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Auf mörderischer Wallfahrt waren 24 Top-Krimiautor(inn)en am Hellweg unterwegs und sind nicht immer geläutert, aber in jedem Fall mit einer Geschichte über Mord und Totschlag, Schuld und Sühne zurückgekehrt. Gute Unterhaltung ist so sicher wie das Amen in der Kirche! Bernhard Aichner: Wie ich in Opherdicke mit Edward Hopper ein neues Leben begann ● Christa von Bernuth: Als Allah nach Herdecke kam ● Mechtild Borrmann: Hammer Treue ● Horst Eckert: Der Heiler von Hagen ● Jürgen Ehlers: Die toten Puppen von Lünen ● Sebastian Fitzek: UNNAtürlich ● Frl. Krise und Frau Freitag: Letztes Amen in Bergkamen ● Sascha Gutzeit: Stirb schnell im Hellweg-Express ● Georg Haderer: Danke, Kamen – und sorry für den Toten ● Kathrin Heinrichs: Dran glauben in Soest ● Carsten Sebastian Henn: Atmen in Bad Sassendorf ● Elisabeth Herrmann: Letzter Ausstieg Ahlen ● Susanne Kliem: Der gute Geist von Bönen ● Ria Klug: Früher war allet picobello in Wickede ● Judith Merchant: Kein Fall für Hunter in Oelde ● Gisa Pauly: Auf Trebe in Holzwickede ● Theresa Prammer: Fröndenberger Liebesspiele ● Till Raether: Vom Ende der Unschuld in Schwerte ● Jörg Steinleitner: Die Illuminaten von Lüdenscheid ● Arno Strobel: Verloren in Gelsenkirchen ● Su Turhan: Dortmunder Leichenglück ● Matthias Wittekindt: Das Mädchen vom Wittener Kreuz ● Rainer Wittkamp: Iserlohner Reinheitsgelübde
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Seitenzahl: 402
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H. P. Karr, Herbert Knorr & Sigrun Krauß (Hg.)
Glaube.Liebe.Leichenschau
Mord am Hellweg VIII
Kriminalstorys
© 2016 by GRAFIT Verlag GmbH, Chemnitzer Str. 31, 44139 Dortmund, der Kreisstadt Unna, Bereich Kultur, dem Westfälischen Literaturbüro in Unna e. V. und bei den Autorinnen und Autoren
Internet: http://www.grafit.de
E-Mail: [email protected]
Alle Rechte vorbehalten.
Umschlagbild: Nele Schütz Design
eBook-Produktion: CPI books GmbH, Leck
eISBN 978-3-89425-709-5
Herausgegeben von H. P. Karr, Herbert Knorr und Sigrun Krauß im Auftrag der Kreisstadt Unna, Bereich Kultur und des Westfälischen Literaturbüros in Unna e. V. für die Veranstaltergemeinschaft Mord am Hellweg, Europas größtem internationalen Krimifestival.
Mord am Hellweg VIII (17.September bis 12.November 2016) ist ein Projekt der Kulturregion Hellweg mit oder in den Kreisen, Städten und Gemeinden Ahlen, Bad Sassendorf, Bergkamen, Bönen, Dortmund, Fröndenberg, Gelsenkirchen, Hagen, Hamm, Herdecke, Holzwickede, Iserlohn, Kamen, Lüdenscheid, Lünen, Oelde, Schwerte, Soest, Unna, Unna (Kreis), Wickede (Ruhr) und Witten in Zusammenarbeit mit der HanseTourist Unna, dem Bürger- und Kulturzentrum Rohrmeisterei Schwerte, der Werner Richard – Dr.Carl Dörken Stiftung, Herdecke, dem Tagungs- und Kongresszentrum Bad Sassendorf, MELANGE (Gesellschaft zur Förderung der Salon- und Kaffeehauskultur e. V.), dem Literaturmuseum Westfalen (Kulturgut Haus Nottbeck) und der Westfalen-Initiative Münster (für den Krimitag Westfalen in Oelde) unter Federführung des Westfälischen Literaturbüros in Unna e. V. (Dr.Herbert Knorr) und der Kreisstadt Unna, Bereich Kultur (Sigrun Krauß M. A.; V. i. S. d. P.).
»Unna ist nicht die Bronx, was soll mir hier schon passieren?«
aus: UNNAtürlich von Sebastian Fitzek
»Das mit der Liebe kann ich nicht. Konnte ich nie. Dass ich es versucht habe, war wohl ein Fehler.«
aus: Wie ich in Opherdicke mit Edward Hopper ein neues Leben begann
Inhalt
Glaube.Liebe.Leichenschau –Willkommen im Zentrum des Bösen!
Bernhard Aichner: Wie ich in Opherdicke mit Edward Hopper ein neues Leben begann
Rainer Wittkamp: Iserlohner Reinheitsgelübde
Jürgen Ehlers: Die toten Puppen von Lünen
Georg Haderer: Danke, Kamen – und sorry für den Toten
Christa von Bernuth: Als Allah nach Herdecke kam
Jörg Steinleitner: Die Illuminaten von Lüdenscheid
Arno Strobel: Verloren in Gelsenkirchen
Susanne Kliem: Der gute Geist von Bönen
Elisabeth Herrmann: Letzter Ausstieg Ahlen
Horst Eckert: Der Heiler von Hagen
Sebastian Fitzek: UNNAtürlich
Judith Merchant: Kein Fall für Hunter in Oelde
Frl.Krise und Frau Freitag: Letztes Amen in Bergkamen
Su Turhan: Dortmunder Leichenglück
Mechtild Borrmann: Hammer Treue
Matthias Wittekindt: Das Mädchen vom Wittener Kreuz
Ria Klug: Früher war allet picobello in Wickede
Till Raether: Vom Ende der Unschuld in Schwerte
Theresa Prammer: Fröndenberger Liebesspiele
Carsten Sebastian Henn: Atmen in Bad Sassendorf
Gisa Pauly: Auf Trebe in Holzwickede
Kathrin Heinrichs: Dran glauben in Soest
Sascha Gutzeit: Stirb schnell im Hellweg-Express
Autorinnen & Autoren
Herausgeberin & Herausgeber
Glaube.Liebe.Leichenschau
Willkommen im Zentrum des Bösen!
Nachdem wir Sie mit unserer Hellweg-Krimianthologie vor zwei Jahren zur Sexy.Hölle.Hellweg geschickt haben, um Ihnen die Festivalregion von ihrer tödlich-erotischen Seite zu zeigen, führen wir Sie dieses Mal vollends in die Abgründe der menschlichen Seele. Ausgehend vom Zentrum des Bösen in Unna, haben wir erneut ein Netz von Tatorten über die Hellweg-Region gelegt.
Seit 2002 hat Europas größtes internationales Krimifestival den Hellweg zur mörderischsten Region Deutschlands entwickelt, wenn nicht sogar Europas. Insgesamt sind jetzt mit diesem bereits achten Mord-am-Hellweg-Krimiband rund 175Mordgeschichten mit mehr als 230Todesfällen auf dem Markt, verbreitet in einer Auflage von mehr als 70.000Exemplaren. Die Indizien sind eindeutig – der Hellweg ist Europas derzeit heißeste Krimi-Location. Begeben Sie sich also mit uns auf eine Entdeckungsreise durch den mörderischsten Streifen Europas und vergessen Sie alles, was Sie aus der Bibel über christliche Tugenden gelernt haben. Denn der Keim des Bösen steckt in jedem von uns.
Glaube.Liebe.Leichenschau, so lautete der ›Mordauftrag‹ für dreiundzwanzig namhafte deutschsprachige Krimiautorinnen und Krimiautoren, die eingeladen wurden, für diesen Band zu schreiben. Bei ihren Lokalterminen haben sie die Region zwischen Lünen und Dortmund, Hamm und Unna, Schwerte und Iserlohn unsicher gemacht – bewaffnet mit Notizblöcken, Kameras und knallharten Fragen, um dem hier an jeder Ecke lauernden Verbrechen auf die Spur zu kommen. Entstanden ist eine facettenreiche Sammlung von Kriminalstorys über die Irrungen und Wirrungen von Gut und Böse, zu denen Glaube und Liebe uns verleiten können. So handeln die Kurzkrimis von Gläubigen, für die der Glaube lebensgefährlich existenziell ist, sie erzählen vom Glauben an die ewige Liebe, aber auch von Aberglauben, Misstrauen, Enttäuschung, Irrglauben, Obsessionen und verschmähter Liebe.
Folgen Sie dem österreichischen Thriller-Star Bernhard Aichner ins idyllische Haus Opherdicke, fahren Sie mit Krimi-Comedian Sascha Gutzeit im mörderischen Hellweg-Express oder lassen Sie sich von Till Raether, dem ehemaligen stellvertretenden Chefredakteur von Brigitte,Vom Ende der Unschuld in Schwerte überzeugen. Bestsellerautorin Elisabeth Herrmann wird Opfer eines Stellwerkschadens und muss den Letzten Ausstieg Ahlen nehmen, Judith Merchant berichtet von der Leichenschau eines literarisch äußerst versierten Forensikers auf dem ländlichen Gut Nottbeck bei Oelde und der Münchener Shootingstar Su Turhan findet in der Nordstadt der östlichen Ruhrgebietsmetropole, man glaubt es kaum, das Dortmunder Leichenglück.
Und sogar Mord am Hellweg selbst wird zum Thema einiger Geschichten. Gisa Pauly geht Auf Trebe in Holzwickede und schickt einen Autor mit einem mörderischen Serienauftrag in die Emscherquell-Gemeinde, und in Georg Haderers Story begibt sich, ganz österreichisch-exquisit, ein gewisser Georg Haderer nach Kamen, der mit Danke, Kamen – und sorry für den Toten dort nicht nur seinen Schreibauftrag erfüllt, sondern auch eine faszinierende Liebe findet. Und last but not least liebt es Deutschlands Spannungsexperte Sebastian Fitzek UNNAtürlich. Wobei er versichert, dass Unna nicht die Bronx ist.
Aber auch alle weiteren ›Auftragskiller‹ gingen auf ihre ganz persönliche und spezielle Art mit dem Thema Glaube.Liebe.Leichenschau um. Sie lassen ihre Plots und Personen über die verschlungenen Pfade der Hellweg-Region pilgern, tauchen ein in ihre Mythen, Rituale und Eigenheiten. Das Ergebnis: dreiundzwanzig Geschichten voller Mord und Totschlag, Schuld und Sühne, Glaube und Hoffnung, Verbrechen und Gerechtigkeit. So traurig es auch anmutet, die Realität lautet: Glaube, Liebe, Hoffnung, wie es bei Ödön von Horváth und vor allem bereits in der Bibel heißt, gibt es am Hellweg schon lange nicht mehr. Also … Glaube und Liebe schon, aber Hoffnung? Nein, nur Leichenschau!
Wir laden Sie, liebe Leserinnen und Leser, ein, mit den Hellweg-Storys auch das Böse in sich zu entdecken. Spannend, hintergründig und humorig wird diese Entdeckungsreise auf jeden Fall. Und gute Unterhaltung ist da so sicher wie das Amen in der Kirche! Vergebung oder Erlösung? Fehlanzeige!
H. P. Karr, Herbert Knorr und Sigrun Krauß
nach Diktat wieder ins Zentrum des Bösen abgetaucht
Bernhard Aichner
Wie ich in Opherdicke mit Edward Hopper ein neues Leben begann
Das mit der Liebe kann ich nicht. Konnte ich nie. Dass ich es versucht habe, war wohl ein Fehler. Dass ich tatsächlich dachte, dass es auch bei mir funktionieren würde. Eine Beziehung. Ein einziges Mal in meinem Leben. Umarmungen, immer wenn man sie sich wünscht, ein liebevolles Flüstern am Morgen, wenn man aufwacht, jemand, der einen beschützt. Vor den Dingen, vor denen man Angst hat. Jemand, der einem sagt, dass alles gut wird, auch wenn es nicht so aussieht. Liebe. Mit Gewalt wollte ich daran festhalten. Fast verloren hätte ich mich. Das, was mir wirklich wichtig ist. Das, woran ich wirklich immer geglaubt habe.
Meine Bilder. Die Kunst, sie ist verlässlich, sie ist einschätzbar, ich weiß immer, wo die Reise hingeht, was sich lohnt, was sich nicht lohnt. Ich kenne mich aus, bin sozusagen Expertin darin. Mein ganzes Leben lang beschäftige ich mich schon damit. Gemälde, Zeichnungen, Skulpturen. Ich lebe im Rheinland, arbeite in einem Auktionshaus in Köln, bin Sachverständige, habe promoviert über Edward Hopper. Er hat mich schon immer fasziniert, mehr als alle anderen, er ist bis heute der Mann, mit dem ich zusammen sein möchte. Mit seinen Bildern. Mit dem, was er gemalt hat. Das Rätselhafte in seinen Arbeiten, das mich immer fasziniert hat, dieser Realismus, diese leeren Räume. Auf Hoppers Bildern passiert nichts, melancholisch ist alles, still. Das Dunkle ist ganz nah. Unheimlich ist es. Wenn ich aufwache, sehe ich die Farbe, die er auf die Leinwand aufgetragen hat. Ein Gemälde, 66 x 102Zentimeter, ein Mann steht an einer Tankstelle, ganz nah an der Zapfsäule. Irgendwo in Amerika, irgendwo im Nirgendwo, eine leere Landstraße, es dämmert. Ein wunderschönes Bild ist es, ein Gemälde, das mich glücklich macht. Edward Hopper. 1882–1967. Unsterblich, einfach nur schön, was er hinterlassen hat. Mir. Weil ich es mir verdient habe. Weil das mit der Liebe leider nicht funktioniert hat. Weil man Entscheidungen treffen muss im Leben. Wenn das Schicksal einen mit Füßen tritt, soll man zurücktreten. Oder man geht unter. Und das wollte ich nicht. Auch wenn einen Moment lang alles danach aussah.
Zuerst war da dieses Wunder, an das niemand glauben wollte. Eine Edward-Hopper-Ausstellung war angekündigt. Nicht in Berlin oder Hamburg, sondern im Kreis Unna. Im Haus Opherdicke in Holzwickede sollten zweiunddreißig seiner Arbeiten gezeigt werden. Es war eine Sensation, was der Ausstellungsmacher in Opherdicke geschafft hatte. Einer der bedeutendsten amerikanischen Künstler des letzten Jahrhunderts sollte dort gezeigt werden. Ich brannte, fieberte der Ausstellungseröffnung entgegen, mein Sommer sollte wunderschön werden, regelmäßige Ausflüge in diese kleine Welt, Unna und Umgebung, Natur und Geborgenheit. Bilder von Weltruhm in einem wunderschönen Gutshof am Ende der Welt. Was in Europa normalerweise in Paris oder London gezeigt wird, konnte man jetzt in der Provinz bewundern. Was die Museumsdirektoren der großen Häuser nicht schafften, war dem umtriebigen Fachbereichsleiter in Unna gelungen. Hut ab, dachte ich mir und fuhr hin. Dass mein Lebensgefährte mich nicht begleiten konnte, bedauerte ich. Doch als ich endlich vor den Bildern stand, vergaß ich ihn. Vergaß, dass er diese Faszination nicht mit mir teilte. Dieses Glück, das ich empfand. Er verstand es nicht. Hans.
Meine Begeisterung für die Arbeit, für moderne Kunst, den amerikanischen Realismus. Er fand es obsessiv, zu viel war ihm meine Leidenschaft, eifersüchtig war er sogar an manchen Tagen. Mein guter Hans wollte mir insgeheim nehmen, woran ich immer geglaubt habe. Es muss doch noch etwas anderes geben, das dich begeistert, Ilse. Du bist besessen, Ilse. Wenn ich dich nicht so lieben würde … Und ich glaubte ihm. Dass es tatsächlich neben der Kunst noch etwas anderes gibt, das mich glücklich macht. Ich werde immer für dich da sein, sagte er. Dich auf Händen tragen. Dir niemals wehtun.
Mein Hans. Er hat gelogen. Dieser freundliche, nette Mann, den ich beim Radfahren kennengelernt hatte. Vor neun Jahren in dieser herrlichen Gegend. Das märkische Sauerland wurde zum Schauplatz unseres ersten Kusses. Ganz in der Nähe von dort, wo bis vor Kurzem Hopper an den Wänden hing, hat alles angefangen, heimlich unter den Blüten, irgendwann im Frühling, weil mein Reifen geplatzt war. Hans half mir, er verzauberte mich und ich verlor mich in ihm. Vom ersten Augenblick an. Fast wie ein Gemälde war dieses Gefühl. Fast.
Neun Jahre lang Glück. Dann diese Ausstellung. Letzten Sommer. Ich konnte mich nicht sattsehen, kam immer wieder, es war herrlich. Aber immer war ich allein. Hans war nicht da. Er war nie da. Drei bis vier Tage in der Woche musste er arbeiten, er war unterwegs, Softwaretechniker, selbstständig. Zu jeder Tages- und Nachtzeit riefen sie ihn an, sogar an Weihnachten musste er weg. In die Schweiz, nach Schleswig-Holstein, nach Hamburg, große Kunden brauchten ihn, konnten nicht auf ihn verzichten, Netzwerke wären zusammengebrochen, wäre er nicht zur Hilfe geeilt. Hans umarmte mich, ging und kam erst Tage später zurück. Jetzt haben wir Zeit für uns, Ilse. Ohne Arbeit, nur du und ich, Ilse. Er verehrte mich, gab mir das Gefühl, dass ich das Wichtigste war in seinem Leben, sein Goldschatz, sein Mittelpunkt. Nur keine Kinder wollte er. Das war der Wermutstropfen.
Was ich mir an vielen Tagen heimlich wünschte, was ich an manchen aussprach, was von Jahr zu Jahr in mir wuchs, er wollte es nicht. Über diese Sehnsucht reden, darüber nachdenken, es zulassen. Hans schüttelte nur den Kopf. Ich kann nicht, sagte er immer. Bitte verzeih mir. Ich wäre kein guter Vater. Ich habe nicht so viel Liebe in mir. Er weinte. Versicherte mir glaubhaft, dass es besser wäre, kinderlos zu bleiben. Ohne Schwangerschaft älter zu werden. Wir können auch ohne Kinder glücklich sein, sagte er. Bis ich siebenundvierzig Jahre alt war. Bis es zu spät war. Jetzt noch ein Kind zu bekommen, wäre fahrlässig, sagte er. Du willst doch nicht, dass es mit einer Behinderung auf die Welt kommt. Hans nahm mir den letzten Wind aus den Segeln. Das war kurz bevor ich zum vierten Mal in die Ausstellung ging.
Mit dem Zug wieder nach Unna. Dann mit dem Bus nach Holzwickede. Durch den Ort zuerst, dann nach Opherdicke, zu Fuß durch den Park, der Hof war voller Menschen, sie stürmten die Ausstellung. Zu Recht. Wieder war es ein Erlebnis, über drei Stunden lang stand ich vor diesen Bildern und staunte. Dann zurück nach Unna. Ich saß noch eine Weile in einem Café in der Nähe des Bahnhofs, ich hatte Zeit, dachte an nichts Böses, im ersten Moment war ich glücklich, als ich ihn sah.
Meinen Hans. Ganz plötzlich war er aufgetaucht, ich wollte nach ihm rufen zuerst, ihm winken, ich dachte, dass er mir nachgefahren sei, dass er nun doch mit mir die Ausstellung sehen wollte. Doch es war anders. Alles war anders. Ich habe nicht gerufen, ich duckte mich, als ich den kleinen Jungen und das Mädchen sah. Hand in Hand alle drei, das Mädchen links, der Junge rechts. Eistüten in ihren Händen. Sie lachten.
Hans in Unna. Ich verstand es nicht. Hans und die Kinder. Wie vertraut sie miteinander sprachen, lachten, wie sie durch die Stadt spazierten. Wie ich sie beobachtete, ihnen nachschlich. Völlig verstört bis in die Lessingstraße, bis zu einem Gartentor, das sie öffneten. Da war ein süßes Häuschen aus den Zwanzigerjahren, da war eine Schaukel im Garten, ein Sandkasten. Und da war eine Frau, die Wäsche aufhing. Hans küsste sie. So als wäre es das Normalste auf der Welt, tollte er mit den Kindern herum, er umarmte sie, strich ihnen liebevoll über die Haare. Und diese fremde Frau schaute dabei zu. So wie ich. Nur verstand ich es nicht. Im Gegensatz zu ihr wusste ich nicht, was Hans hier tat, was es zu bedeuten hatte. Im Gegensatz zu ihr versteckte ich mich hinter einer dreckigen Mülltonne. Dieses Leben, dem ich da zuschaute, war nicht meines. Aber das von Hans.
Anstatt Hans eine Szene zu machen, zog ich mich zurück. Sagte nichts. Vielleicht glaubte ich, dass alles wieder gut werden würde, wenn ich schwiege. Dass nichts von dem wahr wäre, was mir der freundliche Nachbar erzählte, der gerade dabei war, seinen Rasen zu trimmen. Seit zwölf Jahren lebt die nette Familie schon nebenan. Dieses reizende Paar. Erst kurz bevor sie hier einzogen, haben sie sich kennengelernt. Die große Liebe ist das wohl. Wie respektvoll sie miteinander sind. Und wie entzückend die Kinder. Seit so langer Zeit Nachbarn, noch nie gab es Probleme. Dass es eine gute Idee sei hierherzuziehen, meinte der Mann. Weil ich es wissen wollte. Weil ich gelogen, einen Grund gesucht hatte, um nach Hans zu fragen. Der Nachbar hielt ein flammendes Plädoyer für die Gegend, für die reizenden Nachbarn. Eine heile Welt, in die ich plötzlich eintauchte. Die Hölle war es für mich. Alles.
Ich stand da und weinte. Lange. Ich blieb, ging nicht weg, versteckte mich wieder hinter der Tonne und schaute zu. Ich wartete darauf, dass es aufhörte, dass jemand kommen und mir sagen würde, dass es nur ein Schauspiel war, das jemand für mich inszeniert hatte. Doch niemand kam. Hans und seine Lieben blieben im Garten, gut sichtbar für mich, sie grillten, zeigten mir, wie dumm ich war. Der Softwaretechniker kümmerte sich um ein dringendes Problem, die Würstchen mussten auf den Grill, wichtige internationale Geschäftsbeziehungen standen auf dem Spiel. In drei Tagen bin ich wieder da, Ilse. Ich habe so viel zu tun, weiß nicht, wo mir der Kopf steht. Seine liebevolle Stimme, ich wollte sie hören, wollte sehen, was für ein Gesicht er machte, wenn er mich anlog. Ich wählte seine Nummer, ich sah, wie er das Telefon aus der Tasche zog und lächelte. Ach, du bist es, Ilse. Wie schön. Aber ich kann nicht reden, bin mitten in einer Sitzung. Ist ein harter Tag heute.
Ich sah, wie die Kinder an ihm hochklettern wollten und er mit Nachdruck seinen Zeigefinger auf den Mund legte, um ihnen klarzumachen, dass sie still sein sollten. Ein wichtiger Kunde wartet auf mich, sagte er zu mir. Dann würgte er mich ab. Ich ruf dich später an, meine Schöne. Er legte auf. Und ich übergab mich. Ganz in seiner Nähe kotzte ich auf den Gehsteig.
Ich fuhr zurück nach Hause. Ich musste nachdenken, ich wollte es verstehen, es verdrängen, es nicht wahrhaben. Doch es stimmte. Meine weiteren Recherchen ergaben, dass tatsächlich alles so war, wie es der Nachbar erzählt hatte. Hans wohnte in Unna. Hans hatte zwei Kinder und eine Frau. Er war verheiratet. Zu mir hatte er immer gesagt, dass die Ehe nichts für ihn sei.
Wir können doch auch so glücklich sein, Ilse. Du bist das Wichtigste für mich, Ilse. Hans hatte gelogen. Vom ersten Augenblick an. Alles, was wir gemeinsam hatten, war eine Lüge. Neun Jahre lang. Neun. Das waren so viele. Eins, zwei, drei. Keine Kinder, Ilse. Ich kann das nicht. Vier, fünf, sechs. Ein Haus zu kaufen, ist doch heutzutage der absolute Wahnsinn, lass uns in deiner Wohnung bleiben, Ilse. Sieben, acht, neun. Wozu ein Garten, Ilse? Unsere Wohnung ist doch ein Paradies. Unser kleines Wohnzimmer, unser schönes Bett. Das Schönste in meinem Leben ist es, zu dir heimzukommen.
Und er kam heim. Zwei Tage nachdem er mir in Unna unfreiwillig sein Leben gezeigt hatte, saß er wieder in meiner Wohnung. So als wäre nichts passiert. Jedes Wort, das er sagte, tat weh. Er stand vor mir und log mir weiter ins Gesicht. Manchmal verstehe ich auch nicht, warum gerade ich an den Wochenenden arbeiten muss. Dann, wenn es sich andere Menschen gemütlich machen. Manchmal ist das wirklich hart für mich, das kannst du mir glauben, Ilse. Ich fühlte mit ihm. Tat so. Ich bedauerte ihn, bekochte ihn, spielte ihm die liebende Frau vor, einmal noch. Ich wollte, dass er mit mir nach Holzwickede kommt, er musste mich in die Ausstellung begleiten, mit mir zu Hopper gehen. So hatte ich es mir ausgedacht.
Ich wollte nicht mehr weinen. Nicht leiden. Nicht zerbrechen. Er sollte das. Nicht ich. Deshalb habe ich mir Gedanken gemacht, mir überlegt, wie ich es anstellen könnte. Was ich tun, worauf ich achten musste. So wie ein Architekt ein Haus plant, so habe ich das Ende meines Mannes geplant. Ich habe nichts dem Zufall überlassen, meine kriminelle Energie ausgegraben, mich an jeden Kriminalfilm erinnert, den ich in meinem Leben gesehen habe. Ich habe mich an all die Fragen der Fernsehermittler erinnert, an die Krimis, die ich gelesen habe. Ich habe mich bestens vorbereitet. Keine Überraschungen sollte es geben, alle sollten sie staunen. Allen voran mein guter Hans.
Ich bekam ihn so weit. Ich habe ihn angefleht, es mir zu meinem Geburtstag gewünscht, seine Begleitung, sein Interesse, ich habe alles getan, um ihn zu überreden. Einmal mehr oder weniger war auch schon egal. Dann hat er sich überwunden. Für ihn bedeutete es nämlich Gefahr, mit mir nach Unna zu kommen. Er hätte gesehen werden können, von seiner Frau, seinen Kindern, von Bekannten und Freunden. Gesehen mit einer fremden Frau, im Park von Haus Opherdicke, in der Ausstellung, Hunderte Menschen würden wieder dort sein, es war ein Risiko für ihn. Trotzdem kam er mit. Du weißt, dass ich es hasse, mit dem Auto zu fahren, sagte ich. Er wand sich, akzeptierte aber, dass wir in den Zug stiegen. Ich wollte keine Verkehrskontrolle riskieren, nicht auffallen, es gab keine Kameras im Zug, keine am Bahnhof in Unna, keine im Bus nach Holzwickede. Alles sollte so sein, als wäre ich niemals dort gewesen.
Es regnete an diesem Abend. Ich trug einen Hut. Eine dicke Daunenjacke, die ich in einem Secondhandladen besorgt hatte. Mir ist kalt, sagte ich zu Hans. Die Jacke ließ mich schwerer wirken, muskulöser, mein Gesicht konnte man unter dem Hut nicht sehen. Niemand, der das Band der Überwachungskamera aus Haus Opherdicke nachher sah, hat mich erkannt. Weder mich noch die Kleidung, die ich trug. Alles war neu, sogar die zu großen Schuhe. Wenn man so will, habe ich mich für Hans’ letzten Abend neu eingekleidet. Du schaust lustig aus, sagte er. Nur für dich, sagte ich.
Es dämmerte bereits. Haus Opherdicke hatte an diesem Tag länger geöffnet. Ich wollte, dass es dunkel ist, wenn ich ihn töte. Aber zuerst sollte er die Bilder sehen. Das, was mir wirklich wichtig ist im Leben. Was bleibt. Ein wunderschöner Hopper an meiner Wand. Eine Tankstelle irgendwo in Amerika. Eine leere Landstraße, ein Mann, der an der Zapfsäule steht. Ist ganz hübsch, sagte Hans, nachdem wir die Treppen nach oben gegangen und vor dem Bild angekommen waren. Er war kurz angebunden, wollte weg, er hatte Angst, hielt Abstand von mir. Mir ist nicht gut, sagte er. Bitte, Ilse, lass uns nach Hause fahren.
Doch ich wollte bleiben. Ging von Bild zu Bild. Wartete, bis sich die Ausstellung leerte, bis niemand mehr außer uns in dem schönen holzvertäfelten Zimmer war. Bis niemand mehr vom Bewachungspersonal in der Nähe war. Dann nahm ich das Teppichmesser aus der Tasche und schnitt das Bild aus dem Rahmen.
Das haben Sie sich alles großartig ausgedacht. Der freundliche Beamte aus Dortmund, der den Fall untersuchen musste, hat mir dafür gratuliert. Sie haben wirklich an alles gedacht, sagte er. Er ahnte, dass ich es war, die den Hopper gestohlen und den guten Hans erschlagen hat. Wochenlang versuchte er, mich aus der Reserve zu locken, mich dazu zu bringen, einen Fehler zu machen, doch es gelang ihm nicht. Die Kripo war in dem Auktionshaus, in dem ich arbeite, sie baten meinen Chef, sich dort umsehen zu dürfen, sie wollten mich unter Druck setzen. Das Bild finden.
Auch wenn sie mir nichts nachweisen konnten, sie waren überzeugt davon, dass ich hinter allem steckte, dass das Bild irgendwo in meiner Nähe sein musste. Dürfen wir uns bei Ihnen zu Hause umsehen?, fragte der Beamte. Von mir aus, sagte ich. Hätte ich verneint, hätten sie noch mehr an mich als Täterin geglaubt, so haben sie glücklicherweise nur einsehen müssen, dass ich schlauer bin als sie. Irgendwo muss dieser verdammte Hopper ja sein, hieß es. Stimmt. Irgendwo hatte ich ihn versteckt. Gut versteckt. Bis sie alles durchsucht hatten und wieder aus meinem Leben verschwunden waren.
Ein spektakulärer Kunstraub war es. Die ganze Welt hat darüber berichtet, in jeder Zeitung stand es. Wie dreist ich war. Obwohl ja eigentlich der gute Hans die Hauptarbeit geleistet hat. Er brachte das Bild nach draußen. Er hatte auch keine Wahl. Was machst du da?, zischte er. Außer sich war er, wegrennen wollte er. Bist du wahnsinnig, Ilse? Nur fünf Sekunden dauerte es, vier Schnitte, dann rollte ich es zusammen und drückte es Hans in die Hand. Wenn du nicht ins Gefängnis willst, dann pack es jetzt ein und geh. Hans versteckte das Bild unter seinem Pullover und wir verließen die Ausstellung ganz langsam. Ich wollte ihn bestrafen, ihn aus der Fassung bringen, ihn schockieren. Vielleicht wollte ich aber auch einfach nur, dass er mir zum Abschied etwas Schönes schenkte. Ein Bild, das er für mich hinaus in den Park brachte. Schnell gingen wir an der alten Burgmauer entlang. Warum tust du das?, fragte mich Hans, als wir allein waren. Weil du in der Lessingstraße wohnst, zwei Kinder hast und eine andere Frau fickst, antwortete ich. Dann nahm ich die Eisenstange, die ich mir zurechtgelegt hatte, und erschlug ihn.
Gefunden hat man ihn erst am nächsten Tag. Eine männliche Leiche im Teich. Es war ganz leicht gewesen, ihn über die Mauer zu heben, ihn hinunterzuwerfen. Hans war schmächtig und ich war voller Tatendrang. Kunstraub, Mord. Zwei Ereignisse, die Holzwickede ganz schön durcheinanderbrachten. Der Ausstellungskurator rotierte, die Polizei, die Versicherung. Alle Vorkehrungsmaßnahmen waren umsonst gewesen, die Kameras in den Ausstellungsräumen, die zusätzlichen Sicherheitskräfte. Der Kreis Unna bebte. Zwei Verbrechen innerhalb weniger Stunden, alles, was eine Uniform trug, war auf den Beinen, man holte Verstärkung aus Dortmund, während ich zu Hause in meinem Bett lag und schmunzelnd fernsah. Sie berichteten darüber. Auf allen Sendern lief es. Ich freute mich und dachte darüber nach, wie ich meinen Hopper rahmen sollte. Eiche oder Nussholz? Ich entschied mich für Nuss und bereitete mich darauf vor, dass sie kommen würden. Bald schon.
Weil sie nur wenige Stunden dafür brauchten, um herauszufinden, was mir neun Jahre lang verborgen geblieben war. Hans hatte zwei Wohnsitze. Und Hans war in Begleitung einer Frau gewesen, kurz bevor er umgebracht wurde. Eine Frau mit Hut suchten sie. Doch nur verzweifelte Versuche waren es. Auch wenn ich das perfekte Motiv für diesen Mord hatte, es nützte nichts. Es gab keine DNA von mir am Tatort, keine Fingerabdrücke auf der Mordwaffe, ich hatte tatsächlich alles richtig gemacht. Sie hatten erst bemerkt, dass das Bild fehlte, als Hans schon längst tot war. Ich hatte genügend Zeit, um mit dem Bild zu verschwinden. Gemütlich alles. Mit dem Bus zurück nach Unna. Mit dem Zug zurück nach Köln. Jacke, Schuhe und Hut landeten in einem Altkleidercontainer. Auch die Handschuhe, die ich getragen hatte. Alles war so passiert, wie ich es mir ausgedacht hatte. Ich war stolz auf mich.
Ich habe geschlafen, sagte ich, als sie kamen. Ich war zu Hause, als er gestorben ist. Wie schrecklich, sagte ich. Mein Hans war doch ein guter Mensch. Wer sollte denn so etwas tun? Zweitklassiges Theater war es, aber es funktionierte. Mein Krimi-Fernsehwissen hatte ausgereicht. Sogar an das Telefon hatte ich gedacht. Ich hatte es daheim gelassen, als ich mit Hans aufgebrochen war. Die Polizei überprüfte, wo es eingeloggt war, als es passierte. Nichts sprach gegen mich, nur Ahnungen waren es, Vermutungen, nur das Gefühl eines verzweifelten Polizisten. Sie werden den Mörder und das Bild schon noch finden, sagte ich. Der nette Beamte aus Dortmund schüttelte nur den Kopf. War es das wert?, fragte er mich. Ich lächelte ihn an und schwärmte ihm von Hopper vor. Dass es nichts Schöneres für mich gebe auf dieser Welt. Viel Glück, sagte er dann. Und ging hinaus. Ich habe ihn nie wiedergesehen.
Einige Monate ist das jetzt her. Dass Hans nicht mehr da ist. Dass ich mich mit der anderen Frau von Hans nach der Beerdigung betrunken habe. Freundschaftlich war es fast. Auch sie war wütend auf ihn, wir hatten etwas gemeinsam. Kurz nur. Denn dann verließ ich die Feier. Ich ging zuerst ins Auktionshaus und dann nach Hause. Schenkte mir erneut ein Glas Wein ein, öffnete meine Tasche und packte ihn aus. Meinen wunderschönen Hopper. Ich hängte ihn über mein Bett. So, dass ich ihn sehen kann, wenn ich einschlafe. Wenn ich aufwache. Schön ist er.
Rainer Wittkamp
Iserlohner Reinheitsgelübde
Ich glaubte einmal an das deutsche Reinheitsgebot. Ich glaubte, dass Bier nur aus Hefe, Hopfen, Malz und Wasser gebraut werden darf. Und ich glaubte an die große Liebe.
Dann kam ich zurück nach Iserlohn.
Die meisten Menschen begegnen in ihrem Leben nicht vielen Leichen. Eventuell sehen sie Vater und Mutter auf dem Sterbebett oder werden Zeuge eines schlimmen Autounfalls. Aber wer von uns wird schon mit einem Mord konfrontiert? Noch dazu in Iserlohn, wo man sich höchstens an einen Doppelmord in der Silvesternacht 2005 erinnert. Ich musste nicht nur die Leichen meiner Eltern identifizieren, meiner Frau in ihrem Todeskampf beistehen, ich war sogar bei der Ermordung meines Chefs zugegen. Wie kommt ein anständiger Brauereiingenieur in solch eine Situation? Was hat jemand wie ich mit Mord zu tun?
Gar nichts, werden Sie sagen. Eben, so dachte ich auch. Bis zu dem Tag, als ich die A 46 verließ und meinen Opel Insignia nach Iserlohn lenkte, der Stätte meiner Kindheit, Jugend und frühen Mannesjahre.
Viele Menschen glauben, Iserlohn läge im Ruhrgebiet, aber das ist Unsinn. Meine Heimatstadt liegt im Märkischen Kreis und ist das Tor zum Sauerland. Eine ausgesprochen hübsche Gegend. Teils hügelig wie ein schöner Frauenkörper, teils flach wie ein Karfreitagspfannkuchen.
Als ich die Pension an der Fußgängerzone betrat, dachte ich daran, dass es genau vierundzwanzig Jahre her war, seit ich Iserlohn verlassen hatte. 1992 war für mich ein Scheißjahr gewesen, das totale Desaster. Monatelang hatte meine Mannschaft, der Iserlohner Eishockeyklub, gegen den Abstieg gekämpft, durfte nur wegen eines noch jämmerlicheren Vereins in der Liga bleiben. Als wäre der Sponsorenvertrag des EDC mit Muammar al-Gaddafi fünf Jahre zuvor nicht schon Blamage genug gewesen.
Und dann war da noch die Sache mit Lena. Lena Wohlfromm. Die zerfraß mich. Ich wusste nicht, wie ich auf ihre Demütigung reagieren sollte.
Jedenfalls war ich fertig mit Iserlohn und kündigte meinen Arbeitsplatz bei der Märkischen Brauerei. Eine Stelle, die man eigentlich bis zur Rente sicher hatte. Doch ich wollte nur noch weg.
Und nun war ich wieder da.
»Willkommen, Herr Nonhoff«, begrüßte mich die Pensionswirtin. »Wir hatten Sie erst am Sonntag erwartet. Ihr Zimmer ist aber bereits fertig.«
»Danke. Ich will mich noch ein bisschen akklimatisieren, ehe der Arbeitsalltag zuschlägt.«
»Sind Sie das erste Mal in unserem schönen Städtchen?«
»Kann man so nicht sagen.«
Die vergangenen Jahre hatten mich zwar mal hierhin, mal dorthin verschlagen, aber ein Teil von mir war immer in Iserlohn geblieben. Und dieser Teil hieß Lena.
Ich traf sie damals gleich am ersten Tag, als ich nach der Bundeswehrzeit wieder in meiner alten Arbeitsstelle in der Brauerei anfing. Sie saß in der Verwaltung und war unbeschreiblich schön. Nicht nur für Iserlohner Verhältnisse. Lena hätte auch in London, Paris oder New York geglänzt. Sie lächelte mich an, als ich ihr meine Lohnsteuerkarte reichte.
»Erik Nonhoff … Hab schon Großes von dir gehört.«
»Echt?«
»Du sollst ja ein richtiges Ass in Sachen Maischen sein.«
Das stimmte. Maischen war mein Spezialgebiet und dass diese tolle Frau das wusste … Wahnsinn!
»Bist du auch von hier?«, fragte ich. »Ich kenne dich gar nicht.«
»Ich bin aus Hagen. Lena Wohlfromm … drittes Ausbildungsjahr.«
»Klasse. Hagen mag ich.«
Schon bald trafen wir uns täglich nach der Arbeit und ich begleitete Lena zum Iserlohner Bahnhof. Die Züge nach Hagen fuhren damals noch alle paar Minuten, aber wir saßen meistens ein oder zwei Stunden im Bahnhofsgebäude und knutschten.
Bis zu dem Tag, als Lena endlich mit mir ins Bett ging. Bett ist gut. Wir machten es in meinem alten Opel Ascona. Im Dickicht unter dem mächtigen Kalksteinmassiv in Oestrich, das man ›Pater und Nonne‹ nennt. Es war unbeschreiblich erregend mit ihr. Vielleicht bin ich deshalb der Marke Opel bis heute treu geblieben.
Das mit Lena, das bedeutete vierundzwanzig Stunden am Tag auf Wolke sieben zu schweben. Monatelang. Bis sie mit achtzehn den Führerschein machte. Eines Abends holte Lena mich plötzlich mit einem nagelneuen Mercedes Roadster ab. Fahrprüfung bestanden. »Woher ist der Wagen?«, fragte ich sie. »Von dem Typen, der den Führerschein bezahlt hat«, sagte Lena. Von da an hatte sie plötzlich kaum noch Zeit für mich und meinen Ascona.
Ohne Lena hielt mich nichts mehr so recht in Iserlohn. Acht Wochen später ging ich nach Stuttgart und fing dort in der Brauerei Dinkelacker an. In den nächsten Jahren wechselte ich häufig meinen Arbeitgeber, eine neue Freundin löste die andere ab. Doch keine reichte an Lena heran.
Hin und wieder telefonierte ich mit meinen Eltern, versprach ihnen auch immer wieder, sie in Iserlohn zu besuchen. Aber dazu kam es nicht mehr, da sie in ihrem Sommerurlaub bei einem Seilbahnunglück in Tirol mit ihrer Gondel achtzig Meter in die Tiefe stürzten. Ich war entsetzt, verwirrt und sagte mir, dass ich endlich etwas aus meinem Leben machen sollte. Fuß fassen. Etwas schaffen. Ich schrieb mich schließlich an der Technischen Universität München für den Studiengang Brauwesen auf dem Campus Weihenstephan ein. Mit dem Abschluss als Diplom-Braumeister in der Tasche trat ich eine Stelle in einer Nürnberger Brauerei an, wo ich mich zum stellvertretenden Betriebsleiter hocharbeitete.
Iserlohn war zwar nicht völlig vergessen, aber in meinen Erinnerungen nur noch eine ferne, alte Zeit hinter einer Nebelwand. Irgendwann verblasste auch Lena und ich verliebte mich in eine hübsche Tschechin, die bei uns für die Bierverkostungen zuständig war. Es begann die wohl schönste Zeit meines Lebens.
Kristýna und ich wollten fünf Jahre lang alles Geld für eine Eigentumswohnung sparen und dann Kinder bekommen. Zwei, vielleicht sogar drei. Aber es kam anders.
Vor vier Jahren diagnostizierte man bei Kristýna Brustkrebs, es begann eine lange Leidenszeit. Die Chemotherapie schlug nicht an, der Krebs streute immer mehr. Kristýna litt unendlich und es war eine Erlösung für sie und für mich, als sie in meinen Armen starb. Danach wollte ich Nürnberg so schnell wie möglich verlassen, zu viel erinnerte mich an meine Liebste.
Wenige Wochen zuvor hatte ich auf einer Messe Haiko Romberg kennengelernt, einen westfälischen Brauereiunternehmer. Wir verstanden uns auf Anhieb und er machte mir den Vorschlag, an der Neuausrichtung der Brauerei mitzuarbeiten, die er gerade gekauft hatte. Also rief ich Romberg an und fragte, ob sein Angebot noch galt. Ja, natürlich! Ich sollte so schnell wie möglich nach Iserlohn kommen, damit wir die Märkische Brauerei wieder in Schwung bringen könnten. So kam ich also zurück in meine Heimatstadt – und sogar an meine alte Wirkungsstätte. Zufall? Schicksal?
Die alte Märkische Brauerei war vor zwei Jahren in Konkurs gegangen. Teils wegen des gravierenden Missmanagements, teils wegen des allgemein rückläufigen Biermarkts. Haiko Romberg hatte den Gläubigern ein Angebot gemacht, das sie überzeugte.
Die Zeit war nicht spurlos an Iserlohn vorbeigegangen. Vieles erkannte ich nicht mehr wieder, als ich durch die Straßen ging. Doch es war meine Heimat und ich fühlte mich gut.
Am Sonntagmittag fuhr ich zur Märkischen Brauerei in der Iserlohner Heide. Die Produktionsstätte machte keinen üblen Eindruck. Alles sah aus, als würde morgen früh der Betrieb wieder losgehen. Ich erinnerte mich an die Jahre, die ich hier gearbeitet hatte. An den Spaß mit den Kollegen und auch an Lena Wohlfromm.
Was sie heute wohl machte? Ob sie es nach London, Paris oder New York geschafft hatte? Inzwischen war fast ein Vierteljahrhundert vergangen, aber ich sah sie immer noch genau vor mir.
Lena hatte langes schwarzes Haar gehabt, das ihr etwas Geheimnisvolles gab. Einen verführerischen Schmollmund, verlockende weibliche Formen und einen aufreizenden Gang, der alle Männer zwang, sich nach ihr umzudrehen.
Zurück in der Innenstadt aß ich in einem Restaurant zu Abend und schlenderte dann durch die Altstadt.
Montagmorgen traf ich mich mit Romberg und wir inspizierten die Brauerei. Auch von innen machte sie einen guten Eindruck. Technisch schien alles funktionstüchtig zu sein. Wir gingen sehr gründlich vor, stiegen sogar zur Brückentraverse hoch, die in dreiundzwanzig Meter Höhe die acht Gärtürme miteinander verband. Gegen Mittag richteten wir uns im alten Direktionsbüro ein und Romberg machte mich mit seinem Konzept vertraut.
Weil die alten Eigentümer die neue Zeit gründlich verschlafen hatten, konnte Romberg die Märkische für gerade mal sechseinhalb Millionen Euro kaufen. Ein Schnäppchen bei einer Kapazität von vierhundertachtzigtausend Hektolitern pro Jahr. Wir waren uns einig, dass wir einerseits den gesichtslosen Industriebieren Paroli bieten und andererseits den Heimatmarkt im Märkischen Kreis neu erobern mussten. Dabei sollte vor allem die Wertigkeit unseres nach handwerklichen Maximen gebrauten Bieres herausgestellt werden, um so einen qualitätsbewussten Kundenkreis zurückzugewinnen.
Zwar hatte Romberg seinen Wohnsitz noch in Westfalen, aber der Umzug nach Iserlohn lief bereits. Er hatte im örtlichen Villenviertel ein Gebäude gekauft, die Renovierung war so gut wie abgeschlossen. Am Donnerstag, sagte er, kämen die Möbel und am Tag darauf auch seine Frau.
Die nächsten Wochen arbeiteten Romberg und ich die diversen Schritte seines Erneuerungskonzeptes ab und harmonierten dabei bestens. Nach Dienstschluss sah ich mir freie Wohnungen an und mietete schließlich eine nette Dreizimmerwohnung in der Altstadt. Als meine Probezeit abgelaufen war, lud Romberg mich zum Essen zu sich nach Hause ein.
Um halb acht betrat ich die stattliche Gründerzeitvilla, eine Hausangestellte geleitete mich ins Wohnzimmer. Auf einer Anrichte stand der üppige Blumenstrauß, den ich am Vormittag hatte liefern lassen.
Romberg begrüßte mich herzlich und ging mit mir in den Wintergarten, um mich seiner Frau vorzustellen. Eine schlanke Erscheinung in einem weißen Hosenanzug, deren schwarze Haare bis zu den Schulterblättern hinabfielen. Sie hatte uns den Rücken zugekehrt und schaute hinaus in den Garten.
»Unser Gast ist da, Liebling.«
Die Frau drehte sich um und ich erstarrte. Vor mir stand Lena. Trotz der Jahre war sie kaum gealtert, lediglich gereift. Sie strahlte immer noch die gleiche animalische Anziehung aus, der jeder Mann erliegen musste. ›Sexy‹ war dafür definitiv ein viel zu schwacher Ausdruck. An ihrem Blick sah ich, dass sie mich ebenfalls erkannt hatte. Und im Bruchteil dieser Sekunde beschlossen wir, dass unsere gemeinsame Vergangenheit erst einmal unser Geheimnis bleiben sollte. Ich gab ihr die Hand.
»Erik Nonhoff. Schön, Sie kennenzulernen.«
»Lena Romberg. Ganz meinerseits.«
Trotz der verwirrenden Umstände wurde es ein nicht unangenehmer Abend. Lena und ich taten so, als lernten wir uns gerade kennen. Ich wollte Romberg nicht irritieren und sie – keine Ahnung, warum sie sich auf das Spiel einließ.
Das Menü war exzellent und ich erfuhr einiges aus dem Leben der beiden.
Romberg hatte Lena vor Jahren auf einer Tagung des Deutschen Brauer-Bundes kennengelernt und es hatte, wie er erklärte, sogleich gefunkt. Fünf Monate später waren sie verheiratet. Er habe diesen Entschluss keine Sekunde lang bereut, sagte Romberg. Schließlich treffe man seine große Liebe nur einmal im Leben. Ich suchte Lenas Blick, doch sie wich mir aus. Ganz so, als würde sie sich schämen.
Da Lena nur selten in die Brauerei kam, dauerte es eine Weile, bis ich sie wiedersah. Erst zwei Wochen später begegneten wir uns zufällig an einem Samstag auf dem Wochenmarkt. Lena steuerte sofort auf mich zu. Sie müsse dringend mit mir sprechen. Wir gingen in ein Café und dort erklärte mir Lena, dass ihre Eltern sie seinerzeit gezwungen hätten, sich von mir zu trennen. Angeblich war ich ihnen als Freund der einzigen Tochter nicht gut genug. Lena sagte, sie habe dem Druck nicht standhalten können, er sei einfach zu groß gewesen. Die Sache mit dem Sportwagen und dem Freund hätte sich ihr Vater ausgedacht, um mir noch eins auszuwischen. Ihr habe das alles sehr leidgetan. Doch da ich kurz darauf verschwunden sei, habe sie keine Möglichkeit gehabt, die Sache richtigzustellen.
Ich sagte ihr, wie sehr es mich freute, dass die Trennung nicht von ihr ausgegangen war, und erzählte ihr, was ich seit meinem Wegzug aus Iserlohn so alles erlebt hatte. Als ich auf Kristýnas Krebserkrankung zu sprechen kam, stockte ich. Noch nie hatte ich einem Menschen von meinen Gefühlen in dieser schweren Zeit erzählt. Doch bei Lena fiel es mir leicht. Als ich ihr von Kristýnas Tod erzählte und sich meine Augen mit Tränen füllten, drückte Lena sanft meine Hand. Sie ließ sie lange dort liegen und … ja, ich muss sagen, ich genoss es.
Dann lenkte ich das Gespräch auf ihren Mann. Jetzt war es an Lena, Privates offenzulegen. Ihre Ehe, sagte sie, laufe leider nicht mehr gut. Nach außen hin spielten sie das glückliche Ehepaar, aber hinter den Kulissen kriselte es ständig. Sie habe Haiko wiederholt eine Trennung auf Zeit vorgeschlagen, aber er habe darauf jedes Mal wütender reagiert. Eine Trennung sei für ihn ausgeschlossen. Ihr Mann sei bei den Gesprächen zunehmend gereizter geworden, fast handgreiflich.
»Wenn ich dir irgendwie helfen kann …«, sagte ich unbeholfen.
»Das tust du bereits, Erik! Hör mir einfach dann und wann zu. Das wäre schön.«
»Natürlich. Du kannst immer auf mich zählen.«
Erneut drückte Lena meine Hand, doch diesmal fühlte es sich anders an. Weniger fürsorglich. Ja, ich spürte so etwas wie erotische Schwingungen. Konnte das sein?
Durch die neue Beziehung zu Lena änderte sich mein Verhältnis zu Romberg. Ich begann, ihn mit anderen Augen zu sehen, suchte nach Anzeichen verdeckter Aggression, über die Lena immer wieder sprach.
Wir hatten den Braubeginn auf September festgelegt, bis dahin blieb noch eine Menge zu tun. Immer häufiger spürte ich Rombergs Ungeduld. Ihm ging nichts schnell genug, obwohl ich meine wöchentliche Arbeitszeit bereits auf sechzig Stunden hochgeschraubt hatte. Ein paar Mal vergriff Romberg sich massiv im Ton, wurde laut, entschuldigte sich aber immer sofort. Trotzdem begann ich, innerlich von ihm abzurücken.
Eine Woche nach meiner Begegnung mit Lena musste er für zwei Tage nach München. Lena holte ihn mittags in der Brauerei ab, um ihn zum Flughafen nach Dortmund zu fahren. Drei Stunden später kam sie zurück und lud mich zum Abendessen ein.
Als ich zur Villa kam, öffnete Lena mir. Die Hausangestellte habe ihren freien Tag, deshalb werde das Abendessen etwas schlichter ausfallen. Wir tranken zum Essen Rotwein, was ich als Brauer nur selten tue. Deshalb steigt er mir auch immer sofort zu Kopf.
Ich erzählte Lena, dass ich inzwischen auch die unbeherrschte, aggressive Seite ihres Mannes kennengelernt hätte. Jetzt könne ich sie noch besser verstehen. Dann ließen wir das Thema Romberg fallen und redeten über früher. Wir wurden immer ausgelassener, lachten viel, öffneten eine zweite Flasche Wein und plötzlich war es so wie in meinem alten Opel Ascona unter dem Pater-und-Nonne-Felsen. Wir rissen uns die Kleider vom Leib und liebten uns. Es war erregend, stürmisch und wild. Ganz anders als das zärtliche Liebesspiel mit Kristýna. Als ich die Villa weit nach Mitternacht verließ, war uns klar, dass wir beide diese Nacht wiederholen wollten. Unbedingt. Auch wenn wir wegen Haiko Romberg sehr vorsichtig sein mussten.
Meine Affäre mit Lena machte es mir immer schwerer, unbefangen mit Romberg umzugehen. Sie besuchte mich regelmäßig in meiner Wohnung. Heimlich, mit Perücke und Sonnenbrille, damit niemand etwas mitbekam. Und schon bald begannen wir nach dem Sex immer öfter von einer gemeinsamen Zukunft zu träumen. Lena konnte sich vorstellen, Iserlohn zu verlassen und mit mir irgendwo ein neues Leben anzufangen. Obwohl sie sich vor Rombergs Reaktion fürchtete. »Er wird wahrscheinlich durchdrehen«, flüsterte sie. »Er wird mich töten, wenn ich weggehe!«
Ich versuchte, meine Geliebte zu beruhigen. Ende Juni empfing Romberg in der Brauerei eine chinesische Handelsdelegation. Sie waren auf der Suche nach deutschen Brauereien, um Bier für den chinesischen Markt zu produzieren. Sie boten Romberg neun Millionen Euro für die Märkische. Das war erheblich mehr, als er bezahlt und investiert hatte. Doch Romberg lehnte das Angebot der Chinesen ab. Sie verabschiedeten sich höflich. Er solle in Ruhe darüber nachdenken, sie würden sich erneut melden.
Einen Tag später kam Lena verstört in meine Wohnung. Sie hatte überall blaue Flecken, auf den Oberarmen, dem Bauch, der Brust. Ich war geschockt.
»Was ist passiert?«
»Haiko.«
»Dieser Verbrecher! Du musst zum Arzt, Lena.«
»Nein, Erik, bitte nicht.«
»Ich werde mir dieses kranke Schwein packen!«
»Dann erfährt er von uns, Erik. Nein, er hat mir versprochen, dass das nie wieder vorkommt. Wirklich.«
»Das kann ich ihm auch nur raten. Das nächste Mal bringe ich ihn um! Verlass dich drauf! Ich bringe ihn um!«
Ich hatte jetzt einen unbändigen Hass auf Romberg, konnte in seiner Gegenwart kaum noch Ruhe bewahren. Ich beobachtete ihn ständig, versuchte, das Monster hinter seiner glatten Fassade aus Entschlusskraft und Durchsetzungsvermögen zu entdecken. In der Woche danach waren Einstellungsgespräche angesetzt und Romberg legte Wert darauf, bei der Auswahl der Bewerber dabei zu sein. Doch ausgerechnet an dem Tag, an dem wir unseren Braumeister einstellen wollten, verspätete er sich. Als er dann endlich kam, wirkte er fahrig, gab eine wirre Begründung für seine Unpünktlichkeit. Wir redeten mit den beiden Bewerbern, trafen die endgültige Wahl. Jetzt war Romberg besserer Laune und lud den zukünftigen Braumeister zu einer Betriebsbesichtigung ein.
Ich blieb im Büro und erledigte Papierkram, als mich Lena anrief. Sie heulte und war außer sich. Haiko habe sie am Morgen so heftig geschlagen, dass sie bewusstlos geworden sei. Auf dem Selfie, das sie mir aufs Handy schickte, hatte sie mehrere Hämatome im Gesicht, ein blaues Auge, ihre Lippe war aufgeplatzt, die Nase schien gebrochen. Die Tat eines brutalen Schweines! Ich stürzte nach draußen. Romberg war mit dem Braumeister zu den Gärtürmen gegangen und als ich die Treppen hochstieg, kam mir der Bewerber entgegen. Ich achtete nicht auf ihn und stieg weiter hinauf, außer mir vor Zorn.
Romberg stand am Ende der Brücke über den Türmen und telefonierte. Er fuhr herum. »Erik, was …?«
Ich schlug ihm das Handy aus der Hand, prügelte auf ihn ein. Er wehrte sich, wir rangen miteinander. Ich drückte Romberg mit aller Macht gegen das Geländer, plötzlich verlor er das Gleichgewicht und stürzte über die Brüstung. Fiel dreiundzwanzig Meter tief. Ich hörte noch einen gellenden Schrei, dann war Stille. Romberg lag in unnatürlich verrenkter Haltung am Fuß der Gärtürme – wahrscheinlich tot.
Ich rief Lena an und berichtete, was geschehen war. Jetzt war es an ihr, mich zu beruhigen. Sie werde mich so schnell wie möglich an der Brauerei abholen. Dann würden wir nach Düsseldorf fahren und den nächsten Flieger nehmen, irgendwohin, nur weg aus Deutschland.
Ich gewann allmählich meine Fassung zurück, stieg von den Gärtürmen hinunter und trat zu Romberg. Ich tastete nach seinem Puls, spürte aber nichts. Sein Kopf war seltsam verdreht, ein Blutfaden rann aus seinem Mundwinkel. Ich bedeckte Rombergs Leiche mit einer Plastikplane. Als ich mich zum Hauptgebäude der Brauerei wandte, blickte ich in die Mündungen mehrerer Pistolen, die ein halbes Dutzend Polizisten auf mich richtete.
Ich wurde festgenommen wegen des Verdachtes, Haiko Romberg getötet zu haben. Der Polizeiwagen fuhr mit mir vom Brauereigelände und am Tor sah ich Lena, die sich mit zwei Beamten unterhielt. Ihre Augen waren tränenfeucht, ihr Lidstrich etwas verschmiert. Das war aber der einzige Makel. Ansonsten war ihre Erscheinung perfekt. Keinerlei Hämatome, kein blaues Auge, keine noch so kleine Verletzung. Sie war ganz die vollkommene Schönheit, die ich vor langer Zeit kennengelernt hatte. Und als die ich sie im Gefängnis in Erinnerung behalten werde.
Jürgen Ehlers
Die toten Puppen von Lünen
»Du bist ja immer noch hier!«
Sergei Alexandrowitsch Jessenin antwortete nicht. Er stand still und stumm im ›Friedhof der Sowjet-Helden‹ im Seepark von Lünen, halb versunken im Boden.
Frank Paulsen tippte ihm auf die Stirn. »Du bist hier falsch«, sagte er. »Bestraft für etwas, was du nie begangen hast. Genau wie ich.«
Jessenin schwieg weiter. Was hätte er anderes tun können? Er war aus Bronze und er hatte sich nicht dagegen wehren können, dass man ihn als Lyriker zusammen mit den Statuen kommunistischer Militärs und Bonzen hier eingegraben hatte, namenlos und ohne Sockel. Wenn man ihn nicht zufällig für die ›Kommunistenkurve‹ auf der Gartenbauausstellung gebraucht hätte, wäre er schon längst eingeschmolzen und zu einem Elektrokabel verarbeitet worden.
Paulsen spürte plötzlich eine Welle der Sympathie für den toten russischen Poeten. Er selbst war auch unschuldig verurteilt worden. »Ich hole dich hier raus, Sergei Alexandrowitsch«, versprach er. »Sobald ich fertig bin, hole ich dich hier raus!«
Paulsen war gestern aus der JVA Dortmund geflüchtet. Anstatt das Weite zu suchen oder wenigstens unterzutauchen, hatte er sich auf die Suche nach Wolfgang Stamm gemacht. Wolfgang Stamm – der Mann, der Kerstin ermordet hatte, seine Kerstin, und der ihm die Schuld dafür in die Schuhe geschoben hatte. Er hatte sich geschworen, er würde ihn finden.
Und er hatte ihn gefunden. Was, bei genauerer Betrachtung, nicht schwer gewesen war. Denn Stamm hatte weder den Wohnsitz gewechselt noch den Namen. Er arbeitete weiterhin für die Stadt Lünen. Er hatte offenbar nicht damit gerechnet, dass Paulsen jemals wieder freikommen und ihn zur Rechenschaft ziehen könnte. Aber genau das hatte Frank Paulsen jetzt vor. Stamm und sein sauberer Freund, der Schrotthändler, der Mann, der Stamm die Waffe besorgt hatte, sie würden beide bezahlen.
Wie spät war es jetzt? Kurz nach zehn. Um diese Zeit sollten auch die faulsten Beamten an ihren Schreibtischen sitzen. Paulsen zückte sein Handy und wählte die gespeicherte Nummer.
Stamm ging sofort dran: »Ordnungsamt, Stamm?«
»Gucken Sie mal im Museum nach«, sagte Paulsen. »Im Museum der Stadt Lünen. Sie wissen ja, wo das ist. Da haben sie etwas für Sie.«
Dr.Steinberger, der Museumsleiter, hielt gerade den Kopf einer Puppe in der Hand, als Erwin Lost, der Polizist, endlich kam.
»Sie haben ein Problem?«, fragte Lost.
»Ja. Die Puppe«, sagte Steinberger.
»Verstehe«, sagte der Polizist, obwohl er nicht genau wusste, was gemeint war. Das ganze Museum war voller Puppen.
»Die Blonde da, die mit dem blauen Kleid!«
Lost setzte umständlich seine Brille auf und beugte sich vor. In dem vornehmen Puppenwohnzimmer des Puppenhauses hatten sich vier Puppendamen am Kaffeetisch versammelt. Doch sie schienen sich nicht für den leckeren Kuchen zu interessieren, sondern blickten stattdessen auf eine fünfte Puppe, die nicht recht zu den anderen zu passen schien. Sie trug ein blaues Kleid und eine Schürze.
»Ja«, sagte Lost. »Verstehe. Was ist mit der?«
»Die gehört hier nicht her!«
Erwin Lost starrte den Museumsmenschen an, als ob der nicht ganz bei Trost sei. »Klar«, sagte er. »Verstehe. Und wieso nicht?«