalt, politischer Intrigen und der Frage, ob eine außerirdische Macht möglicherweise die Menschheit vernichten will …
Der Autor
Sylvain Neuvel wurde in Quebec City, Kanada, geboren und studierte Sprachwissenschaften in Montreal und Chicago. Er arbeitete unter anderem als Journalist und Übersetzer, bevor er das Schreiben für sich entdeckte. Seine lebenslange Faszination für Roboter inspirierte ihn zu seinem ersten Roman Giants, der in den USA bereits ein Riesenerfolg ist. Der Autor lebt mit seiner Familie in Montreal.
Mehr über Sylvain Neuvel und seinen Roman erfahren Sie auf:
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SYLVAIN NEUVEL
GIANTS
SIE SIND ERWACHT
ROMAN
Aus dem Amerikanischen übersetzt
von Marcel Häußler
WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN
Titel der amerikanischen Originalausgabe SLEEPING GIANTS
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Deutsche Erstausgabe 09/2016
Redaktion: Werner Bauer
Copyright © 2016 by Sylvain Neuvel
Copyright © 2016 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: Das Illustrat, München, unter Verwendung eines Motivs von Ociacia/Shutterstock
Satz: Leingärtner, Nabburg
e-ISBN 978-3-641-16814-8V002
www.diezukunft.de
Für Théodore.
Jetzt kommt allmählich die Zeit,
dir das Lesen beizubringen –
und Englisch.
PROLOG
Es war an meinem elften Geburtstag. Mein Vater hatte mir ein neues Fahrrad geschenkt: weiß und rosa und mit Quasten am Lenker. Ich wollte unbedingt damit fahren, aber meine Eltern ließen mich nicht aus dem Haus, solange meine Freunde noch da waren. Eigentlich waren es nicht wirklich meine Freunde. Es war mir nie sonderlich leichtgefallen, Freundschaften zu schließen. Ich las gern, streunte gern durch die Wälder, war gern allein. Und in der Gesellschaft gleichaltriger Kinder fühlte ich mich immer ein wenig fehl am Platz. Deshalb luden meine Eltern meistens die Nachbarskinder ein, wenn ich Geburtstag hatte. Es waren viele, von manchen kannte ich kaum den Namen. Sie waren sehr nett, und sie brachten Geschenke mit. Also blieb ich. Ich pustete die Kerzen aus. Ich packte die Geschenke aus. Ich lächelte. An die meisten Geschenke kann ich mich nicht mehr erinnern, weil ich die ganze Zeit nur daran dachte, dass ich endlich mein neues Fahrrad ausprobieren wollte. Als die anderen Kinder schließlich nach Hause gingen, war es schon fast Zeit zum Abendessen, und ich konnte keine Minute länger warten. Es dämmerte schon, und sobald es dunkel war, würde mich mein Vater auf keinen Fall mehr aus dem Haus lassen.
Ich schlich zur Hintertür hinaus und radelte, so schnell ich konnte, in den Wald am Ende der Straße. Es waren wohl zehn Minuten vergangen, bis ich langsamer wurde. Vielleicht wurde es mir zu dunkel, und ich überlegte zurückzufahren? Oder war ich einfach erschöpft? Ich blieb einen Augenblick stehen und lauschte dem Wind, der durch die Äste fuhr. Es war Herbst geworden. Der Wald leuchtete in bunten Farben und verlieh den Berghängen mehr Tiefe. Plötzlich wurde die Luft kalt und feucht, als ob es gleich zu regnen anfinge. Die Sonne war inzwischen untergegangen, und der Himmel hinter den Bäumen strahlte so rosa wie die Quasten an meinem Lenker.
Hinter mir hörte ich ein Knacken. Hätte ein Hase sein können. Etwas am Fuß des Hügels, auf dem ich stand, zog meinen Blick auf sich. Ich ließ das Fahrrad stehen und bahnte mir langsam einen Weg durch die herabhängenden Äste nach unten. Die Blätter waren noch nicht abgefallen, und ich konnte nicht wirklich viel erkennen – nur ein unheimliches türkisfarbenes Leuchten, dessen Ursprung ich nicht ausmachen konnte, drang durch die Zweige. Es kam nicht vom Fluss; ich hörte das Wasser in der Ferne rauschen, aber das Licht war viel näher. Es schien von überall zu kommen.
Als ich das Ende des Hangs erreichte, verschwand der Boden unter meinen Füßen.
An das, was dann geschah, kann ich mich kaum erinnern. Ich muss wohl mehrere Stunden bewusstlos gewesen sein, denn als ich wieder zu mir kam, ging gerade die Sonne auf und mein Vater stand ungefähr fünfzehn Meter über mir. Seine Lippen bewegten sich, aber ich hörte nichts.
Das Loch, in dem ich lag, war quadratisch und fast so groß wie unser Haus. Aus den kunstvollen Einkerbungen in den dunklen geraden Wandtafeln drang von allen Seiten dieses herrliche türkisfarbene Licht. Vorsichtig tastete ich meine Umgebung ab. Ich lag auf einem Bett aus Erde, Steinen und zerbrochenen Zweigen. Die glatte Fläche unter dem Schutt war leicht gewölbt und kalt wie Metall.
Erst jetzt bemerkte ich die Feuerwehrmänner in ihren gelben Jacken, die oben um das Loch herumschwirrten. Ein Seil fiel neben meinem Kopf herab, und kurz darauf wurde ich nach oben gehievt.
Mein Vater wollte nicht mit mir über den Vorfall sprechen. Immer wenn ich ihn fragte, in was für ein Loch ich da gefallen war, ersann er neue raffinierte Erklärungen. Ungefähr eine Woche später klingelte es an der Tür. Ich rief nach meinem Vater, aber er antwortete nicht, deshalb rannte ich selbst die Treppe hinunter und öffnete die Tür. Es war einer der Feuerwehrmänner, die mich gerettet hatten. Er hatte einige Fotos geschossen und dachte, ich würde sie sehen wollen. Und er hatte recht. Da war ich, ein winziges Wesen am Grund des Lochs, und lag auf dem Rücken in einer riesigen Hand aus Metall.
ERSTER TEIL
KÖRPERTEILE
FILE 003
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GESPRÄCH MIT DR. ROSE FRANKLIN, PH. D.,
LEITENDE WISSENSCHAFTLERIN
AM ENRICO FERMI INSTITUTE
ORT: UNIVERSITY OF CHICAGO, CHICAGO, ILLINOIS
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— Wie groß war die Hand?
— 6,9 Meter, auch wenn sie mir mit elf Jahren wesentlich größer vorkam.
— Was haben Sie nach dem Vorfall getan?
— Nichts. Meine Eltern und ich sprachen kaum darüber. Wie alle Kinder in meinem Alter ging ich ganz normal weiter jeden Tag zur Schule. In meiner Familie hat niemand studiert, deshalb bestanden meine Eltern darauf, dass ich das College besuchte. Ich hatte Physik als Hauptfach.
Ich weiß, was Sie denken. Ich wünschte, ich könnte Ihnen sagen, dass ich wegen der Hand Wissenschaftlerin geworden bin, aber ich war schon immer gut in den Naturwissenschaften. Meine Eltern haben meine Begabung schon früh erkannt und gefördert. Mit vier bekam ich meinen ersten Experimentierkasten zu Weihnachten, einen von diesen Elektronikbaukästen. Man konnte damit zum Beispiel einen Telegrafen bauen, indem man Kabel in kleine Metallklemmen steckte. Ich glaube nicht, dass ich etwas anderes studiert hätte, wenn ich an jenem Tag auf meinen Vater gehört und zu Hause geblieben wäre.
Jedenfalls schloss ich das College ab und ging an die Uni. Sie hätten meinen Vater sehen sollen, als er erfuhr, dass ich an der University of Chicago angenommen wurde. Ich habe noch nie jemanden gesehen, der so stolz war. Hätte er eine Million Dollar gewonnen, wäre er auch nicht glücklicher gewesen. Nachdem ich meinen Doktor in der Tasche hatte, bekam ich eine Anstellung an der Universität.
—Wann haben Sie die Hand wiedergefunden?
— Gar nicht, denn ich habe nicht nach ihr gesucht. Es hat siebzehn Jahre gedauert, aber man könnte wohl sagen, die Hand hat mich gefunden.
— Was ist passiert?
— Mit der Hand? Das Militär hatte damals die Fundstelle gesichert, nachdem die Hand entdeckt worden war.
— Wann war das?
— Kurz nachdem ich in das Loch gefallen war. Ungefähr acht Stunden später schaltete sich das Militär ein, und Colonel Hudson – so hieß er, glaube ich – übernahm das Kommando über das Projekt. Er kam aus der Gegend, deshalb kannte er die Einheimischen. Ich kann mich nicht erinnern, ihm mal begegnet zu sein, aber jeder, der ihn kennt, sagt nur Gutes über ihn.
Ich habe die wenigen Aufzeichnungen gelesen, die von ihm noch erhalten sind – das meiste wurde vom Militär zensiert. Während der drei Jahre, in denen er das Kommando innehatte, versuchte er vor allem herauszufinden, was die Inschriften an den Wänden bedeuten. Die Hand selbst, meistens als »das Fundstück« bezeichnet, erwähnte er nur am Rande und sah in ihr einen Hinweis darauf, dass ihre Erbauer an ein komplexes religiöses System glaubten. Ich glaube, Colonel Hudson hat sich da in etwas hineingesteigert.
— Und was, glauben Sie, war das?
— Ich habe keine Ahnung. Hudson war Berufssoldat, kein Physiker. Auch kein Archäologe. Er hat weder Anthropologie noch Linguistik oder ein anderes Fach studiert, das ihm in dieser Situation hätte weiterhelfen können. Wahrscheinlich hatte er zu viele Indiana-Jones-Filme gesehen, die sein Urteilsvermögen beeinflusst haben. Glücklicherweise hatte er kompetente Unterstützung – trotzdem muss es für ihn peinlich gewesen sein, die Verantwortung für ein Projekt zu tragen, ohne genau zu wissen, womit er es eigentlich zu tun hatte.
Es ist faszinierend, welch große Mühe sich das Projektteam gegeben hat, die eigenen Erkenntnisse zu widerlegen. Die ersten Analysen deuteten darauf hin, dass der Raum, in dem die Hand gefunden wurde, vor ungefähr dreitausend Jahren erbaut wurde. Weil das jedoch kaum möglich zu sein schien, wurden Proben organischen Materials, das man auf der Hand entdeckt hatte, mit der Radiokarbonmethode untersucht. Mit dem verblüffenden Ergebnis, dass die Proben sogar noch viel älter waren als zunächst angenommen: zwischen fünf- und sechstausend Jahren.
— War das eine Überraschung?
— Das kann man wohl sagen. Diese Daten stellen alles infrage, was wir über die Frühgeschichte Amerikas zu wissen glaubten. Bisher ging man davon aus, dass die Norte-Chico-Kultur in Peru die älteste uns bekannte Steinzeitkultur Amerikas ist – die Hand ist jedoch ungefähr tausend Jahre älter. Und selbst wenn man sie mit Norte Chico in Verbindung bringen könnte, wird wohl kaum jemand eine riesige Hand von Südamerika nach South Dakota transportiert haben. Aus Nordamerika selbst kann die Hand nicht stammen, denn dort gab es ähnlich hoch entwickelte Kulturen erst sehr viel später.
Nach einigen Jahren sporadischer Forschung behauptete Hudsons Team, die Proben der Radiokarbonuntersuchung seien kontaminiert gewesen, und stufte die Fundstelle kurzerhand als zwölfhundert Jahre alte Kultstätte eines Ablegers der Mississippi-Kultur ein. Ich bin die Akten zigmal durchgegangen. Es gibt nichts, was diese Theorie stützt, außer dass sie vernünftiger klingt als alles, was die Daten hergeben. Ich vermute, dass Hudson der Fundstätte keine militärische Bedeutung beigemessen hat. Vielleicht befürchtete er auch, das unterirdische Forschungslabor könne seiner Karriere schaden, und wollte, nur um da rauszukommen, so schnell wie möglich Ergebnisse präsentieren, wie absurd sie auch sein mochten.
— Ist ihm das gelungen?
— Rauszukommen? Ja. Es hat drei Jahre gedauert, aber schließlich wurde sein Wunsch erfüllt. Als er mit seinem Hund Gassi ging, hatte er einen Schlaganfall und fiel ins Koma. Ein paar Wochen später ist er gestorben.
— Was wurde nach seinem Tod aus dem Projekt?
— Nichts. Die Hand und die Wandtafeln verstaubten vierzehn Jahre lang in einem Lagerhaus, bis das Militär das Projekt freigab. Dann übernahm die University of Chicago mit finanzieller Unterstützung der NSA die Forschung, und mir wurde die Leitung der Untersuchung übertragen. Man könnte fast von Schicksal sprechen, obwohl ich eigentlich nicht an so etwas wie Vorsehung glaube.
— Warum sollte sich die NSA in einem archäologischen Projekt engagieren?
— Das habe ich mich auch gefragt. Die NSA finanziert verschiedene Forschungsprojekte, aber das liegt außerhalb ihres üblichen Interessengebiets. Vielleicht wollte sie die fremden Zeichen als Verschlüsselungstechnik nutzen; vielleicht interessierte sie das Material, aus dem die Hand besteht. Die NSA stattete uns jedenfalls mit einem ziemlich großen Budget aus, deshalb habe ich nicht groß nachgefragt. Mir wurde ein kleines Team zugeteilt, um die naturwissenschaftlichen Fakten zu klären, bevor das Projekt an die anthropologische Fakultät übergeben werden sollte. Das Projekt war immer noch als streng geheim eingestuft, und wie Hudson musste auch ich in ein unterirdisches Labor umziehen. Ich glaube, Sie haben meinen Bericht gelesen und wissen über den Rest Bescheid.
— Ja, ich habe ihn gelesen. Sie haben ihn schon nach vier Monaten abgeliefert. Das könnte man für ein wenig überstürzt halten.
— Es war nur ein vorläufiger Bericht. Ich glaube nicht, dass er verfrüht kam. In Ordnung, vielleicht ein bisschen, aber ich hatte wichtige Entdeckungen gemacht und dachte, dass ich aus den vorhandenen naturwissenschaftlichen Daten nicht viel mehr herausholen konnte. Warum also noch warten? Es gibt in diesem unterirdischen Raum genug Rätsel, um mehrere Generationen von Wissenschaftlern darüber spekulieren zu lassen. Ich glaube, wir wissen nicht genug, um ohne weitere Datenerhebungen viel mehr über die Hand herauszufinden.
— Wer ist wir?
— Wir. Ich. Sie. Die Menschheit. Wer auch immer. Es gibt in diesem Labor Dinge, die unser Verständnis übersteigen.
— In Ordnung, dann erzählen Sie mir das, was Sie verstanden haben. Erzählen Sie mir von den Tafeln.
— Das steht alles in meinem Bericht. Es gibt sechzehn Stück. Sie sind ungefähr drei mal zehn Meter groß und weniger als drei Zentimeter dick. Alle sechzehn Tafeln wurden in derselben Periode hergestellt, schätzungsweise vor dreitausend Jahren. Wir …
— Entschuldigung. Gehe ich richtig in der Annahme, dass Sie die Kontaminationstheorie nicht unterstützen?
— Es gibt keinen Grund, an der Radiokarbondatierung zu zweifeln. Und es ist, ehrlich gesagt, unser geringstes Problem, wie alt die Fundstücke sind. Hatte ich erwähnt, dass die Symbole auf den Tafeln seit siebzehn Jahren leuchten, ohne dass eine Energiequelle gefunden wurde?
Jede Wand besteht aus vier Tafeln, in die jeweils ein Dutzend Reihen aus achtzehn bis zwanzig Zeichen eingeritzt sind. Die Zeilen sind in Abschnitte aus sechs oder sieben Symbolen unterteilt. Insgesamt gibt es fünfzehn verschiedene Zeichen. Die meisten davon tauchen mehrmals auf, manche nur einmal. Sieben sind rund mit einem Punkt in der Mitte, sieben bestehen aus geraden Linien, und eines ist nur ein Punkt. Sie sind einfach, aber sehr elegant gestaltet.
— Konnten Ihre Vorgänger einige der Schriftzeichen entschlüsseln?
— Zu den wenigen Teilen von Hudsons Bericht, die das Militär nicht zensiert hat, gehört die linguistische Analyse. Die Sprachwissenschaftler haben die Symbole mit jeder uns bekannten Schrift der Vergangenheit und Gegenwart verglichen, konnten aber keine Übereinstimmung finden. Man vermutete, dass jede Sequenz von Symbolen einen Satz darstellt, so wie im Englischen, aber ohne konkreten Bezugsrahmen konnte man über den Inhalt nicht mal spekulieren. Die Arbeit war gründlich, jeder Schritt wurde dokumentiert. Ich sah keinen Grund, dieselbe Analyse noch einmal durchführen zu lassen, und lehnte das Angebot, einen Linguisten hinzuzuziehen, ab. Ohne vergleichbares Sprachsystem konnten wir die Bedeutung der Zeichen unmöglich entschlüsseln.
Mein Bauchgefühl sagte mir außerdem, dass die Hand selbst das Wichtigste war. Ich konnte es nicht erklären – vielleicht war ich voreingenommen, schließlich bin ich als Kind in dieses Loch gefallen –, aber ich fühlte mich wie magisch von ihr angezogen.
— Ganz im Gegensatz zu Ihrem Vorgänger. Also, was können Sie mir über die Hand sagen?
— Sie ist atemberaubend schön – dunkelgrau mit einigen Bronzetönen, und sie schillert untergründig –, aber ich nehme an, dass Sie sich nicht für die ästhetischen Aspekte interessieren. Vom Handgelenk bis zur Spitze des Mittelfingers misst sie, wie schon gesagt, 6,9 Meter. Sie ist massiv und scheint aus dem gleichen Metall zu bestehen wie die Wandtafeln, ist aber mindestens zweitausend Jahre älter. Die Handfläche deutet nach oben, und die Finger sind aneinandergedrückt und leicht gebogen, als würden sie etwas Wertvolles halten. Es gibt Rillen, die den Lebenslinien einer menschlichen Hand nachempfunden sind, aber auch welche, die nur der Zierde dienen. Auch sie leuchten in demselben hellen Türkis, das das Metall schillern lässt. Die Hand wirkt stark, aber zugleich … filigran ist das einzige Wort, das mir dazu einfällt. Ich glaube, es ist eine Frauenhand.
— Im Moment interessiere ich mich mehr für die Fakten. Woraus besteht diese starke, aber filigrane Hand?
— Es ist nahezu unmöglich, in das Material hineinzuschneiden oder es mit konventionellen Mitteln auf andere Art zu verändern. Um auch nur eine kleine Probe aus einer der Wandtafeln zu entnehmen, brauchten wir mehrere Versuche. Die Massenspektrografie hat ergeben, dass Hand und Tafeln aus einer Legierung aus verschiedenen Schwermetallen bestehen, hauptsächlich Iridium, mit einem Anteil von zehn Prozent Eisen und geringeren Konzentrationen von Osmium, Ruthenium und anderen Metallen aus der Platingruppe.
— Die Hand muss ihr Gewicht in Gold wert sein, richtig?
— Komisch, dass Sie das ansprechen. Sie wiegt nicht so viel, wie sie sollte, deshalb würde ich sagen, sie ist mehr wert als ihr Gewicht, egal in was.
— Wie viel wiegt sie?
— Zweiunddreißig Tonnen … Ich weiß, das ist ein ordentliches Gewicht, aber gemessen an der Zusammensetzung der Schwermetalle ist sie viel zu leicht. Iridium ist eines der Elemente mit der höchsten Dichte, und trotz des Eisenanteils sollte die Hand mindestens zehnmal so schwer sein.
— Wie erklären Sie sich das?
— Gar nicht. Ich habe nicht die geringste Ahnung, wie das möglich ist. Aber das Gewicht irritiert mich weniger als die schiere Menge des Iridiums. Iridium ist nicht nur eines der dichtesten Elemente, es ist auch eines der seltensten.
Metalle der Platingruppe verbinden sich gern mit Eisen. Und genau das hat der Großteil des Iridiums vor Milliarden von Jahren getan, als die Erdoberfläche noch geschmolzen war. Und weil es so schwer ist, ist es zum Erdkern gesunken, Tausende Kilometer tief. Das bisschen Iridium, das in der Erdkruste zurückblieb, verband sich meistens mit anderen Metallen und lässt sich nur mit einem aufwendigen chemischen Verfahren trennen.
— Wie selten ist Iridium im Vergleich zu anderen Metallen?
— Ausgesprochen selten. Wenn man das ganze Iridium zusammennimmt, das auf der Erde im Verlauf eines Jahres abgebaut wird, kommt man auf nicht mehr als ein paar Tonnen. Das ist ungefähr ein großer Koffer voll. Beim heutigen Stand der Technik würde es Jahrzehnte dauern, genug Iridium zusammenzukratzen, um die Hand und die Tafeln zu bauen. Auf der Erde gibt es schlicht zu wenig davon, und es liegen nicht genug Chondrite herum.
— Ich kann Ihnen nicht folgen.
— Entschuldigung. Chondrite sind Steinmeteoriten. Iridium ist im irdischen Gestein so selten, dass es oft nicht nachweisbar ist. Das meiste Iridium wird aus Meteoriten gewonnen, die beim Eintritt in die Erdatmosphäre nicht völlig verglüht sind. Um die Tafeln und die Hand zu bauen – und die Vermutung liegt nahe, dass es nicht das Einzige ist, was deren Schöpfer gebaut haben –, muss man das Iridium von dort herholen, wo es mehr davon gibt als auf der Erdoberfläche.
— Eine Reise zum Mittelpunkt der Erde?
— Jules Verne ist eine Möglichkeit. Um Iridium in großen Mengen abzubauen, müsste man entweder Tausende von Kilometern tief schürfen oder man holt es sich im Weltraum. Bei allem Respekt vor Monsieur Verne, aber wir sind weit davon entfernt, tief genug graben zu können, um bis zum Erdkern vorzudringen. Unsere tiefsten Minenschächte sehen im Vergleich dazu aus wie Schlaglöcher. Da scheint mir die zweite Variante schon realistischer. Es gibt bereits Unternehmen, die hoffen, in naher Zukunft Wasser und wertvolle Mineralien im Weltraum zu gewinnen, aber diese Projekte sind alle noch in der Planungsphase. Trotzdem, wenn man im Weltall Meteoriten »ernten« könnte, wäre die Ausbeute an Iridium wesentlich höher.
— Was können Sie mir sonst noch sagen?
— Das war’s im Wesentlichen. Nachdem wir die Hand genauestens untersucht hatten, hatte ich das Gefühl, dass wir nicht weiterkommen. Ich wusste, dass wir die falschen Fragen stellen, aber ich kannte die richtigen nicht. Ich habe einen vorläufigen Bericht abgeliefert und meine Freistellung beantragt.
— Frischen Sie mein Gedächtnis auf. Was war das Fazit Ihres Berichts?
— Wir haben die Hand nicht gebaut.
— Interessant. Wie war die Reaktion?
— Antrag auf Freistellung bewilligt.
— Das war alles?
— Ja. Sie hofften wohl, dass ich nicht zurückkomme. Ich habe das Wort Alien nie benutzt, aber darauf hat die NSA den Bericht wahrscheinlich reduziert.
— Und das meinten Sie nicht?
— Nicht unbedingt. Es könnte auch eine »irdische« Erklärung dafür geben, eine, die mir nicht in den Sinn kam. Als Wissenschaftlerin kann ich nur sagen, dass wir Menschen weder die Ressourcen noch das Wissen oder die Technologie haben, um so etwas zu bauen. Es ist durchaus möglich, dass eine alte Zivilisation mehr von Metallurgie verstanden hat als wir, aber auch damals – egal ob vor fünftausend, zehntausend oder zwanzigtausend Jahren – gab es in der Erdkruste nicht mehr Iridium als heute. Also, um Ihre Frage zu beantworten: Ich glaube nicht, dass Menschen die Tafeln und die Hand gebaut haben. Ziehen Sie Ihre eigenen Schlüsse daraus, wenn Sie wollen.
Ich bin nicht blöd; ich wusste, dass ich meine Karriere damit aufs Spiel setzte. Auf jeden Fall habe ich meine Glaubwürdigkeit verloren, aber was blieb mir anderes übrig? Hätte ich lügen sollen?
— Was taten Sie, nachdem Sie den Bericht abgeschickt hatten?
— Ich ging nach Hause. Dorthin, wo alles angefangen hat. Seit dem Tod meines Vaters bin ich fast vier Jahre lang nicht mehr zu Hause gewesen.
— Wo ist Ihr Zuhause?
— Ich komme aus einem kleinen Ort namens Deadwood, ungefähr eine Stunde nordwestlich von Rapid City.
— Ich kenne mich in diesem Teil des Mittleren Westens nicht aus.
— Es ist ein Städtchen, das während des Goldrauschs gegründet wurde. Ein wilder Ort wie im Film. Die letzten Bordelle wurden geschlossen, als ich noch ein Kind war. Abgesehen von einer kurzlebigen Fernsehserie auf HBO erlangten wir eine gewisse Berühmtheit, weil Wild Bill Hickok in Deadwood ermordet wurde. Nach dem Ende des Goldrauschs und mehreren großen Bränden schrumpfte die Bevölkerung auf ungefähr zwölfhundert Einwohner zusammen.
Deadwood floriert also nicht gerade, aber es existiert noch. Und die Landschaft ist atemberaubend. Es liegt direkt am Rand des Black Hills National Forest mit seinen unheimlichen Felsformationen, herrlichen Kiefernwäldern, kargen Steinlandschaften, Tälern und Bächen. Ich weiß nicht, ob es einen schöneren Ort auf der Welt gibt. Ich kann verstehen, warum jemand dort etwas bauen will.
— Sie bezeichnen es immer noch als Ihr Zuhause?
— Ja, natürlich. Deadwood ist ein Teil von mir, auch wenn meine Mutter da wahrscheinlich anderer Meinung ist. Nach dem Tod meines Vaters haben wir kaum miteinander gesprochen. Ich spürte, dass sie es mir übel nahm, dass ich nicht mal zur Beerdigung meines Vaters nach Hause gekommen bin und sie in ihrem Schmerz alleine gelassen habe. Wir gehen alle anders mit Trauer um, und ich vermute, meine Mutter wusste tief in ihrem Inneren, dass ich den Abstand brauchte, um den Verlust meines Vaters zu verarbeiten. Aber ich merkte, dass sie wütend war, und es gab Dinge, die unsere Beziehung getrübt hatten – auch wenn meine Mutter das nie zugeben würde. Ich konnte das verstehen. Sie hatte genug gelitten; sie hatte das Recht, wütend zu sein. An den ersten Tagen zu Hause haben wir nicht viel miteinander gesprochen, doch dann stellte sich bald Normalität ein.
In meinem alten Zimmer zu schlafen hat Erinnerungen wachgerufen. Als Kind schlich ich mich oft nachts aus dem Bett und setzte mich ans Fenster, um zuzusehen, wie mein Vater zum Bergwerk ging. Er kam vor jeder Nachtschicht in mein Zimmer und ließ mich ein Spielzeug aussuchen, das ich in seine Brotbüchse legen durfte. Er sagte, er würde an mich denken, wenn er sie aufmacht, und dann seine Pause mit mir in meinen Träumen verbringen. Er hat nie viel mit mir oder meiner Mutter gesprochen, aber er wusste, wie wichtig die kleinen Dinge für ein Kind sind, und er nahm sich immer Zeit, mich ins Bett zu bringen, bevor er zur Arbeit ging. Ich wünschte mir so sehr, er wäre da gewesen, damit ich ihm von der Hand hätte erzählen können. Er war zwar kein Wissenschaftler, aber er hatte einen klaren Blick auf die Dinge. Mit meiner Mutter konnte ich nicht darüber sprechen.
Wir hatten mehrere kurze, aber angenehme Unterhaltungen, die eine willkommene Abwechslung zu den höflichen Bemerkungen über das Essen waren, auf die wir uns nach meiner Ankunft beschränkt hatten. Aber meine Arbeit war geheim, und ich gab mein Bestes, nichts von dem, was mir durch den Kopf ging, auszusprechen. Es wurde von Woche zu Woche einfacher, je mehr Zeit ich damit verbrachte, über meine Kindheit nachzudenken statt über die Hand.
Es dauerte fast einen Monat, bis ich zu der Stelle wanderte, an der ich sie zum ersten Mal gesehen hatte. Das Loch war längst wieder aufgefüllt worden. Aus der Erde wuchsen kleine Bäume zwischen den Steinen. Es gab nichts mehr zu sehen. Ich lief ziellos herum, bis es dunkel wurde. Warum hatte ausgerechnet ich die Hand gefunden? Es musste noch andere Konstruktionen geben wie die, auf die ich gestoßen war. Warum hatte sie niemand entdeckt? Was war an diesem Tag passiert? Die Hand war mehrere Tausend Jahre lang inaktiv gewesen. Warum hatte sie ausgerechnet an diesem Tag angefangen zu leuchten? Was war an diesem Tag vor zwanzig Jahren anders als all die Jahrtausende davor?
Da wurde es mir schlagartig klar. Das war die Frage, die ich stellen musste. Ich musste herausfinden, was die Hand aktiviert hatte.
FILE 004
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GESPRÄCH MIT CW3 KARA RESNIK,
UNITED STATES ARMY
ORT: COLEMAN ARMY AIRFIELD,
MANNHEIM, DEUTSCHLAND
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— Nennen Sie bitte Ihren Namen und Ihren Rang.
— Sie kennen meinen Namen doch. Meine Akte liegt direkt vor Ihnen.
— Mir wurde versichert, Sie würden in dieser Angelegenheit kooperieren. Ich möchte, dass Sie für die Aufzeichnung Ihren Namen nennen.
— Vielleicht könnten Sie damit anfangen, mir zu erklären, was für eine »Angelegenheit« das ist.
— Das ist nicht möglich. Und jetzt nennen Sie für die Aufzeichnung Ihren Namen und Ihren Rang.
— »Das ist nicht möglich …« Sind Sie immer so förmlich?
— Ich nenne die Dinge gern beim Namen. Damit vermeide ich Missverständnisse. Wenn es eines gibt, das ich hasse, dann ist es, mich zu wiederholen …
— Jaja. Mein Name. Sagen Sie ihn doch selbst, wenn er Ihnen so wichtig ist.
— Wie Sie wünschen. Sie sind Chief Warrant Officer Kara Resnik, Helikopterpilotin in der United States Army. Ist das korrekt?
— Ehemalige Helikopterpilotin. Mir wurde die Flugerlaubnis entzogen, aber das wissen Sie ja wahrscheinlich schon.
— Nein, das wusste ich nicht. Darf ich fragen, was passiert ist?
— Netzhautablösung. Es tut nicht weh, aber mein Sehvermögen ist beeinträchtigt. Ich werde morgen operiert. Als ich fragte, ob ich je wieder würde fliegen können, sagte man mir, es bestünde eine realistische Chance … was für mich verdächtig nach einem Nein klingt.
Wie war noch mal Ihr Name?
— Ich habe ihn nicht genannt.
— Warum nicht? Für die Aufzeichnung …
— Es gibt viele Gründe, manche sind wichtiger, andere weniger. Für Sie genügt es zu wissen, dass Sie diesen Raum nicht lebend verlassen dürften, wenn ich ihn nennen würde.
— Sie hätten auch einfach Nein sagen können. Glauben Sie wirklich, dass Sie bei mir mit Drohungen etwas erreichen?
— Ich möchte mich aufrichtig entschuldigen, falls Sie sich bedroht fühlen, Chief Resnik. Ich möchte nicht, dass Sie sich unwohl fühlen. Ebenso wenig möchte ich, dass Sie mich für schüchtern halten.
— Sie sind also um meine Sicherheit besorgt? Wie ritterlich. Warum wollten Sie mich sprechen?
— Wegen der Ereignisse in der Türkei.
— In der Türkei ist nichts passiert. Jedenfalls nichts Interessantes.
— Das zu beurteilen müssen Sie schon mir überlassen. Meine Sicherheitsfreigabe ist einige Stufen über Ihrer, also fangen Sie am Anfang an.
— Ich weiß nicht mal, was Sie damit meinen.
— Warum waren Sie in der Türkei?
— Ich wurde zur NATO abkommandiert. Ich kam frühmorgens an und habe anschließend ein bisschen geschlafen. Die Einsatzbesprechung war um 16:00 Uhr. Ich wurde meinem Copiloten vorgestellt, CW Mitchell, und wir sprachen die Mission durch. Wir sollten um 02:00 Uhr von Adana in einem umgerüsteten UH-60 mit Tarnkappentechnik starten und im Tiefflug in den syrischen Luftraum eindringen, wo wir ungefähr zwanzig Kilometer hinter der Grenze, in der Nähe von Ar-Raqqa, Luftproben nehmen sollten.
— Sie sagten, Sie seien CW Mitchell vorher nie begegnet. Es kommt mir merkwürdig vor, dass Sie mit jemandem, den Sie kaum kannten, einen gefährlichen Einsatz fliegen mussten. Ich dachte immer, in der Armee bleiben die Crews möglichst immer zusammen. Warum waren Sie nicht mit Ihrem üblichen Copiloten unterwegs?
— Er wurde neu zugeteilt.
— Warum?
— Das müssen Sie ihn selbst fragen.
— Das habe ich schon. Sind Sie überrascht zu erfahren, dass er um seine Versetzung gebeten hat, egal wohin, Hauptsache, er bekommt einen neuen Piloten? Die Worte, mit denen er Sie beschrieben hat, waren: halsstarrig, launisch, jähzornig. Er scheint einen großen Wortschatz zu haben.
— Er spielt oft Scrabble.
— Sind Sie deshalb nicht mit ihm klargekommen?
— Ich hatte nie ein Problem mit ihm.
— Das kann ich mir kaum vorstellen. Es kommt sehr selten vor, dass jemand seine Karriere aufs Spiel setzt, nur um einer Kollegin aus dem Weg zu gehen.
— Wir waren oft unterschiedlicher Meinung, aber beim Fliegen habe ich das außen vor gelassen. Ich kann nichts dafür, wenn er das nicht konnte.
— Es ist also nicht Ihre Schuld, wenn Leute Schwierigkeiten mit Ihnen haben. Sie sind eben, wie Sie sind.
— So ungefähr. Wollen Sie von mir hören, dass es nicht ganz einfach ist, mit mir klarzukommen? Das gebe ich gern zu. Aber ich bezweifle, dass wir hier sind, um über meine einnehmende Persönlichkeit zu sprechen. Sie wollen wissen, wie es passieren konnte, dass wir mit einem Helikopter im Wert von zwanzig Millionen Dollar mitten über einer Pistazienplantage abgestürzt sind. Stimmt’s?
— Das wäre ein Anfang. Sie sagten, Sie sollten Luftproben nehmen. Wissen Sie warum?
— Die NATO vermutet, dass Syrien seit Jahren an einem Atomwaffenprogramm arbeitet, und will dem ein Ende setzen. Bereits 2007 bombardierte Israel einen verdächtigen Reaktor, aber die NATO zögert noch, zu so drastischen Maßnahmen zu greifen.
— Die NATO hätte lieber eindeutige Beweise, bevor sie sich militärisch engagiert.
— Die NATO will Syrien mit runtergelassener Hose erwischen. Eine Quelle aus dem syrischen Militärgeheimdienst hat den USA gesteckt, dass in der Nähe von Ar-Raqqa unterirdische Tests durchgeführt werden, aber weil Syrien keine Inspektoren in die verdächtigen Atomanlagen lässt, mussten wir verdeckt vorgehen.
— Beinhaltete diese heimliche Inspektion noch etwas anderes außer dem Einsammeln von Luftproben?
— Nein. Wir sollten rein- und wieder rausfliegen. Die NATO transportierte großes Equipment in die Türkei, um die Luftproben auf Spuren von nuklearen Aktivitäten zu untersuchen. Wir verließen die Luftwaffenbasis Incirlik wie geplant um 02:00 Uhr. Ungefähr eine Stunde lang flogen wir entlang der Grenze nach Osten, dann bogen wir nach Süden ab und drangen in den syrischen Luftraum ein. Wir blieben zwölf Minuten im Konturenflug in einer Höhe von achtzig Fuß über Grund. Um 03:15 Uhr erreichten wir die vorgesehenen Koordinaten und sammelten Luftproben ein, bevor wir auf derselben Route zurückkehrten.
— Waren Sie nervös?
— Sehr witzig. Ich werde nervös, wenn ich vergessen habe, meine Telefonrechnung zu bezahlen. Mit zweihundertfünfzig Stundenkilometern über möglicherweise feindliches Gebiet zu fliegen, noch dazu im Dunkeln mit Nachtsichtgeräten und knapp über dem Boden, ist schon ein bisschen was anderes. Wem da das Herz nicht hämmert, der hat wahrscheinlich keines. Also, ja, wir standen beide unter Hochspannung. Durch die Nachtsichtgeräte konnten wir nur geradeaus nach vorn sehen. Das fühlt sich an, als würde man mit unglaublicher Geschwindigkeit durch einen engen, grün beleuchteten Tunnel fliegen.
— Lief alles wie geplant?
— Wie ein Uhrwerk. Nach weniger als fünfundzwanzig Minuten waren wir wieder im türkischen Luftraum. Ich stieg auf achthundert Fuß, nachdem wir die Grenze hinter uns gelassen hatten. Als wir uns Harran näherten, bemerkten wir direkt unter uns ein Licht. Es konnte nicht der Lichtschein einer Stadt sein, denn unter uns war Ackerland, und die Farbe stimmte auch nicht. Dann, wie aus dem Nichts, fiel der Antrieb aus, und das Cockpit wurde dunkel.
Wir hörten, wie die Rotoren langsamer wurden und dann nichts mehr. Die Plantage unter uns strahlte in diesem eigenartigen türkisfarbenen Licht. Unzählige Pistazienbäume im Abstand von zehn Metern und dazwischen nur Erde. Wir konnten nichts mehr tun, außer dasitzen und nach unten starren. Es war surreal, sehr … friedlich. Dann sind wir gefallen wie ein Stein.
Als wir aufschlugen, knallte der Airbag gegen mein Visier und ich wurde ohnmächtig. Als ich ein paar Minuten später wieder aufwachte, war ich allein im Helikopter. Ein alter Mann in einem weißen Baumwollgewand versuchte, mich abzuschnallen. Er muss mindestens sechzig gewesen sein. Seine Haut war dunkel und ledrig. Er sah mich an und murmelte irgendwas, obwohl er bestimmt wusste, dass ich ihn nicht verstand. Dann lächelte er. Unten fehlten ihm ein paar Zähne, aber er hatte sehr freundliche Augen. Ich habe mich wieder gefangen und half ihm, die Gurte zu lösen.
Er legte sich meinen Arm über die Schulter und zog mich aus dem Helikopter. Ein Mädchen, vielleicht sechzehn Jahre alt, stützte mich von der anderen Seite. Sie war hübsch. Sie sah die ganze Zeit zu Boden und redete nur, wenn der Mann sie ansprach. Vielleicht war er ihr Vater oder ihr Großvater. Sie setzten mich dreißig Meter von meinem Helikopter entfernt ab, und der Mann gab mir Wasser aus seiner Feldflasche. Das Mädchen wedelte mit einem Stück Stoff und zeigte auf meine Stirn. Als ich nicht widersprach, drückte sie den nassen Lappen auf mein rechtes Auge. Dann zog sie ihn schnell weg und ließ ihn verschwinden – ich sollte das Blut nicht bemerken, nehme ich an.
— Wo war Ihr Copilot?
— Zuerst wusste ich es nicht. Es hat ein oder zwei Minuten gedauert, bis ich bemerkte, dass sich hinter dem Hubschrauber ein paar Leute versammelt hatten. Ihre Gesichter konnte ich nicht erkennen, nur die Umrisse des türkisfarbenen Lichts. Ich stand auf und ging auf das Licht zu, während das Mädchen ständig dieselben Worte wiederholte – »bleib sitzen«, vermute ich. Ich schaffte es bis zum Rand des gewaltigen Kraters, der in die Pistazienplantage gerissen worden war. Das Licht war verdammt hell.
Mitchell stand da mit ein paar Einheimischen. Er legte sich meinen Arm über die Schulter und zog mich an seine Seite. Er schien froh zu sein, mich zu sehen. Ich weiß nicht genau, was wir da anstarrten, aber mir hat noch nie etwas solche Ehrfurcht eingeflößt.
Das Ding sah aus wie ein Wal aus dunklem Metall – vielleicht ein Schiff oder ein U-Boot, obwohl es dafür ein bisschen zu klein war. Es war glatt und geschwungen wie der Rumpf einer 747, hatte aber weder eine Öffnung noch einen Propeller. Es sah auch nicht aus, als hätte es einen praktischen Nutzen, eher wie ein italienisches Kunstwerk. Türkisfarben leuchtende Adern durchzogen in regelmäßigen Abständen die Oberfläche wie ein Spinnennetz.
— Wie lange standen Sie da?
— Ich weiß nicht. Zehn Minuten vielleicht. Das Geräusch ankommender Hubschrauber lenkte uns ab, und der Wind ihrer Rotorblätter blies uns Sand ins Gesicht. Vier Blackhawks landeten um den Krater herum und spuckten mehr Marines aus, als ich zählen konnte. Sie brachten Mitchell und mich zu einem der Helikopter, und wir sind sofort gestartet. Die Marines unten führten inzwischen die Leute vom Krater weg. Ich habe gesehen, wie zwei der Marines die örtliche Polizei daran hinderten, sich der Fundstelle zu nähern.
— Ja, es war … ungünstig … dass die lokalen Behörden hinzugezogen wurden. Es wäre viel einfacher gewesen, wenn die Polizisten ein paar Minuten später eingetroffen wären. Fahren Sie bitte fort.
— Das war’s. Mehr gibt es nicht zu erzählen. Ich wurde auf dem türkischen Stützpunkt ins Krankenhaus gebracht. Vor einer Stunde wurde ich für die Augen-OP hierhergeflogen. Woher wussten Sie überhaupt, dass ich hier bin?
— Spielt das eine Rolle?
— Das heißt wohl, dass Sie es mir nicht verraten werden. Können Sie mir wenigstens sagen, was das für ein Ding war, das unseren Heli zum Absturz gebracht hat?
— Das US-Außenministerium bittet die türkische Regierung gerade um Erlaubnis, das Wrack eines geheimen Flugzeugs aus dem Zweiten Weltkrieg, das von Bauern in der Provinz Urfa gefunden wurde, in die Heimat zu überführen.
— Das soll wohl ein Witz sein. Alte Flugzeugwracks holen meinen Helikopter nicht vom Himmel. Erwarten Sie wirklich, dass ich Ihnen das glaube?
— Was Sie glauben, ist im Moment nicht wichtig. Was die türkische Regierung glaubt, hingegen schon. Nämlich dass wir ein siebzig Jahre altes Flugzeugwrack zurück in die USA bringen.
— Und was bringen wir wirklich zurück in die USA?
— Was halten Sie von CW Mitchell?
— Wollen Sie meine Frage nicht beantworten?
— …
— Mitchell ist in Ordnung. Er hatte sich gut im Griff.
— Das meinte ich nicht. Was halten Sie von ihm persönlich?
— Hören Sie, ich wäre fast gestorben, weil da draußen ein großes leuchtendes Ding liegt, das einen voll bewaffneten Blackhawk-Helikopter innerhalb von Sekunden zum Absturz bringen kann. Und Sie wollen allen Ernstes wissen, was ich von meinem Copiloten in persönlicher Hinsicht halte?
— Ja. Mir ist absolut bewusst, dass Ihr Hubschrauber abgestürzt ist und dass es für Sie unerträglich ist, nicht zu wissen, warum. Wenn Zeit keine Rolle spielen würde, könnten wir stundenlang darüber sprechen, um Ihren Gefühlen gerecht zu werden. Aber ich muss bald abreisen.
Vielleicht empfinden Sie meine Fragen als unbedeutend. Aber Sie müssen verstehen, dass ich Zugang zu einer Menge Informationen habe, in die Sie nicht eingeweiht sind. Somit können Sie mir sehr wenig mitteilen, das ich nicht schon weiß. Aber was ich nicht weiß und von Ihnen erfahren möchte, ist, was Sie von CW Mitchell halten.
— Was soll ich sagen? Ich war anderthalb Stunden mit ihm zusammen. Wir sind beide aus Detroit. Er ist zwei Jahre älter als ich, aber wir besuchten dieselben Schulen. Er fand, es sei schon ein unglaublicher Zufall, dass wir in demselben Vogel saßen. Er mag Countrymusik, ich kann sie nicht ausstehen, und keiner von uns beiden glaubt, dass die Lions es in die Play-offs schaffen.
— Wie heißt er mit Vornamen?
— Keine Ahnung. Ryan, glaube ich. Sagen Sie mir, was das für ein Ding war? Liegen noch mehr davon rum?
— Vielen Dank für Ihre Zeit, Ms. Resnik … Fast hätte ich’s vergessen: Falls es Ihnen etwas bedeutet, Ihr ehemaliger Copilot sagte, Sie wären die beste Pilotin, der er je begegnet ist.
FILE 007
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GESPRÄCH MIT DR. ROSE FRANKLIN, PH. D.,
LEITENDE WISSENSCHAFTLERIN
AM ENRICO FERMI INSTITUTE
ORT: UNIVERSITY OF CHICAGO, CHICAGO, ILLINOIS
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— Könnte es an dem Homestake-Experiment gelegen haben?
— Ich weiß nicht. Könnte es? Was ist das Homestake-Experiment?
— Entschuldigung. Ich rede mit mir selbst. Es muss das Argon sein! Daran hätte ich denken müssen. Mein Vater hat so lange in der Mine gearbeitet.
— Welche Mine? Ich weiß, was Argon ist, aber ich verstehe nicht, worauf Sie hinauswollen.
— In den späten Sechzigern führten einige Astrophysiker ein Experiment durch, um solare Neutrinos zu detektieren und zu zählen. Ich erinnere mich, dass ich als Kind etwas darüber gelesen habe. Sie stellten fast tausendfünfhundert Meter unter der Erde einen großen Tank mit Lösungsmittel auf, um ihn vor anderen Sonnenphänomenen abzuschirmen, und dann warteten sie im Wesentlichen darauf, dass er von Neutrinos getroffen wird. Wenn ein Chloratom von einem Neutrino getroffen wird, verwandelt es sich in ein radioaktives Isotop von Argon – Argon-37, genauer gesagt. In regelmäßigen Abständen wurde Helium in den Tank geleitet, um das Argon einzufangen, so konnten die Wissenschaftler die getroffenen Atome zählen. Ein tolles Experiment; sie verwandelten etwas rein Theoretisches in etwas Konkretes. Es lief fast fünfundzwanzig Jahre lang in der Homestake-Mine, in der mein Vater arbeitete, nur ein paar Kilometer entfernt von der Stelle, wo ich auf die Hand gefallen bin. Ich möchte fast wetten, dass das Leuchten eine Reaktion auf Argon ist.
— Wie Sie wissen, bin ich kein Physiker, aber …
— Ich weiß gar nichts über Sie.
— Also, jetzt wissen Sie, dass ich kein Physiker bin. Jedenfalls denke ich, dass die Menge radioaktiven Materials, das diese Entfernung überwinden konnte, unendlich klein gewesen sein muss.
— Stimmt. Aber wie klein sie auch gewesen sein mag, es kann kein … Zufall sein. Der Helikopter, der in der Türkei abgestürzt ist, hatte Proben gesammelt, um Anzeichen von Atomwaffentests zu finden. Die NATO muss also nach Spuren von Argon-37 gesucht haben. Der Aussage der Helikopter-Pilotin zufolge wurde großes Equipment in die Türkei geflogen. Vermutlich ein transportabler Argon-Detektor oder etwas in der Art. Eine unterirdische Nuklearreaktion verwandelt das Kalzium in der Umgebung in Argon-37. Das ist eine ziemlich verlässliche Methode, um einen Atomwaffentest aufzuspüren. Davor kann man sich nicht verstecken. Man kann nicht tricksen. Kalzium ist überall, im Sand, in Felsen, in Menschen, und ein Teil des Argons, das die nukleare Explosion erzeugt, entweicht an die Luft, egal wie tief unter der Erde sie stattfindet.
— Sie haben angedeutet, dass es noch andere Isotope von Argon gibt. Würden die Fundstücke darauf auch reagieren?
— Vermutlich nur auf das eine. Es gibt eine Menge Argon-40 in der Atmosphäre, überall, und andere Isotope auch. Aber ich stimme Ihnen zu, es scheint seltsam, dass die Fundstücke auf so etwas Spezielles reagieren …
— Könn…
— Entschuldigung, dass ich Sie unterbreche. Ich wollte noch sagen, es sei denn, die Objekte wurden absichtlich so konstruiert. Es wäre wirklich raffiniert, wenn sie das mit Absicht getan hätten.
— Was meinen Sie? Wer ist »sie«?
— Das klingt jetzt vielleicht verrückt, aber lassen Sie mich ausreden. Angenommen, man würde auf eine Zivilisation treffen, die technologisch so weit zurück ist, dass man nicht mit ihr kommunizieren kann. Wesen, die so etwas wie diese Fundstücke bauen konnten, hätten die Menschen vor sechstausend Jahren zu Tode erschreckt. Man hätte sie für Götter, Dämonen oder andere übernatürliche Wesen gehalten. Sagen wir mal, diese Wesen wollten etwas für die Menschen zurücklassen, das sie erst entdecken, wenn sie eine bestimmte kulturelle Entwicklungsstufe erreicht haben.
— Wie würde man die Entwicklung messen?
— Wenn wir davon ausgehen, dass die Erbauer der Fundstücke wissen wollen, wann die Menschheit das Universum gut genug versteht, damit sie mit ihr sinnvoll kommunizieren können, würden sie den Entwicklungsstand der Menschen wohl anhand des technologischen Fortschritts messen. Es ist eine vernünftige Annahme, dass alle menschenähnlichen Spezies mehr oder weniger dieselbe Entwicklung durchlaufen: Feuer machen, das Rad erfinden, etc. Flugzeuge könnten ein Kriterium sein oder auch Raumschiffe. Wer in den Himmel blicken kann, findet früher oder später auch eine Möglichkeit, dort hinaufzukommen, und eine Spezies, die Raumfahrt betreibt, sollte zumindest für den Gedanken offen sein, dass sie nicht allein im Universum ist. Gehen wir nun davon aus, dass die Erbauer der Fundstücke nicht lange genug auf der Erde bleiben konnten oder wollten, um die Entwicklung des Menschen zu beobachten, dann mussten sie eine Möglichkeit finden, vom Fortschritt der Menschen zu erfahren. Hätten sie die Hand zum Beispiel auf dem Mond versteckt, wüssten sie, dass sie erst gefunden werden kann, wenn die Menschheit in der Lage ist, zum Mond zu fliegen.
Die Nutzung von Kernenergie ist ein ebenso gutes Kriterium. Wenn die Dinger also so gebaut wurden, dass sie nur auf Argon-37 reagieren, dann konnten sie erst entdeckt werden, sobald die Menschheit fähig ist, Atomkraft zu nutzen. Das ist natürlich reine Spekulation, aber wir sollten uns die Tafeln noch einmal ansehen. Wir werden wohl doch noch einen Linguisten brauchen.
— Sagten Sie nicht, das hätte keinen Sinn?
— Da wusste ich noch nichts von dem Argon. Falls diese Objekte gebaut wurden, damit wir sie finden, müssen dort Hinweise für uns versteckt sein, die wir entschlüsseln können. Wenn man ein Bauwerk, zum Beispiel einen Tempel, für die eigenen Leute errichtet, schreibt man Dinge, die für einen selbst Sinn ergeben. Aber wenn man den gleichen Tempel für einen Fremden baut, will man, dass die Inschriften auch für ihn eine Bedeutung haben. Es ist unlogisch, eine Botschaft zu schreiben, von der man weiß, dass der Empfänger sie niemals verstehen kann.
— Einige renommierte Linguisten haben die Inschriften bereits untersucht, ohne etwas herauszufinden. Wieso glauben Sie, dass das Ergebnis dieses Mal anders wäre?
— Ich weiß es nicht. Aber ich kann mir ziemlich genau vorstellen, warum es beim ersten Versuch nicht geklappt hat. Damals wurde nach etwas gesucht, das nicht vorhanden war.
— Und Sie wissen, wonach wir suchen sollten?
— Ich habe nicht den Hauch einer Ahnung. Aber ich glaube, das ist auch gut so. Die Wissenschaftler, die die Tafeln damals untersuchten, sind gescheitert, weil sie zu viel wussten oder zumindest viel zu wissen glaubten.
— Sie müssen sich schon ein bisschen weniger philosophisch ausdrücken.
— Entschuldigung. Menschen hinterfragen im Allgemeinen nicht, was sie einmal als Wahrheit erkannt zu haben glauben. Wissenschaftler sind da keine Ausnahme. Als Physikerin würde es mir beispielsweise nie in den Sinn kommen, an den vier Grundkräften zu zweifeln. Sie sind das Fundament, auf dem ich mein weiteres Wissen aufbaue. Wir blicken immer nach vorn, nie zurück. Aber hier geht es um etwas anderes. Diese Objekte sind eine Herausforderung. Sie widersprechen allem, was wir über Physik, Anthropologie und Religion wissen. Sie schreiben die Geschichte neu. Sie fordern uns heraus, alles infrage zu stellen, was wir über uns selbst und das Universum wissen …. Das klingt wahrscheinlich schon wieder ziemlich philosophisch.
— Ein bisschen.
— Ich würde gern mit jemandem arbeiten, der noch nicht so gut ausgebildet ist, einem herausragenden Studenten vielleicht. Wir brauchen jemanden, der die Regeln nicht erst über Bord werfen muss, weil er sie noch gar nicht kennt. Wir müssen die Sache aus einer ganz neuen Perspektive betrachten. Ich werde mich an die Linguistik-Fakultät wenden und fragen, ob sie mir jemanden empfehlen können.
— Das ist eine interessante Idee. Sie wollen jemanden finden, der mehr oder weniger unqualifiziert ist, weil die Experten gescheitert sind.
— Ganz so drastisch würde ich es nicht ausdrücken, aber ja, jemanden, der hochintelligent ist, aber noch nicht durch vorgefasste Meinungen belastet. Wenn ich das sage, klingt es irgendwie viel besser.
— Stimmt. Ich nehme an, ein Versuch kann nicht schaden, aber Sie müssen verstehen, dass ich nicht gerade begeistert bin. Haben Sie den Unterarm aus der Türkei erhalten?
— Ja, er kam vor zwei Tagen an. Wir konnten nicht herausfinden, wie die Hand genau daran befestigt werden sollte. Beide Teile haben glatte massive Enden, keine Verbindungsglieder. Das Ende des Unterarms ist ein wenig konkav, das Handgelenk konvex, aber es gibt nichts, was die Teile zusammenhalten könnte.
— Ich habe gehört, die Teile seien inzwischen miteinander verbunden.
— Sind sie auch. Ich wollte nur sagen, dass ich keine Ahnung habe, wie das funktioniert. Wir legten sie nur dicht aneinander, um zu sehen, wie sie zusammenpassen, da haben sie sich angezogen wie Magnete. Mein Assistent hätte beinahe eine Hand verloren. Ich habe keine wissenschaftlich fundierte Erklärung dafür, wie die Teile sich miteinander verbunden haben. Es gab einfach ein sehr lautes, sehr cooles Swooosh, dann hingen sie zusammen.
— Können Sie sie trennen?
— Bis jetzt nicht. Mit den mechanischen Kräften, die dazu nötig wären, können wir nicht umgehen. Und das Risiko, die Artefakte zu beschädigen, war mir zu groß. Ich würde mich lieber darauf konzentrieren, die anderen Teile zu finden. Ich kann es kaum erwarten, den Rest des Körpers zu sehen. Wir können versuchen, ihn auseinanderzunehmen, sobald wir ihn einmal komplett zusammengesetzt haben.
— Sie glauben also, dass noch mehr Teile irgendwo vergraben liegen?
— Allerdings. Es macht mich fertig, dass ich nicht jetzt schon alle habe. Vielleicht ziehe ich vorschnelle Schlüsse, aber es würde mich wundern, wenn es nicht noch weitere Teile gäbe. Wenn wir noch eine Hand, einen Kopf oder auch einen Fuß gefunden hätten, dann hätten wir es vielleicht für ein Denkmal oder eine Kunstform halten können, aber niemand baut einen Unterarm um seiner selbst willen. Ich bin keine Expertin auf diesem Gebiet, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass ein Unterarm eine große religiöse Bedeutung hat. Und wenn ich den Bericht richtig verstanden habe, gab es in der Türkei keine Kammer um das Fundstück; keine Wände, keine Inschriften. Der Unterarm ist viel zu groß für die Kammer, in der die Hand gefunden wurde, und das lässt nur einen Schluss zu: Er wurde mit Absicht woanders vergraben.
— Das stimmt, aber vielleicht haben sie nur einen Arm gebaut, dann könnten wir bloß noch auf ein weiteres Teil hoffen.
— Vielleicht. Ich glaube trotzdem, dass der Rest des Körpers irgendwo liegt und darauf wartet, gefunden zu werden.
— Ich hoffe, dass Sie recht haben. Das können Sie mir glauben.
— Wenn ich so etwas Großartiges bauen könnte, würde ich jedenfalls nicht nach einem Arm aufhören.
— Können Sie mit Ihren Erkenntnissen eine Verfahrensweise entwickeln, um die anderen Teile zu finden, falls sie existieren?
— Wenn der Rest des Körpers irgendwo liegt, dann bin ich ziemlich sicher, dass wir ihn aufspüren können. Ich muss mir nur überlegen, wie man eine ausreichende Menge Argon-37 herstellen und es effizient verteilen kann. Doch selbst wenn wir eine geeignete Methode entwickelt haben, könnte es eine Weile dauern, alle Teile zu finden.
— Wie lange?
— Das lässt sich unmöglich sagen. Monate? Jahre? Wenn der Körper an den großen Gelenken zerteilt wurde, dann müsste es mindestens vierzehn Teile geben: drei für jeden Arm und jedes Bein, der Kopf und einen oder mehrere Teile für den Torso. Ich kann nur hoffen, dass der Unterarm in der Türkei die Ausnahme war und die anderen Körperteile näher an der Fundstelle der Hand liegen.
Falls ich recht habe und diese Wesen wollen, dass wir die Körperteile finden, dann haben sie sie an Land vergraben, wo wir sie relativ leicht erreichen können. Das hoffe ich zumindest, denn das Meer abzusuchen ist eine ganz andere Geschichte.
Ich muss bei der NSA eine Erhöhung der Fördermittel beantragen, denn unser Budget reicht auf keinen Fall aus. Und ich habe keine Ahnung, wie lange es dauern wird, bis der Antrag bewilligt ist.
— Vergessen Sie die NSA. Sagen Sie mir einfach, was Sie brauchen.
— Ich soll die NSA vergessen? Für wen arbeiten Sie noch mal genau? Moment. Ich will es gar nicht wissen. Ich schicke Ihnen eine Liste der nötigen Ausrüstungsgegenstände. Wir brauchen auch ein Flugzeug oder einen Hubschrauber, der lange Strecken fliegen kann. Und wir brauchen eine Mannschaft, um die Fundstücke zu bergen. Letzteres könnte schwierig werden. Wir haben erst die kleinsten Körperteile gefunden, die anderen werden größer sein.
— Wir haben Teams, die die Bergung erledigen können. Ich kümmere mich um die Piloten.
— Wenn es funktioniert, brauchen wir auch ein größeres Labor.
— Wie groß?
— Hm, wenn die Proportionen mit denen eines Menschen vergleichbar sind, dürfte der ganze Körper über sechzig Meter groß sein. Selbst wenn wir sie auf dem Boden liegend zusammensetzen, brauchen wir ein Lagerhaus.
— Sie glauben immer noch, dass es eine Frau ist?
— Mehr denn je.
FILE 009
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GESPRÄCH MIT CW3 KARA RESNIK,
UNITED STATES ARMY
ORT: ARMEEBASIS FORT CAMPBELL, KENTUCKY
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— Sie schon wieder. Was wollen Sie dieses Mal?
— Ich möchte Ihnen nur ein paar einfache Fragen stellen.
— Und wenn ich die nicht beantworten will?
— Es steht Ihnen jederzeit frei zu gehen, aber es wäre klug zu bleiben.
— Warum habe ich das Gefühl, dass Sie mich testen wollen?
— Weil Sie scharfsinnig sind. Ich stelle ein Projekt auf die Beine, zu dem Sie auf die eine oder andere Weise beitragen können. Einerseits haben Sie gewisse Ereignisse miterlebt und Fähigkeiten gezeigt, die Ihnen einen bedeutenden Vorsprung vor anderen Kandidaten geben. Andererseits beunruhigen mich Ihre impulsive Art und Ihre Un