Gilde der Jäger - Engelserbe - Nalini Singh - E-Book

Gilde der Jäger - Engelserbe E-Book

Nalini Singh

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Beschreibung

Nachdem sie die letzte Bedrohung abgewendet haben, genießen Raphael und Elena den Frieden und ihre Liebe. Doch die Ruhe hält nicht lange an. Bei einem Ball, auf dem der gesamte Kader das erste Mal, seit der Krieg zu Ende ist, zusammenkommt, bebt die Erde. Und das unter der Zuflucht, wo das Wertvollste der Engel aufwächst - ihre Kinder. Aber das ist nur der Anfang: Schon bald erschüttern Naturkatastrophen ungeahnten Ausmaßes die Welt, während sich gleichzeitig ein Wesen erhebt, das älter ist als jede Erinnerung. Dieser uralte Engel warnt vor einer Gefahr, einer Dunkelheit, die so mächtig ist, dass selbst alle Erzengel zusammen sie nicht aufhalten können. Und die Zeit läuft schneller ab, als sie denken ...

»Rasant und emotional erzählt. Familie, Freundschaft und Liebe stehen im Mittelpunkt dieses packenden Romans.« THE GOOD, THE BAD AND THE UNREAD

Band 16 der GILDE DER JÄGER von SPIEGEL-Bestseller-Autorin Nalini Singh


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Seitenzahl: 542

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Inhalt

Titel

Zu diesem Buch

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Die Autorin

Nalini Singh bei LYX

Impressum

NALINI SINGH

Engelserbe

GILDE DER JÄGER

Roman

Ins Deutsche übertragen von Ralf Schmitz

Zu diesem Buch

Zehn Jahre ist es her, dass der Kader Lijuans Erbe besiegt und die Wiedergeborenen vernichtet hat. Seitdem bemühen sich die Erzengel, die immer wieder aufflammenden Aufstände rebellierender Vampire niederzuschlagen und den Frieden zu wahren, während sie ihre Territorien zu alter Blüte zurückführen. Doch Qin, einer der Uralten, die während des Krieges erwacht sind, zieht sich in den Schlaf zurück, um seiner großen Liebe näher zu sein, und bringt die Ordnung damit in Gefahr. Ausgerechnet als der Kader so auf eine gefährliche Zahl von nur acht Erzengeln schrumpft, bahnt sich neues Unheil an. In der Zuflucht, wo die Engel ihr kostbarstes Gut, ihre Kinder, verborgen halten, beginnt die Erde zu beben. Und das ist nur der Anfang, schon bald wird die Welt von Naturkatastrophen heimgesucht, wie es sie in dieser Häufigkeit und Stärke noch nie gegeben hat. Während Raphael zusammen mit den restlichen Erzengeln versucht, den drohenden Weltuntergang zu verhindern, schlägt Elena sich zudem mit familiären Problemen herum, denn das Leben ihres Vaters steht nach einem schweren Herzinfarkt auf Messers Schneide. Und zu allem Überfluss erhebt sich in dieser bedrohlichen Zeit ein neuer Spieler aus dem Schlaf, und es ist nicht sicher, ob er dem Kader dabei helfen wird, die Erde zu retten, oder ob er den Untergang beschleunigen wird. Nie war es wichtiger für Elena und Raphael zusammenzustehen und gemeinsam in den – vielleicht letzten – Kampf zu ziehen.

1

Oh, nicht …

Deine Tränen verletzen mich, aber ich habe keine Wahl. Ich kann nicht mehr. Ich habe es versucht, bis kein Atemzug in der Hülle meines Körpers zurückblieb und kein Herz im Zentrum meines Selbst.

Der Fluss …

… fließt immerdar. Was fällt, wird sich erheben. Diese Zivilisation, oder eine andere, was kümmert es mich?

Liebster, du warst niemals so herzlos. Du hast dich immer um dein Volk gesorgt. Ich habe dich neugeborene Sterbliche in deinen Armen wiegen und ihre zarten Wangen küssen sehen.

Du begreifst, warum ich es tun muss, Liebster. Tue ich es nicht, werde ich mich allmählich in ein Monster verwandeln, kalt und ohne Mitgefühl sein für jene, die geringer und schwächer sind, und nur noch meine leere Hülle wird übrig sein.

Ach, mein Herz, komm zu mir, wir werden heute und morgen und übermorgen in meinem Feuer ruhen, bis ans Ende der Ewigkeit.

Und während eines Herzschlags zwischen Lebensspannen werde ich in deine Augen blicken und wieder ein Ganzes sein.

2

Elena holte mit einem ihrer in Stiefeln steckenden Beine weit aus, um den Spielraum zu prüfen, den ihr umfangreiches Ballkleid ihr ließ, und lächelte, als der Stoff sich löste, als gäbe es ihn nicht. »Montgomery hat wieder sein Bestes gegeben«, sagte sie und schob anschließend ihre Wurfmesser in die dekorativen Messerscheiden an ihren Unterarmen.

An einem bestimmten Punkt ihrer annähernd zwei Dekaden als Raphaels Gemahlin hatte sie den Entschluss gefasst, sich ein neues Markenzeichen zuzulegen: Unterarmscheiden. Und inzwischen fand es niemand mehr verwunderlich, dass sie Waffen wie Schmuck trug. Es war darüber hinaus auch wesentlich einfacher, sich nicht mehr Verstecke für ihre Waffen ausdenken zu müssen.

Was nicht bedeutete, dass sie nicht auch versteckte Waffen am Körper trug.

Elena würde niemals auf eine verdeckte Würgeschlinge verzichten oder auf ein Blasrohr für in Gift getauchte Pfeile. Letzteres war ein nicht ernst gemeintes Geburtstagsgeschenk ihrer Gildefreunde gewesen, doch sie hatte erkannt, dass es in Situationen, in denen andere Waffen womöglich als Zeichen der Feindseligkeit aufgefasst würden, als Schmuckanhänger durchgehen konnte.

Ihrem persönlichen Stil Unterarmscheiden hinzuzufügen hatte die letztere Gefahr erheblich gemindert. Wen interessierte es schon, ob die hochnäsigen alten Engel in ihrer Herablassung von der »Affektiertheit einer Sterblichen« sprachen und ihre Nasen so hoch in die Luft reckten, dass es fast an ein Wunder grenzte, dass sie nicht aus dem Gleichgewicht gerieten und rückwärts umkippten. Diese Dummköpfe glaubten allen Ernstes, sie würden sie damit beleidigen.

Ha, ein sterbliches Herz, eine sterbliche Seele zu besitzen war ein Geschenk, das sie in dieser Welt, in der so viele die Jahrhunderte vergeudeten, weil es immer noch einen weiteren Tag für sie gab, besonders zu schätzen wusste.

Was sie indessen abstoßend fand, war eine Gruppe junger, »trendiger« Höflinge, die sie mit edelsteinbesetzten Ungeheuerlichkeiten, die sie Klingen nannten, zu kopieren wagten. Es war eine Beleidigung für jedes Wurfmesser, denn ihre Messer konnten keinen einzigen Meter geradeaus fliegen, geschweige denn ein Ziel treffen. Doch damit würde sie sich wohl abfinden müssen, wie Illium meinte, denn es sei nun einmal ihr Los als »Mode-Ikone«.

Eines schönen Tages würde sie ein Hühnchen mit ihrem hübschen Glockenblümchen rupfen.

Da wurde in ihre Überlegungen hinein ihr offenes, bis zur Taille fallendes weißes Haar zur Seite gestrichen und ein Kuss auf ihren Nacken gedrückt, der einen Schauer durch ihren Körper jagte, als sich am Rand ihres Blickfelds weißgoldene Flügel öffneten.

Ihr Herz schlug Purzelbäume, als wäre dies das erste Mal, dass Raphael sie berührte.

Stöhnend ließ sie sich gegen seinen warmen, muskulösen und nackten Oberkörper fallen. »Heißt das, du bist mit meinem Vorschlag einverstanden, dass wir die ganze Sache abblasen und uns dafür lieber ausziehen?«

In ihren Gedanken brausten eisblaue, windgepeitschte Meere, sein Lachen erfüllte ihre Welt. »Ach, hbeebti, leider muss ich heute meine Pflicht erfüllen. Genauso wie du.« Noch ein Kuss, diesmal in ihre Halsbeuge, während er ihr eine Hand auf den Bauch legte. »Allerdings, wenn alles erledigt ist … ich kenne einen Ort, weit entfernt vom Rest der Welt, an dem wir unsere Flügel miteinander verschränken können.«

Ihre Schenkel zuckten, das Verlangen, das sie zu ihm hinzog, glich einer machtvollen Sucht; ihn zu kennen, mit ihm zu wachsen hatte dazu geführt, dass sie dem Erzengel von New York immer tiefer verfallen war.

Ohne sich ihm ganz zuzuwenden, hob sie ihre Hand hoch zu seinem Nacken und strich mit den Fingern über seine warme Haut. »Damit haben wir eine Verabredung, an die ich dich erinnern werde.« Müde des Prunks und der Politik, brauchte sie, was nur er ihr zu geben vermochte.

»Mir gefällt das Kleid«, sagte er leise, als sich im Spiegel ihre Blicke trafen.

Seine Augen waren Zwillingsflammen, von eindringlich blauer Farbe und unmöglich scheinender brutaler Reinheit, die sie jedes Mal wie ein Schlag ins Herz traf. Seine mitternachtsschwarzen Haare waren zerzaust und feucht, nachdem er rasch geduscht hatte; sein Gesicht war gefährlich attraktiv unter der leicht gebräunten Haut.

Das Legionsmal an seiner rechten Schläfe – in Gestalt eines stilisierten Drachens – flackerte wie das Licht ins Meer stürzender Diamanten. Die damit verbundene Macht hatte sich erst in jüngster Zeit erneuert. Das Zeichen war stumpf und schwach geworden, nachdem die Legion ihr Leben geopfert hatte, und, wie eine sehr alte Tätowierung, immer mehr verblasst.

Es hatte ihr wehgetan, es mitanzusehen, und sie wusste, es hatte auch Raphael selbst wehgetan. Sie hielten beide die Legion für ihre Selbstaufopferung in hohen Ehren, doch gleichzeitig vermissten sie diese außerweltlichen Wesen, die aus der schweigenden Tiefe emporgestiegen und zu einem festen Bestandteil New Yorks geworden waren.

Doch das Verblassen des Mals hatte sich in den letzten Monaten umgekehrt, bis sie beide zu hoffen begonnen hatten, die Legion könnte zurückkehren. Oder dass sie wenigstens noch in irgendeiner anderen Form in der kalten Umarmung des Wassers weiterexistierte, dem sie einst entstiegen war.

»Du siehst aus wie eine auferstandene Göttin, Gildejägerin.« Ein weiterer in ihre Halsbeuge gepresster Kuss.

Gänsehaut überlief ihre Arme, ihre Brustwarzen wurden zu harten Spitzen. »In dieser Beziehung bis du der Schöne«, neckte sie ihn, obwohl »schön« zweifellos das falsche Attribut für Raphael war. Trotz seiner Attraktivität hatte sein Gesicht eine angeborene Härte, einen Zug ins Martialische.

Ihr geliebter Erzengel war vor allem ein Krieger.

Er verzog die Lippen zu einem Lächeln und zupfte am Stoff ihres Gewands. »Was ist das? Es fühlt sich beinah so zart an wie deine Haut.«

»Ich habe keine Ahnung, aber mir gefällt es sehr gut.« Im Unterschied zu dem gegenwärtigen Aufruhr in der Zuflucht war dieses Gewand keine in Stoff gegossene Schaumschlägerei. Stattdessen floss es geschmeidig und kühl wie flüssiges Silber-Blau über ihren Körper. Eng an den Schultern, teilte es sich unter dem tiefen Ausschnitt und offenbarte ihren Bauch – trotzdem saß das gesamte Oberteil so fest und sicher, dass sie keinerlei Gefahr lief, mehr preiszugeben, als sie preisgeben wollte.

Von der Taille abwärts fiel es, wie Montgomery ihr gesagt hatte, in einer perfekten A-Linie.

Elena war sich da nicht ganz sicher gewesen – der Entwurf, den er ihr gezeigt hatte, sah viel zu sehr nach Abschlussballkleid aus –, aber der Butler und sein Lieblingsschneider hatten wie immer recht gehabt. Der aus sieben verschiedenen Teilen bestehende Rock war vorne höher als hinten geschnitten und verlief von der Mitte ihres linken Oberschenkels bis zur Wade des rechten Beins in einer scharfen Diagonale.

Dank dieses Schnittes konnte sie sich leichter bewegen – falls nötig, konnte sie in diesem Ding buchstäblich zu hohen Tritten ausholen. Es war sogar ihre Vorliebe für Stiefel berücksichtigt und ihr zu dem Kleid ein passendes Paar samt verborgenen Messerscheiden in beiden Schäften angefertigt worden, denen schließlich noch dekorative Elemente in einem kräftigeren Silberton hinzugefügt wurden. Die unter der kürzeren Vorderseite des Rocks hervorblickenden Stiefel sahen nicht nur knallhart aus, sondern waren auch so stabil, dass Elena im Kampf nicht das Gleichgewicht verlieren würde.

Die Unterarmscheiden hoben sich glänzend schwarz von dem dunklen Goldton ihrer Haut ab, der den marokkanischen Anteil ihrer Herkunft bezeugte. Diese Scheiden waren nicht so gut wie jene, die sie sonst verwendete, erfüllten aber ihren Zweck. An ihrem Oberarm saß der juwelenbesetzte Dolch, den sie von Raphael bekommen hatte – juwelenbesetzt, aber mehr als zweckmäßig, falls sie ihn einem der hochnäsigen Engel ins Auge rammen musste, wie sie es sich bei solchen Veranstaltungen so oft ausmalte.

Doch heute Abend war nicht der Dolch ihr Prunkstück. Denn vom Hals bis zum Ausschnitt befand sich ein schwarzes »Tattoo«, das Aodhan vor ihrem Aufbruch aus New York auf ihre Haut aufgetragen hatte. Auch das war Mode unter den Engeln und, wie sie zugeben musste, mehr nach ihrem Geschmack als die übrigen gegenwärtigen Moden der Engelheit – besonders, da Aodhan die Tinte so gestaltet hatte, dass sie zu dem Zeichen an Raphaels Schläfe passte.

Ihre Tätowierung war etwas länger gezogen, die Linien schienen eine mächtige Kreatur im Flug anzudeuten, aber dass die beiden Zeichen zusammen ein Paar bildeten, stand außer Frage.

»Es wird einen Monat vorhalten«, hatte Aodhan ihr nach Beendigung seiner Arbeit versichert; der Hals des Drachens schlang sich so um ihren Nacken, dass sein Kopf an ihrem Schlüsselbein ruhte.

Näher war sie dem Engel, dessen ganzer Körper aus Licht zu bestehen schien, nie gekommen, sein Atem strich über ihre Haut, als er sich über sie beugte und an die Arbeit machte. Sie hatte sich gefragt, ob es sich seltsam anfühlen würde, obwohl sie nur Freunde waren. Doch dann hatte sie erkannt, dass sie in diesem Moment nichts als eine Leinwand für Aodhan war.

»Die Leinwand gibt keine Widerworte«, hatte er gebrummt, als sie eine Meinung zu äußern wagte, doch seine Lippen hatten sich dabei verräterisch gekräuselt.

Jetzt strich Raphael mit einem Finger über die Linien ihres Tattoos und hielt über der vom Schnitt ihres Gewands halb entblößten Wölbung ihrer Brust inne. »Ich genieße es so sehr, wie es aussieht, wenn du unbekleidet bist und deine Schenkel um mich schlingst.«

Seine Schwingen überragten seine Schultern, während sie die ihren an seinen Leib presste, sodass nur die schwarzen Bögen sichtbar waren, und sie betrachtete sie beide im Spiegel. Zwei Wesen, deren Treue in Stein gemeißelt, deren Liebe ein schlummerndes Inferno war, heiß und träge, bis sie ihr Feuer entfachen wollten.

Sie und ihr Erzengel – zuerst hatten sie gemeinsam einen psychotischen und dann einen größenwahnsinnigen Erzengel überdauert, eine Kaskade grauenhafter Tode und, tja, nur so zum Spaß, einen vampirischen Aufstand im Anschluss an einen Krieg, der die ganze Welt verwüstet hatte.

All das Seite an Seite.

Nun zeichnete Raphael das Tattoo in entgegengesetzter Richtung nach, dann fuhr sein Finger mit verschwenderischem Mutwillen wieder zurück, seine Augen verschwanden unter schweren Lidern, als er sie so liebkoste.

»Wenn du nicht aufhörst, ersteche ich dich.« Sie funkelte ihn an. »Ich muss für die Großmächtigen mein dümmlich-höfliches Gesicht aufsetzen. Also, hör auf, mich mit Gedanken an Nacktheit abzulenken, wenn du dich nicht ernsthaft darauf einlassen willst.«

Sein Grinsen, das nur sehr wenige jemals gesehen hatten, war durchtrieben und jung. »Ich darf dich daran erinnern, dass ich einer dieser Großmächtigen bin.«

Sie schob ihren Flügel zur Seite, stieß ihm ihren Ellbogen in die steinharten Bauchmuskeln und drückte dann eine Messerklinge dagegen, ohne jedoch seine Haut zu ritzen. »Du hast momentan kaum etwas am Leib, Mr Großmächtiger Raphael. Wir kommen zu spät, wenn du dich nicht beeilst, und ich werde dich ganz sicher erstechen, wenn wir nachher länger bleiben müssen, um die Zeit nachzuholen.«

Sein Grinsen änderte sich nicht, als er sich zurückzog. Seine Stimmung führte dazu, dass sich ihr ganzer Körper anspannte. Bei der machtvollen Vorstellung, ihn anzuspringen, ihre Schenkel um seinen köstlichen Körper zu schließen, seine Hand fest auf ihre Brust zu pressen und ihn zu küssen, bis er den Verstand verlor, wurde ihr Mund trocken, und ihr Puls raste.

»Wie blutrünstig.« Der sengende Blick seiner blauen Augen gab ihr, dunkel und dekadent, ein Versprechen, auch wenn seine Worte unbeschwert klangen. »Wahrlich eine Frau, die ich anbete.«

Sie sah zu, wie er vor den Kleiderschrank trat, in dem die Dienerschaft ihrer Hofburg in der Zuflucht die formelle Lederkleidung aufbewahrte, die er heute Abend anlegen wollte. Er trug bereits die schwarze Hose, nun streifte er das ärmellose schwarze Oberteil über, das seine definierten Oberarmmuskeln sowie die Unterarme sehen ließ, in die sie am liebsten hineingebissen hätte.

Ruhig, Elena, sagte sie sich. Darauf kannst du zurückkommen, wenn du genug Zeit hast.

Das kragenlose, maßgeschneiderte Oberteil wurde an der linken Seite mit einem schwarzen Reißverschluss geschlossen.

So sauber, kraftvoll und sexy, sie hätte ihre Zunge verschlucken können.

Nun folgten Raphaels Stiefel von derselben Farbe, dann schnallte er, unter ihren Augen, die Armschienen fest, die sie ihm zum Geschenk gemacht hatte. Die Armschienen, jede für sich aus einem einzigen Stück schwarzen Eisens gefertigt, das Metall mit verschlungenen, handgearbeiteten Mustern verziert, schützten seine Handgelenke und Unterarme und dienten dazu, im Kampf Schwerthiebe abzuwehren.

Bevor sie noch wollüstig auf ihn losstürmen würde, wandte sie sich ab und beschloss, ihr Haar zu einem hohen Pferdeschwanz zusammenzunehmen.

Blieben noch die handgearbeiteten Ohrstecker aus Bernstein zu erwähnen – einer eine Miniaturarmbrust, der andere der dazugehörige Bolzen. Beide nur für sie erschaffen und ein stummes, aber eindeutiges Zeichen dafür, dass sie aufs Engste mit dem Erzengel von New York verbunden war.

Da sie bereits Make-up aufgelegt hatte, war sie bereit, als Raphael ein Schwert in die Scheide auf seinem Rücken schob. In Anbetracht ihres rückenfreien Gewandes hatte sie ihre Flügel nicht extra unterbringen müssen, während sein Oberteil Flügelschlitze aufwies, die er nun mit seiner Macht verschloss. Die Schwertscheide war in das Rückenteil eingelassen, das zeremonielle Schwert hatten ihm seine Sieben vor annähernd fünfzig Jahren anlässlich seines eintausendfünfhundertsten Geburtstags geschenkt.

Das Schwert hatte einen geschnitzten Griff mit sieben vertikal untereinander eingelassenen funkelnden schwarzen Diamanten, die für die sieben Männer standen, die Raphael ihren Lehnsherrn nannten und ohne Zögern ihr Leben für ihn hingeben würden.

»Gemahlin.« Das Haar forsch aus dem Gesicht gestrichen, mit einer Miene, die sie sein »Erzengelgesicht« nannte, streckte er ihr seine Hand hin.

»Gemahl.« Lächelnd legte sie ihre Hand in seine.

Und musste zugeben, dass sie sich schön und stark fühlte, als sie ihre Zimmerflucht verließen. Dass mancher Engel beim Anblick ihrer verschränkten Hände vor Überraschung die Fassung verlieren würde, verstärkte das gute Gefühl umso mehr.

Warum lächelst du so, Elena-mein? Seine Stimme war wie eine Schwertklinge, die durch ihre Gedanken wie durch Salzwasser schnitt.

Als sie ihm den Grund nannte, sah er sie mit lachenden Augen an, hob ihre Hand an seine Lippen und küsste ihren Handrücken. Ihr Herz geriet aus dem Tritt. Was es immer tat. Und immer tun würde. Denn dieser mörderische Mann, den sie einst gefürchtet und dessen gewaltige Kraft inzwischen zu einer vertrauten Liebkosung für sie geworden war, war ihr ein und alles.

Wie lange ihre Ewigkeit auch währte, sie würden sie Hand in Hand durchschreiten.

Der Boden bebte, als sie ihren Weg durch die Hofburg fortsetzten, die Raphael in der Zuflucht unterhielt. Erbaut aus dunkelgrauem Stein, war sie zu stark, um sich unter einer unbedeutenden Erschütterung zu regen, doch diese Vibration war unverkennbar.

Sein Lächeln verging. »Das ist schon das dritte heute.«

»Das sind wie viele in den drei Tagen, die wir jetzt hier sind? Zehn?«

»Ungefähr.« Raphaels Haar schimmerte im Licht der altmodischen Gaslampen links und rechts des Vordereingangs, der Nachhall einer Vergangenheit, den man wegen seiner kunstvollen metallenen Schönheit bewahrt hatte.

»Es gab in der Zuflucht immer schon seltsame Erschütterungen und gelegentliche Erdbeben«, ergänzte er, »aber soweit ich weiß, nichts derart Anhaltendes – allerdings kann ich das nicht mit Sicherheit sagen. Verglichen mit vielen anderen bin ich noch jung; aber ich bin sicher, wir werden es heute Abend erfahren.«

Denn heute Abend würden sie sich unter den übrigen Kader mischen, zum ersten Mal seit dem Krieg würden alle neun Erzengel an einem Ort zusammenkommen. Der Grund dafür war zwar lediglich eine Versammlung des Kaders. Doch da sich Unsterbliche unmöglich mit etwas Bescheidenem zufriedengeben konnten, würde es einen großen Ball geben, um das »neue Nachkriegszeitalter einzuläuten«.

Elena konnte sich nicht erinnern, wer genau das gesagt hatte, auf jeden Fall aber eine der großen Damen der Engelswelt, und mit »Damen« meinte sie übergriffige alte Wichtigtuerinnen auch männlichen Geschlechts.

Als hätten sie zu diesem Zeitpunkt nicht bereits seit zehn Jahren in der Nachkriegszeit gelebt. Allerdings, so musste sie widerwillig einräumen, konnte sie den Grund dahinter erkennen – dies war das erste Jahr tatsächlicher Ruhe. Jeder einzelne vampirische Aufstand war niedergeschlagen worden, niemand hatte seit mehr als zwölf Monaten irgendwelche Rückstände von Lijuans Wiedergeborenen oder Charisemnons Gift gefunden, und auch die Reparaturen – oder der Wiederaufbau – der letzten beschädigten oder zerstörten Gebäude waren abgeschlossen.

Endlich schien es so, als könnten sie aufatmen.

Ja, sie konnte nachvollziehen, warum die Leute ein rauschendes Fest veranstalten wollten. Was vielleicht gar nicht so übel sein würde, wenn sie die steifen, förmlichen Gespräche erst einmal hinter sich hatten; sie hatte nichts dagegen, die Nacht danach mit Raphael und ihren Freunden durchzutanzen. Denn heute Abend würde so ziemlich der größte Teil der erwachsenen Bevölkerung der Zuflucht anwesend sein.

Vor ihrem Einzug würden sich Raphaels Hochrangigste, Galen, Naasir sowie Trace, zu ihnen gesellen. Erzengel konnten zu einer solchen Versammlung nicht einfach auftauchen, sie mussten ihr Gefolge mitbringen. Und so ergab es sich, dass Raphaels mörderisch skrupelloses Gefolge sich genauso über den Pomp amüsierte wie sie.

Galens Gefährtin Jessamy würde sich vor dem offiziellen Einzug von ihnen trennen. Elena hatte erst gestern erfahren, dass Jessamy als Bibliothekarin und Historikerin der Engel keinem bestimmten Hof angehörte – und damit allen Höfen. Doch natürlich wussten alle, dass sie Raphael am nächsten stand, mit ihm einzutreten wäre jedoch eine schwere Kränkung des restlichen Kaders gewesen.

Andromeda, die zweite Bibliothekarin der Engel und Naasirs Gefährtin würde sich ebenfalls mit Jessamy entfernen. Allerdings nicht aus dem gleichen Grund, sondern weil Andi genau genommen zu einem anderen Hof gehörte.

Wie es sich zeigte, warteten alle fünf im Hof der Hofburg. »Sind wir zu spät?« Elena blickte auf ihr Handgelenk, ehe ihr wieder einfiel, dass sie keine Uhr trug. Etwas hatte sich in den letzten sechs Monaten in der Zuflucht verändert, sodass Geräte nicht mehr richtig funktionierten. Vor allem Uhren, digital oder analog, waren ein Totalausfall.

Die Wissenschaftler arbeiteten daran, die Ursache zu entdecken, doch in der Zwischenzeit musste Elena lernen, die Sonnenuhr zu entziffern – zum großen Vergnügen des jungen Sam, der diese Herausforderung schon gemeistert hatte, als er »noch ein Baby« gewesen war. Elena hätte nie damit gerechnet, von einem griesgrämigen Gelehrten mit einem gewaltigen weißen Schnurrbart im Gebrauch von Sonnenuhren unterwiesen zu werden, während Engelskinder um sie herumflatterten und sie anspornten.

Jessamy, die ihr kastanienbraunes Haar zu einer komplizierten Krone geflochten trug und deren schöne Augen freundlich blickten wie stets, sagte lächelnd: »Nein, wir sind früh genug. Es ist Jahre her, seit die Zuflucht zuletzt zu einem großen gesellschaftlichen Ereignis geladen hat, und wir sind genauso aus dem Häuschen wie die Kinder.«

»Dann lasst uns gehen und die Ältesten erschrecken.« Raphaels Erklärung wurde von Galen, Naasir und Trace mit gereckten Fäusten und von Jessamy und Andromeda mit unverhohlenem Lachen quittiert.

Elena lachte in sich hinein.

3

»Trace«, rief Raphael mit einem Mal, »was hast du nur für schöne rosa Haare!«

»Magenta. Nicht rosa.« Der weltmännische Vampir verneigte sich mit einem Schwung, der so elegant war wie der schwarze Anzug, zu dem er ein Hemd und eine Krawatte trug, die kaum ein, zwei Schattierungen heller waren. »Ich habe mit Illium gewettet und verloren.« Seufzend erhob er sich wieder zu seiner vollen Größe. »Man sollte meinen, ich wäre inzwischen schlauer, aber es war zu verlockend.«

Andromeda, deren Sommersprossen über ihre Nase und ihre Wangen tanzten und deren Haar, ein Halo aus glänzend braunen Locken, heute Abend von bronzefarbenen Strähnen durchzogen war, neigte den Kopf zur Seite und sah Trace an. »Und was hätte er tun müssen, wenn er verloren hätte?«

»Eine Woche lang monochrome Outfits anziehen.«

»Das hört sich gar nicht so übel an.« Elena deutete auf den Mann mit wahrhaft silbernen Haaren, die von seiner tiefbraunen Haut abstachen, der seine Hand auf Andromedas unterem Rücken hatte. »Ich meine, Naasir rockt den Abend in Monochrom.«

Naasirs anthrazitfarbener Anzug harmonierte perfekt mit dem bronzefarbenen brokatartigen Stoff von Andromedas Abendkleid. Das Material hätte ein Desaster sein können, doch Andi hatte sich für ein eng anliegendes Kleid entschieden, das einen so mutigen wie umwerfenden Kommentar zu ihrer zierlichen und kurvenreichen Figur abgab.

»Ach, ich habe zu erwähnen vergessen, dass ich die Farbpalette ausgesucht hätte«, stellte Trace klar. »Am ersten Tag hätte er in grellem Purpur gehen müssen, und am nächsten in fauligem Gelb. Aber besonders gefreut hätte ich mich auf das schreiende Neongrün.«

Andis Kichern war so ansteckend, dass alle lachen mussten, als sie sich langsam auf den Weg zu dem riesigen, offenen Platz im Zentrum der Zuflucht machten, der entstanden war, nachdem die sonst üblichen Grenzwälle entfernt worden waren. Heute war dieser Ort ähnlich neutral wie die Medica, die Bibliothek und die Schule.

»Die Kinder haben ununterbrochen über die Veranstaltung heute Nachmittag gesprochen«, wandte sich Jessamy an Elena, als beide nebeneinanderher schritten, während sich Raphael mit Galen und Trace unterhielt.

Naasir und Andi gingen voran.

Im Unterschied zu Andis figurbetontem und Elenas weit fließendem Gewand trug die große, schlanke Jessamy ein Kleid, das ein einziger luftig-rosiger Hauch war. In der Taille von einem goldenen Band zusammengehalten, schloss es hoch am Hals ab und umspielte ihre Fußknöchel wie lebendiger Nebel.

Ihre Flügel, ihre herrlichen, leuchtend magentafarbenen Flügel, die in rosigen und cremefarbenen Spitzen ausliefen, vermochten sie noch nicht hoch in die Lüfte emporzutragen … noch nicht. Doch in den Jahren, seit Raphael seine von der Kaskade befeuerten Fähigkeiten eingesetzt hatte, um sie zu heilen, hatte sich ihr missgestalteter linker Flügel so weit erholt, dass er schon fast mit dem rechten übereinzustimmen schien.

Nur ihre engsten Freunde und ihre Familie wussten von den Schmerzen, die Jessamy auf sich genommen hatte, um so weit zu kommen. Die Physiotherapie war derart brutal gewesen, dass Galen ganz bleich geworden war, und Raphaels Waffenmeister trug nicht ohne Grund den Spitznamen »Barbar«. Doch Jessamy war entschlossen, den Himmel mit ihren Flügeln zu erobern, während Galen entschlossen war, sie in ihren sämtlichen Wünschen zu unterstützen. Und auch wenn sie noch keine längeren Strecken fliegend zurücklegen konnte, gelang es ihr inzwischen bereits, einen kontrollierten Gleitflug durchzustehen, solange sie von einem hochgelegenen Ort aus startete.

Ihre Freude darüber, am Himmel zu sein, war einfach nur … strahlend zu nennen.

»Danke, dass du vorbeigekommen bist«, fügte sie ergänzend hinzu. »Die Kinder beten dich an.«

»Als würde ich mir das Ereignis des Jahres entgehen lassen.« Elena stieß Jessamy mit der Schulter an; beide waren für Frauen ungewöhnlich groß. »Ich wäre gekränkt gewesen, wenn die Kinder mich nicht zu ihrer Party eingeladen hätten.« Die Party war ein herzerquickendes Spektakel aus Spielen, Essen und Musik gewesen. Aber jetzt, während die Erwachsenen feierten, würden die älteren Kinder auf die Kleineren aufpassen, und die Erwachsenen würden im Lauf der Nacht abwechselnd nach ihnen sehen.

Den Heranwachsenden indes hatte man erlaubt, dem Ball während der ersten Stunde beizuwohnen. »Ich kann mich nicht erinnern, als Teenager jemals an etwas Derartigem teilgenommen zu haben«, sagte sie zu Jessamy, als sie eine mit bunten Laternen erleuchtete steinerne Brücke betraten.

Auch in den Bäumen leuchteten Laternen und entlang der Fußwege, die sich durch die Gärten der Zuflucht schlängelten, während große, geschlossene Fackeln den kühlen Frühlingsabend mit Wärme und Licht erfüllten. Die Wege waren voll von Engeln und älteren Vampiren in ihrer unsterblichen Erhabenheit.

Alles war von verschwenderischer Schönheit.

Mehr als eine Person warf einen Blick in ihre Richtung, doch niemand näherte sich ihnen. »Naasir, starrst du die Leute an?«

Er blickte mit Silberaugen über seine Schulter, mit so ausdrucksloser Miene, dass man nicht vermutet hätte, dass sich dicht unter seiner Haut eine wilde, einzigartige Verspieltheit befand. »Ich schaue bloß außerordentlich ernst.«

Andi, die sich bei ihm untergehakt hatte, sah sich nach ihnen um. »Er zeigt seine grimmigste Seite.« Und flüsternd: »Er macht mir Angst.«

Naasir beugte sich hinunter und zwickte sie mit seinen scharfen, tigerartigen Zähnen ins Ohrläppchen. Andi kreischte auf und schlug ihn ganz leicht auf die Brust, dann lehnte sie sich, eine Hand um seinen muskulösen Oberarm gelegt, gegen ihn. Die beiden waren wirklich anbetungswürdig, auch wenn Naasir sich noch immer weigerte, Elena zu verraten, welcher Spezies er eigentlich angehörte. Oh, und alle anderen amüsierten sich sehr darüber, dass sie noch immer nicht dahintergekommen war.

»Ellie! Ellie! Hier oben!« Der Gruß kam von einem der Häuser am Rande der Schlucht, die Stimme klang klein und hell. »Lehrerin Jessamy, du siehst sehr hübsch aus!«

Als Elena zum ersten Stockwerk hinaufschaute, entdeckte sie einen Jungen, braune Flügel mit schwarzen Spitzen, mit einem schwarzen Lockenkopf, der sie von einem offenen Fenster aus anstrahlte. Seinen schmächtigen Körper lehnte er so weit heraus, dass nur der Griff seines älteren Bruders an seinem Wams einen Absturz verhinderte.

Elena winkte zurück, während Jessamy es ihr gleichtat. »Benimm dich heute Abend, dann fliege ich morgen mit dir!« Sam blieb einer ihrer Lieblinge in der gesamten Zuflucht.

Auch nach all der Zeit fiel es ihrem Verstand noch schwer zu begreifen, wie langsam Engel heranwuchsen, und manchmal verblüffte es sie noch immer, dass Sam so lange ein kleiner Junge blieb, eines jedoch wusste sie genau: Sie würde ihn ihr Leben lang lieben. Der Kleine hatte einfach das Herz und die Liebenswürdigkeit dazu.

»Versprochen?«, rief Sam aus.

»Versprochen.« Sie warf einen Luftkuss zu ihm hinauf, dann winkte sie seiner Cousine. »Das gilt auch für dich, Tarielle!«

Das hoch aufgeschossene Mädchen, das nach menschlichen Begriffen etwa fünfzehn war, strahlte.

»Ich kann es kaum erwarten!«

»Rafa! Rafa!« Ein winziges Metronom auf Speed, winkte Sam jetzt Raphael zu. »Morgen gehe ich mit Ellie fliegen! Und Tari auch!«

Raphaels Spitzname aus der Kindheit feierte unter den Kindern Wiederauferstehung, nachdem eines von ihnen mitbekommen hatte, dass ein älterer Erwachsener den Namen erwähnte. Und da ihr Erzengel seit jeher eine Schwäche für Kinder hegte, hatten sie freie Hand, ihn so zu nennen.

»Vielleicht schließe ich mich euch an. Aber natürlich nur, wenn ihr mich dabeihaben wollt«, sagte er zu den Kindern.

Die vor Aufregung fast platzten.

Nun ließen sie ihre kleinen Freunde zurück und bogen um eine Ecke auf eine weitere sanft geschwungene Brücke ein, als der Erdboden erneut erschüttert wurde.

Kein Zittern diesmal, nicht nur ein Beben. Der Erdstoß war ein böses Aufbäumen, der den Weg so abrupt hob, dass Elena hart auf ein Knie fiel. Schmerz durchzuckte sie, den sie jedoch ignorierte und stattdessen Jessamy packte, bevor diese vom Weg gerissen und in den Teich daneben geworfen werden konnte. Vor ihnen vollführte Naasir eine seiner Quecksilberbewegungen, denen Elena mit bloßem Auge unmöglich folgen konnte, und hob mit Andi vom Boden ab, der unter ihnen bockte. Dann landete er mit der Sicherheit einer Katze wieder auf beiden Füßen.

Sam!, schrie Elena Raphael in Gedankensprache zu, auch wenn sie ihn gar nicht sehen konnte. Er hing halb aus dem Fenster, und Tari hat ihn festgehalten.

Ich habe sie beide erwischt, versicherte Raphael ihr, und sie wusste, er sprach von seinen Erzengel-Kräften, nicht von seinen Armen. Diese Kräfte wurden nicht länger von der Kaskade angetrieben, dennoch verliehen sie ihm Macht.

Ich halte sie fest, bis die Bewegung aufhört. Kannst du dich in die Luft erheben?

Nein, ich kann noch nicht einmal aufstehen.

Die Erschütterungen schienen eine Stunde lang zu dauern. Neben ihnen stürzte ein Haus ein, explosionsartig breitete sich eine graue Staubwolke aus, sodass Elenas Zunge sich körnig anfühlte. Sie hoffte aus ganzem Herzen, dass die Engel es in die Schlucht hinaus geschafft hatten.

Als sie aufblickte, sah sie Scharen von Engeln am Himmel, viele hielten Kinder in ihren Armen. Gut. Denn hier unten wurde die Luft zu staubgesättigtem Dunst, und das verdammte Wasser im Teich kochte richtig. »Jess!«

»Ich sehe es, Ellie.« Jessamy packte mit einer Hand Elenas Oberschenkel, während Elena mit tödlichem Griff ihren Arm umklammert hielt. »Ich fühle die Hitze. Es ist nicht nur die Bewegung; es ist tatsächlich auch Hitze.«

»Fuck.« Elena gab die Information an Raphael weiter, der jetzt in der Luft war, von wo aus er allen helfen konnte, die Beistand benötigten. Galen war bei ihm, ein Hinweis auf sein Vertrauen in Elena, das er in den ersten Jahren, nachdem sie Raphaels Gemahlin geworden war, niemals gezeigt hätte – weil Jessamy Galens Herz war.

»Trace!«, rief sie, da sie das letzte Mitglied ihrer Gruppe nirgends entdecken konnte.

»Hinter dir!«, gab der Vampir zurück. »Ich bin auf dem Weg hinter der Brücke! Kriech zurück in meine Richtung, wenn das nicht bald aufhört!«

Dann hörte es auf. Mit einem gewaltigen Ruck und einem dröhnenden Krachen, bei dem Elena die Augen aufriss. Dann zog sie Jessamy an sich und erhob sich, die Muskeln zum Zerreißen gespannt, in dem Moment in die Luft, als die Brücke ins brodelnde Wasser stürzte.

Elena war nicht stark genug, einen weiteren Engel zu tragen, aber es half, dass ihre Freundin so dünn und leicht war. Trotzdem gelangte sie nur mit Mühe in das Areal in Traces Nähe.

Er fing Jessamy auf, als Elena mehr abstürzte als landete. Kaum auf den Beinen, blickten die drei in das dampfende Wasser, das so heiß war, dass es sie selbst aus einiger Entfernung versengte. Dass Unsterbliche rasch von Wunden genasen, die für Sterbliche tödlich gewesen wären, hieß nicht, dass sie keine Schmerzen empfanden.

Der brodelnde Kessel hätte Jessamy die Flügel weggeschmolzen, wenn sie hineingefallen wäre.

Sie gestatteten sich eine einzige Sekunde des Entsetzens, bevor sie sich wieder in Bewegung setzten. Jessamy stürmte los, um Sam, Tarielle und weitere Kinder in der Nähe unter ihre Fittiche zu nehmen, während Trace in ein eingestürztes Gebäude eindrang, um nachzusehen, ob jemand in den Trümmern gefangen war.

Elena tat es ihm gleich.

Sie zog den linken Flügel nach und wusste, dass sie sich eine Sehne oder irgendein Band gerissen hatte. Nichts, worüber sie sich im Gefolge eines katastrophalen Erdbebens beklagen konnte. Lieber fuhr sie fort mit dem, was getan werden musste.

Sie konnten sich erst eine Stunde später ein Bild von den gesamten Schäden machen. Drei Engel waren tot, ihre Körper waren so zerschmettert, dass nicht einmal ihre Heilkräfte ihre Verletzungen beheben konnten. Fünf Vampire hatten ein ähnliches Schicksal erlitten. Elena hatte nicht gewusst, dass schwere Quetschungen beide Spezies umbringen konnten, und wünschte sich, es niemals erfahren zu haben. Denn dazu mussten die Quetschungen wahrhaftig schwerwiegend sein.

Beide mussten förmlich zu Brei zerquetscht sein.

Andere, die diesem Schicksal um Haaresbreite entgangen waren, hatten überlebt – ihre Genesung würde fürchterlich sein. Zum Glück zählten zu den Toten oder Schwerverletzten keine Kinder. Die Kleinen hatten ihre Rettung ihrer Neugier oder Aufregung zu verdanken, die sie in die Nähe der Fenster und Balkone gelockt hatte. Orte, von denen sie leicht entkommen oder gerettet werden konnten.

Nicht nur Quetschungen hatten zu schweren Verletzungen geführt. Es gab auch Knochenbrüche, weniger gravierende Stauchungen, kollabierte Flügel, die Liste war lang – darauf auch mehrere Bewohner, die Verbrennungen durch austretende heiße Naturgase oder kochendes Wasser erlitten hatten.

»Wie steht es um die Dörfer der Sterblichen in unmittelbarer Nähe der Zuflucht?«, fragte Elena, als sie kurz innehielt, um Atem zu schöpfen. »Hat sich dort jemand umgesehen?«

Raphael nickte. Sein Gesicht war dreckverschmiert, weil er Eingeschlossenen beigestanden hatte – darunter einem Vampir, der sich auf halbem Weg in die Schlucht an einem Felsvorsprung geklammert hatte, nachdem ihn das Beben in den Abgrund gestürzt hatte. »Ich habe ein Geschwader losgeschickt.«

Denn weil sie, seine Gemahlin, einst eine Sterbliche gewesen war und auch noch immer ein sterbliches Herz besaß, würde Raphael sterbliches Leben niemals als nicht rettenswert betrachten – im Gegensatz zu anderen Erzengeln.

»Keinerlei Zerstörung«, versicherte er ihr. »Keinerlei Anzeichen für ein Erdbeben. Anscheinend war nur die Zuflucht von der Erschütterung betroffen.«

Shit. Das hat nichts Gutes zu bedeuten.

Raphaels Ausdruck gab genau ihre Besorgnis wieder. Denn als ihnen die Welt beim letzten Mal um die Ohren zu fliegen begann, hatte eine gewaltige Kaskade am Ende gestanden. Von der sie sich erst unlängst erholt hatten.

Für einen weiteren Schlag war die Welt noch zu zerbrechlich. Dieser Zwischenfall durfte nur ein Naturereignis sein, nichts, was irgendwie mit der Macht verbunden war, die durch die Adern der Erzengel floss – einer derart gewaltigen Macht, dass sie die Erde in eine Million Stücke reißen könnte.

4

Zwischenspiel

Der Fall eines Erzengels

Laric würde sich Ärger einhandeln.

Mal wieder.

Es war nicht so, dass er sich verspäten wollte. Es passierte einfach. So wie heute, als er von den Honigkuchen abgelenkt gewesen war, die seine Mutter gebacken hatte, sodass er jetzt zu spät zu seinen Lektionen in der Medica erscheinen würde. Aber, meine Güte, die Honigkuchen waren ihm auf der Zunge zergangen. Es war die reinste Wollust gewesen.

Lächelnd wandte er sich nach links und sah ein Funkeln am Himmel.

Er vermutete einen anderen Engel, wahrscheinlich war es einer der Krieger, die Panzerhandschuhe oder anderes Rüstzeug trugen … bis er näher heran war. Das Funkeln war nicht der Widerschein einer Rüstung, sondern das Aufblitzen von Engelsmacht.

Laric verdrehte die Augen. »Typisch.«

Immer wenn halbstarke Engel des jüngsten Jahrgangs in Rage gerieten, begannen sie mit Blitzen um sich zu werfen. Es war richtig lästig. Wäre Laric kein Heiler in der Lehre gewesen, der seine Eide bereits geleistet hatte, hätte er gerne ein paar »Beruhigungstropfen« in ihren Met gemischt. Um die ganze ärgerliche Bande muskelbepackter Wichtigtuer in Schlaf zu versetzen.

Ein zweiter Blitz, diesmal so donnergrollend, dass seine Knochen erzitterten, auch wenn er noch ein gutes Stück von ihm entfernt war.

Frösteln überlief seine Haut.

Blinzelnd sah er genauer hin. Und musste schlucken. Das waren keine zwei Engel, die hart miteinander rangen. Nein, was er vor sich sah, war der ernsthafte Kampf zweier Erzengel.

Ihre Gesichter konnte er aus dieser Entfernung nicht erkennen.

Weiße Flügel, langes, schwarzes Haar, eine Frau.

Blassgoldene Flügel, dunkles Haar, ein Mann.

Caliane und Nadiel.

Die mit einer tödlichen Grausamkeit aufeinander einschlugen, die nichts von einem Streit zwischen Liebenden hatte.

Panik ergriff ihn, er setzte zur Landung an. Es kümmerte ihn nicht, wie sehr er sich nun verspäten würde – er wollte den Himmel nicht mit zwei kämpfenden Erzengeln teilen.

Er war derart erpicht darauf, den Erdboden zu erreichen, dass er den Todesstoß nicht kommen sah, er spürte nur die Flammen, die seine Federn versengten und seine Haut schmelzen ließen, als der Himmel sich verflüssigte – ein vernichtendes, aus dem Inferno nach dem gewaltsamen Tod eines Erzengels geborenes Feuer.

Laric schrie und fiel.

5

Der Kader trat im Morgengrauen des folgenden Tages auf dem verwaisten Platz zusammen, nachdem die Mitglieder alles in ihrer Macht Stehende unternommen hatten, um den Verwundeten beizustehen und in den betroffenen Gebieten für Ordnung zu sorgen. Die einzigen anderen, die sich außer dem Kader dort befanden, waren Elena, Hannah und Lady Sharine.

Gefährten und Gefährtinnen nahmen normalerweise nicht an den Treffen des Kaders teil, doch da sich alle drei in der Zuflucht aufgehalten hatten, schien dies naheliegend zu sein. Dass Lady Sharine offiziell nicht Titus’ Gemahlin war, war auch nichts, woran irgendjemand Anstoß genommen hätte; sie hatte sich ihre Stimme während dieser Versammlung aus eigenem Recht verdient.

Allerdings war das Beben wider Erwarten nicht der wichtigste Tagesordnungspunkt.

»Wo ist Qin?« Caliane hatte sich nicht damit aufgehalten, die elegante weiße Lederkleidung abzulegen, die sie für den Ball gewählt hatte und die nun blutverschmiert und staubig war, die Knie waren schwarz von der Erde, auf der sie gekniet hatte, um buchstäblich Häuser hochzuwuchten, um die darunter Liegenden zu befreien. Dem leuchtenden Weiß ihrer Flügel war es nicht besser ergangen.

»Mir fiel auf, dass er gestern früh nicht hier war.« Zanaya blickte finster drein, das violett schimmernde Silber ihrer Haare hatte sie sich streng aus dem Gesicht gestrichen, ihr Körper steckte in einer schlichten, bis zur Mitte der Oberschenkel reichenden Leinentunika.

Weißer Gipsstaub bedeckte ihre Schenkel und ihre Schultern und trübte das sonst so kräftig schimmernde Ebenholzschwarz ihrer Haut. »Das hat mich nicht im Geringsten überrascht. Schließlich wissen wir alle, wie sehr unser Qin Partys liebt.«

Elena hatte sich inzwischen an den trockenen Humor der Königin des Nils gewöhnt, aber von ihrer Boshaftigkeit abgesehen, lag Zanaya gar nicht falsch. Elena hatte Qins Abwesenheit bemerkt, hatte sogar mit Raphael darüber gescherzt. »Zehn Scheine«, sagte er, »dass er morgen früh Punkt elf wieder zurück ist.« Der Uralte mochte hiergeblieben sein, nachdem ihn die Kaskade aus dem Schlaf gerissen hatte, trotzdem konnte sich Elena keinen Mann vorstellen, der weniger gern in der Welt anwesend gewesen wäre.

»Er beleidigt uns!« Aegaeon drosch die Faust wie einen Hammer auf sein in einer dunkelbraunen Lederhose steckendes Bein, sein Oberkörper war bis auf ein metallisches Gewebe über den silbernen Wirbeln auf seiner Brust unbekleidet.

Letztere war keine vorübergehende Tätowierung oder Illustration, sondern ebenso Teil von ihm wie Raphaels Legionsmal von diesem.

»Das ist eine Kriegserklärung!«

»Beruhige dich, Aggie«, brummte Zanaya und goss damit Öl ins Feuer, wie nur sie es konnte.

Elena kämpfte gegen den Drang an, prustend zu lachen; ihr war klar, dass die Worte der Königin des Nils nicht gerade hilfreich waren, doch ihr gefiel, wie sehr Zanaya Illiums idiotischen Samenspender ablehnte und dass sie null Anstrengung unternahm, ihre Abneigung zu verbergen.

»Ich pflichte Zanaya bei.« Caliane rieb sich die Stirn, als Aegaeons Gesicht rote und weiße Flecken bekam und seine Flügel zu leuchten begannen. »Qin wollte wahrscheinlich bloß den gesellschaftlichen Part vermeiden und befindet sich noch immer in der Luft, ohne etwas von der Katastrophe zu ahnen. Fragen ergeben sich erst, wenn er um elf noch nicht hier ist.«

»Dieses Beben war das schlimmste, das ich jemals erlebt habe. Sogar noch schlimmer als die Erschütterungen, die den einstigen Riss in der Landschaft in das verwandelt haben, was wir heute die Schlucht nennen.« Alexanders Worte brachten sie schlagartig wieder zum eigentlichen Thema zurück. »Diese Erschütterungen konzentrierten sich auf den Verlauf der Schlucht, ohne der Zuflucht größere Schäden zuzufügen.«

»Meine Erinnerungen decken sich genau mit deinen«, ergänzte Caliane und wandte sich dann an Shaline. »Oder erinnerst du dich an eine Zeit, die mir entfallen ist, liebe Freundin?«

Doch Illiums Mutter schüttelte den Kopf, das blasse Champagnergold ihrer Augen leuchtete zart im Dämmerlicht. »Ich erinnere mich nicht an eine derartige Erschütterung – oder an Kunst, die ich zur Erinnerung an jene erschaffen hätte, die der Tragödie zum Opfer fielen. Ich glaube nicht, dass wir in der Zuflucht jemals einen derartigen Verlust erlitten haben, aber wir sollten lieber unsere Historikerin dazu befragen.«

»Jessamy konnte das vor einer Stunde klären«, sagte Raphael, seine vormals so makellose schwarze Lederkluft war zerrissen und verkratzt, sein Haar voller Schmutz und winzigen Trümmerstücken. »Bibliothek und Archiv stehen größtenteils noch.«

»Und was hat sie gesagt?«, dröhnte Titus in einer Lautstärke, von der Elena wusste, dass er sie für leise hielt.

»Dass es keine schriftlichen Aufzeichnungen über ein Beben dieser Stärke in der Zuflucht gibt. Außerdem ist sie der kürzlichen Serie geringerer Erschütterungen nachgegangen und hat berichtet, dass sie bisher auch keine früheren Berichte über Vergleichbares gefunden hat. Aber sie hat angegeben, dass sie und Andromeda noch nicht alles durchsucht haben.«

»Doch sie erfüllt ihre Pflichten gewissenhaft und wüsste längst von einem so bedeutsamen Ereignis, wenn es Bestandteil unserer bekannten Geschichte wäre«, bemerkte Elias, worauf alle in der Runde nickten.

»Das Problem ist«, sagte Suyin so verhalten wie Titus polterte, »dass es anscheinend noch nicht vorbei ist.« Sie rieb sich das Gesicht und streifte dabei den kleinen Schönheitsfleck in ihrem linken Augenwinkel. »Wir können nicht davon ausgehen, dass sich allmählich Druck aufgebaut hätte, der nun mit einem Schlag verpufft wäre.«

»Suyin hat recht.« Elias’ goldenes Haar war schweißnass, Schmutz besudelte das blasse Braun seiner Tunika. »Das Wasser, das während der Zerstörung zu kochen begann, zeigt keine Neigung abzukühlen, und noch immer entweichen der Erde giftige heiße Gase.«

»Meine Mutter könnte Antworten auf vieles beisteuern, würde sie sich nicht in den Schlaf zurückgezogen haben«, sagte Alexander mit einer Stimme, so sanft, wie Elena sie noch nie zuvor gehört hatte. »Sie war Expertin in allem, was die Erde betrifft.«

»Ja.« Calianes mildes Lächeln galt der Erinnerung und der Zeit. »Gzrel war brillant auf ihrem Gebiet.«

»Haben wir denn zurzeit überhaupt einen Experten?« Zanaya streifte Alexanders Flügel mit ihrem, als sie sprach, eine stumme Geste des Trostes zwischen Liebenden und Gefährten.

Es entstand eine Diskussion, dann wurden zwei Namen genannt – einmal ein in Japan lebender hochrangiger vampirischer Gelehrter, dann ein Engel, der auf Elias’ Territorium forschte. Sterbliche kamen nicht infrage. Nicht in der Zuflucht, dem geheimen – und heiligen – Herzstück des Territoriums der Engel, der Ort, der ihren Kindern Schutz und Fürsorge bot und an dem sie ihre verwundbaren Körper und Herzen vor der Welt verbargen.

Und es war der Ort, der die Sterblichen der Welt vor Versuchungen bewahrte. Denn würde je ein Sterblicher ein Engelskind töten, dann wäre für jeden einzelnen Sterblichen auf der Welt das Spiel vorbei, jeder rationale Gedanke wäre angesichts des blendenden Zorns der Engel ausgelöscht.

Unschuldig oder schuldig zu sein – das würde nichts mehr gelten.

Raphaels Fähigkeit, in Sterblichen mehr als austauschbare Leuchtkäfer zu sehen, würde nichts mehr gelten.

Nicht in Anbetracht der alles verzehrenden Trauer der Eltern des getöteten Kindes.

Weil Geburten unter Engeln so selten vorkamen, dass von einer zur nächsten Geburt Jahrhunderte vergehen konnten.

Elenas Erzengel würde tun, was er konnte, zudem hatte er Freunde, die ihm zur Seite stünden … doch im Laufe der Zeit würden Erzengel im Kampf fallen oder sich in den Schlaf begeben … neue Engel erscheinen oder aufsteigen … und Unsterbliche verfügten über ein langes Gedächtnis.

Schließlich würden die Extremisten der Engelheit gewinnen – jene, die Menschen als Vieh betrachteten, das auf Farmen gehalten wurde. Ein Funke würde genügen, um den aus Arroganz und Äonen unkontrollierter Macht erwachsenen Zunder in Brand zu setzen.

Nie wieder würde es der Menschheit gestattet sein, ihre Stimme zu erheben.

Ein Frösteln kroch Elena den Rücken herauf.

Nein, die Zuflucht durfte auf gar keinen Fall untergehen.

Elena war erschöpft, als der Kader die nächsten Schritte ausgearbeitet hatte, konnte aber nicht einmal an Schlaf denken. Stattdessen kehrte sie zurück, nachdem sie sich, im Anschluss an die ersten Notfallmaßnahmen, ein paar Minuten gegönnt hatte, um zweckmäßigere Kleidung anzulegen, und verdoppelte ihre Anstrengungen.

Raphael tat es ihr gleich, und beide erstatteten sie Meldung, wann immer sie konnten. Allgemein gab es keine größeren neuen Erkenntnisse, was blieb, war die Knochenarbeit der Trümmerbeseitigung sowie – für jene, die dazu befähigt waren – Notfallreparaturen und die Errichtung von Barrieren gegen das weiter mit tödlichen Temperaturen kochende Wasser.

Da Elena sich nicht aufs Bauen verstand, half sie beim Aufräumen und schaffte Material für alle heran, die dessen bedurften. Ihr verletzter Flügel zwang sie, am Boden zu bleiben, trotzdem hatte sie sich nicht damit aufgehalten, einen Heiler aufzusuchen. Sie hatte sich diese Sehne, als sie zu fliegen lernte, schon häufig abgerissen und wusste deshalb, dass nur die Zeit es richten würde. Außerdem hatten die Heiler alle Hände voll mit Verletzungen weit schlimmeren Ausmaßes zu tun.

Sie holte gerade Verpflegung für die Heiler, als sie Suyin entdeckte, die aus der Schlucht aufstieg, ein mit ihrem fließenden weißen Haar, ihrem bis auf den Schönheitsfleck im äußersten Rand ihres linken Auges, der überhaupt kein Makel war, makellosen Gesicht und ihren bis auf die bronzefarbenen Handfedern schneeweißen Schwingen wunderschönes und unmenschliches Geschöpf.

Auf ihren Armen trug sie den reglosen Körper einer Engelsfrau mit gebrochenem Rücken, ihre Flügel weit abgespreizt, ihr gelbes Gewand blut- und dreckverschmiert. Doch ihr Kopf hing noch lose an ihrem Hals.

Dann traf Suyins Blick den Elenas, stumme Tränen liefen ihr über die Wangen.

Die Engelsfrau hatte nicht überlebt. Entweder war ihr Rückenmark, ungeachtet der scheinbar intakten Verbindung, am Hals durchtrennt worden … oder sie war so lange verschüttet gewesen, dass nicht einmal ihre Engelszellen hatten standhalten können.

Elena würgte den Kloß in ihrem Hals hinunter und zwang sich, ihre Arbeit fortzusetzen, während Suyin die ihre fortsetzte.

Die Zeit verging.

Eine Stunde. Zwei.

Noch immer kein Zeichen von Qin.

Dann war es elf Uhr vormittags.

Raphael hatte immer Anteil an Qin genommen. Er verstand, was es bedeutete zu lieben, seit ihn der Gedanke, ohne die Frau leben zu müssen, die sein Herz war, fast in Stücke riss. Dass Qins Liebe zu einer Engelsfrau, die nicht in der Welt bleiben konnte, weil ihre furchtbare Gabe sie in den Wahnsinn trieb, eine Hölle bedeutete, die er niemandem wünschen würde.

Und doch war Qin ein Erzengel. Und diese Macht gab es nur um den Preis großer Verantwortung. Und obwohl Raphael Aegaeon aus vielerlei Gründen nicht mochte, hatte dieser doch recht: Zu dieser im Voraus vereinbarten Kader-Versammlung nicht zu erscheinen kam tatsächlich einer Kriegserklärung gleich.

Aber das war noch nicht das Schlimmste.

»Nach unserer Diskussion neulich«, sagte Titus mit mörderischem Gesichtsausdruck, »hatte ich einen Kontakt zu meiner Meisterspionin hergestellt. Ozias hat die vergangene Woche auf Qins Territorium zugebracht.«

Niemand zuckte auch nur mit der Wimper. Denn sie spionierten alle einander aus.

»Sie war gerade dabei, ein Schreiben an mich aufzusetzen. Qin ist seit einer Woche nicht mehr gesehen worden. Und seine Abwesenheit ist ein deutliches Zeichen dafür, dass sie ihren Zuträgern trauen kann.«

Verwünschungen lagen in der Luft.

Selbst die von Natur aus stille Suyin murmelte etwas vor sich hin, und ein feines Zucken ihres Kiefers war zu sehen.

Zanayas nächste Worte erklangen um einiges lauter, der Schwung ihrer Wangenknochen war mit einer Schmutzschicht bedeckt; die Königin des Nil hatte Suyin bei der Rettung mehrerer aus eingestürzten Gebäuden an den Hängen der Schlucht unterstützt.

Doch unter dem Schmutz glühte ihre Haut vor Zorn. »Er hat sich tatsächlich in den Schlaf begeben und uns mit nur acht Erzengeln in einer Welt zurückgelassen, die sich gerade erst von einem verhängnisvollen und von einem Vampiraufstand gefolgten Krieg erholt hat?«

Aegaeon warf den Kopf in den Nacken und brüllte, dass die wenigen Glasscheiben, die noch in den Fenstern der Häuser in unmittelbarer Nähe des Platzes vorhanden waren, klirrten.

Elias schien ruhiger zu sein, doch seine Schultern spannten sich hart an, als er mit der Hand durch seine staubigen, goldenen Haarsträhnen fuhr. »Hast du mit seinem Zweiten gesprochen?« Die Frage war an Titus gerichtet.

»Nein. Ich konnte vor diesem Treffen nur kurz mit Ozias reden. Aber ich glaube, Zanaya liegt richtig – der Bastard hat sich in den Schlaf zurückgezogen.«

»Das meine ich auch.« Calianes kalte, klare Stimme. »Dann sind wir jetzt nur noch acht.«

Raphael biss die Zähne zusammen, er kämpfte gegen den Drang an, in die Leere zu schreien.

Zehn war die optimale Anzahl Erzengel, die es in der Welt geben konnte. Es gab damit genug Abstand zwischen den Territorien, damit die sich überschneidenden Kräfte nicht zu Aggressionen führten, aber es war auch die richtige Anzahl, um die Vampire zu kontrollieren.

Deren Nachkriegsaufstand das Land mit Blut überschwemmt hatte.

Seine Gemahlin träumte noch manchmal davon, Albträume, die ihr die Sicht mit roten Schleiern trübten.

Aber acht Erzengel …

In dieser Zeit?

Fuck.

Er zwang sich, die Fäuste zu öffnen. Ganz abgesehen von der Logistik bedeutete es, dass jeder einzelne Erzengel hier nun an die Zeit gebunden war. Was auch immer geschehen mochte, sie konnten sich nicht in den Schlaf zurückziehen. Sie konnten sich noch nicht einmal in Ansharas Schlaf zurückziehen, um sich dort unter unvorstellbaren Qualen von ihren grausamen Verletzungen zu erholen. Alle mussten bei Bewusstsein und verfügbar bleiben.

Kein Platz für Erschöpfung; keine Zeit, um endlich Atem zu schöpfen.

»Wie stehen die Chancen für einen raschen Ersatz?«, wollte Suyin wissen, als Raphael bereits derselbe Gedanke durch den Kopf ging. »Seit dem Ende der Kaskade ist doch noch nicht so viel Zeit vergangen. Wir müssen noch in einer Phase des Übergangs sein.«

»Das lässt sich unmöglich sagen.« Caliane schüttelte den Kopf. »Alexander und ich haben so etwas im Laufe der Zeit immer wieder erlebt. Einmal haben wir zweihundert Jahre lang zu siebt regiert, und am Ende mussten wir die Welt verdichten und die Bevölkerungen auf einen engeren Raum zusammentreiben. Die einzige andere Option wäre ein Massenmord an den Vampiren gewesen, um einen Blutrausch sicher zu verhindern.«

Was wiederum, so erkannte Raphael, für einen hohen Prozentsatz von Engeln zu erzwungenem Schlaf geführt hätte. Weil Engel Vampire brauchten, eine geheime symbiotische Beziehung, die aus einem anderen Krieg vor so langer Zeit entstanden war, dass er längst aus ihrer Geschichte getilgt worden war. Er wusste nur aus Erzählungen seiner Legion davon.

Unser mit dem tödlichen Toxin infiziertes Volk … beschloss in der Hoffnung, das Gift würde seine Wirkung verlieren, Äonen im Schlaf zu verbringen. Nach dem Erwachen stellte sich heraus, dass aus der Asche des alten ein neues Volk entstanden war und sich das Toxin dauerhaft mit dem Blut der Überlebenden verbunden hatte.

Irrsinn und Tod regierten, bis ein Einzelner der Engelheit in seiner Verzweiflung klarmachte, dass dieses anfällige neue Volk ihre Rettung, ein Geschenk ihrer genesenen Welt darstellte.

Engel blieben nur deshalb gesund, weil sie das Toxin in Sterbliche abführen konnten – und damit Vampire erschufen. Würde nur ein Element entfernt oder zu einer begrenzten Ressource, das gesamte System würde zusammenbrechen. Mit dem Mord an Vampiren würde die Engelheit sich nur selbst ermorden – weshalb sollten sich Sterbliche noch wünschen, zum Vampir zu werden, sobald sie erkannt hatten, dass das Versprechen, so gut wie unsterblich zu werden, sich als trügerisch erwiese, weil es mit einem einzigen Zornesausbruch seitens der Engel zunichtegemacht werden konnte?

Ja, die Engelheit konnte den Übergang erzwingen, war im Großen und Ganzen jedoch kein böses Volk. Bisweilen von Macht korrumpiert, viel zu häufig arrogant, liebten und beschützten die Engel andererseits unsterbliche wie sterbliche Kinder und strebten – von verschrobenen Extremisten abgesehen – nicht danach, die Innovationen Sterblicher zu vernichten und ihren Ruhm zu zerstören.

Jeder ohne Einverständnis vollzogene Übergang wäre ein Tropfen Gift im Blut der Engelheit, bis ihre gesamte Zivilisation unter dieser Last zugrunde ging.

6

»Caliane hat recht.« Alexander kniff sich mit Daumen und Zeigefinger in den Nasenrücken und schloss für eine Sekunde fest die Augen, dann öffnete er sie wieder und ließ Iriden von demselben durchdringenden Silber sehen wie die Naasirs. »Es steht keineswegs fest, dass wir einen Ersatz finden.« Der zupackende Pragmatismus eines Mannes, der, lange bevor er zum Erzengel wurde, ein General gewesen war.

»Und was die Zahlen betrifft«, fuhr er fort, »sieben bedeutet weit mehr als erbarmungslos und könnte sich auf lange Sicht als tödlich erweisen. Acht … acht ließe sich machen. Es würde uns bis auf die Knochen zermürben, ließe sich aber machen, selbst in einer zerschlagenen und geschundenen Welt.« Der Erzengel von Persien sah sich unter den Übrigen um. »Wir müssen in dieser Sache einer Meinung sein. Wir dürfen nicht den Schlaf aufsuchen. Wie verheerend die Wunden, wie erschöpft wir auch sein mögen.«

Sämtliche Erzengel pflichteten ihm ohne Zögern bei.

Das war es, was viele an ihrem Kader nicht verstanden: Raphaels Artgenossen konnten launisch und grausam sein und gerieten häufig über Nichtigkeiten miteinander in Streit – aber wenn ihre Existenz auf dem Spiel stand, taten sie, was getan werden musste. Ausgemusterte Erzengel wie Qin – oder machtbesessene Größenwahnsinnige wie Lijuan – waren, gemessen an der Ewigkeit der Engelsgeschichte, lediglich Ausreißer.

»Mindestens zwei von uns müssen zu Qins Territorium aufbrechen, um sich ein Bild von der Lage zu machen.« Alexander stemmte beide Hände in die Hüften. »Dann müssen wir die Territorien neu aufteilen.« Für einen Mann, der Landbesitz liebte, wirkte er nicht im Mindesten darüber begeistert, über noch mehr Land wachen zu müssen.

Weil sie am Ende waren. Sie alle.

Der Krieg mochte seit über elf Jahren vorüber sein, hatte ihnen jedoch eine zerstörte Welt hinterlassen. Ganz zu schweigen von sporadisch auftauchenden Scharen Wiedergeborener, die ohne Vorwarnung aus dem Dickicht gekrochen kamen. Lijuan hatte ihr Gift wie Konfetti über die verschiedenen Territorien ausgestreut, ein letztes Hohnlachen auf ihre Kosten.

Der alleinige Grund, warum der Ball in der Zuflucht so widerstandslos zustande gekommen war – und warum so viele bereits von weiteren Festen gesprochen hatten –, bestand darin, dass alle sich einfach nach einer verdammten Pause sehnten. Elena hatte sich erst vor Kurzem, als sie auf ihrem Turm standen und über die Stadt blickten, so ausgedrückt.

Manhattan funkelte bereits wieder, trug aber noch eine Narbe, eine von Raphaels Engelsfeuer verursachte Todeszone, in der nichts mehr wuchs und kein Leben gedieh. Er war gezwungen gewesen, seine eigene Stadt zu verwunden, um sie vor der Heimsuchung durch Lijuans verpestete Insekten zu schützen, Vorboten einer Seuche der Fäulnis und des Todes.

Das Land selbst war nicht länger verseucht, doch Sterbliche, Engel und Vampire mieden es trotzdem, desgleichen die Tiere. Einmal hatte Raphael am Rand der verkohlten Zone gestanden und beobachtet, wie eine Spinne umgekehrt war, nachdem sie eines ihrer acht Beine auf die verderbliche Schwärze hatte setzen wollen.

Und ihre Stadt war bei Weitem nicht die Einzige, die derartige Narben trug. Auch wenn nicht alle sichtbar waren, so lagen manche doch wie düstere Schatten über Geist und Seele, Schäden, die noch Generationen später nachhallen würden.

Wie läuft die Versammlung?

Die Stimme seiner Gemahlin drang wie eine glänzende Klinge in seinen Verstand, ihre Deutlichkeit ließ auf ihre zunehmende Stärke schließen. Wir sind uns einig, dass Qin sich in den Schlaf zurückgezogen hat.

Elena fluchte.

Genau, Elena-mein. Und wie geht das Aufräumen voran?

Langsam, antwortete sie. Der Grund für meine Störung ist, dass Galen und andere Kommandanten der diversen Hofburgen in der Gegend die Gefährdeten in den offenbar sichersten und stabilsten Bereich der Zuflucht, in Suyins Territorium, evakuieren wollen.

Warte kurz, bat Raphael und unterbrach das Gespräch, obwohl er sicher war, wie Suyin auf dieses Ansinnen reagieren würde.

Die Erzengelsfrau von China stimmte sofort zu. »Natürlich. Unsere Gefährdeten stehen an erster Stelle. Und wir müssen uns überlegen, ob wir überhaupt noch Leute in den Häusern auf der Felsenkuppe haben wollen.«

»Ich würde dasselbe zu den Nestern an den Innenwänden der Schlucht zu überlegen geben.« Zanaya rieb sich das Gesicht. »Das Ausmaß der Zerstörungen dort legt die Vermutung nahe, dass die Schlucht womöglich nur existiert, weil sie unmittelbar über dem Bereich entstanden ist, wo die Grundfesten der Welt aufeinanderprallen.«

»Eine Bruchlinie?«, fragte Titus, und setzte Raphael mit seiner Kenntnis der modernen Bezeichnung in Erstaunen. »Ja, du hast vielleicht recht.«

Während Elias diesen Einwurf erwog, übermittelte Raphael Elena Suyins Einverständnis.

Danke, Erzengel. Damit schickte sie ihm in Gedanken einen Kuss. Und, FYI – Leute munkeln, dass die Ahnen erwachen – sie behaupten, das sei die Ursache der Erschütterung. Es gefällt mir, dass sogar Engel ihre Buhmänner haben.

Hoffen wir, dass sie Einbildungen bleiben, gab Raphael zurück. Denn es hieß, dass ihre unter der Zuflucht im Schlaf liegenden sogenannten Ahnen auf das Morgengrauen der Engelheit zurückgingen. Es waren dermaßen alte Wesen, dass nicht einmal die ältesten Engel – sozusagen ihre Ältesten – eine Ahnung hatten, um wen oder auch vielleicht um was es sich handeln mochte.

Als Elenas Gegenwart mit der flüssigen Leichtigkeit einer Gemahlin aus seinem Geist wich, gegen die er keine Wände besaß noch jemals besitzen würde, dachte Raphael wieder an die anstehende Diskussion – die sich inzwischen der Frage zugewandt hatte, wer am besten eingesetzt werden konnte, um sich von Qins Pflichtverletzung zu überzeugen.

Alexander hatte recht, wenn er sagte, dass mindestens zwei Engel losgeschickt werden sollten. So war es zwar nicht die Regel, aber gute Tradition, die, wenn es zur Bestätigung der Einzelheiten in derartigen Fällen kam, vor Eifersüchteleien und gegenseitigen Bezichtigungen schützen sollte.

Dass nicht der gesamte Kader aufbrechen konnte, lag nicht an den Zerstörungen in der Zuflucht – es gab hier für sie nichts mehr zu tun, das andere nicht ebenso hätten bewältigen können. Der Grund war die kontinuierliche Gegenwart von Erzengeln in der Welt. Ein Umstand, der nun, nachdem sie wussten, dass Qin sich seit mindestens einer Woche von seinem Land entfernt hatte, sogar noch wichtiger war – was auch den Vampiren dort nicht entgangen sein würde.

Und bald würden auch Vampire außerhalb von Qins Territorium darüber Bescheid wissen.

Der Kader konnte es sich nicht leisten, abgelenkt zu erscheinen.

»Ich kann gehen«, sagte Raphael. »Mein Territorium ist fürs Erste stabil.« Mehr noch, Dmitri, Aodhan, Illium, Jason und Venom hielten sich entweder in dem Gebiet oder in seiner Nähe auf. Ebenso wie Janvier, Ashvini und Vivek, die hochrangigsten Angehörigen von Elenas neuer Garde.

Aufgrund ihrer Jugend kannte der Kader die drei Letzteren nicht sehr gut, doch alle zusammen waren sie ein gewitztes, intelligentes Team, dessen Art, Informationen zu beschaffen, bisweilen selbst Jason verblüffte.

»Ich werde dich begleiten«, brummte Aegaeon, dessen Zorn sich jetzt auf den abwesenden Erzengel der Pazifischen Inseln richtete. »Damit ich Qins Namen verfluchen und seine Ahnen an dem Ort beleidigen kann, an dem er höchstwahrscheinlich im Schlaf liegt.«

Nachdem die Entscheidung gefallen war, nahm sich Raphael kaum eine Viertelstunde, um zu duschen und für einen langen Flug besser geeignetes Lederzeug anzulegen. Anschließend traf ihn seine Gemahlin am äußersten Rand der Schlucht, wo eine Schwadron von Gelehrten mit großem Aufwand und müden Augen unter Einsatz modernster Geräte Messungen vornahm; die inneren Nester würden, wie Zanaya geraten hatte, vorläufig unbewohnt bleiben, da das Risiko einfach zu groß war.

»Sicheren Flug, Erzengel.« Elena, die Wimpern so staubbesprenkelt wie die Farbe ihrer Lederkluft von Staub getrübt, legte ihm die Hand um den Nacken. »Und bring Aegaeon nicht um.«

»Das kann ich nicht«, entgegnete Raphael und breitete seine Flügel aus, die in der Sonne des Gebirges weißgolden glitzerten. »Leider brauchen wir alle acht von uns.« Er schnitt ein Gesicht. »Wenigstens fliegen wir nicht zusammen. Das hat er ebenso wenig vorgeschlagen wie ich. Wir haben uns lediglich darauf verständigt, um diese Zeit aufzubrechen. Wenn wir uns während des Fluges begegnen, werden wir bestimmt vorgeben, uns nicht zu sehen, und weiterfliegen.«

Als er sie küsste, empfand sie Feuer in ihrem Blut, und eine Ewigkeit des Verlangens, der Leidenschaft und der Liebe.

»Knhebek, hbeebti«, sagte er, als ihre Lippen sich trennten, die Augen ihres Krieger-Erzengels funkelten blau wie zerstoßene Saphire; Entschlossenheit hatte ihn bis ins Mark durchdrungen.

Er trat zurück, ein unbekümmertes Grinsen im Gesicht … und ließ sich rückwärts über den Felsvorsprung in die Schlucht fallen. Schlafe bald, Gildejägerin. Du bist sicher müde. Seine Stimme schlug wie eine Brandung in ihre Gedanken, mit vertrauter Wildheit, dann wandte er sich von ihr ab und begann, bereit zu seinem langen Flug, hoch in den Himmel aufzusteigen.

Elena behagte die dünnere Luft am Rande des Himmels nicht, doch Raphaels Lungen unterschieden sich von ihren. Auch wenn sie unsterblich war, war sie kein Erzengel. Mache ich, versprach sie, doch sie war dazu bestimmt, ihr Versprechen zu brechen, denn zehn Minuten, nachdem Raphael hinter dem Horizont verschwunden war, landete ein atemloser junger Engel neben ihr und überbrachte ihr eine Nachricht.