Gibt es denn ein Happy End? - Christof F. Pöchacker - E-Book

Gibt es denn ein Happy End? E-Book

Christof F. Pöchacker

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Beschreibung

Die Friendzone. Dieses unausgesprochene Versprechen, für immer Freunde zu bleiben. Doch was, wenn diese vermeintlich sichere Vorstellung einfach platzt wie eine Seifenblase? Timothy hat alles, was er braucht: Familie samt nerviger großer Schwester, eine brennende Leidenschaft für seine Geige und ein paar holprig zusammengestöpselte Freundschaften in seiner Klasse. Als introvertierter, intelligenter Einzelgänger gibt er sich mit dem simplen Leben zufrieden, für das er sich bisher entschieden hat. Und auf einmal erscheint der stets gut gelaunte Nick auf der Bildfläche, und Timothy muss sich fragen, ob er wirklich alles hat, was er braucht.

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Seitenzahl: 220

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Alle Charaktere des Romans sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit anderen fiktionalen Figuren/realen Personen sind rein zufällig und nicht berücksichtigt.

Werist Nick, der sich mit Menschen umgibt, deren Leben bald ein Ende finden wird?

Warummöchte Timothy sein Geigenspiel nicht teilen?

Weshalbkann Cyan ihren jüngeren Bruder durchschauen wie sonst niemand?

Weswegenist die Liebe von Zacharius verboten?

Weißdas Kind Bärbl, für wie viele Tränen es verantwortlich sein wird?

Wiesoglaubt Violett, sich zwischen sich selbst und ihrer Familie entscheiden zu müssen?

Undwer ist diese versoffene Oma Priska, die am liebsten Bleistiftzeichnungen nackter Menschen in ihre Küche hängen würde?

Befreiende Besäufnisse. Verbrennende Verzweiflung.

Hohle Hoffnung. Zerreißende Zusammenhänge.

Erbarmungslose, endliche Emotionen.

Sieben Perspektiven.

Ein Buch.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1. Timothy

Kapitel 2. Nick

Kapitel 3. Timothy

Kapitel 4. Cyan

Kapitel 5. Zacharius

Kapitel 6. Timothy

Kapitel 7. Cyan

Kapitel 8. Nick

Kapitel 9. Priska

Kapitel 10. Timothy

Kapitel 11. Zacharius

Kapitel 12. Nick

Kapitel 13. Zacharius

Kapitel 14. Timothy

Kapitel 15. Cyan

Kapitel 16. Priska

Kapitel 17. Zacharius

Kapitel 18. Violett

Kapitel 19. Nick

Kapitel 20. Timothy

Epilog: Bärbl

Timothy

- 1. Kapitel -

Ich weiß, dass ich das nicht will. Es fühlt sich nicht richtig an. Zuerst das ohnehin schon bedrückende Thema lang und breit zu Tode zu reden und schlussendlich noch eine Exkursion als Krönung des Ganzen. Als ob Kinder Ausstellungsstücke wären.

Die Vorgeschichte zu diesem Entschluss meiner übermotivierten Ethik-Lehrerin (ja, sie haben dieses Fach tatsächlich durchgesetzt) ist recht harmlos. Sie ist neu an unserer Schule und hat sich über verschiedenste umliegende Institutionen, die sich als Exkursionsziel eignen würden, erkundigt. Dummerweise hat sie dabei das integrative Kinderzentrum entdeckt. Laut ihr handelt es sich dabei um eine Art Ganztageskindergarten, der sich außer auf die typischen Hosenscheißer noch auf die Begleitung sterbenskranker Kinder und ihrer Familien spezialisiert hat. Und diese Entdeckung ist, wie es bei den übermotivierten Lehrkräften so ist, zu einem regelrechten Projekt eskaliert. Tödliche Krankheiten; medizinische Methoden zur Abschwächung dieser; die Kindersterblichkeit hierzulande; die tödlichen Krankheiten, die zur Kindersterblichkeit hierzulande führen, und die medizinischen Methoden, um die tödlichen Krankheiten, die zur Kindersterblichkeit hierzulande führen, abzuschwächen,… letztendlich hat diese Frau so ziemlich alles daran gesetzt, das Thema Tod und Kinder endgültig totzukriegen. Sie weiß es nur nicht. Sie ist eben eine übermotivierte Lehrerin.

„Hat jeder die Schuhe an? Die Jacke auch? Bereit, loszugehen, oder fehlt noch wer?“

Sie hat noch immer nicht ganz begriffen, dass wir keine Volksschulkinder mehr sind, sondern bereits zehn Jahre mehr Lebenserfahrung als die kleinen Quälgeister haben.

„Wunderbar, dann mal los. Vergesst nicht, ihr müsst nachher ein Portfolioblatt anlegen. “

Das genervte Murren und die resignierte, demotivierte Demonstration der hinteren Reihen kann Frau Teufel (nein, das ist kein Spitzname) gar nicht überhören, doch sie spielt weiter gekünstelten Enthusiasmus vor. Auch wenn ich gerne mit den Mädels mitgemurrt hätte, verkneife ich es mir. Ich entscheide, was ich von mir preisgebe. Ich will keine gekünstelte Fassade und ich will mich nicht abheben. Also Klappe zu.

Schon damals, in der Pflichtschule, war mir klar, dass ich auf das städtische Gymnasium gehen möchte und den Musikzweig wählen werde. Ich wusste damals schon ganz genau, was ich wollte. Hätte ich gewusst, dass das die Eintrittskarte zum Hühnerstall ist, hätte ich mich vielleicht anders entschieden. Im Klartext: Ich und viel zu viele - genau genommen 14 - Mitschülerinnen. Singen und Musizieren schien punkto schulischer Karriere gerade out zu sein bei uns jungen Männern. Und dann kam ich. Aber was soll’s, man lernt damit umzugehen und sich bei gewissen Gesprächsthemen einfach auszuklinken. „Was ist besser, L’oreal Paris oder Vichy?“ - „Hast du mal ein Tampon für mich über?“ - „Leute, seid ihr für oder gegen Sport-BHs?“ - „O. Mein. Gott. Kennt ihr schon den Typen auf Insta? Total heiß!“ - „Kann mir mal jemand mit Mascara aushelfen?...“ Irgendwann kommt der Punkt, wo du froh bist, in einigen Mädels Freunde fürs Leben gefunden zu haben. Den Rest muss man ausblenden und stattdessen schweigend seinen Tagträumen nachhängen.

„Timothy, hast du dir schon Fragen für das Pflegepersonal überlegt?“

Ich wünsche mir sehnlichst eine Schaufel. Schaufel, Loch, hineinlegen, zuschütten. Mal ehrlich, es gibt nichts Schlimmeres, als wenn deine Lehrer dich einfach so anquatschen. Und du dann auch noch antworten musst.

„Eigentlich nicht.“

„Ja, willst du denn gar nichts dazulernen? Deinen geistig-spirituellen Horizont erweitern?“

Wo ist so eine dämliche Schaufel bloß, wenn man sie braucht?

„Ich würde gerne abwarten und vor Ort nachfragen, wenn ich Fragen habe. Fragen ohne Frageanlass führt zu fragwürdigen Fragmenten, die noch mehr Fragen aufwerfen.“

Ich wende mich von ihr ab und hoffe insgeheim, dass meine Antwort sie einerseits etwas ausbremst (wer hält schon hyperaktive Lehrer aus?) und sie mich andererseits danach in Ruhe lässt.

„Gar nicht mal so schlecht, diese Denkweise, schon intelligent…“, höre ich sie vor sich hinmurmeln. Dass ich durchaus was im Kopf habe, muss ich ihr ja nicht dauernd beweisen. Man passt sich halt an.

Als der Hühnerhaufen inklusive Superhenne Teufel und ich dann vor dem Kinderzentrum angekommen sind, verstummt das allgemeine Geschnatter und es wird still. Niemand weiß, was uns drinnen erwartet, und ich bin mir ziemlich sicher, dass niemand von uns wirklich Bock auf ein Krankenhaus hat. Na ja, Frau Teufel schon. Dennoch will ich da nicht hinein. Es geht nicht darum, dass ich mich davor fürchte, was mich drinnen erwartet. Es fühlt sich einfach nicht richtig an, extra hierher zu kommen, um den Kindern beim Sterben zuzusehen. Sie sind doch schutzlos - werden von uns begafft wie Fische in einem Aquarium. Darauf hätte unsere Ethik-Lehrerin eigentlich selber kommen können. Ist sie aber nicht.

„Bald sollte eine zuständige Person uns abholen. Ich habe extra einen Termin vereinbart.“

Während sie versucht, uns mit einem aufgeklebten Dauergrinsen zu motivieren (keine Chance!), bleibt die Stimmung gedrückt. Bis wir von einer streng aussehenden Frau schwungvoll abgeholt werden.

„Ah, ich sehe schon, dass ihr die Schulklasse seid, die sich unsere Einrichtung einmal ansehen will.“

Über das kleine Wörtchen „will“ lässt sich diskutieren. Was ich aber nicht vorhabe.

„Schönen guten Tag, ähm… Frau Leiterin, ja, wir …“

„Schon klar.“

Die Stimme der - was ist sie überhaupt? Ärztin? - Frau hört sich im Kontrast zu ihrer Wortwahl sanft an.

„Folgt mir einfach!“

Ich weiß nicht, was genau ich erwartet habe, aber das hier sicher nicht. Mit einem Spital hat dieses Kinderzentrum gar keine Ähnlichkeit. Wir werden in eine Art Aula gebracht, die vor Farben nur so strotzt und durch hohe Fenster eine freundliche und helle Atmosphäre vermittelt. Gar nicht mal so übel.

„Also, ganz wichtig: Egal, wo ihr seid oder wem ihr begegnet, geizt nicht mit eurem Lächeln. Darüber freut sich jeder hier. Bleibt höflich und versucht einfach Kontakt aufzunehmen und dafür zu sorgen, dass der heutige Tag für die Kinder ein besonderer wird. Ich wünsche euch noch einen schönen Tag!“

Und weg ist sie.

„Ähm, nun, ihr dürft, also,…“

Tja, ich bin anscheinend doch nicht der Einzige, der mit der Situation nichts anzufangen weiß.

„Moiiiii, schau mal, so süß!“

Das ist Käthe, die viel-zu-viel-Lippenstift-Henne, wie ich sie in Gedanken immer nenne. Sie zeigt mal wieder ihr außergewöhnliches Talent, ihre Stimme auch dann zwei Oktaven zu hoch klingen zu lassen, wenn sie gerade keine Opern singt. Oder es zumindest versucht.

Das Mädchen, das der Auslöser für die akustische Meerschweinchen-Imitation von Käthe war, huscht schnell in den Raum zurück, aus dem es gekommen ist.

„Jetzt hast du sie erschreckt. Du musst Kinder immer direkt anreden, wenn du mit ihnen reden willst!“

Das ist Henriette. Lippenstift-Henne Nr. 2.

„Komm her, kleines Kind, vielleicht kannst du mir etwas erzählen?“

„Worüber sollte es mit dir reden wollen?“

„Vielleicht über seine Krankheit???“

So viel also zum Thema Frauen und Kinder.

Aus einem der Nebenräume tönt Geschrei. Aber kein qualvolles - es ähnelt mehr begeistertem Kinderqietschen. Ein paar undefinierbare Lalllaute sind auch dabei, doch sie alle drücken Begeisterung aus. Neugierig gehe ich zu der Tür des Zimmers, aus dem die schrillen Geräusche kommen, und hoffe dennoch, unentdeckt zu bleiben.

Drinnen ist es genauso bunt wie in der Aula, der Raum hat Wohnzimmercharakter. Mit dem Rücken zu mir verweilt ein Mann, der vor sich eine kleine begeisterte Kinderschar sitzen hat - manche auf dem Teppich, manche in einem Rollstuhl und ein Kind gestützt auf dem Schoß der Leiterin. Der Mann steht von seinem Sitzsack auf, geht zu einem der Schränke an der Wand und holt einige Schlägel, wie jene für ein Glockenspiel, heraus. Er teilt sie den Kindern aus, die sich schon sichtlich auf das Kommende freuen. Glücklicherweise hat er mich noch immer nicht bemerkt, und ich habe sein Gesicht auch noch nicht gesehen. Er holt noch eine Blechschüssel und einen kleinen Sessel herbei, stellt sie zwischen die Kinder und setzt sich danach wieder in seinen Sitzsack.

„Bereit?“

Seine Stimme klingt ziemlich jung.

„Wisst ihr, was mich jetzt am meisten freuen würde?“

„Mitsingen!“, rufen die Kinder im Chor. Das Spiel ist ihnen nicht neu.

Der Mann auf dem Sitzsack schnappt sich eine Ukulele (das Instrument schaut aus wie eine geschrumpfte Gitarre mit nur vier Saiten) und beginnt zu spielen. Zumindest gibt er sich Mühe.

Ehrlich, das Geklimper ist wirklich nicht gut, aber die Kinder scheint das nicht zu stören.

„Der Teppich ist jetzt mein Schlagzeug…“

O nein. Singen kann er noch weniger.

„… wir trommeln mit den Schlägeln darauf…“

Die Kinder können es auch nicht.

„…wir trommeln laut, so dass es kracht…“

Jetzt hämmern sie wie die Verrückten auf den Teppich ein.

„…weil ein jedes Kind dann lacht.“

Willkürlich muss ich grinsen. Auch wenn so ziemlich jeder Ton etwas schief war und das so genannte Trommeln schon fast als „Randalieren“ bezeichnet werden kann, haben alle Spaß daran. Enthusiastisch haben sie ausnahmslos mitgesungen (ich nenne es einfach mal so) und sichtlich Freude daran gehabt.

„Schau mal!“

„Hm?“

„Hinter dir!“

Begeistert zeigt eines der Kinder auf mich. Weniger begeistert sehe ich, wie sich alle zu mir drehen.

Der Ukulele - Spieler kann wider meine Erwartung kaum älter sein als ich.

„Hey, komm und setz dich zu uns!“

Erwartungsvoll grinst er mich an, als ob er ernsthaft von mir erwarten würde, dass ich mich zu ihnen setze.

„Nein, ich wollte nur kurz...“

Weiter komme ich nicht, denn schon packt mich eine kleine Kinderhand, drückt mir einen Schlägel in die Hand und verfrachtet mich, überrumpelt, wie ich bin, zwischen all die anderen auf den Teppich.

„Was wollen wir als Nächstes als Trommel benutzen?“

„Schüssel!“ tönt es zurück.

„Die Schüssel ist jetzt mein Schlagzeug, wir trommeln mit den Schlägeln…“

Wo ist diese verdammte Schaufel, wenn man sie braucht?

Gegen Ende des Besuchs muss meine Lehrerin anscheinend jeden Raum einzeln nach ihren Schülerinnen und mir absuchen, denn in ihrer Begeisterung hat sie vergessen, mit uns eine Uhrzeit und einen Treffpunkt zu vereinbaren.

Was sie zu sehen bekommt, als sie in meinen Raum blickt: Timothy, schweigsam, introvertiert, auf dem Boden sitzend und mehr oder weniger erfreut, einen Schlägel gegen alle möglichen Gegenstände klopfend, Kinderlieder singend. Aber nur ganz leise, damit es keiner hört.

Dummerweise lenkt das Erscheinen von Frau Teufel ein besonders enthusiastisch klopfendes Mädchen ab, sodass es mir mit voller Wucht auf die Fingerspitzen anstatt auf den Boden schlägt.

„Aua!“ Reflexartig ziehe ich meine Hand zurück. Mein schlecht unterdrückter Aufschrei war nicht böse gemeint und ließ sich nicht vermeiden. Das Mädchen bekommt zuerst große Augen, dann blickt es sich hilfesuchend um und starrt auf meine Finger. Es ist so perplex und gleichzeitig den Tränen nahe, dass ich mich zu ihm drehe.

„Schau, nichts passiert, alles - nein, nicht weinen…“

Zu spät. Von mir angeredet zu werden hat das Fass zum Überlaufen gebracht. Ich meine, ich bin selber mehr erschrocken, als dass es wehgetan hätte.

„Ach, komm her.“

Der Ukulele - Spieler richtet sich auf und streckt seine Arme aus. Das schniefende Mädchen stolpert zu ihm hin und umarmt ihn, während er ihr seine Hand auf den kleinen Rücken legt.

„Eine Hand auf den Rücken zu legen kann Wunder wirken“, flüstert er mir zu, während er das Kind tröstet. Er braucht nichts zu sagen, seine bloße Anwesenheit reicht.

Als das Kind seine Umarmung lockert, sucht er den Blickkontakt des Kindes und nickt gleichzeitig mit dem Kopf in meine Richtung.

„En-schul-t’schul-uldigung…“, stammelt das Kind in meine Richtung.

„Schon ok, alle Finger noch dran.“

Ich halte dem Kind meine Hand hin, und es beruhigt sich langsam wieder. Respekt dem Ukulele - Spieler gegenüber. Alleine hätte ich die Situation nicht in den Griff bekommen.

„Alter, wo warst du?“

Angelina, eine der wenigen meiner Klasse, mit denen ich mich halbwegs gern unterhalte, gesellt sich auf dem Rückweg zu mir.

„Na bei den Kindern. Wo wart ihr?“

„In so einer Art Kaffeestube.“

„Echt jetzt? Ihr alle?“

„Na ja, keiner wusste so recht, wohin - oh, nicht einmal Frau Teufel - und so sind wir eben einfach dagesessen.“

„Muss langweilig gewesen sein.“

„Zumindest bis zu dem Zeitpunkt, als Käthe und Henriette den Kaffeeautomaten geflutet haben.“

Sie sieht mich an.

„Frag besser nicht.“

Habe ich nicht vor. Was könnte wohl schlimmer sein als ein Lippenstifthuhn? Genau, zwei Lippenstifthühner.

Aber egal, wie viel Spaß sie mit dem Chaos-Duo unserer Klasse hatten, - ich glaube, ich hatte mehr.

„Erzähl mal, Kleiner. Wie war’s so in der Sterbeanstalt?“

Meine Schwester Cyan. Keine drei Jahre älter als ich, und trotzdem nennt sie mich Kleiner.

„Ganz ok.“

„Ganz ok?“

Ich weiß, was jetzt kommt. Eine Predigt, dass ihr meine kurzen Antworten nicht reichen.

„Ich versuch’s nochmal. Erzähl doch, du introvertierter Kleiner. Wie war’s so in der Sterbeanstalt?“

„Nenn es bitte nicht Sterbeanstalt, du warst noch nie dort. Und du weißt - auch ein Vorurteil ist ein Urteil.“

„Schön. Hat es dir wenigstens gefallen?“

„Ja, schon irgendwie.“

Auch wenn ich es nicht gerne zugebe, war es doch eine ganz nette Abwechslung zum Schulalltag. Die Atmosphäre dort war freundlich, aufgeschlossen und lebensfroh (ich weiß, das mag paradox klingen). Die Kinder und die Erwachsenen machen diesen Ort zu etwas Besonderem.

Schon seit Tagen kündigt sich der Sommer an. Was ich und meine Schwester vor langer Zeit geliebt haben, waren Erkundungstouren. Als Kinder sind wir stundenlang durch die Gegend gestreift und haben die Natur erforscht. Wir wohnen am Ortsrand, weshalb wir zwischen Geschäften und Wald aufgewachsen sind. Jedes Mal aufs Neue war es spannend für uns, in den Wald zu gehen. Jede Jahreszeit auszukundschaften. Nach jedem Gewitter den Wald zu inspizieren.

Von unseren Erkundungstouren sind nur Spaziergänge geblieben. Meist enden sie wie heute in einem Kaffeehaus, wo wir uns in den hintersten Winkel setzen und Cyan über alles Mögliche philosophiert. Wobei - ihre Monologe als Philosophieren zu bezeichnen ist etwas gewagt. Meistens geht es um ihr Fernstudium, irgendwelche Jungs oder was weiß ich. Mir gefällt es einfach, dass sie sich Zeit für mich nimmt.

„Und wie waren die Ärzte? Ich mein ja nur - du hast Spitäler noch nie ausstehen können.“

Zu Fuß biegen wir in die Straße des Kaffeehauses ein. Leise lächle ich in mich hinein.

„Ärzte?“

„Na ja, wer sollte sonst in so einem Kinderzentrum arbeiten?“

Ich würde ihr gerne sagen, dass ich die meiste Zeit in Gesellschaft eines viel zu bunt gekleideten (farblich unterschiedliche Socken, schwarze Jeans, gelboranges T-Shirt und locker eine lila-blau gefleckte Weste über die Schultern), viel zu schief singenden und vor allem optimistischen schrägen Typen verbracht habe. Sie würde mir nicht glauben, freiwillig mit so einem Menschen Zeit verbracht zu haben. Naja, freiwillig. Ha-ha.

„Die Leute waren ganz nett. Eine Leiterin, die ziemlich chaotisch zu sein scheint, und ein Jugendlicher, der nicht wirklich musikalisch ist.“

„Lass mich raten… du wolltest aber nicht singen oder ihm die Spielerei abnehmen?“

„Ich kannte weder das Lied, noch kann ich Ukulele spielen.“

„Und du hättest dich nie getraut.“

Wieso müssen ältere Schwestern immer glauben, dass sie dir etwas Gutes tun, indem sie dir deine Schwächen immer wieder vor Augen halten?

Im Kaffeehaus angekommen setzen wir uns wie immer in unseren Winkel und bestellen unsere Getränke (Cyan Kaffee, schwarz wie die Seele; ich Chai-Latte). Während wir darin herumrühren, quatscht Cyan darüber, dass sie online eine Partitur für Klavier und Geige gefunden hat, die sie unbedingt mit mir ausprobieren möchte. Meine Schwester ist die Einzige, neben der ich Geige spiele. Musik zu machen ist für mich dasselbe, wie einen Teil meiner Seele preiszugeben.

„Also was ist? Bist du bei dem Duett dabei oder nicht?“

Ich schrecke aus meinen Gedanken hoch.

„Vielleicht.“

In der Schule habe ich als Wahlfach Musiktheorie. Somit entfällt für mich Instrumentalunterricht. Fast alles, was ich kann, habe ich mir selber beigebracht oder von meiner Schwester abgeschaut.

„Also das ist wohl der Gipfel der Geschmacklosigkeit. Schau mal - selbst unser Opa ist stilsicherer.“

Ich schaue auf und verschlucke mich fast. Der „Gipfel der Geschmacklosigkeit“ ist niemand anderer als der Ukulelenspieler. Solange er sich nicht neben uns setzt und mich als schlägelschwingenden Kinder-zum-Weinen-Bringer auffliegen lässt, ist alles gut.

„Hey, ist bei euch noch frei?“

Well, mission failed.

„Vielleicht, wenn du uns zuerst sagst, wer du bist.“

„Nick Klimt.“

Er schaut mich an.

„Und wir kennen uns ja schon.“

„Oh, warte - bist du der unmusi-“

Ein Glück, dass meine Schwester so dünne Sneakers trägt. So merkt sie wenigstens gleich, wenn ich ihr auf die Zehen trete. Nicht fest. Nur so, wie Geschwister es eben machen.

„Setz dich.“

Mann, dieser Satz hat mich ungefähr so viel Überwindung gekostet, wie Frau Teufels Lächeln für sie zu erwidern. Stichwort Lächeln - mit dem Lächeln, das er jetzt aufsetzt, kriegt er sicher jedes Mädchen rum. Und ich meine natürlich keine von seinem Arbeitsplatz.

Nick setzt sich auf einen freien Platz an unseren Tisch.

„Schwester oder Freundin?“

Schön wär’s.

„Ich? Als ob er sich trauen wür-“

Nächster Tritt. Manche lernen es nie. Kurz gesagt - was ich in der Woche zu wenig rede, kompensiert meine Schwester in 20 Minuten. Cyan räuspert sich.

„Schwester.“

Sie schaut auf ihr Handy.

„Scheiße - die Online-Vorlesung!“

Hastig stürzt sie ihren Kaffee runter, knallt mir meine alte lädierte Geldbörse (die sie sich beinhart unter den Nagel gerissen hat, weil sie ihre verloren hat) mit ihrem Geld zum Zahlen hin und stolpert aus dem Café.

„Online-Vorlesung? Heute ist Samstag!“, lacht Nick und sieht mich fragend an.

Auf dem Weg nach Hause grüble ich, was Cyan wirklich vorgehabt haben könnte. Sie war noch nie eine gute Lügnerin und so ganz nebenbei sollte sie mich nicht unterschätzen. Nur weil ich still bin, heißt das nicht, dass ich nichts im Kopf habe. Dass sie unmöglich eine Vorlesung gehabt haben kann, ist klar. Doch was war es sonst? Ihre Klavierstunden gibt sie nur vormittags, und abgesehen davon, macht sie am Wochenende sowieso nichts für ihr Studium. Zählt zu ihren Prinzipien. Wahrscheinlich musste sie noch irgendetwas einkaufen, bevor die Geschäfte zusperren.

Zu Hause angekommen schaue ich auf mein Handy. Eine neue Nachricht.

Hallo, hier Nick :)

Du hast deine geldbörse (oder die deiner schwester?)

vergessen. Zumindest steht dein name auf dem alten

kärtchen neben dieser nummer. Du kannst sie dir unter der

woche jederzeit vom kinderzentrum abholen. Sag einfach, du

kennst mich, und folge der lärmquelle ;)

P.s. : du hast erwähnt, dass du gerne am wasser bist. Kennst

du schon den steinplatz nahe dem kinderzentrum? Ich

könnte ihn dir gern morgen zeigen und gleichzeitig die

geldbörse mitnehmen. Schreib, ob du zeit hast.

Lg Nick

Na super. Da meine Schwester mit ihrem Unterricht (Schwarz-)geld verdient, besteht sie jedes Mal darauf, zu zahlen. Und ich Depp vergesse auch noch auf die Geldbörse. Das hat man davon, das Geld schon im Voraus abzuzählen und griffbereit zu halten. Zugegebenermaßen habe ich nicht wirklich Lust, meinen Sonntag zu opfern, doch ich habe noch weniger Lust, wochentags zum Kinderzentrum zu gehen oder zu radeln, auch wenn es im Nachbarort liegt.

Nick,

danke für’s Bescheid-Geben.

Passt es für dich morgen um 15:00 vor dem Kinderzentrum?

-Timothy

Seine Antwort lässt nicht lange auf sich warten.

Passt super!

Lg :)

Nick

- 2. Kapitel -

Aufstehen, frisieren - zumindest meistens - aufs Rad und ab in die Arbeit. Meine morgendliche Routine ist wirklich überschaubar.

Gefrühstückt wird im Kinderzentrum. Manche Kinder brauchen unsere Hilfe beim Essen, aber das macht nichts. Zusammen kriegen wir alles hin.

Geduldig schaue ich zu, wie Nico mit dem Messer versucht Marmelade auf seinen Toast zu streichen. Das Messer ist mit einer dicken Hülle aus flauschigem Filz umwickelt, damit Nico sich nicht verletzt. Er ist an Epidermolysis Bullosa erkrankt. Schmetterlingskinder wie er müssen gut auf ihre Haut aufpassen, denn schon durch leichte Berührungen bekommt sie Blasen. Seine Krankheit ist nicht heilbar. Doch diese Tatsache steht nicht im Mittelpunkt.

„Hilfst du mir bitte mal?“

Er hält mir sein umwickeltes Messer hin.

„Klar!“

Vorsichtig nehme ich das Messer, das er mir hinhält, und streiche ihm das Brot fertig. Er hat erst gestern die Verbände von seinen Händen nehmen dürfen. Ich verstehe, dass er nichts riskieren will.

„Soll ich dir auch helfen?“

So sind meine Kinder. Wie ich ihnen begegne, so begegnen sie mir. Will ich ein Lächeln haben, muss ich nur eines herschenken.

„Du könntest mir bitte den Zucker für meinen Tee rüberschieben.“

Ich habe schon Zucker in meinem Tee und könnte ihn mir leicht selber nehmen. Aber sein Hilfsangebot auszuschlagen wäre unhöflich gewesen. So schiebt Nico langsam das kleine Schüsselchen mit dem Zucker zu mir. Er benutzt seine ganze Hand, um einzelne Finger nicht zu stark zu belasten.

„Danke dir!“

Ein Lächeln breitet sich auf seinem Gesicht aus. Das ist mir der verzuckerte Tee wert.

Manche Kinder sind ziemlich aufgeregt. Sie wissen, dass uns heute eine Schulklasse besuchen wird. Eine Schulklasse voll „Fast-Erwachsener“, wie sie unsere Leiterin und Chefin, Miss Molly, nennt. Ich weiß nicht mal ihren Familiennamen, aber das stört keinen. Nick, Miss Molly - unsere Vornamen oder sonstige Bezeichnungen lassen eine Distanz zwischen uns und unseren Kindern erst gar nicht aufkommen. Wenn ich von den Kindern rede, nenne ich sie immer „meine Kinder“, denn wir sind doch alle eine Familie. Irgendwie. Auf jeden Fall sind sie für mich keine Patienten mit Nummern.

Auch wenn wir ein mehr oder weniger heiteres Völkchen sind und jedem freundlich begegnen, haben meine Kinder doch Bedenken wegen des angekündigten Besuchs. Isabella fragte mich gestern schon, ob die sich „eh nicht vor uns fürchten, wo manche von uns doch anders sind“. Meine hausgemachte pädagogische Konsequenz aus dieser Frage: Unsicherheit durch Sicherheit besiegen. Klingt einfach, und mit den richtigen Bilderbüchern ist es das auch.

So sitzen wir also schon nach dem Frühstück in unserer Geschichtenecke auf dem Teppichboden, und wir schauen uns Bilderbücher an. Keine klassischen Bilderbücher, wie sie sowieso jedes Kind kennt, sondern ganz besondere. Gerade halte ich das Buch „Prinzessin Pfiffigunde“ in der Hand und erzähle die Geschichte einer Prinzessin, die absolut keinen Bock hat, irgendeinen doofen Prinzen zu heiraten. Warum sollte sie sich einen Prinzen nehmen, wenn sie doch stattdessen Moped fahren kann?

„Aber die ist ja dann ganz allein, oder?“

„Nein, sie hat doch ihren Dino!“

„Ist sie jetzt eine Prinzessin oder nicht?“

Die Diskussion der Kinder zu verfolgen ist für mich interessanter, als man zuerst denken würde. Ein bisschen kann ich aber nachhelfen.

„Sie ist eben anders“, bemerke ich übertrieben wichtigtuerisch, so dass meine Kinder das auch merken.

Dieser eine Satz empört einige wirklich sehr.

„Na und? Sie ist trotzdem voll cool!“

Recht hat das Mädchen. Man kann förmlich sehen, wie den Kindern ein Licht aufgeht. Sie haben die Angst an ihrem eigenen Anderssein verloren und wollen gespannt die nächsten Bilderbücher erzählt bekommen. Vorlesen ist langweilig. Die Geschichten, die ich ihnen aus den Büchern vorstelle, wollen erzählt werden. Also lernen die Kinder noch Tango, den Pinguin mit zwei Papas, Elmar, den ganz und gar nicht elefantenfarbenen Elefanten, und noch ein paar weitere liebenswürdige Charaktere kennen. Unsere Lesestunde endet damit, dass die Kinder schlussendlich stolz zu Miss Molly wuseln und ihr mit leuchtenden Augen erzählen, dass sie nicht anders, sondern besonders sind.

Letztendlich haben sich meine Kinder umsonst Sorgen gemacht. Von der Schulklasse ist weit und breit keine Spur, bis auf einen einzigen relativ fad gekleideten Jugendlichen. Grau, Schwarz, Dunkelblau - ich meine, das Leben ist doch bunt, also bin ich es auch.

Anfangs merke ich gar nicht, dass er da ist, und ich habe keine Ahnung, wie lange er schon dagestanden ist und uns zugesehen hat.

„Hey, komm und setz dich zu uns!“

„Nein, ich wollte nur kurz-“

Schade, ich habe mich schon gefreut, ein bisschen Gesellschaft in meinem Alter zu haben. Ich würde ihn ja weiter herumstarren lassen, doch Isabella ist da anderer Meinung. Schon packt sie ihn an der Hand und zieht ihn in unsere Mitte. Schnell einen Schlägel in die Hand gedrückt, und weiter geht’s.

Nachdem wir mit dem Lied den Teppich, die Schüssel, einen Sessel und den Sitzsack bearbeitet haben, beginnt unser Besuch leise mitzusingen. Ich meine, wirklich leise. Doch das heimliche Grinsen auf seinem Gesicht bleibt mir nicht verborgen.

„Wie oft werdet ihr das Lied noch singen?“

Oh, er spricht.

„So lange, bis die Kinder nicht mehr wollen.“

Empörtes Quietschen von hinten.

„Und das kann noch ein Weilchen dauern.“

Ich muss selber lachen, da die Situation in der Tat etwas schräg ist, doch das kümmert mich herzlich wenig. Die Kinder haben ihren Spaß, ich lerne Singen und Spielen - zumindest irgendwann einmal - und unser Besuch - naja, ich behaupte einmal, dass es ihm gefällt.

Allzu lange singen und musizieren wir aber nicht weiter, denn schon bald kommt eine Frau mit einem gruseligen Grinsen wie dem der Grinsekatze aus „Alice im Wunderland“ und will uns unseren Besuch nehmen. Doof nur, dass das Bärbl ablenkt und sie versehentlich die Finger unseres Gastes trifft.

„Aua!“

Er ist über seine Reaktion mindestens so erschrocken wie Bärbl über das, was sie getan hat. Ich kenne Bärbl gut genug, um zu wissen, dass sie sich gleich hilfesuchend an mich wenden wird. Bezugsperson und so weiter.

„Schau, nichts passiert, alles - nein, nicht weinen…“

Netter Versuch, aber so wird das nichts.

„Ach, komm her.“

Bärbl stolpert zu mir und versteckt sich in einer schützenden Umarmung. Ihr ist das natürlich furchtbar peinlich.

„Eine Hand auf den Rücken zu legen kann Wunder wirken“, flüstere ich unserem Besuch über Bärbl hinweg zu. Er ist mit der Situation komplett überfordert.

Als Bärbl sich einigermaßen gefasst hat, deute ich ihr, sich zu entschuldigen.

„En-schul-t’schul-uldigung…“, klaubt sie das Wort zusammen.

Auch wenn es ihr unangenehm ist, so weiß ich doch, dass es ihr nachher besser geht.

„Schon ok, alle Finger noch dran.“

Er bringt ein Lächeln zustande, das zaghaft auf Bärbl abfärbt.

Der restliche gestrige Tag verlief relativ ereignislos, und für heute Nachmittag nehme ich mir frei. Vertragsmäßig müsste ich sowieso nicht in der Arbeit sein.