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Ihr letzter Tanz ...
Für Tausende von Jahren brannte die Leidenschaft heiß zwischen Alexander, dem Erzengel von Persien, und Zanaya, der Königin des Nils. Aber dann wählte Zanaya den langen Schlaf, aus dem erst die letzte Kaskade sie wieder erwachen ließ, um den Kader im Kampf gegen Lijuan zu unterstützen. Als der Engel des Todes Zanaya eine tödliche Verletzung zufügt und die erfahrene Kriegerin fällt, erschüttert Alexanders Schmerzensschrei die ganze Welt. Doch dann geschieht das Unglaubliche: Zanaya scheint sich zu erholen - aber ist es wirklich die Königin des Nils, die sich erhebt?
»Diese Liebesgeschichte zwischen zwei mächtigen Erzengeln, die sich über Tausende von Jahren entwickelt, ist ein Genuss.« SMEXYBOOKS
Band 15 der GILDE DER JÄGER von SPIEGEL-Bestseller-Autorin Nalini Singh
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Seitenzahl: 577
Titel
Zu diesem Buch
Motto
Das erste Ende
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Der Anfang
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Kaskade
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Verlassenheit
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Das letzte Ende
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Die Autorin
Die Romane von Nalini Singh bei LYX
Impressum
NALINI SINGH
Engelsaufstieg
GILDE DER JÄGER
Roman
Ins Deutsche übertragen von Ralf Schmitz
Seit ihre Blicke sich das erste Mal trafen, lodert die Leidenschaft zwischen Alexander und Zanaya heiß. Doch Alexander ist der Erste General eines Erzengels, Zanaya steht noch ganz am Anfang ihrer Karriere und ihres Lebens. Und so dauert es noch einige Hundert Jahre, bevor sich die Engel ebenbürtig sind. Inzwischen sind beide zu Erzengeln aufgestiegen, und ihre Liebe zueinander ist groß. Aber angetrieben von Wunden aus ihrer Vergangenheit verletzen sich der Erzengel von Persien und die Königin des Nils immer wieder so heftig, wie ihre Gefühle füreinander tief sind. Müde von ihren Streitereien wählt Zanaya daher den langen Schlaf, um den endlosen Kreislauf aus Liebe und Herzschmerz zu beenden. Äonen später weckt die Kaskade die Schlafenden, damit die mächtigen Uralten den Kader im Kampf gegen Lijuan unterstützen können. Aber der Engel des Todes fügt Zanaya eine tödliche Verletzung zu, und als die erfahrene Kriegerin fällt, erschüttert Alexanders Schmerzensschrei die ganze Welt. Daher kommt es einem Wunder gleich, als Zanaya sich bald darauf wieder zu erholen scheint. Doch ist es wirklich die Königin des Nils, die auferstanden ist?
Unsterblichkeit ist ein hell leuchtendes Geschenk.
Unsterblichkeit ist ein obszöner Fluch.
Unbekannter Gelehrter
Lijuan, Erzengel des Todes und Göttin des Alls, genoss die Raserei ihrer Macht, während um sie die Schlacht wütete und Raphaels einst große Stadt zerschmettert und niedergebrannt wurde. Unbesonnenes Kind. Es wäre besser gewesen, er hätte auf Lijuan gehört, auf seine Göttin, die ihm stets gesagt hatte, was zu tun war, und ihn anzuleiten versuchte. Aber, nein, er hatte die falsche Entscheidung getroffen. Er hatte sich dafür entschieden, sich für immer an eine schwache Sterbliche zu binden.
Es war gleichgültig, dass seine Gefährtin nun Flügel und andere Zeichen der Unsterblichkeit trug. Sie war nichts, ein Wurm, den man unter dem Stiefel zermalmt, so wie Lijuan einst ihren Wurm zermalmt hatte. Denn Würmer graben sich in dir ein, sie bohren sich in dich und höhlen dich aus. Schwächen dich. Brechen dich und machen dich verwundbar.
All das war Raphael geschehen. Und heute würde er dafür bezahlen. Alle würden sie bezahlen!
Sie lachte über die Unbesonnenheit der Erzengel, die sich gegen sie verbündet hatten. Gemeinsam, so glaubten sie, könnten sie siegen. Dabei hatten sie es ihr nur umso leichter gemacht, da sie alle an einem Ort zusammenkamen. Einst mochten sie auf dieser Welt die Speerspitze der Macht gewesen sein, doch auf diesem Thron saß nun Lijuan allein.
Sie waren nichts als ihre Diener.
Sie schenkte dem Chaos ringsum keinerlei Beachtung und unterzog das Terrain einer genauen Betrachtung, bis sie den weiblichen Erzengel aufgespürt hatte, den sie am dringendsten aus der Gleichung zu streichen wünschte. Da war sie, klein von Gestalt, »ihre Haut wie die Nacht, mit Augen, in denen das Licht der Sterne gefangen ist, und Haar, so violett wie das Mondlicht« – wenigstens hatte sie der idiotische Dichter so beschrieben, der Zanaya, der Königin des Nils, eine Schriftrolle gewidmet hatte.
Lijuan hatte sich im Zuge ihrer Nachforschungen hinsichtlich der Schläfer, die sich zukünftig womöglich als Problem erweisen könnten, auch über Zanaya kundig gemacht, allerdings hatte sie der sogenannten Königin des Nils dabei ein wenig mehr Aufmerksamkeit zuteilwerden lassen. Nicht weil sie eine größere Macht verkörperte als die Übrigen, sondern weil es Zanaya gelungen war, das eine Ziel zu erreichen, das Lijuan selbst immer verwehrt geblieben war: die Liebe Alexanders zu gewinnen, des Erzengels von Persien.
Oh, er war Lijuan mit Freundlichkeit begegnet, hatte ihr gesagt, sie sei zu jung, dass sie jedoch, vielleicht, nach weiteren siebentausend Jahren zusammenkommen könnten. Erst viel später hatte sie begriffen, dass er sie mit seiner Freundlichkeit zurückgewiesen hatte – denn inzwischen hatte sie wahre Leidenschaft im Blick eines Mannes gesehen und mit bitterer Deutlichkeit erkannt, dass das, was sie in Alexanders Augen erblickt hatte … letztlich nichts als Freundlichkeit gewesen war. Vielleicht verbunden mit Zuneigung. Aber Leidenschaft? Nein, nicht im Entferntesten!
Warum sie und ich nicht?
Diese Frage zerfraß sie im Innersten, seit sie von Zanaya und Alexander erfahren hatte. Denn so stand es nun in den urältesten Schriftrollen geschrieben – ihre beiden Namen waren unauflöslich miteinander verbunden. Als wären sie so sehr eine Einheit, dass, solange Zanaya auf Erden wandelte, Alexander zu ihr und niemandem sonst als ihr gehören würde.
Zorn raste durch Lijuan wie eine Flamme.
Wie konnte er es wagen, sie zu erwählen, die nichts als ein Erzengel war, und nicht Lijuan, eine Göttin? Wie konnte er es wagen, Zanaya noch immer so anzusehen, wie er sie, Lijuan, niemals angesehen hatte! Sie hätte nicht bemerken dürfen, wie ihre Blicke einander begegneten; sie hätte nichts von dem bemerken dürfen, was nicht zum Sieg in diesem Krieg erforderlich war, doch so war es nun einmal – und die Erinnerung an ihr erbärmliches früheres Selbst brachte sie in Wallung.
Angetrieben von der Lebenskraft jener, die sich einst für ihre Göttin geopfert hatten, entmaterialisierte sie … und dann flog sie geradewegs zu der Erzengelsfrau, die sie durch ihre bloße Existenz verhöhnte. Lijuan kannte keine Schwäche. Nach Zanayas Tod von ihrer Hand würde sie sich um Alexander kümmern. Sie würde sie beide verschlingen, und wenn sie erst einmal in ihr waren, würde sie beide beherrschen.
Zanaya hatte nicht die geringste Chance.
Lijuan erschien hinter ihr, grub ihre Fänge in den Hals des Erzengels und trank von ihrem Leben. Solche Fänge traten bei Engeln gewöhnlich nur in Erscheinung, wenn sie einen Vampir erschufen, Lijuan jedoch konnte ihre Fänge willkürlich erscheinen lassen. Ein weiterer Hinweis darauf, wie sehr sie sich von diesen Kreaturen unterschied, die sie zu erniedrigen trachteten.
Da griff scharf ein wilder Wind in Lijuans Haar, als Zanaya ihre Macht anrief und der Körper des Erzengels sich bog und wand, um der Attacke zu begegnen. Doch sie mühte sich vergeblich. Lijuan hatte bereits zu viel von der Macht in sich aufgenommen, die eine Angehörige des Kaders auszeichnete, und Zanaya verging, verging …
Doch, oh, Lijuans Zorn brannte weiter.
Und weil das so war, beging sie einen entscheidenden Fehler. Sie lockerte die eiserne Kontrolle über die unendliche Macht, die sie als Göttin auszeichnete – und so schuf sie ein Leck. Ein Hauch ihrer Macht ging auf Zanaya über, ein Geschenk, dessen sie absolut unwürdig war. Aber es spielte keine Rolle mehr. Zanaya war bereits tot. Aber wenigstens wusste Lijuan jetzt, dass sie sich nicht derart von dem Vorgang des Kraftschöpfens in den Bann schlagen lassen durfte, dass sie die Kontrolle über die schreiende Unendlichkeit verlor, die ihr Ruhm war.
Für den Moment gesättigt, ließ sie Zanayas zusammengeschrumpften Leichnam fahren und verließ abermals ihren Körper. Niemals wieder würde eine Schriftrolle Zanaya mit Alexander vereinen.
Was für eine furchtbare Schande, dass ihre Liebesgeschichte ein so unrühmliches Ende genommen hatte.
Lijuans Lippen kräuselten sich, als sie Alexander, mit seinem goldenen Haar und den silbernen Flügeln, herbeieilen sah, um den vertrockneten Leib seiner Geliebten aufzufangen, bevor er auf dem Erdboden zerschellen konnte. Was war er doch für ein Narr; nicht würdig der Göttin, zu der sie geworden war. Wie seltsam, dass sie ihn einst begehrt hatte. Nun begehrte sie nur noch seinen Tod. Sein Ende. Nichts auf der Welt durfte sie an ihr Scheitern erinnern.
Sie war eine Göttin! Für. Sie. Gab. Es. Kein. Scheitern.
Alexander sah, dass Lijuan Zanaya attackierte.
Während er sich zu ihr durchkämpfte, beobachtete er, wie ihre Flügel ermatteten und ihre Gliedmaßen erschlafften.
Ihr Verstand jedoch funktionierte noch, ihr Verstand besaß noch ausreichend Kraft, um auf einem Weg nach ihm zu greifen, der so alt war, dass er ein Teil seines elementarsten Seins war: Xander. … töte mich. Sie muss aufgehalten –
Doch selbst wenn er das Herz gehabt hätte, ihrem geflüsterten Flehen nachzugeben, war es dafür nun zu spät. Wieder verließ Lijuan ihren Körper und ließ Zanaya vom Himmel fallen. Die Flügel seiner Zani waren zerdrückt, ihr Körper stürzte wie der eines zerbrochenen Vogels hinab. Zani! Zani!
Schweigen. Nichts als Schweigen von seiner quecksilbrigen Geliebten und ihrer spitzen Zunge.
Er fing sie auf, bevor sie auf der harten Erde aufschlagen konnte, seine Zani, mit ihrem strahlenden, wunderschönen Geist. Eine harte Kehre in der Luft, und er schoss pfeilschnell zur Krankenstation des Turms. »Halte durch, Zani! Halte durch!« Es klang wie ein Befehl, doch sie konnte ihn nicht mehr hören.
Ihr Leib war nur noch ein Flüstern, so leicht, er hätte aus Luft bestehen können. Ihre Haut war zu Papier geworden, das Fleisch ihrer Kurven verschwunden, und ihre Haut war kalt, so kalt.
Er drückte sie so fest an sich, wie er konnte, ohne ihr wehzutun, sprach auf sie ein und mühte sich immerfort, sie zu einer Reaktion zu bewegen. Aber alles, was er hörte, war endloses Schweigen.
In dem Augenblick und während all der Stunden, die noch kamen.
»Du hast versprochen, nach der Schlacht mit mir zu sprechen«, sagte er leise zu ihr, nachdem sie das Monster besiegt hatten, zu dem Lijuan geworden war. Dann trug er Zanayas zerschmetterten Körper zu Kassandras Feuer.
Die Seherin der Legende hatte versprochen, sie sicher zu bewahren.
Wieder sprach seine Zani, die sich in seiner Gegenwart nie gescheut hatte, etwas zu sagen, kein Wort. Ihr Schweigen war eine schlimmere Wunde als jede andere, die sie ihm hätte zufügen können.
Er drückte bebend einen Kuss auf ihre Lippen, der nach dem Salz seiner Tränen schmeckte. »Ich kann in einer Welt, in der es dich nicht gibt, nicht existieren.« Er hatte nur so lange gelebt, weil er wusste, wie groß sein Zorn auf sie auch sein mochte, sie würde unversehrt und unbeschadet schlafen. »Komm zurück zu mir, meine Zani!«
Schweigen.
Bis zu dem Moment, da er sich zwang, sie Kassandras Obhut zu überlassen. Golden und orange leckte das Licht aus dem unglaublich gewaltigen Riss in der Erde, über dem sie schwebten, an dem violetten Haar der Seherin. Und die gischtgrauen Strahlenkränze ihrer quälenden-gequälten Augen blickten sanft, als sie Zanaya behutsam in den Armen wiegte, umspielt von ihrem weich fließenden Gewand.
»Du wirst dich ihrer annehmen!« Es hörte sich an wie ein Befehl.
Kassandra sagte ihm nicht, dass er nicht das Recht hatte, ihr etwas zu befehlen.
Ihr Blick verlor sich in der furchtbaren Gabe, die sie in einen solchen Wahnsinn treiben konnte, dass sie sich die Augen auskratzte, wenn sie es nicht mehr ertrug. Und dann sagte sie: »Alexander, Erzengel von Persien, Kind von Gzrel und Cendrion, zwei Wege liegen vor dir.«
Ihre Stimme klang unheimlich, hallte wider, als spräche sie in einer großen Kammer.
Alexander, dem es den Magen zusammenzog, ballte die Fäuste. Er musste alles geben, um nicht unhöflich zu werden. »Ich wünsche keine verschwommenen Weissagungen, die alles bedeuten können und der Auslegung bedürfen. Ich will nur wissen, ob Zanaya sich wieder erhebt und wann.«
Kassandra blickte auf den Körper in ihren Armen hinunter. Einen Körper, den sie bereits in ihre Flamme getaucht hatte. »Das weiß ich nicht.« Ihr Gesicht zeigte nun Milde, ihre Stimme klang leiser. »Aber dies weiß ich, Alexander, dies ist ein Ende. Aber nicht das letzte Ende. Aber auch das wird kommen. Wähle mit Bedacht, denn das wird auf ewig das Letzte sein.«
Und dann war sie fort und nahm seine Zani mit dem brillanten Geist und dem Herzen einer Kriegerin mit sich.
Sein Herz brach.
Er hatte immer gewusst, dass sie auf irgendeine Weise wiederkehren würde. Jahrtausende hatte er einen Groll gegen sie gehegt und sich auf den Kampf vorbereitet, den er ihr schuldig war. Er wusste, sie hätte ihn ausgelacht, weil er sich weigerte, loszulassen, aber am Ende hätte sie sich dem Kampf gestellt. Und danach hätten sie sich in den Armen gelegen. So hätte es kommen müssen, das war die Zukunft, auf die er so lange gewartet hatte.
Aber dies …
Der Schmerz war ein harter Knoten in seinem Innern, er wusste nicht, wie er die Zeit danach durchgestanden hatte. Er wurde von nichts als seinem eigenen Willen zusammengehalten, als er schließlich in sein Territorium zurückkehrte. Nachdem er seine Länder betreten hatte, suchte er nicht sein Fort, sondern einen einsamen Gebirgszug auf, wo niemand hören konnte, wie sein Herz in Stücke brach.
Mit ausgebreiteten Flügeln schrie er seine Trauer und seinen Zorn hinaus, bis er darüber in die Knie ging. Doch die Wunde in seinem Innern blutete unablässig weiter. Er hatte den Verlust Zanayas schon vorher überlebt, aber da war es kein wirklicher Verlust gewesen. Er hatte gewusst, dass sie sich wieder erheben würde und dass ihre Zeitlinien einander aufs Neue kreuzen würden.
Aber diese Gewissheit besaß er nun nicht mehr.
Gut möglich, dass seine Zani nun für immer schlief.
Alexander schrie erneut, und seine Qual ließ die Berge schmelzen, zu einem Strom aus Gold und Silber und selteneren kostbaren Metallen werden, der sich zäh durch jeden Spalt und über jeden Saum ergoss und schließlich erstarrte, eine Skulptur von erstaunlicher Schönheit, geformt aus Alexanders Trauer.
Kassandra warf sich hin und her, unfähig, zur Ruhe zu kommen.
Die Flammen, die ihr Lager waren, trösteten sie, schützten sie vor den Strudeln der Zeit, die ihr zu vieles offenbarte. Doch ganz konnte sie diesen Strudeln nur entkommen, wenn sie tief und wahrhaftig schlief. Aber ein solcher Schlaf war unmöglich, wenn sich Engel in ihrer Obhut befanden, deren Macht und Geschichte beständig an Gewicht gewannen.
Astaad, Michaela, Favashi und Zanaya, sie alle waren gefangen … in einer Zwischenwelt.
Aber es waren nicht nur diese Erzengel, die Kassandra im Auge behielt. Noch jemand schlief, fern von ihr, einen unnatürlichen Schlaf. Und dieses Wesen war durch ein Band mit ihr verbunden, das sie an jemand anderen knüpfte, ihr Blut war tief unter der Oberfläche miteinander verbunden. Vielleicht würden ihre Pulse irgendwann im selben Takt schlagen … aber heute noch nicht.
Heute schlug in keinem der Schläfer ein Puls, keiner zeigte irgendein Anzeichen von Leben.
Sie wusste nicht, ob sie träumten, aber sie wusste, dass sie kein Bewusstsein für die Welt hatten. Was in Anbetracht ihrer Wunden eine Gnade war. Trotzdem konnte sie ihre Gedanken spüren, gewaltig und machtvoll, und ihre Gedanken … rasteten nicht.
Hätte einer ihrer Brüder sie gefragt, woher sie das wisse, sie hätte ihm nicht antworten können. Sie konnte nur Vermutungen anstellen. Vielleicht lag es daran, dass die verwundeten Erzengel in der Obhut ihres Feuers ihren tiefen Schlaf schliefen. Ihre Gedanken waren mit ihr durch zarte Fäden verbunden, die es ihr gestatteten, ihr Leben zu bewachen. Denn gegen allen äußeren Anschein lebten sie, der Funke in ihnen flackerte nur, war aber nicht erloschen.
Noch nicht.
Sie konnte keine ihrer zukünftigen Zeitlinien sehen, nicht einmal den mattesten Schimmer. Alles verwirrte sich zu einem so fest geschnürten Knäuel, dass es vollkommener Dunkelheit glich. Dafür erkannte sie andere Dinge in den Strudeln, die ihren leichten Schlaf störten. Ihre Eulen umflatterten sie mit ihren weichen, weißen Federn, während sie sich zuckend im Schlaf hin und her wälzte. Da sie spürte, was sie erwartete, mied sie den Blick in den Strudel. Sie war so müde, ihr Geist glich einem Buntglasfenster, derart von Rissen durchzogen, dass es sich nie wieder zusammenfügen würde.
Ihre Farbe waren seine Farben.
Qin, ihr Qin.
Tränen rannen ihr über die Wangen, als sie gegen den Drang ankämpfte, hinzusehen, ein Kampf, den sie in den Äonen, seit ihre »Gabe« ihr zuteilgeworden war, noch niemals gewonnen hatte. Zu Zeiten, in denen sie bei Sinnen war, fragte sie sich, ob ihr Zorn zum Teil darauf zurückging, dass sie diesen Kampf immer wieder aufs Neue verlor. War sie so eitel und arrogant, dass sie ihre anhaltende Unfähigkeit, zu siegen, erzürnte?
Lachen, am Rand des Irrsinns.
Oh, das war ja sie, die da lachte.
Nein, sie war nicht wütend, sie hatte die Wut vor langer Zeit hinter sich gelassen, durch Schrecken und Zorn war sie in einen Kummer eingetreten, der jeden ihrer Atemzüge beschwerte. Manchmal dachte sie, sie müsse aus Tränen geboren sein, dass es für sie nichts gab als Salzwasser.
Ihr Geist wurde zu einem Kaleidoskop, splitterte wieder, neue Risse durchzogen das Buntglas.
Dann tat sich der Strudel vor ihr auf und offenbarte ihr unzählige Stränge, Millionen Leben, Millionen Möglichkeiten. Eine Entscheidung mochte zu diesem, eine andere zu jenem führen. Doch manche Entscheidungen … manche Entscheidungen führten immer zu dem einen Ziel. Alle Wege sammelten sich zu einem Engpass. Das war die in Stein gemeißelte Zukunft.
So wie die Zukunft, die nun in Gestalt scharlachrot glühender Schwingen vor ihr pulsierte.
Rot wie Blut.
Und doch wunderschön.
Während der Gedanke ihr noch durch den Kopf ging, begannen sich die Schwingen zu verdunkeln. Zu einem leuchtenden, schönen Rubinrot. Dann färbten sich ihre Ränder blau. Noch immer schön. Zu einem Seufzen, das sie zusammenzucken ließ, begannen Blau und Rot ineinanderzufließen, aber anstelle des violetten Farbtons, der das Resultat hätte sein müssen, verfärbten sich die Flügel zu einem kränklichen Grün.
Blutstropfen rannen über die Federn, jeder Tropfen von einem üblen Schwarz, das in den Strudel spritzte und alle Hauptadern mit einer sich rasch ausbreitenden Seuche überzog und alle zukünftigen auslöschte. Federn lösten sich aus den Schwingen und verbreiteten die Seuche weiter.
Sie fuhr auf, ihr Herz spiegelte das verzerrte Bild des zerfallenden Flügelpaars wider.
»Nein.« Ein Flüstern nur. »Nein. Sie haben den Preis bezahlt. Sie haben überlebt.« Nun müsste die Zeit des Wiederaufbaus und der Hoffnung gekommen sein.
Doch die Schwingen fuhren fort, die Strudel mit ihrem Gift zu verderben.
Einen.
Nach.
Dem.
Anderen.
Wieder.
Und.
Immer.
Wieder.
Bis die Schwingen nur mehr von Ansteckung zerfressene Knochen waren und die gesamte Zukunft ein widerwärtiger Würgegriff, aus dem es kein Entkommen mehr gab. Schreiend hob sie die Hände, um sich die Augen auszukratzen … doch ihre Eulen setzten sich auf ihre Finger und erinnerten sie daran, dass sie schlafen konnte, dass sie tief, sehr tief unter die Oberfläche sinken und zulassen konnte, dass sie im Nichts ertrank.
Aber heute konnte sie ihre geliebten Eulen weder hören noch sehen. Sie sah nur noch die zerfallenden Knochen der Schwingen, wie sie brachen, herabfielen und noch mehr Gift verspritzten. Also bohrte sie die Nägel in ihre Augen und grub sie aus ihren Höhlen. Glitschig und glänzend wie flüssiges Eisen floss Blut über ihre Finger. Aber wie groß der Schaden auch sein mochte, den sie sich zufügte, sie sah noch immer und wusste noch immer.
Ihre Eulen schlugen in ihrer Not, sie zu beruhigen, mit den Flügeln, doch sie schrie weiter.
Bis …
Eine einzelne Faser des Strudels funkelte wie schwarze Diamanten.
Dann trennte sie sich von einem dickeren Strang. Der Hauptstrang war mit Gift getränkt und endete in dem Knäuel, das das Ende der Ewigkeit, das Ende von allem bezeichnete. Während der diamantene dunkle Strang einer Zukunft entgegenstrebte, an deren Horizont neue endlose Möglichkeiten warteten und, einer nach dem anderen, neue Sterne funkelnd zum Leben erwachten.
Kassandra wollte diesen einen Hoffnungsfaden in ihre blutigen Hände nehmen, aber das war nicht möglich, so funktionierte ihre Gabe nicht, deshalb stand sie stets am Rand des Irrsinns. »Eine einzige Wegkreuzung.« Ihr Flüstern erreichte niemanden und ging in den Flammen auf, die sie entfacht hatte, um zu verhindern, dass ihre Gedanken in die Gedanken anderer einsickerten.
Elena, das sterbliche, dieses zum Engel gewordene Kind, verdiente ein wenig Schonung vor dem Flüstern einer wahnsinnigen Uralten.
Also vernahmen nur die Eulen ihr Schreien und Flüstern.
Denn die Erzengel in ihrer Obhut konnten nicht hören, nicht zuhören, da sie an einem Ort weit jenseits der Schmerzen, jenseits dieser Welt, vielleicht sogar jenseits aller Heilung weilten.
Kassandra schloss ihre bereits wieder nachwachsenden Augen und sank in einen unruhigen Schlaf. Trotzdem würde sie weiter ihren Schützlingen und den anderen lauschen. Vielleicht würde ja jemand aufwachen. Vielleicht würde sie in dem Strudel ja eine erfreuliche Überraschung entdecken. Das war auch früher schon geschehen. Manche Mächte waren größer als selbst das Schicksal.
Auf einer einzigen zerbrechlichen Zeitlinie hatte sie Elena am Leben gesehen.
Auf jeder Zeitlinie war die Sterbliche, zerbrochen und sterbend, in die Arme ihres Erzengels gesunken. Aber auf allen anderen war sie gestorben. Verschwunden, und mit ihr alle Zeitlinien, die wie Wellen von ihr ausgegangen waren, sodass die Welt eine ganz andere geworden war.
Eine stinkende, unheilvolle Welt des Todes.
Eine Welt, die so schrecklich war, dass Kassandra eingegriffen hatte. Sie hatte Brotkrumen der Vorausschau ausgelegt, die zu Handlungen führten, die wiederum neue Handlungen nach sich zogen. Lijuan hatte Alexander erweckt, weil sie glaubte, er würde erwachen, aber es war der Erzengel des Todes, der diese Verkettung von Handlungen in Gang gesetzt hatte.
So viele gewissenhaft ausgelegte Brotkrumen, so viele Schmetterlingsflügel, die den Äther aufrührten.
Denn, auch wenn Kassandra gelernt hatte, dass sie die Zukunft nicht verändern konnte, so hatte sie doch erfahren, dass sie sie beeinflussen konnte, je nachdem, welche ihrer Visionen sie weitergab. Sie gab weiter, dass Lijuan über die ganze Welt herrschen würde, eine Last auf den Schultern aller, die kämpften, die ihnen den Willen und ihre Kraft nahm. Dass sie eine verbrannte und verheerte Landschaft gesehen hatte, aus der ein Entsetzen erwuchs, das wie ein Wispern den Nacken hinaufkroch.
Und sie hatte andere Kenntnisse weitergegeben … dunkle Wahrheiten, die dunkelste jedoch nicht.
Und heute hatte sie, in ihrem Wahn, begriffen, dass sie die Zukunft doch verändert hatte. Allerdings nur bis zu einem gewissen Punkt. Denn am Ende war alles auf den Lebenswillen einer Sterblichen sowie die Kraft der Liebe eines Erzengels hinausgelaufen. Daran konnte sie nichts ändern, daran ließ sich nichts manipulieren. Daran scheiterte ihre Macht.
Andererseits … vielleicht genügte es ja. Vielleicht konnte sie damit leben, die Zukunft zu sehen, solange sie sie nur zu einem Bruchteil verändern konnte.
Der Gedanke verblasste, als sie tiefer in ihren Schlummer versank.
Doch während das geschah, erblickte sie noch ein allerletztes Bild, das ihr zu einer stummen Prophezeiung wurde: Liebendekommen,undLiebendegehen.DerFlussfließtnichtmehr.DieseZeitwirddasEndebringen.
Der Knabe kam mit einem Schrei zur Welt, der so laut gellte, dass er die Nachbarn aufschreckte, die nicht an derartige Störungen aus dem Haus zweier für ihr ruhiges und gleichförmiges Leben bekannter Gelehrter gewöhnt waren. Daher war die Szene, die sich nun in diesem gelehrten Heim abspielte, das aus Stein und Holz und als Verneigung vor Wissen und Wissenschaft erbaut worden war, voller Staunen – und Liebe.
Weder Gzrel noch Cendrion hatten seit der Zeit der Geburt ihres Sohnes Osiris vor gut zweitausend Jahren darauf gehofft, mit einem weiteren Kind gesegnet zu werden. Aber da war er nun, dieser ungestüme Knabe mit seinen kräftigen Lungen, dessen Flügel nur ein durchscheinender Hauch auf seinem Rücken waren.
Gzrel wiegte ihn an ihren zarten Brüsten, die Augen gingen ihr über, als sie einen Kuss auf die Wölbung seiner Wange drückte, während Cendrion seine winzige, zur Faust geballte Hand ergriff. »Alexander«, sagte er leise, denn sie hatten bereits entschieden, ihr Kind nach Gzrels Mutter Alexandre zu nennen, die der Grund dafür war, dass sie und Cendrion zusammengekommen waren.
Gzrel und Cendrion waren so scheu gewesen, dass sie niemals etwas zu unternehmen gewagt hätten, was die stille Freundschaft hätte gefährden können, die sie miteinander verband. Doch Alexandre hatte ihre Liebe zueinander gesehen und es so eingerichtet, dass sie während eines wütenden Wintersturms zusammen eingeschneit wurden – so lange, bis jeder die Sehnsucht und die Hingabe des anderen erkannt hatte. Und nun, Jahrtausende der Liebe später, hielten sie ein zweites Zeichen dieser Liebe in ihren Armen.
Osiris hatten sie nach Cendrions Vater benannt, der den Schleier durchschritten hatte, hinter den Unsterbliche nur so selten gelangten. Er war im Kampf gefallen und im Zorn eines Erzengels ausgelöscht worden. Und so kam es, dass Gzrels und Cendrions Kinder, Osiris und Alexander, Teile der Geschichte beider Seiten ihrer Familie weitertragen würden.
»Er besitzt Kraft«, sagte Cendrion mit tiefer Stimme. Das Grau seiner Augen hob sich warm und weich vom blassen Goldton seiner Haut und dem Braun seiner glatten Haare ab. »Ich bin mir fast sicher, dass ich nicht so geschrien habe, als ich geboren wurde.« Sein Tonfall ließ ahnen, dass er von Freude überwältigt war. »War es bei Osiris genauso, oder waren wir damals bloß jünger?«
Das Entzücken und gleichzeitig das Erschrecken darüber, noch einmal Eltern geworden zu sein, war noch nicht von ihnen gewichen, als einige Tage später Ojewo erschien, von dem es hieß, er sei ein entfernter Blutsverwandter von Kassandra selbst, um Alexander einen Besuch abzustatten. Gzrel wollte ihren kostbaren Säugling fest an sich drücken, um ihn vor dem fremdartigen Blick des Sehers zu beschützen, doch zugleich wollte sie ihn dem Seher aufdrängen, damit Ojewo ihnen weissagen könnte, welche zukünftigen Gefahren ihren Jungen erwarteten.
Weder Gzrel noch Cendrion waren Krieger. Sie mieden den Weg der Gewalt bereits seit Äonen, aber Gewalt war nicht der einzige mögliche Unbill im Leben. Beide verfügten über einen klugen Verstand. Wenn sie um eine Gefahr wussten, würden sie gewiss einen Weg finden, Alexander vor ihr zu bewahren.
Ojewo, dem trotz seiner Jahre eine gewisse Jugendlichkeit zu eigen war, lächelte, als er ihr Heim betrat, und dieses Lächeln war so von Licht erfüllt, dass Gzrel ihm, ihrerseits lächelnd, ihr Kind übergab, da sie sicher war, Alexander würde in den Armen dieses wohlgestalteten Engels gut aufgehoben sein. So viele schmachteten nach ihm, flüsterten vom rauchigen Grün seiner Augen und dem tiefen Braun seiner Haut, seiner schlanken Gestalt und seinem geheimnisvollen Lächeln.
Gzrel dagegen wollte ihn stets bemuttern, obwohl ihr bewusst war, dass er bereits erwachsen gewesen war, bevor sie auch nur ein Funkeln im Auge ihrer Mutter war. Vielleicht, weil er sie an einen jungen Osiris erinnerte, schlank und selten zum Lächeln aufgelegt, dessen Augen jedoch aufleuchteten, wann immer er sich doch einmal dazu bereitfand.
»Du trägst ein jugendliches Herz in dir«, hatte sie einmal zu ihm gesagt, hinlänglich verwirrt darüber, wie es möglich war, dass sie ihre natürliche Zurückhaltung kurzerhand vergessen hatte. »Ich habe immer gehört, dass Seher von dem, was sie sehen, heimgesucht werden und dass sie deshalb vor der Zeit altern. Ich bin sehr froh, dass dies auf dich nicht zutrifft.«
Im unmittelbaren Anschluss an ihre Worte errötete sie, die Hände flogen förmlich an ihr Gesicht. »Oh, was ist nur in mich gefahren? Verzeih, dass ich mich auf ein Terrain gewagt habe, das mir nicht zusteht.«
Ojewo hätte durch diese persönliche Bemerkung zu Recht gekränkt sein können, doch sie vernahm nur ein warmes, selbstbewusstes Lachen, das sie einhüllte, bis sie nicht umhin konnte, zu lächeln. »Ah, Gzrel, du musst keine Angst haben, so mit mir zu sprechen – nach all der Freundlichkeit anderen gegenüber hast du dir dieses Recht verdient.«
Dann hatte er sich zu ihr vorgeneigt, als wollte er ihr ein Geheimnis mitteilen. »In Wahrheit«, hatte er gesagt, warm stieg der Duft der Beeren, die überall in der Zuflucht wuchsen, von seiner Haut auf, »ist meine Hellsichtigkeit nur ein Hauch, verglichen mit der meiner äußerst legendären Vorgängerin. Es existieren keine Aufzeichnungen, keine Stammbäume, dennoch heißt es in meiner Familie, dass sie und ihr geliebter Qin ein Kind miteinander hatten. Aber wie auch immer, dieses Kind wurde geboren, bevor ihre natürliche Hellsichtigkeit zu … einer Raserei und einer Todesqual wurde.«
Nun lächelte er nicht mehr. Sie sah nur noch Trauer um eine Frau, die er nie gekannt hatte. »Und selbst wenn ich Blut von ihrem Blut bin, ein direkter Nachfahre, ist die Hellsichtigkeit, die ich von ihr geerbt habe, verglichen mit der erschreckenden Wahrhaftigkeit der ihren lediglich ein verblassendes Gemälde. Aber ich preise diese Gabe jeden Tag meines Lebens.«
Gzrel war innerlich zurückgeprallt, der Schmerz, den sie um Kassandra litt, brannte so heiß wie ihr Entsetzen. Denn Ojewo sah schon jetzt zu vieles und ertrug zu vieles. Noch mehr zu erfahren … Der Gedanke ließ sie sich Ruhe und Frieden für Kassandra wünschen, dort, wo sie in ihrem niemals endenden Schlaf lag.
Unsterbliche sollten, Gzrels Auffassung nach, noch weniger in die Zukunft sehen können als Sterbliche. Welchen Sinn hatte es, eine Zukunft zu sehen, die womöglich noch Jahrtausende entfernt war? Damit würde doch nur ein Schatten auf die Gegenwart fallen. Sie war immer dankbar gewesen, dass Ojewo Osiris niemals sein Geschick offenbart hatte. Er hatte nur gesagt, dass ihm, wie den meisten Neugeborenen, viele Möglichkeiten, viele Weggabelungen auf seinem Lebensweg offenstehen würden.
»Wenn ich ihm die Zukunft weissage, werde ich seinem gesamten Dasein einen bestimmten Farbton verleihen«, hatte Ojewo gemurmelt, als er ihren Erstgeborenen in den Armen hielt, und einen Augenblick lang hatte Gzrel geglaubt, einen tiefschwarzen Schatten über das Gesicht des Sehers huschen zu sehen. Aber dann hatte Ojewo lächelnd den Kopf gehoben, und der närrische Gedanke war verflogen.
Osiris war ein Säugling, unschuldig wie frisch gefallener Schnee.
Dank der Erinnerung an die Weigerung des Sehers, dem Kleinen zu weissagen, gab sie sich jetzt erleichtert dem Besuch wie ihrem Stolz hin, eine frischgebackene Mutter zu sein. Ojewo ging so behutsam mit Alexander um, berührte so vorsichtig die winzigen Fäuste des Jungen.
Die Alexander jetzt öffnete und nach den Fingern des Sehers griff.
Ojewos Zähne blitzten weiß, seine Augen funkelten. »Oh, du wirst stark werden.« Eine winzige Veränderung gegen Ende des Satzes, ein gewisser Tonfall, bei dem sich Gzrel die Nackenhaare sträubten.
Sie kannte diesen Tonfall, wusste, wovon er kündete. »Ojewo!« Sie wollte dem Seher das Kind aus den Armen nehmen … doch es war bereits zu spät.
»Silberne Schwingen«, sagte Ojewo leise. »Solche Schwingen. Solche Kraft. Silbernes Feuer.« Plötzlich ein Blinzeln, dann ein Gefühl, als reiße etwas, als würde sich der Seher mit Gewalt von seiner Vision befreien.
Gzrel schluckte, wartete. Ihr Unterleib gefror zu Eis, das Rückgrat wurde hart wie Eisen.
Doch Ojewos Lächeln wurde tief. »Oh, es tut mir leid, ich wollte dich nicht so erschrecken, Gzrel. Dieser Junge wird seinen Weg machen – und es wird ein ruhmreicher Weg sein.« Er hob das Kind, das er immer noch hielt, hoch und drückte die Lippen auf die Stirn des Säuglings. »Er wird so hell leuchten wie die Sterne.«
Gzrel schnappte nach Luft und schlug sich aufgewühlt auf die Brust. »Du meine Güte, und ich dachte, du wolltest mir etwas Furchtbares sagen!«
»Und dabei habe ich nur gesagt, dass dein Kind Ruhm ernten wird.« Wieder lachte Ojewo. »Aber glauben das nicht alle Eltern von ihren Kindern? Es ist eine Art Gesetz, nicht wahr?«
Gzrel lächelte noch nach Stunden, als sie Cendrion davon berichtete, der den Besuch versäumt hatte, weil er schon mit einem anderen Gelehrten verabredet gewesen war, der die Zuflucht für viele Jahre verlassen wollte.
Cendrion lachte sein leises Lachen, das ihr Halt gab. »Ojewo hat recht«, sagte er anschließend. »Es ist tatsächlich ein Gesetz.« Dann hob er Alexander aus seiner Wiege und sagte: »Oh, meine Liebe, heute, auf dem Heimweg hat mir ein Engelskurier einen Brief von Osiris übergeben. Er steckt in meinem Beutel.«
»Ach, wir haben schon zu lang keine Nachricht mehr von ihm.« Unfähig, bis zum Abendessen zu warten, suchte sie den Brief heraus und las ihn laut vor, während Cendrion mit Alexander spielte.
Ihr Erstgeborener war ein Mann des Studiums und der Innovation, auch wenn seine Arbeit eher praktischer Art und experimenteller war als ihre. Sie und Cendrion hielten Osiris für einen brillanten Gelehrten, der sie längst überflügelt hatte – und ihr Stolz, auf diese Weise überflügelt zu sein, hätte nicht größer sein können.
Sein Brief enthielt umfangreiche Notizen zu seinen jüngsten Projekten.
Grzel ging vor Freude das Herz über. »Ich frage mich, welche Entdeckungen Osiris in seinem Leben noch machen wird. Er ist jetzt schon so weit voraus.«
»Ich kann es kaum erwarten, mehr über sein Vorhaben zu erfahren«, sagte Cendrion, und sie sprachen noch eine Weile darüber, während Alexander sie mit Augen beobachtete, deren kindliche Unschärfe allmählich einem Grau wich, das so markant war, dass es schon ins Silberne spielte. Sein Haar war schon jetzt so golden wie das Gzrels, und laut Ojewo würden seine Schwingen die Farbe von Silber annehmen. Sie konnte bereits die Gestalt des Knaben erkennen, der aus ihm werden würde – schön und intelligent und ihr geliebter Augapfel.
»Und welche Entdeckungen, glaubst du, wird unser lautstarker Jüngster machen?«, fragte Cendrion irgendwann während ihrer Unterhaltung.
»Ich bin überzeugt, er wird die gewagtesten Experimente von uns allen durchführen!«
Dass auch Alexander einmal ein Gelehrter werden würde, schien selbstverständlich zu sein. Denn so weit die Erinnerung zurückreichte, hatten sämtliche Engel seiner mütterlichen und väterlichen Abkunft dieses Leben gewählt. Abweichungen hatte es allenfalls hinsichtlich ihrer Spezialgebiete gegeben.
Natürlich würde auch Alexander ein wissbegieriges Kind sein.
Als die Jahre ins Land gingen und ihr Jüngster heranwuchs, erinnerten sich Gzrel und Cendrion an Ojewos Worte nur mehr als an eine glückliche Bestätigung ihrer Überzeugung, dass ihr Kind alles werden würde, was sie in Kindern generell für angelegt hielten.
Der Einzige, der niemals vergaß, was er an jenem Tag gesehen hatte, war Ojewo selbst.
Während er über die vereisten Pfade der zerklüfteten Berge jenseits der Zuflucht wanderte, dachte er an die Visionen, die sich mit solch brutaler Wucht in seinem Geist entladen hatten, dass sie sich unmöglich eindämmen ließen: der Ruhm eines Erzengels von verflossener Macht, die Entscheidung, die er eines Tages gegen das Blut seines Blutes treffen musste, das Wispern nebliger Schwärze an einem Horizont in so ferner Zukunft, dass nicht einmal Ojewos Geist bis zu ihr gelangte … und schließlich das Wissen, dass Alexander in seiner Zeit sowohl großes Glück als auch großes Unglück widerfahren würde.
Es würde ein Leben in Großbuchstaben sein und der Welt seinen unauslöschlichen Stempel aufdrücken.
»Ich wünsche dir alles Gute, Kleiner«, flüsterte er Eis und Schnee zu, wobei sein Atem weiße Wölkchen in die Luft stieß. »Und ich hoffe, ich werde deinen Aufstieg wachend erleben.«
Ojewo hatte schon vor sehr langer Zeit begriffen, dass Kindern weiszusagen eine schwere Last bedeutete, unter der die Kinder zu ersticken drohten, weshalb er niemals aussprach, was er in ihnen sah.
Was jedoch nicht hieß, dass er nichts sah. Weit gefehlt.
Und natürlich gab es, undeutlich erkennbar, Weggabelungen, die in unterschiedliche Richtungen führten, auch in Richtungen, in denen der Knabe nicht aufsteigen würde. Doch Ojewo glaubte nicht daran, dass es sich dabei um reale Möglichkeiten handelte.
Seine Visionen waren zu deutlich gewesen, zu farbig.
Ojewos Herz empfand schmerzhaft die Qualen und Verluste, die Alexander erleiden würde, und er hoffte, dass jenseits der Schrecken und Todesqualen auch Glück auf ihn wartete. Doch Ojewo sah es nicht, er vermochte nicht, den verderblichen schwarzen Nebel zu durchdringen. Womöglich bezeichnete dieser Nebel die Grenze seiner Hellsichtigkeit … oder er verhieß etwas so Furchtbares, dass es die ganze Welt verschlang.
Alexander liebte es, seinen großen Bruder zu besuchen. Anders als bei vielen seiner Freunde, die ältere Geschwister hatten – auch wenn niemand in der Schule einen so viel älteren Bruder hatte wie er –, beachtete Osiris Alexander nicht nur dann, wenn er ihn an seinem Geburtstag beschenkte.
Seine Mutter erzählte, dass Osiris seinen Bruder schon besucht habe, als er noch ein Grünschnabel war, der nicht einmal seine Flügel spreizen konnte, und seither war er jederzeit für Alexander da. Mutter und Vater hatten Alexander vieles beigebracht, aber es war Osiris, der ihn tatsächlich praktisch unterwiesen hatte. Sein Bruder hatte ihm gestattet, im Laboratorium Pulver und Flüssigkeiten zu mischen, damit er mit eigenen Augen die Reaktionen sehen konnte, er hatte ihn mitgenommen, wenn er Tiere beobachtete, damit Alexander ihr Verhalten studieren konnte, er hatte ihm sogar das Schwimmen beigebracht!
Alexander war überzeugt, dass niemand auf der ganzen Welt so klug war wie sein Bruder.
Heute warf Osiris ihm einen nachdenklichen Blick zu, als Alexander über den schwarzen Sandstrand der fernen Sonneninsel lief, auf der Osiris lebte. Der Sand verbrannte ihm die Fußsohlen, daher rannte er, so schnell er konnte, gleichzeitig kreischend und lachend.
»Was bist du doch für ein Wildfang«, murmelte Osiris mit gekräuselten Lippen und im Sonnenschein glänzenden Silberaugen. Sie teilten das Silber und sogar das Gold der Haare miteinander, doch Alexanders Haar war glatt wie das ihres Vaters, während Osiris die Locken ihrer Mutter geerbt hatte.
Es gefiel Alexander, dass sie so unverkennbar Brüder waren. Der augenfälligste Unterschied war lediglich Osiris’ tiefer gebräunte Haut. Die Sonne brannte hier so heiß, dass Alexanders Bruder die meiste Zeit nur eine bis zur Hälfte der Oberschenkel fallende Tunika und Sandalen trug.
Alexander gab überhaupt nichts auf Kleidung. Er wusste, eines Tages würde er es müssen, doch zurzeit behandelten ihn alle noch wie ein Kleinkind, sodass niemand etwas dagegen hatte. Er grinste über das, was sein Bruder gesagt hatte, und tat, als würde er grollen, wie der Tiger, den sie einmal auf dem Gebiet der Zuflucht beobachtet hatten.
Osiris lachte und strich Alexander mit einer Hand über den Kopf – als eine Vampirin mit großen, braunen Augen und langem, dunklem Haar, die sich eine Wachsblume hinter das Ohr gesteckt hatte, hinter den Bäumen hervortrat. Ihre Tunika war aus braunen und schwarzen Streifen gewebt, und Fransen hingen ihr auf die Schenkel.
»Mein Lord«, sagte sie leise, mit gesenktem Blick. »Es ist fast Essenszeit.«
Alexander wusste, dass Livaliana Osiris’ Lieblingskonkubine war. Osiris hatte ihm erklärt, was Konkubinen waren, deshalb wusste er, dass sie besondere Freundinnen waren, die sein Bruder liebte, und Livaliana war ihm die Liebste von allen. Alexander mochte sie ebenfalls, denn sie war freundlich und sanftmütig wie seine Mutter, und zur Nacht sang sie ihm wunderschöne Lieder vor.
»Komm, wilder Knabe!« Osiris streckte seine Hand aus. »Unsere Lady ruft uns!«
Als Alexander zwischen den beiden her ging, eine Hand hielt die seines Bruders, während die andere Livalianas Hand umfing, sagte Osiris: »Was hältst du davon, mit deiner Ausbildung zum Krieger zu beginnen, kleiner Bruder?«
Alexander blieb stehen und blickte zu Osiris hoch, sein Herz schlug so laut, dass er nicht einmal mehr die Meeresbrandung vernahm.
»Meinst du wirklich?«
»Ja.« Er sah so ernst aus, dass Alexander es bis ins Innerste spürte. »Ich glaube, unsere scheuen und streitunlustigen Eltern haben womöglich ein Kriegerkind in die Welt gesetzt. Meine Ersten Wächter sind zu mir gekommen, um mir zu sagen, dass sie die Energie in dir erkennen, die ihnen selbst innewohnt. Daher dachte ich, wir sollten sowohl den Weg des Gelehrten als auch den des Kriegers offenhalten und dir gestatten, deine eigene Entscheidung zu treffen.«
Alexander konnte nicht sprechen, ihm fehlten die Worte, stattdessen schlang er die Arme um Osiris’ Beine und klammerte sich an ihn. Glucksend zauste ihm sein Bruder das Haar. »Ich hätte es wissen müssen. Du bist schon hoch und weit geflogen, als die meisten deiner Freunde nicht einmal vom Boden abheben konnten. Ich habe so eine Ahnung, kleiner Bruder, dass du nicht für den in unserer Familie bevorzugten Lebensweg bestimmt bist.«
Alexanders Freude war so groß, dass er glaubte, aus der Haut fahren zu müssen, und dieser Zustand der Glückseligkeit hielt an, bis er in die Zuflucht zurückkehrte, wieder Kleidung anlegte und seine Ausbildung begann.
Er lernte Callie am zweiten Tag seiner Ausbildung kennen. Ihre Augen waren so blau, dass es beinah wehtat hineinzublicken, und sie war ein wenig älter als er, aber da es in dieser »Lebensphase«, wie seine Mutter sich ausdrückte, in der Zuflucht nicht viele Kinder gab, trainierten sie alle gemeinsam.
Als ihr Ausbilder Callie aufforderte, ihm eine Übung zu zeigen, die sie bereits beherrschte, sagte sich Alexander, er müsse vorsichtig sein – denn obwohl sie älter war, war sie doch auch kleiner und schmächtiger als er. Doch dann trat sie ihm plötzlich die Beine weg, sodass er hart auf sein Hinterteil fiel, und ihm wurde klar, dass sie zäher sein musste, als sie aussah.
Also hielt er sich nicht länger zurück.
Da er der Neuling in der Klasse war, hatte er keine Chance gegen sie, doch sie lachte ihn nicht aus wegen seiner Fehler, sie zeigte ihm bloß auf, warum er gescheitert war, und erklärte ihm, wie er es zukünftig besser machen konnte. Nach der ersten Woche ihres Unterrichts setzte er sich in der Pause zu ihr. Sie erlaubte es ihm, aber später, auf dem Heimweg, beschloss er, auf einen Baum zu klettern, und fiel dann irgendwie herunter. Dabei löste sich eine Traube reifer Früchte. Die Früchte platzten und bespritzten ihre gepflegte, saubere Tunika.
»Alex!« Puterrot ignorierte sie seine Entschuldigungen und stapfte nach Hause.
Bald wurde deutlich, dass Callie keineswegs einen Freund in ihm sah. Nicht, dass er darüber betrübt gewesen wäre. Ja, er mochte sie, aber er konnte sich nichts Schlimmeres vorstellen, als von ihr zum Mittagessen oder zu einem Fest eingeladen zu werden. Denn da würde er seine besten Manieren hervorkehren müssen. Und so etwas gefiel Callie ausnehmend. Was er überhaupt nicht verstand. Schließlich war sie eine unglaubliche Kämpferin … aber dann traf sie sich mit ihren Freundinnen zu Honigkuchen und Tee, und alle trugen dazu ihre feinsten Kleider.
Während der Ausbildung jedoch war alles anders. Da konnte er sie verstehen – in jeder Unterrichtsstunde, jedes Mal, wenn sie ihn zu Boden schickte, trieb sie ihn weiter an … bis eines Tages er sie zu Boden warf.
Sie blickten einander mit großen Augen an.
Dann warf er die Hände in die Luft und drehte eine Runde um den Übungsring. »Eins zu einhundert für mich!«
Sie lag im Dreck, das Haar klebte ihr schwarz im Gesicht, und sie lachte, bis ihr die Tränen kamen, und da wusste er, es machte ihr nichts aus, dass er sie besiegt hatte.
Von da an wurden ihre Übungskämpfe immer besser, Alexanders Körper wurde stärker und gelenkiger, seine Gedanken wurden erwachsener – und sein zukünftiger Werdegang kristallisierte sich immer deutlicher heraus. Osiris oder seinen Eltern sagte er davon nichts. Noch nicht. Gzrel und Cendrion hatten ihn gelehrt, gründlich zu überlegen, bevor er sich zu etwas entschloss, ganz gleich, ob es um seine Meinung zu einer neuen Speise oder um seine Gedanken über irgendeine Neuigkeit ging.
Alexander hasste es zu warten. Warten war Zeitverschwendung. Er wusste immer schon auf Anhieb, was er dachte, und änderte seine Meinung nie. Aber er wusste auch, dass seine Familie Wert darauf legte, genug Zeit auf Gedanken zu verwenden. Gestern erst war er unversehens auf seine Mutter getroffen, die immerzu die Wand anstarrte, auf die sie ihre Arbeit betreffende Kreidezeichnungen geworfen hatte, obwohl sie eigentlich hätte packen müssen.
Als er daran dachte, warum sie hatten packen müssen, bildete sich in seinem Magen ein Knoten: Ein ranghohes weibliches Mitglied ihrer Engelshofburg hatte auf einmal ihr am Rand einer Klippe gelegenes Heim für sich beansprucht. Alexander hatte mit seinen Eltern darüber gestritten, dass sie den Räumungsbefehl anfechten sollten, doch sie hatten ihn nur mit einem vagen Lächeln auf ihrem Gesicht angesehen, das in Wahrheit gar kein Lächeln gewesen war.
Sein Vater hatte gesagt: »Für diesen Erzengel sind wir nichts, Alexander, einfach zwei unbedeutende Gelehrte, die nur deshalb zu ihrem Hofstaat gehören, weil andere uns unsere Forschungsergebnisse dann nicht wegnehmen können, ohne damit einen Streit mit ihr vom Zaun zu brechen. Es ist ja keineswegs so, dass unsere trockenen Spezialgebiete ihrem Hof besonderes Prestige verleihen, und deshalb wäre unsere Eingabe für sie lediglich eine lästige Bagatelle.«
»Aber es ist keine Bagatelle!« Alexander hasste es, dass andere seine Eltern einfach so herumstoßen konnten.
»Ach, Baby …« Seine Mutter hatte ihm die Brust getätschelt und ihren Kreidestaub darauf hinterlassen. »Wir verlieren nichts, wenn wir unsere Kraft nicht damit vergeuden. In unserer neuen Wohnung ist Platz genug für unsere Schriftrollen und -tafeln und all das, und wir werden zusammen sein. Politik interessiert uns nicht, deshalb lassen wir uns nicht darauf ein.«
Alexander hätte darauf schroff reagieren und etwas Herzloses über Schwäche und einen Mangel an Rückgrat sagen können, aber er hatte es nicht getan, weil er seine Mutter und seinen Vater liebte und sie nie irgendetwas gesagt oder getan hatten, das ihn verletzt hätte.
Das war auch der Grund, warum er vorgab, noch nachzudenken, obwohl er längst wusste, was er wollte.
Aber diese Entscheidung … »Ich will ihnen nicht das Herz beschweren«, hatte er eines Tages, auf halben Weg vom Jüngling zum Erwachsenen, langbeinig und schlaksig, zu Callie gesagt, woraufhin sie entschieden hatte, dass sie ihn wohl für kurze Zeiträume würde ertragen können.
Freunde waren sie zwar immer noch nicht, aber er wusste, dass er ihr vertrauen konnte, und er hoffte, sie wusste ihrerseits, dass sie ihm vertrauen konnte. »Ich bin sicher, mein Bruder hat es schon erraten«, hatte er hinzugefügt. »Aber meine Eltern stellen sich eine fortlaufende Linie von Gelehrten vor.«
Caliane stupste ihn mit der Schulter an. »Sie werden schon nichts dagegen haben, Alex. Sie werden es nicht verstehen, aber sie sind so freundlich, dass sie dich trotzdem lieben werden.«
Alexander klammerte sich an diese Ermutigung, als er endlich mit seinen Eltern über seine Entscheidung sprach. »Ich möchte dem Weg des Kriegers folgen«, sagte er und schluckte schwer. »Krieger zu sein passt so gut zu mir, als hätte ich immer schon in diese Haut schlüpfen sollen.«
Er sah weder Zorn noch Enttäuschung in ihren Gesichtern, nur die Liebe, die seit jeher Teil seines Lebens war.
»Was immer dich glücklich macht, Alexander.« Sein Vater drückte ihm den Arm, dann wandte er sich seiner Mutter zu und sah sie mit einer Zärtlichkeit an, die Alexander erröten ließ. »Gzrel und ich wussten immer, dass du deinen eigenen Weg gehen würdest. Ist es nicht so, mein Herz?«
Das Lachen seiner Mutter erfüllte den Raum mit Sonnenschein. »Ich weiß noch, wie ich dir sagte, du könntest nicht bei Osiris bleiben, als du noch klein warst, und wie du dich deshalb mit mir gezankt hast.« Ihre Augen tanzten. »Andere Kinder hätten vielleicht einen Wutanfall bekommen, du aber hast deinen gesamten Wortschatz bemüht, um mich davon zu überzeugen, dass ich ›falsch, falsch und nochmal falsch‹ lag. Wenn mein Gedächtnis mich nicht trügt, hast du genau diese Worte in genau diesem Tonfall verwendet.«
Alexander konnte nicht anders, er musste darüber grinsen, und als seine Mutter ihre schlanken Arme um ihn legte und ihn an sich zog, erwiderte er ihre Umarmung. Dabei wurde ihm bewusst, wie klein und zerbrechlich sie war; er war längst größer und stärker als sie. Andere hätten ihr ohne Weiteres wehtun können.
Ihn überkam eine Woge reinster Liebe, die ihm die Kehle zuschnürte, und er schloss sie noch fester in seine Arme.
Später fragten ihn seine Eltern, ob er die Gelehrsamkeit vollends aufgeben wolle, und Alexander schüttelte den Kopf. »Mein Bruder hat mir oft gesagt, dass es die Krieger am weitesten bringen, die sich nicht nur auf dem Schlachtfeld bewähren können, sondern auch über einen klugen Kopf verfügen.«
»Jene, die zum Hofstaat der Erzengel gehören«, hatte Osiris gesagt, »besitzen nicht bloß Muskelkraft. Sie sind hochintelligente Denker und kundige Strategen. Sieh zu, und lerne!«
Und das hatte Alexander getan, er hatte genutzt, was er schon als kleines Kind bei seinen Eltern gelernt hatte, um die Engel und Vampire zu erforschen, die den Erzengeln als Zweite und Älteste Höflinge zur Seite standen. Keinen von ihnen konnte man als ausschließlich muskulös bezeichnen, auch wenn manche auf dem Schlachtfeld todbringende Kämpfer gewesen waren. Dann folgten die Überraschungen. Ein Zweiter war ein Administrator ohne Kampferfahrung, wieder ein anderer trug das Gewand eines Heilers.
Alexander wollte ihren Entscheidungen auf den Grund gehen, so wie seine Eltern es ihm beigebracht hatten, er wollte sie verstehen. Er wollte nicht bloß wissen. Die Oberfläche des Sees war das eine, das tiefe Wasser darunter etwas ganz anderes.
»Ich muss zugeben, ich bin froh, das zu hören«, bemerkte seine Mutter zu seiner Erwiderung, weiterhin Studien zu betreiben, wobei ihre Finger mit dem Anhänger spielten, den sie niemals ablegte. »Auch wenn dein Weg dir sehr viel abverlangen wird. Aber du wirst auf deine Gesundheit achtgeben, nicht wahr, mein Sohn?«
Als er sich bei Callie über die übermäßige Fürsorge seiner Mutter beklagte, antwortete sie: »Das ist ihre Aufgabe als Mutter. Wenigstens sagt mir das mein Vater.« In ihrem Gesicht zeigte sich keine Emotion, sie schien lediglich in Erinnerungen versunken.
Callie hatte keine Mutter. Ihre Mutter war bei ihrer Geburt gestorben. Alexander hatte als Kind nicht begriffen, wie so etwas sein konnte – Unsterbliche lebten ewig, von sehr speziellen Umständen abgesehen, die zumeist mit schweren Verletzungen des Körpers wie Enthauptungen einhergingen.
Nun war er älter, doch er erkannte, dass er immer noch kaum etwas davon verstand, also ging er nach Hause und bat seine Mutter, es ihm zu erklären.
Gzrel war beschäftigt, doch sie legte ihre Arbeit weg, hakte ihn unter, und sie gingen zusammen bis zu der Kluft im Erdboden der Zuflucht, die dort gewesen war, solange Alexander zurückdenken konnte.
»Die Kluft tat sich vor etwa einhundert Jahren auf«, begann seine Mutter, die seinem Blick gefolgt war, »und wie es aussieht, vertieft und verbreitert sie sich zu einer Schlucht, einem Schlund. Ich frage mich, was in tausend Jahren daraus geworden sein wird und wann die Ausdehnung an ihr Ende kommt.«
Alexander war an derartige zusammenhanglose Bemerkungen seiner Mutter gewöhnt, besonders, wenn es um Felsgestein und die Erde, Gzrels Spezialgebiete, ging. »Und was denkst du?«
»Es ist noch zu früh, um sicher sein zu können«, sagte sie stirnrunzelnd, »aber ich stimme nicht mit denen überein, die überzeugt sind, dass die Kluft die Zuflucht am Ende verschlingen wird. Ich glaube vielmehr, sie wird aufhören, sich weiter zu vertiefen, sobald ein gewisses Gleichgewicht erreicht ist, aber wann genau es so weit sein wird, bleibt vorläufig im Dunkel.«
Alexander versuchte sich vorzustellen, wie es wohl sein mochte, wenn man so alt war wie seine Mutter oder sein Vater – Tausende von Jahren alt. Doch der Gedanke daran fühlte sich wie ein schwerer Stein auf seiner Brust an. Manchmal fragte er sich, wer er sein würde, wenn er einmal ein solches Alter erreichen sollte, doch der Gedanke war zu sehr in die Ferne gerichtet. Seine Wirklichkeit war das Heute, und heute hörte er seiner Mutter zu, die über Callies Mutter sprach. »Ma?«
»Ja?« Sie blinzelte zu ihm hoch. »Ach, ja, entschuldige, mein Sohn.« Mit der Hand, mit der sie sich nicht bei ihm untergehakt hatte, klopfte sie ihm auf den Arm und erklärte: »Der Tod im Kindbett ist unter Sterblichen unglücklicherweise nicht ungewöhnlich. Vieles kann schiefgehen, wenn man ein Kind zur Welt bringt; bei uns Unsterblichen jedoch heilen diese Wunden dank unserer hochentwickelten Selbstheilungskräfte besser, sodass wir sie praktisch niemals zu spüren bekommen.«
»Und Callies Mutter hat sich nicht davon erholt?«
Zu seiner Verblüffung schüttelte sie den Kopf. »Doch, soweit wir wissen, schon; sie starb nicht während der Geburt, sie starb einen Tag darauf. Calianes Vater bestand trotz seiner Trauer darauf, dass die Heiler den Leichnam seiner geliebten Frau öffneten, um die Todesursache festzustellen, weil seine Tochter darüber Bescheid wissen sollte. Das muss die schwerste Entscheidung seines Lebens gewesen sein – aber es war auf jeden Fall richtig. Kein Kind sollte glauben müssen, der Grund für den Tod der eigenen Mutter gewesen zu sein.«
Alexander schluckte, ein Kloß saß ihm in der Kehle. Sprechen konnte er nicht, deshalb blickte er vor sich hin, damit seine Mutter glaubte, er konzentriere sich nur auf ihre Worte.
»Was sie herausfanden, war, dass Calianes Mutter bereits vorher vom Tode gezeichnet war – ein Teil ihres Herzens hatte sich nie richtig ausgebildet. Auch wenn solche Wachstumsunregelmäßigkeiten unter uns ungewöhnlich sind, so kommen sie doch gelegentlich vor.«
Obwohl seine Mutter an der Stelle verstummte, war Alexander alt genug, um zu verstehen, dass das Herz von Callies Mutter so gründlich versagt und eine Unsterbliche getötet hatte, weil es sehr viel Kraft kostete, ein Kind zur Welt zu bringen.
Und Callie war klug; sie würde es ebenfalls wissen.
Deshalb würde Alexander ihr gegenüber niemals darauf zu sprechen kommen. Sie mochten nicht miteinander befreundet sein, doch sie hatte stets sein Wohl im Auge gehabt, und nun war es an ihm, auf ihr Wohl zu achten. So machte man das, wenn man ein guter, loyaler Kampfgefährte war.
»Gzrel!«
Seine Mutter versteifte sich, als sie hörte, wie eine unbekannte Männerstimme ihren Namen rief, ihr Gesichtsausdruck jedoch blieb neutral. Alexanders Haut kribbelte, doch er blieb stumm, als ein gutaussehender, hochgewachsener Krieger mit braunen Locken auf sie zukam. Die Lederkleidung des Fremden war abgetragen, doch der Ärmelaufschlag an seinem Handgelenk war mit Gold und kostbaren Edelsteinen verziert – ein Symbol für die Gunst Rumaias, der Erzengelsfrau, der sie alle drei Gefolgschaft geschworen hatten.
»Oh, wen haben wir denn da?«, fragte der Mann mit breitem Grinsen, bei dem sich Alexanders Muskeln anspannten. »Sag mir nicht, das ist dein Baby.«
»Ja, das ist mein Sohn, Alexander.« Die Stimme seiner Mutter klang nicht ganz richtig, ihre Freude war zu laut, zu bemüht. »Alexander, dies ist Phiron, der Vierte in Rumaias Rangfolge.«
Der Mann lachte herzhaft und ausgiebig. »Oh, Gzrel, willst du deinem Sohn denn nicht sagen, dass wir einmal mehr füreinander waren?« Der Mann sah Alexander aus zwinkernden hellblauen Augen an. »Als junger Mann habe ich deiner Mutter nachgestellt. Ich war verrückt nach ihr, aber sie hatte nur Augen für Cendrion.«
»Das ist ein Zeitalter her«, sagte seine Mutter. »Wir waren damals kaum erwachsen.«
»Ganz richtig«, nickte Phiron und klatschte in die Hände. »Aber lass mich dir sagen, deine Stimme klingt noch genauso lieblich wie damals. Sie klingt so zart wie Musik in meinen Ohren.«
»Es ist mir eine Ehre, dich kennenzulernen«, sagte Alexander, bevor seine Mutter sich zu einer Entgegnung gezwungen sah, denn im Unterschied zu seinen Eltern wusste er bereits, wie man das Spiel der Politik betrieb, wie man das eine sagte und etwas anderes meinte.
Er studierte die politischen Manöver so eifrig, wie seine Mutter die Erde und ihr Gestein studierte.
Phiron klopfte ihm auf die Schulter. »Wie ich höre, lässt du dich zum Krieger ausbilden«, sagte er und ließ damit erkennen, dass er mehr über ihre Familie wusste, als er anfangs hatte durchblicken lassen. »Vielleicht finde ich Zeit, dir eine Privatstunde zu geben, solange ich in der Zuflucht bin.« Ein Grinsen. »Jetzt muss ich gehen. Aber wir sehen uns noch, Gzrel.«
Seine Mutter schwieg, bis sie zu Hause waren, dann drehte sie sich um und packte Alexanders Oberarme. »Mein Sohn, lass dich auf keine Einladung allein mit Phiron ein. Wenn du nicht höflich ablehnen kannst, dann nimm Callie mit – ihr Vater ist Rumaias Waffenmeister und Phiron gleichgestellt. Und sie ist kein Kind, das Phiron schlecht zu behandeln oder brutal zum Schweigen zu bringen wagen würde. Er wäre somit gezwungen, dich anständig zu behandeln.«
Alexander, der seine Mutter noch nie derart verstört gesehen hatte, kämpfte gegen seinen revoltierenden Magen und sagte: »Ma, was ist? Hat dieser Mann dir wehgetan?« Die Erregung in ihm brannte grell und stechend wie die Sonne.
Ein Kopfschütteln, und ihr Blick verschwamm. »Nein, aber … er hegt Groll gegen mich, dieser Phiron, und er verzeiht keine Zurückweisung.« Sie griff nach dem Anhänger in ihrer Halsgrube. »Aber das ist sicher töricht, es ist schon so lange her, und wir waren damals kaum mehr als Kinder. Trotzdem … er hat mit seiner langjährigen Geliebten gebrochen, und ich –«
Sie biss sich in die Unterlippe. »Hinter seinem falschen Lächeln verbirgt sich Wut, Alexander. Seine Schönheit ist nichts als die Maske seiner inneren Hässlichkeit. Und wir existieren vor seinen Augen, eine Familie, die einander in Liebe verbunden ist. Das mag nicht viel scheinen, aber Phiron hat noch nie viel gebraucht, um sich in seiner Wut zu suhlen, wenn er dazu aufgelegt ist. Und ich fürchte, diesmal hat er es auf uns abgesehen. Also, versprich mir, vorsichtig zu sein!«
»Ich verspreche es«, sagte Alexander ohne Zögern, der Phiron wegen der Panik, die er in Gzrel ausgelöst hatte, schon jetzt hasste. Und er war auch kein Kind mehr – er wusste, dass seine Mutter gelogen hatte. Phiron hatte ihr wehgetan, sie wollte es Alexander bloß nicht sagen.
Mit geballter Faust kämpfte er gegen den Impuls an, zu dem Krieger zu gehen und ihn zum Kampf herauszufordern. Was eine Dummheit wäre. Weil er verlieren würde. Er war noch ein Knabe, und Phiron der Vierte einer Erzengelsfrau. Er würde Alexander wegschnippen wie eine lästige Fliege.
Es wäre weit besser für Alexander, wenn er einen anderen Weg fand, dieser Bedrohung zu begegnen.
Aber dann schlug Phiron viel schneller zu, als einer von ihnen es gedacht hätte. Vier Tage später kam Alexander nach Hause und fand seinen Vater zusammengeschlagen auf dem Boden ihres Heims liegen, das Gesicht kaum mehr als blutiger Brei. Cendrions Flügelknochen waren zerschmettert, der blutige Abdruck eines Stiefels war noch darauf erkennbar, und er hatte ein Auge verloren, kroch aber noch zur Tür.
Eine lange Blutspur auf dem polierten Holzboden, den Alexander heute Morgen noch gefegt hatte, legte stummes Zeugnis von dem furchtbaren Weg ab, den er bereits zurückgelegt hatte.
»Papa!« Alexander brach neben seinem Vater in die Knie. »Papa! Ich hole den Heiler!«
Cendrion griff mit zerfleischten Händen nach ihm, die Finger des Konstrukteurs waren gebrochen und verdreht, und an seinem Handgelenk fehlte der Armreif aus Metall und Bernstein, den er sonst immer trug. »Nein«, ächzte er durch das Blut. »Gzrel … Phiron … hat … Gzrel.«
Die Panik in Alexander wurde zu Eis. Dennoch erstarrte er nicht. Nein, er nutzte das Eis, um klar zu denken, sich zu überlegen, was er tun konnte, und um die Kluft zwischen dem Knaben, der er heute noch war, und dem Mann zu überbrücken, der er werden wollte. »Ich verstehe, Papa«, sagte er mit frostiger Ruhe. »Ich weiß, was zu tun ist.«
In dem einen noch verbliebenen Auge seines Vaters brannte Furcht, als er erneut zu sprechen versuchte. »Rum–«
»Ich weiß«, unterbrach ihn Alexander, da sein Vater mit seinen Kräften haushalten musste. »Ich werde nicht zu Rumaia gehen.« Phiron mochte eine unverzeihliche Grenze überschritten haben, aber er war immer noch Rumaias Vierter, und als seine Familie sich gezwungen gesehen hatte, ihr Heim einem anderen ihrer Favoriten zu überlassen, hatte Alexander erkannt, dass Rumaia ihrem inneren Zirkel mit Nachsicht begegnete. Da war es ebenso wahrscheinlich, Gzrel mitzuteilen, welche Ehre es sei, derart begehrt zu werden, wie Phiron zu bestrafen.
Nun, da er einen Plan hatte, beeilte sich Alexander, eine Decke zu holen, die er mit zartfühlender Behutsamkeit über den zerschmetterten Körper seines Vaters breitete. Zerschmettert, aber nicht tödlich getroffen. Ein Engel konnte sogar solchermaßen brutale Schläge verkraften. Und Alexander wusste, was sein Vater nun von ihm erwartete. Also flog er, statt zu einem Heiler, mit energischen Flügelschlägen schnell zu General Akhia-Solay, dem Zweiten des Erzengels Esphares.
Esphares und Rumaia waren Todfeinde. Und General Akhia-Solay war Esphares’ engster Vertrauter, außerdem gehörte der General zu den Zweiten, die Alexander am meisten bewunderte. Nach allem, was Alexander beobachtet und gehört hatte, war Akhira-Solay klug, was wesentlich dazu beigetragen hatte, dass Esphares Herrscher über ein solch großes Territorium werden konnte.
Darüber hinaus war Akhira-Solay ein Ehrenmann. So jung er noch war, verstand Alexander doch, was Ehre bedeutete, und er wusste, was es hieß, gut zu sein. Schließlich war er von Eltern erzogen worden, die ehrbar waren bis ins Mark – so ehrbar, dass sie gar nicht begriffen, wie weit die Böswilligkeit anderer gehen konnte. Zu sehen, wie seine Mutter wegen Phiron an sich selbst gezweifelt hatte, obwohl sie seine Niedertracht aus eigener Erfahrung kannte …
Als Alexander das durchschaute, erkannte er auch, dass Rumaias Ehre besudelt und wertlos war, eine Erkenntnis, die er bisher eher geahnt hatte, an der er seit heute jedoch nicht mehr im Mindesten zweifelte. Phiron hätte niemals gewagt, so zu handeln, wenn er mit irgendeiner ernsthaften Bestrafung hätte rechnen müssen.
Erzengel Rumaia interessierte sich nur für sich selbst und für die, die ihr nahestanden; wer nicht zu ihrem inneren Zirkel gehörte, stand nicht unter ihrem Schutz. Für Alexander indes war der Schutz der Schwächeren das Herz jeder Ehrbarkeit. Und General Akhira-Solay war dafür bekannt, dass er Kinder und andere gegnerische Nichtkämpfer persönlich aus der Kampfzone geflogen hatte.
Außerdem verfügte Erzengel Esphares dank Akhia-Solay über die disziplinierteste Armee des Kaders der Zehn. Der General ließ im Krieg, von Friedenszeiten ganz zu schweigen, weder Vergewaltigungen noch Plünderungen zu. Und da seine Truppen sich darauf verlassen konnten, dass ihr Erzengel – wohlunterrichtet von ihrem General – sie für ihre Treue und ihre harte Arbeit belohnen würde, eilte Akhia-Solay von Sieg zu Sieg.
Getrieben von seiner Verzweiflung hielt sich Alexander nicht damit auf, nach Wachen Ausschau zu halten, als er drei Grenzen innerhalb der Zuflucht überschritt, um in den Esphares gehörenden Bezirk zu gelangen. Ihm war klar, dass er entdeckt worden sein musste, aber er war ja nur ein Kind.
Die meisten Wachen hatten Befehl, Kinder nach Gutdünken fliegen zu lassen.