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Die faszinierenden Bilder von Yves Klein bestimmen das Schicksal von Jo: Er ist besessen von dem strahlenden Blau in Kleins Monochromen - und von der Idee, es ganz für sich zu besitzen. In seinem Freund Mosca findet er einen Begleiter, der bereit ist, mit ihm gemeinsam alle Grenzen zu überschreiten. Doch der Weg, auf den ihn seine Obsession gelenkt hat, führt geradewegs auf einen Abgrund zu. In intensiven Bildern erzählt Bernhard Aichner die packende Geschichte einer großen und ausweglosen Leidenschaft und zeichnet ein einfühlsames Porträt der Menschen, die im Bann der großen Kunst von Yves Klein stehen.
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Seitenzahl: 285
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Bernhard Aichner
Nur Blau
Roman
„Komm mit mir in die Leere“
Yves Klein, 1957
Zuerst Jo.
Wie der schmächtige Pole schaute und zusammensank.
Wie Jo ihn getreten hat, seinen Schuh tief in das polnische Fleisch schlug, wie die Waffe aus der polnischen Hand fiel, wie Jo das Bild nahm und rannte.
Gehen Sie, hat der Pole gesagt. Das Bild bleibt hier und das Geld auch. Gehen Sie.
Er hat Jo mit der Waffe bedroht, sie ihm unsicher entgegengestreckt, sie ihm an die Brust gedrückt. Seine Hand hat gezittert, sein Gesicht war gierig.
Ein kleiner schmächtiger Mann. Und wie seine Hand zitterte.
Gehen Sie, hat er immer wieder gesagt.
Jo hat überlegt. Er hat die Waffe gespürt an seiner Brust, er hat auf die Tasche gestarrt, auf das Geld, sein Geld, und auf das Bild. Wie es blau dalag. Er würde es mitnehmen. Er hatte es gekauft, bezahlt mit seinem Geld, es dem Polen auf seinen Schreibtisch gelegt, er hat ihm so oft geschrieben, mit ihm telefoniert. Er war nach Warschau gekommen und er würde mit diesem Bild von hier weggehen. Einen anderen Weg zurück gab es nicht.
Kommen Sie am Dienstag, hatte der Pole gesagt, dann habe ich das Bild hier, es ist aus der Mailänder Ausstellung, achthunderttausend, seien Sie pünktlich.
Bin ich, hat Jo gesagt.
Er packte das Geld in eine Tasche und fuhr nach Warschau, hinauf in den zweiten Stock, wo das Bild war. Er würde nicht ohne dieses Bild gehen. Er würde dem Polen zwischen die Beine treten und rennen, das Geld würde er liegen lassen.
Jo rannte. Der Pole stöhnte und schrie. Er wollte Jo festhalten, ihm das Bild aus den Händen reißen. Er brüllte vor Schmerz, er wollte sich auf ihn stürzen, doch Jo war schneller. Er rannte einfach los. Durch die Tür hinaus, die Stiegen hinunter, hinaus auf eine dunkle Warschauer Straße. Er rannte immer weiter, er hörte, wie der Pole hinter ihm war, wie er sich am Geländer festhielt und nach unten stolperte. Er hörte, wie er keuchte. Jo drehte sich nicht um. Das Bild war unter seinem Arm. Nicht umdrehen, dachte er. Weiterlaufen, schnell.
Er wollte dieses Bild. Unbedingt. Lange schon.
Wie er es auspackte. Wie es oben auf dem Schreibtisch lag, wie der Pole ungeduldig mit den Fingerkuppen auf die Tischplatte trommelte und wie Jo die Pigmente unter dem Vergrößerungsglas betrachtete. Wie er die Leinenfasern bis 1957 zurückverfolgte. Es war echt, und es würde ihm gehören. Er würde mit diesem Bild über die Grenze fahren, es würde in seiner Stadt hängen, an seiner Wand. Alles war perfekt, sein Traum schien wahr zu werden, er hatte alles getan, was der Pole von ihm verlangt hatte, alles. Und trotzdem war da plötzlich diese Waffe, die ihn bedrohte. Ihn und alles, was ihm wichtig war.
Das Bild. Das Geld, die Pistole.
Mit großen Augen starrte er das Bild an. Mit aller Kraft trat er zu.
Sein Fuß zwischen polnischen Beinen. Wie der kleine Mann in die Knie ging und wie Jo das Bild nahm. Wie er es fest an sich drückte. Ein blaues Bild über die Stiegen nach unten.
Jo rannte. Der Pole bekam kaum noch Luft, er stolperte, der Abstand zwischen ihnen wurde größer. Niemand konnte mehr verhindern, dass Jo in den Wagen stieg. Niemand würde ihm sein Bild nehmen. Niemand.
Mosca hatte ihn sofort gesehen, er hat gestartet und die Türe geöffnet.
Schnell, schrie er. Fahr los. Jetzt. Bitte, Mosca, schnell.
Der Pole blieb stehen. Die Arme auf den Knien abgestützt, wild schnaufend. Er hustete und spuckte. Im Rückspiegel kotzte er sich seine Seele aus dem Leib.
Scheiß Pole, sagte Jo.
Mosca lachte.
Das war vor zwei Jahren.
Mosca und Jo fuhren mit dem Bild über die Grenze. Es lag im Kofferraum, in eine Decke eingewickelt. Der Beamte winkte sie durch. Wie auf dem Hinweg. Sie schauten sich an und grinsten. Jo schrie vor Glück. Er hüpfte auf dem Sitz auf und nieder, bis Mosca stehenblieb, das Auto am Straßenrand anhielt und Jo umarmte.
Jetzt hast du dein Bild, sagte er.
Er strich mit der Hand über Jos Haare und küsste ihn. Jo wurde ruhig, er blieb in Moscas Armen liegen und spürte die vertraute Zunge in seinem Mund. Das Bild lag im Kofferraum. Ungeduldig berührten sich ihre Zungen. Jo wollte es ansehen, es in seinen Händen spüren, es halten, mit den Fingern über die Farbe streichen, es anschauen, die ganze Nacht lang. Er konnte es kaum noch erwarten, trotzdem blieb er sitzen.
Ich warte, bis wir da sind. Auf das richtige Licht, und du machst den Wein auf. Fahr schnell, sagte er. Jetzt.
Mosca brauchte zehn Stunden von Warschau nach Frankfurt.
Sie fuhren zurück in ihr Hochhaus, in den zweiunddreißigsten Stock, in ihre sichere Welt, eng aneinander ihre Körper im Lift nach oben, das Bild in der Decke eingewickelt unter Jos Arm.
Er hielt es fest. Seine Finger waren wie Schnüre, fest gebunden.
Dann ging die Tür auf. Das Licht ging an. Und da war es dann.
Wie es dastand, wie es an der weißen Wand lehnte, in dem weißen Zimmer.
Ein blaues Bild von Yves Klein.
Olivier roch nach Müll.
Deshalb hat ihn seine Frau verlassen. Weil er keinen normalen Beruf haben konnte. Weil er Müllfahrer war. Weil er täglich den Müll anderer Leute spazieren fuhr, weil er danach roch, wenn er nach Hause kam, weil sie sagte, dass es widerwärtig ist, Würmer und volle Windeln und Dreck herumzufahren. Sie ist einfach gegangen, hat ihre Sachen gepackt und ist weg. Sie kam nicht wieder.
Du stinkst, hat sie noch einmal gesagt.
Dann war sie weg.
Das ist mein Beruf, hat er geantwortet, es ist ein guter Beruf.
Das ist doch kein Beruf, hat sie gesagt.
Er war wütend. Sie soll nicht undankbar sein, sagte er, was sie denn sonst essen sollten, fragte er, wo sie denn wohnen sollten, wenn er nicht die Scheiße der anderen Leute auf den Müll fahren würde. Sie würde ihren Arsch sowieso nicht in die Gänge bekommen, um Geld zu verdienen. Sie wäre wahrscheinlich ohnehin zu blöd dafür.
Er war außer sich. Genauso wie sie. Sie sagte, dass er stinkt, dass sie ihn nicht mehr ertragen kann, dass er eine stinkende alte Drecksau ist.
Dann ist er ins Wirtshaus. In einen Münchner Biergarten, ohne sich zu duschen.
Dann stinke ich eben, hat er gedacht, aber ich weiß wenigstens warum.
Und während er Bier trank, hat sie ihn verlassen, sie ist einfach weggegangen, hat ihm die Schlüssel dagelassen und die Schulden für die neue Eigentumswohnung. Sie ist einfach auf und davon.
Das war vor einem halben Jahr.
Danach trank er mehr als früher und las auch nicht mehr.
Er hatte immer gerne gelesen, nach der Arbeit geduscht und in seinem Plüschsessel gelesen. Alles hat er gelesen, alles, was er in die Hände bekam, er stopfte es hinein in sich, egal, ob es wichtig war oder nicht.
Er hat gelesen, obwohl sie ihn ausgelacht hat.
Was willst du mit Kunstgeschichte, du bist Müllfahrer, Olli.
Ich heiße Olivier, hat er gesagt und weitergelesen.
Was weißt du schon, hat er gedacht, und von der Antike bis zur Gegenwart durchgelesen. Er hat sich in seinem Plüschsessel zurückgelehnt und die Welt um sich vergessen.
Den Sessel hatte er aus dem Müll. Die guten Stücke hat er immer mitgebracht.
Wir sparen viel Geld, hat er gesagt, und sie hat den Kopf geschüttelt.
Jetzt bringt er schon wieder den Müll mit nach Hause, das ertrage ich nicht, hat sie gesagt.
Sie hat lange den Kopf geschüttelt, hat ihn verachtend angeschaut, sich hübsch gemacht und ist ausgegangen.
Fast jeden Abend, sie hat sich aushalten lassen von irgendwelchen Arschlöchern.
Ich brauche dein Geld nicht, hat sie gesagt.
Du hast ja diese Arschlöcher, hat er gesagt.
Olivier war nicht eifersüchtig. Sie ist gegangen und er hat gelesen. Bücher, Zeitschriften, Stadtpläne, er hat sich keine Gedanken gemacht, was sie wohl tut, ob sie ihm treu ist. Sie kam immer wieder zurück und das beruhigte ihn. Er saß in seinem Plüschsessel und sie stolperte in Stöckelschuhen zur Tür herein. Halbnackt.
Du schaust aus wie eine Nutte, hat er einmal gesagt.
Er las gerade einen Artikel über Harninkontinenz, darüber dass man sie jetzt heilen kann, dass sie eine Methode gefunden haben. Eine medizinische Sensation. Und sie stand da und war wütend. Mehr als das. Sie ging zu ihm hin, steckte sich ihren Zeigefinger in den Hals und übergab sich über ihn. Es rann aus ihr heraus in sein Hemd und tief in den Plüschsessel hinein.
Und du stinkst, sagte sie.
Dann kotzte sie noch einmal. Dann schlug er sie. Ein paar Tage später hat sie ihn verlassen.
Olivier war nicht traurig, als sie ging. Das glaubte er jedenfalls.
Er hat begonnen, viel Alkohol zu trinken und Karten zu spielen.
Im Biergarten gab es eine dunkle Ecke, in die er sich verlief. Dort verlor er sein Geld und trank Bier. Es rann in ihm hinunter und blieb liegen auf dem Eichentisch im Biergarten. Er fühlte sich allein, wenn er zu Hause war. Da war niemand mehr. Sie war nicht da, saß nicht mehr vor dem Fernseher, lackierte ihre Nägel nicht mehr. Auch wenn sie nie viel geredet hatten, vermisste er sie. Er konnte es nicht ertragen, in seiner Wohnung, die Nächte allein, unter der Decke. Er verbrachte seine freie Zeit im Biergarten.
Vergiss die Schlampe, hat Atze gesagt, sein Kollege. Die fängt sich was ein und kommt auf den Müll. Das hat sie dann davon.
Er hat Olivier das Bier in die Hand gedrückt und auf ihn getrunken.
Die verdient uns nicht, hat er noch gesagt, die undankbare kleine Fotze.
Ihre kleine Fotze, hat sich Olivier gedacht, die habe ich immer gemocht.
Dann hat er getrunken mit Atze und nicht mehr gedacht an sie bis zum nächsten Abend.
Das ging so bis vor vier Monaten.
Olivier und Atze waren schon früh in Schwabing.
An einem Dienstag. Es war eine dieser traurigen Straßen, die Häuser waren alle grau, da war nichts außer Fenster und Türen.
Ein Ghetto, sagte Olivier, hier würde ich sterben.
Er dachte an seine reizende Wohnung, dann dachte er an die Raten, dann tat er seine Arbeit. Atze saß am Steuer, Olivier rollte die Tonnen auf den Heber. Er hob den Deckel jeder Tonne kurz an und warf einen kleinen Blick in die fremden Welten der anderen. Schon oft hatte er Glück, als er den Deckel hob. Etwas lag obenauf, unversehrt, nicht wirklich in Berührung gekommen mit dem wertlosen Abfall darunter. Jemand hatte etwas Brauchbares in die Tonne geworfen, wollte es loswerden, aber Olivier konnte es brauchen. Er hat seiner Frau einen funktionierenden Entsafter mitgebracht, und einmal ein Set versilberter Boccia-Kugeln. Auch der Plüschsessel war einsam und sauber in einer leeren Tonne gelegen. Nur der Sessel, sonst nichts.
Tausende Tonnen jeden Monat. Einmal kurz den Deckel heben, ein schneller Blick.
Lass das doch, hatte Atze früher immer gesagt. Das ist doch sinnlos.
Doch Olivier hat es trotzdem immer wieder getan. Irgendwann hat er eine offene Holzkiste mit sieben Flaschen dreiundzwanzig Jahre altem Whiskey gefunden. Seitdem hat Atze nichts mehr gesagt, ihn jeden Deckel heben lassen. Olivier hat Buch geführt über die Treffer, alle tausendsiebenhundert Mal war etwas dabei, das war der Schnitt.
Vor Haus dreiundzwanzig hob er den Deckel einer Tonne, er schaute kurz hinein, sah aber nur vergammeltes Essen. Während er schaute, was da noch war, rollte er die Tonne Richtung Müllwagen. Er war dabei, den Deckel zu schließen, als die Tonne über den abschüssigen Gehsteig beschleunigte und über den Gehsteigrand holperte. Sie kippte. Olivier riss den Kopf herum. Er war zu langsam. Er wollte die Tonne festhalten und stolperte. Er stürzte seitlich weg, drehte sich, prallte mit dem Rücken gegen den Müllwagen und verriss sich den Nacken. Die Tonne rollte und blieb kurz vor der Seitenwand des Wagens stehen. Olivier schrie. Er stand mit dem Rücken zum Wagen und schrie. Er konnte sich nicht mehr bewegen. Sein Kopf war zur Seite gedreht, er konnte ihn nicht mehr zurückdrehen, ihn nicht mehr geradestellen, ihn nicht bewegen, alles tat weh. Jeder Versuch schmerzte bis tief unter die Haut hinein.
Atze hörte ihn, er hatte die Szene im Rückspiegel beobachtet, sich aber nichts gedacht. Als die Tonne aber stehen blieb und auch Olivier sich nicht mehr bewegte, stieg er aus und begann, sich um ihn zu kümmern. Er hob ihn auf den Beifahrersitz. Vorsichtig waren seine Bewegungen, nachdem er kurz zu fest zugepackt und Olivier ihn angeschrien hatte. Laut und lange. Er beeilte sich, Olivier von der Straße zu holen. Fenster waren aufgegangen. Gesichter schauten teilnahmslos nach unten.
Atze brachte ihn ins Krankenhaus. Der Müllwagen stand vor der Notaufnahme. Er holte einen Rollstuhl, hob Olivier heraus und rollte ihn an der Anmeldung vorbei direkt in ein Untersuchungszimmer. Die Mülltonnen mussten warten.
Mein Kollege hat furchtbare Schmerzen, helfen Sie ihm.
Er stand neben dem Rollstuhl, schnaufte laut, bekam fast keine Luft mehr. Atze war fett. Früher hatte er das mit den Tonnen gemacht, aber irgendwann wurde ihm alles zu schwer, er klagte über Kurzatmigkeit, ließ sich untersuchen und wurde Fahrer. Er stand neben Olivier und legte ihm die Hand auf die Schulter.
Das wird schon wieder, sagte er und klopfte ihm auf den Rücken.
Olivier wimmerte. Auch der Arzt brachte ihn noch einige Male zum Schreien, er bog ihn nach links und rechts, zerrte an ihm und sagte, dass er nichts tun könne.
Hexenschuss. Ruhestellung und Physiotherapie.
Und das nächste Mal gehen Sie zuerst zur Anmeldung, sagte er noch.
Der Geruch von Alkohol aus den Mündern der Müllfahrer am frühen Morgen war ihm widerwärtig. Atze rollte Olivier nach Hause.
Er brachte ihn in sein Bett, zog ihn aus, deckte ihn zu, brachte ihm Bier und stellte ihm den Fernseher zum Bett, den Olivier vier Monate vorher vom Sperrmüll nach Hause gebracht hatte. Nur ein paar Kratzer waren am Bildschirm, aber man sah sie nicht, wenn er an war. Atze stellte ihn ganz nah zum Bett, weil er die Fernbedienung nicht gefunden hatte zwischen all dem anderen Müll. Olivier lächelte dankbar und gequält.
Du bist ein guter Mensch, Atze.
Der sagte nichts darauf, nur, dass seine ältere Schwester Therapeutin ist, und dass er sie gleich anrufen wird, er wollte sie bitten zu kommen.
Sie ist zwar alt und fett, aber sie weiß, was sie tut, sagte er.
Atze wollte wiederkommen, er nahm den Schlüssel von der kleinen Fotze und ging.
Olivier bewegte sich nicht.
Er lag steif im Bett und suchte im Fernseher nach etwas, das ihn tröstete, aber er fand nichts. Später hörte man ihn schreien im Gang, als er versuchte, auf die Toilette zu kommen. Zwei Stunden später schlief er ein.
Dann, am Nachmittag, hörte er die Haustür.
Es war Herta, die Schwester von Atze. Sie hatte jetzt den Schlüssel. Und sie war wirklich fett. Als Olivier ihre Hände sah, bekam er Angst. Sie würde ihm weh tun, sie würde ihm ganz bestimmt weh tun.
Du musst Olli sein, sagte sie.
Ich heiße Olivier, sagte er.
Was ist denn das für ein Name, sagte sie. Wir sind hier in Deutschland. Sie grinste.
Trotzdem Olivier, sagte er.
Sie kam an sein Bett und fragte, wie es passiert ist, wo genau der Schmerz sitzt und bei welchen Bewegungen es weh tut. Dann begann sie ihn zu quälen. Sie rieb an seiner Haut herum, drehte und zerrte an ihm. Im Treppenhaus blieben die Nachbarn stehen und überlegten, ob sie die Polizei rufen sollten, aber schon früher war gebrüllt worden in dieser Wohnung, gleichgültig verschwanden sie hinter ihren Türen. Olivier schrie.
Herta behandelte ihn. Herta war Witwe. Sie hatte nicht wieder geheiratet, sie lebte allein. Sie ist total verfressen, hatte Atze gesagt. Ich bringe dir ein Vorhängeschloss für den Kühlschrank mit. Vor Herta ist nichts sicher. Ihre schweren, großen Hände lagen auf Olivier, sie legte sie nur hin und ließ sie liegen auf der Haut.
Craneosakrale Therapie, sagte sie, kommt aus Amerika. Aber es hilft. Es beginnt sich von innen zu lösen, aber du musst Ruhe geben.
Olivier rührte sich nicht. Als sie fertig war, ging sie in die Küche. Sie kam mit einem belegten Brot zurück und setzte sich neben den Fernseher.
Hast du das alles gelesen, fragte sie.
Die Regale an der Wand waren voll mit Büchern und Zeitschriften.
Das ist wie in einer Buchhandlung hier, du bist doch Müllfahrer, oder. Hat deine Ex-Frau das alles gelesen, fragte sie.
Herta schmatzte. Olivier stöhnte leise. Der Schmerz hatte nachgelassen, sein Nacken war angenehm warm. Er schaute Herta an, wie sie sich das Brot in den Mund schob.
Ich habe das alles gelesen, sagte er. Nicht sie.
Aber wie kommt es, dass du liest, fragte sie. Du bist doch ein Freund von Atze. Der hat in seinem ganzen Leben noch kein Buch gelesen.
Herta grinste. Dann stand sie auf und ging dem Regal entlang. Sie las, was auf den Rücken der Bücher stand, nahm immer wieder eines heraus und schüttelte heftig den Kopf.
Wieso besäufst du dich jeden Abend mit meinem Bruder, das hast du doch nicht notwendig. Warum tust du das, sagte sie. Du umgibst dich mit so schönen Dingen, und dann sitzt du mit diesem Holzkopf zusammen und säufst dir den Verstand weg. Es wird schon einen Grund haben, wieso ich hier bin. Die Sauferei hört sich jetzt auf.
Olivier starrte sie verständnislos an. Sie hatte die schweren Hände in die ausladenden Hüften gestützt, sie meinte es ernst.
Ich komme morgen wieder. Inzwischen bleibst du liegen und stehst nur auf, wenn du auf die Toilette musst. Essen stelle ich auf den Fernseher. Den Alkohol nehme ich mit.
Kurz lächelte sie ihm zu, dann ging sie mit einer Kiste Bier durch die Tür.
Olivier wusste nicht, ob er sie beschimpfen sollte oder nicht. Ob es ihm gefiel, wie sie war, oder ob er sie schrecklich fand, anmaßend, herrisch. Er entschied sich, nichts zu sagen. Sie saß jetzt am Steuer, nicht mehr Atze. Und es gefiel ihm.
Sein Hexenschuss wurde besser, und er hörte mit dem Saufen auf. Herta kam täglich, manchmal zweimal am Tag. Sie massierte ihn, legte ihm die Hände auf und lieh sich Bücher aus. Olivier erzählte ihr über die Bücher, gab ihr Empfehlungen, er freute sich über ihr Interesse, über die Wucht, mit der sie sich in seine Regale stürzte, er freute sich, dass sein eigenes Interesse wieder zurück war, dass er wieder begonnen hatte zu lesen.
Das war vor vier Monaten.
Atze kam an den ersten drei Tagen am Nachmittag nach der Arbeit, am vierten Tag ging er wieder in den Biergarten. Auch als Olivier wieder gesund war, tranken sie nicht mehr zusammen. Olivier ging nach der Arbeit heim zu seinen Büchern, zu Herta, die regelmäßig zu ihm kam. Sie aßen gemeinsam und diskutierten über Artikel und Bücher, sie lernten sich kennen. Sie machten Spaziergänge und telefonierten. Oft die halbe Nacht lang.
Olivier rief sie auch an, als er in Schwabing seinen Fund machte.
Das war gestern.
Yves Klein starb mit vierunddreißig Jahren an drei Herzinfarkten.
Ein Franzose. Und er hatte blaue Bilder gemalt. Monochrom. Nur blau.
Du musst es sehen, hat Jo immer gesagt. Keine Abbildung ist gut genug, um zu zeigen, wie es wirklich ist, diese Kraft, diese Farbe. Seine Farbe.
Jo konnte stundenlang reden über Yves Klein, er hatte alles gelesen. Er verbrauchte Tage dafür, Wochen, Monate. Er war in Ausstellungen und Museen, er reiste durch ganz Europa, um sie zu sehen, diese blauen Bilder.
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