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Im Zentrum dieses Buches steht eine Figur, die wie keine andere das frühe Christentum geprägt hat: der Apostel Paulus. Zunächst als einer der härtesten Verfolger der neuen Religion bekannt, wird er durch die Begegnung mit dem auferstandenen Christus zu deren größtem Verfechter. Gleichzeitig steht er für eine Mission, die bis heute andauert: die Botschaft Jesu in unsere Zeit hinein zu übersetzen. Schon für ihn bestand die Kunst darin, diese ursprüngliche Botschaft nicht zu verfälschen, aber sie doch in einer Sprache zu verkünden, die den Menschen seiner Zeit verständlich war. Wie aktuell die Deutung ist, die Paulus in seinen Briefen den verschiedenen christlichen Gemeinden immer wieder vor Augen hält, zeigen Anselm Grün und Bernd Deininger eindrücklich und spannend in diesem Buch. Dabei betrachten sie die Texte einmal aus spirituell-mystischer und einmal aus tiefenpsychologischer Sicht – eine Kombination, die den sinnstiftenden Grund von Religion noch einmal ganz neu aufleuchten lässt.
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Seitenzahl: 187
Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie. Detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Printausgabe
© Vier-Türme GmbH, Verlag, Münsterschwarzach 2023
ISBN 978-3-7365-0492-9
E-Book-Ausgabe
© Vier-Türme GmbH, Verlag, Münsterschwarzach 2024
ISBN 978-3-7365-0604-6
Alle Rechte vorbehalten
E-Book-Erstellung: Sarah Östreicher
Lektorat: Marlene Fritsch
Covergestaltung: Finken und Bumiller, Stuttgart
Covermotiv: TanyaJoy/shutterstock.com
www.vier-tuerme-verlag.de
Anselm Grün Bernd Deininger
Glaube und Vernunft
Der sinnstiftende Grund von Religion
Vier-Türme-Verlag
Vorwort
Fides quaerens intellectum, der Glaube, der nach Einsicht sucht – dieses Motto, dem Anselm von Canterbury in seiner Theologie folgte, leitet auch Bernd Deininger und Anselm Grün, wenn sie in diesem Buch zentrale Paulustexte auslegen. Es geht ihnen darum, die uns auf den ersten Blick oft unverständlichen Texte aus seinen Briefen so auszulegen, dass wir sie verstehen, dass wir sie mit unserer Vernunft durchdringen. Dabei stehen die für uns Christen zentralen Themen wie Erlösung, Auferstehung und ewiges Leben im Mittelpunkt. Den biblischen Text zu verstehen bedeutet immer auch, sich selbst besser zu verstehen und ein Gespür für das Geheimnis Gottes und seines Handelns an uns Menschen zu bekommen.
Wenn Anselm von Canterbury von intellectus spricht, dann meint er damit nicht einfach nur die ratio, die Vernunft, nicht ein rein rationales Verständnis. Intellectus bedeutet vielmehr intus legere, innerlich lesen, mit dem Herzen lesen, von innen her sehen, eine neue Sichtweise finden. So geht es den Autoren darum, dass die Leser und Leserinnen durch ihre Auslegung eine neue Sichtweise bekommen – nicht nur für die Texte, sondern vor allem für sich selbst, dass sie sich selbst im Licht dieser Texte so sehen, wie es ihrer Wirklichkeit entspricht. Jesus ist für Paulus der, der uns unsere eigentliche Wirklichkeit aufzeigt, der uns einweist in das Geheimnis unseres Menschseins und in das Geheimnis Gottes.
Religion ist nichts Fremdes, das wir einfach nur zu akzeptieren haben. Religion entspricht vielmehr der tiefsten Sehnsucht unseres Herzens. In der Tiefe des Herzens kennt jeder Mensch die Sehnsucht nach dem Geheimnis, das größer ist als er selbst, nach dem Geheimnis Gottes. Religion stiftet unserem Leben Sinn. Davon sind auch Psychologen wie Viktor Frankl und Roberto Assagioli überzeugt. Sie lässt uns unser Leben mit seinen Abgründen und Konflikten besser verstehen. Daher leitet die beiden Autoren dieses Buches bei ihren Auslegungen der Paulustexte die Überlegung: Wenn diese Worte stimmen, wer bin ich dann? Wie kann ich dann mein Leben verstehen? Wie kann ich Gott verstehen, der sich doch all unserem rationalen Zugriff entzieht? Welchen Sinn hat mein Leben, wenn ich den Worten des Paulus traue?
Noch eine andere Frage stellen sich die beiden Autoren: Welche Erfahrung hat Paulus gemacht, dass er diese Worte formulieren konnte? Es geht der Theologie nie nur um abstraktes Wissen, sondern immer auch um die Erfahrung. Wir können nicht mit Gewissheit sagen, was Paulus wirklich erfahren hat. Doch seine Worte sind Ausdruck dieser Erfahrung. Den Autoren geht es bei ihren Auslegungen darum, diese Erfahrung wieder sichtbar zu machen.
In der protestantischen Theologie hat man die Theologie des Paulus vor allem unter dem Aspekt der Rechtfertigung allein aus dem Glauben gesehen. Die mystische Dimension der Paulustexte hat man dabei oft genug übersehen. Gerade der 2. Korintherbrief ist ein durch und durch mystischer Text. Wir können ihn nur verstehen, wenn wir nach der mystischen Erfahrung fragen, die Paulus zum Schreiben dieser Texte gedrängt hat.
Heute ist sowohl die katholische wie die evangelische Theologie offen für die Mystik. Während Karl Barth und seine Nachfolger Mystik strikt ablehnten, hat vor allem Volker Leppin die mystischen Wurzeln der Theologie Martin Luthers in eindrucksvoller Weise beschrieben. Und so zitieren katholische und evangelische Theologen übereinstimmend gerne das berühmte Wort von Karl Rahner, dass der Christ der Zukunft ein Mystiker sein wird, einer, der Gott erfahren hat, oder aber er wird nicht mehr sein, er wird keine Rolle mehr spielen in dieser Welt.
Die mystische Erfahrung, die hinter den paulinischen Texten steht, möchte uns dazu anregen, den Glauben nicht nur vor unserer Vernunft zu rechtfertigen und ihn mit unserem Verstand einzusehen, sondern nach ähnlichen Erfahrungen zu suchen, die wir mit unserem Glauben machen. Daher geht es darum, was die frühen Mönche in ihrer lectio divina, in ihrer Weise, die Bibel zu meditieren, wollten: Gottes Herz in Gottes Wort zu entdecken, die Worte der Bibel zu schmecken und zu kosten, damit wir durch sie Gott selbst erfahren können. Die Erfahrung Gottes führt immer auch zu einer neuen Selbsterfahrung, zur Selbsterfahrung des erlösten Menschen, der mitten in dieser Welt von Gottes Geist durchdrungen ist und der diese Welt mit ihrer Todverfallenheit überwindet, weil er in sich schon das ewige Leben spürt, das Leben, das auch durch den Tod nicht aufgelöst werden kann.
Die paulinischen Texte stiften unserem Leben Sinn. Sie vermitteln uns mitten in unserer Welt, die uns oft beinahe verzweifeln lässt, eine Hoffnung, von der Paulus sagt, dass sie uns nicht zugrunde gehen lässt (vgl. Römer 5,5). Wer einen Sinn in seinem Leben erkennt, der kann es auch mit seinen Herausforderungen bewältigen. Schon Friedrich Nietzsche wusste, dass der, der ein »Wozu« hat, fast jedes »Wie« zu ertragen vermag. So sind die biblischen Texte eine Ermutigung, unser Leben zu wagen, auch wenn wir es angesichts der Verunsicherung durch Pandemie, Klimawandel und Krieg nicht durchschauen. Die Worte des Paulus führen uns in eine andere Welt, in die Welt des Glaubens, von der aus wir diese unsere zerrissene und aufgewühlte Welt bestehen und gestalten können. Dabei geht es aber nicht darum, aus dieser Welt zu fliehen, sondern darum, diese Welt aus dem Geist Jesu Christi heraus zu formen. Oder, wie es Paulus ausdrückt: »Hoffen wir aber auf das, was wir nicht sehen, dann harren wir aus in Geduld« (Römer 8,25). Dann haben wir mitten in der Haltlosigkeit dieser Welt einen Halt, von dem aus wir all dem standhalten können, was uns im Leben erschüttern kann.
Es gibt viele Weisen, die paulinischen Texte auszulegen. Die Autoren beanspruchen für sich nicht, dass man ihren Ausführungen unbedingt folgen müsse. Sie haben ihre Erfahrungen als Psychoanalytiker und als Seelsorger als »Brille« benutzt, um auf die biblischen Worte zu schauen. So entstand ein Dialog zwischen ihren Erfahrungen und denen des Paulus. Auslegung bedeutet immer Dialog. So wollen die Autoren die Leser und Leserinnen dazu ermutigen, den Dialog zwischen ihren eigenen Erfahrungen und denen des Paulus zu führen, sich dadurch selbst besser zu verstehen und offen zu werden für das Geheimnis Gottes, das alles menschliche Verständnis übersteigt.
Anselm Grün, Bernd Deininger
Anselm Grün Das Kreuz als Versöhnungsort RÖMER 3,21–26
Dieser Abschnitt ist einer der zentralen, aber zugleich auch der schwierigsten Texte des Römerbriefs des Paulus. Er ist vielfach übersetzt und damit auch interpretiert worden, auf sehr unterschiedliche, manchmal kontroverse Art und Weise. Es geht vor allem um Vers 25. Die Einheitsübersetzung deutet die Stelle so: »Ihn hat Gott dazu bestimmt, Sühne zu leisten mit seinem Blut, Sühne, wirksam durch Glauben.« Jesus hat nach dieser Übersetzung also am Kreuz unsere Sünden gesühnt. Doch wenn wir den Text genauer anschauen, ist hier nicht vom Sühnetod die Rede. Paulus nutzt das Wort hilasterion. Dieses Wort bezeichnete die Auflage auf der Bundeslade, dem Allerheiligsten im jüdischen Glauben, auf der symmetrisch zwei Keruben angebracht waren. Paulus will damit sagen: Gott hat am Kreuz Christus als öffentlichen Versöhnungsort aufgestellt. Wir brauchen jetzt nicht mehr wie der Hohepriester in das Allerheiligste des Tempels einzutreten, zu dem die einfachen Gläubigen keinen Zutritt hatten. Wenn wir auf Christus am Kreuz schauen, ist er für uns der Ort der Versöhnung. Doch wie sollen wir das verstehen? Für Paulus galt gemäß dem Wort aus dem Buch Deuteronomium jeder als verflucht, »der am Pfahl hängt« (vgl. Galater 3,13 und Deuteronomium 21,23). Nun ist ihm aber vor Damaskus dieser Jesus als Auferstandener begegnet. Das war für Paulus eine umwerfende Erfahrung. Wenn der, der nach außen hin verflucht erscheint, von Gott in der Auferstehung als Herr und Fürsprecher bestätigt worden ist, und wenn Paulus, der gegen diesen Jesus kämpfte, nicht verurteilt wird, sondern von ihm zum Verkünder seiner Botschaft bestellt wurde, dann heißt das für Paulus: In Christus bin ich ganz und gar angenommen, noch bevor ich alles wiedergutmache, was ich falsch gemacht habe. Und mit mir sind alle Menschen, die an Christus glauben, bedingungslos angenommen. So trauen sie sich wieder, vor Gott zu treten. Denn wer sich als verflucht fühlt oder als schuldig erfährt, der schämt sich – wie Adam und Eva –, vor Gott zu treten. Also ist Christus am Kreuz für uns der Ort der Versöhnung, an dem wir uns wieder mit Gott verbunden fühlen, an dem wir erfahren dürfen: Es gibt keine Schuld, die uns von Gott trennt. Denn Gott selbst hat am Kreuz die Menschen mit sich versöhnt.
Die Auflage mit den Keruben – im Hebräischen kapporaet – ist auch der Ort, von dem aus Gott zum Volk gesprochen hat. Das Kreuz ist für uns Christen also der Ort, von dem aus Gott öffentlich zu uns allen spricht. Wir brauchen nicht mehr die Vermittlung eines Priesters. Gott spricht unmittelbar zu uns und er spricht Worte der Versöhnung, der Ermutigung, Worte, die uns verkünden: Du bist geliebt. Christus, der auch für dich gestorben ist, zeigt dir seine Liebe, die stärker ist als der Tod.
Das Sühnemal ist für uns nur zugänglich durch den Glauben. Paulus spricht aber auch vom Blut Jesu. Durch den Glauben und kraft seines Blutes haben wir Zugang zum Versöhnungsort am Kreuz. Blut war für die gläubigen Juden zur Zeit des Paulus immer ein Bild für das Leben, für die Liebe und für die Hingabe. Das Blut Jesu erinnert zudem an das Blut, mit dem der Hohepriester die Auflage über der Bundeslade am Versöhnungstag besprengte. Blut galt also im Judentum immer auch als etwas, was reinwäscht. Das bezieht nun Paulus auf den Tod Jesu. Wir müssen uns jedoch dabei immer daran erinnern, dass Paulus Bilder nutzt und keine Theorie aufstellt. Das Geheimnis der Versöhnung, die am Kreuz geschehen ist, wird durch die Bilder erklärt, die dem Apostel das Alte Testament und die jüdische Auslegungstradition bieten. Daher ist hier das Blut ein Bild für eine Liebe, die so stark ist, dass sie uns von aller Schuld und allen Selbstvorwürfen reinigt.
Der evangelische Professor für Neues Testament Peter Stuhlmacher bezieht sich auf die jüdische Auslegungstradition, wenn er meint, dass Paulus hier »christliche Lehrtradition aufnimmt und sie kommentiert« (Stuhlmacher 55), indem sie auf die Sichtweise des Frühjudentums zurückgreift, das die Folgen des Sündenfalls in Genesis 3 »als Verlust (oder auch Entkleidung von) der dem ursprünglichen Menschenpaar im Paradies eignenden herrlichen Seinsweise der Geschöpfe Gottes in Unschuld und Gerechtigkeit« (Stuhlmacher 55) deutete. Er zitiert eine Stelle aus einer apokryphen Schrift des Alten Testaments, der Moseapokalypse, in der Eva nach dem Sündenfall klagt: »Und zur selbigen Stunde wurden mir die Augen aufgetan, und ich erkannte, dass ich entblößt war von der Gerechtigkeit, mit der ich bekleidet gewesen. Da weinte ich und sprach (zum Versucher in Gestalt der Schlange): Warum hast du mir das angetan, dass ich entfremdet war von der Gerechtigkeit, mit der ich bekleidet war?« (Stuhlmacher 55). Adam beklagt sich in der gleichen Schrift bei Eva: »Was hast du uns da angerichtet? Entfremdet hast du mich von der Herrlichkeit Gottes!« Paulus geht von dieser Vorstellung aus, wenn er schreibt: »Alle haben sie gesündigt, und es fehlt ihnen die Herrlichkeit Gottes« (Römer 3,23). Die »Herrlichkeit Gottes« war in der jüdischen Tradition gleichgesetzt mit Gerechtigkeit (vgl. Stuhlmacher 57). Da dieser Verlust durch menschliches Bemühen nicht auszugleichen ist, hat Gott selbst aus freiem Gnadenentschluss diese Herrlichkeit dem Menschen »umsonst« wieder geschenkt.
Wir verstehen »Gerechtigkeit Gottes« und »Rechtfertigung durch Gott« oft als juristische Begriffe. Dann wirken sie sehr abstrakt. Wenn wir aber das Bild der Moseapokalypse als Hintergrund nehmen, bedeutet Rechtfertigung aus dem Glauben, dass Gottes Gerechtigkeit uns die ursprüngliche Herrlichkeit wieder schenkt, die wir im Paradies hatten. Und weil wir wieder die ursprüngliche Schönheit durch Christus erhalten haben, können wir als die, die sich von Gott entfernt hatten, die sich wie Adam und Eva vor ihm versteckt haben, wieder in seine Nähe kommen. Wer sich schuldig fühlt, traut sich nicht, sich Gott zu zeigen. Doch wenn Gott uns die Sünden vergibt und uns dadurch die ursprüngliche Herrlichkeit wieder schenkt, trauen wir uns, vor ihn zu treten.
Der Ort, an dem uns die Gerechtigkeit Gottes aufgeht, ist für uns Christen das Kreuz. Hier wird die ursprüngliche Gemeinschaft, die Adam und Eva im Paradies mit Gott erfahren durften, auch für uns wieder erfahrbar. Das Sühneritual, das der Hohepriester jedes Jahr wiederholte, war für die Juden ein Versöhnungsritual. Die Sünde trennt uns von Gott. Es zerstört die Gemeinschaft mit ihm. Daher war das Versöhnungsritual entlastend. Man fühlte sich wieder mit Gott versöhnt und traute sich, ihm im Tempel nahezukommen. Paulus sagt nun: Wir brauchen nur auf das Kreuz zu schauen. Dann dürfen wir darauf vertrauen, dass Gott uns unsere Sünden erlassen hat und wir uns ihm wieder frei und offen zeigen können.
Stuhlmacher meint nun, diese Neuinterpretation des Versöhnungsrituals würde auf Stephanus und seine Anhänger zurückgehen und sei dann durch die versprengten Christen aus Jerusalem nach Antiochien gelangt. »Dort ist sie Paulus bekanntgeworden und wahrscheinlich auch jenen unbekannten Missionaren, die den christlichen Glauben nach Rom gebracht haben« (Stuhlmacher 56). Der Tod Jesu am Kreuz hat das alttestamentliche Sühneritual vollendet und abgelöst.
Paulus hat vor Damaskus bei seinem Umkehrerlebnis erfahren, dass er von Christus bedingungslos angenommen ist, obwohl er seine Jünger verfolgt hatte. Er erfuhr in diesem Erlebnis die Versöhnung mit Gott, ohne dass er die Gesetze bis ins Letzte erfüllen musste. Er erfuhr die Gnade Gottes, die ihm nicht aufgrund seiner Leistung geschenkt wurde, sondern aufgrund der Liebe Gottes. Er hat sich also nicht aufgrund seines Glaubens als gerechtfertigt erlebt, sondern aus der reinen Gnade und Zuwendung Gottes heraus. Paulus antwortete auf diese Erfahrung mit seinem Glauben. Und er erfüllte die Sendung, die Jesus ihm in diesem Erlebnis aufgetragen hat, mit ganzem Eifer. Er verkündete die Botschaft von der Versöhnung und Rechtfertigung, die er am eigenen Leib erfahren hatte, nun allen Gemeinden. Darin sah er seinen Auftrag. Er verkündete also keine Lehre, sondern eine Erfahrung, die er dann aber in einem Glaubenssatz ausgedrückt hat, sodass alle Menschen an dieser Erfahrung teilhaben können. Durch diese Erfahrung ist Paulus ein neuer Mensch geworden. Daher kann er die Rechtfertigung durch Gott auch einen Schöpfungsakt nennen, durch den wir zu neuen Menschen werden. Die Schuld lastet nicht mehr auf uns, wir sind von ihr befreit und können so aufrecht unseren Weg mit Gott gehen. Dieses neue Sein wird uns in der Taufe zugesprochen.
Wenn ich die Gedanken des Paulus in meine persönliche Wirklichkeit hinein übersetze, bedeuten sie für mich: Ich bin von Gott bedingungslos angenommen. Ich muss mich vor Gott nicht beweisen, ihm keine guten Werke vorweisen, damit ich von ihm geliebt werde. Aber das heißt nicht, dass ich nicht an mir arbeiten soll. Vielmehr soll ich aus dieser Erfahrung des bedingungslosen Angenommenseins jetzt auch andere Menschen bedingungslos annehmen. Ich soll mit meinem Leben meine Dankbarkeit Gott gegenüber ausdrücken und mich vom Geist Jesu leiten lassen. Ein zweiter Gedanke hilft mir dabei: Rechtfertigung bedeutet, dass Gott mich durch Jesus Christus wieder mit der ursprünglichen Herrlichkeit schmückt, die Adam und Eva hatten. Das heißt für mich: Durch Christus komme ich in Berührung mit dem unverfälschten, unberührten, unbefleckten Selbst, das auf dem Grund meiner Seele ist. Wenn ich mit diesem Selbst in Berührung bin, erfahre ich innere Freiheit, Weite, Schönheit und Dankbarkeit. Dann bin ich auch fähig, mich anderen Menschen ohne Vorurteile zu nähern. Ich sehe in ihnen ebenfalls Gottes Herrlichkeit aufstrahlen. So ist die Theologie der Rechtfertigung aus dem Glauben keine bloße Theorie. Sie führt zu einem neuen Verhalten. Aus der Erfahrung des neuen Seins, das uns in Christus geschenkt wird, strömt auch ein neues Tun. Aber das Sein steht vor dem Sollen, die Erfahrung vor dem Handeln.
Bernd Deininger Hoffnung wider alle HoffnungRÖMER 4,16–21
Der Begriff der Hoffnung spielt sowohl in der griechischen Antike als auch im Christentum eine zentrale Rolle. Allgemein gesprochen könnte der Begriff als menschliche Zukunftserwartung im guten wie im schlechten Sinn verstanden werden. Wir Menschen wissen alle um die stets unsichere Zukunft, dennoch haben wir eine Neigung dazu, uns illusionären Hoffnungen hinzugeben und Erwartungen zu hegen, die unrealistisch sind. Für den Philosophen Immanuel Kant sind die Grundfragen der Hoffnung nur postulatorisch aussagbar, da sie Gegenstände betreffen, über die rational kaum etwas ausgesagt werden kann. Dazu zählen zum Beispiel die Annahme der Existenz Gottes, der Unsterblichkeit der Seele oder der Freiheit des Willens. All diese Dinge sind nach Kant weder im menschlichen Wissen verankert noch durch menschliches Wollen möglich.
Aus psychoanalytischer Perspektive ist Erwartung und Hoffnung jedoch als dem Leben selbst immanent zu verstehen. Besonders bei krebskranken Menschen im Endstadium, nachdem sie den Lebenskampf von innen heraus aufgegeben haben, kann sich eine illusionär gewordene Hoffnung auf eine Zukunft entwickeln, die sich von jedem bestimmten Ziel unabhängig zeigt. Das wäre dann das Paradox einer Hoffnung wider alle Hoffnung, die aber durchaus ihre Berechtigung hat. In vielen Gesprächen mit Betroffenen hat sie eine beruhigende und heilende Wirkung gezeigt. Dabei habe ich festgestellt, dass diese Hoffnung nicht erzwingbar ist, sondern eher mit einer Gunst oder einem Geschenk beziehungsweise einer Gnade verbunden bleibt, wie sie auch den theologischen Tugenden Glaube, Liebe und Hoffnung im besonderen Maß zugesprochen wird.
In seinem Buch »Prinzip Hoffnung« hat sich Ernst Bloch in ganz besonderer Weise mit dieser Thematik auseinandergesetzt. Für ihn steht nicht die Hoffnung von Schwerkranken und existenziell Verzweifelten, die sich individuell auf sich selbst zentrieren, im Vordergrund, sondern für Bloch geht es um das Heil als Weltzustand. Es gilt, die Welt zur Heimat zu machen. Statt einer Erlösung von ihr soll eine Versöhnung mit ihr stattfinden. Zusammengefasst heißt das für Bloch: Hoffnung meint die Weigerung, sich der Resignation zu ergeben. Im Weiteren führt er aus: Wir sind als Menschen vorsehende Wesen, wir sind von Natur aus utopische Wesen, zum Unterschied von den Tieren. Die Antizipation ist unsere Kraft und unser Schicksal (Traub/Wieser). Da die Hoffnung mit dem menschlichen Dasein selbst gegeben ist, bedeutet es den Zukunftsbezug des Menschen, sofern er etwas für sich erwartet, ersehnt oder wünscht. Dies hat für uns Menschen insbesondere auch auf unsere Endlichkeit und den Tod bezogen eine bedeutende theologische Dimension.
Auf das Neue Testament bezogen ist die weitaus überwiegende Zahl der Belege vom Gottesbezug von der Hoffnung geprägt. Zunächst wäre hier die Auferstehungshoffnung zu nennen, die auch im genannten Römertext angesprochen ist. In dieser Auferweckungshoffnung wird dargestellt, dass das Ende der menschlichen Möglichkeiten nicht zugleich das Ende der Möglichkeiten Gottes sein wird. Zitiert wird Abraham, der gegen alle Hoffnung durch Hoffnung daran glaubte, dass er Vater vieler Völker werden würde. Er glaubte also genau das Gegenteil von dem, was im Bereich begründbarer menschlicher Hoffnung gelegen war. Der Glaube, den Abraham in sich trug, stützte sich auf die Wirklichkeit des Schöpfers, alles möglich zu machen und selbst die Fähigkeit zu haben, Tote aufzuerwecken.
Theologisch ist von Hoffnung erst dort zu sprechen, wo allein das Unsichtbare, allein die Wirklichkeit Gottes die Grundlage bildet. Für Paulus gründet sich diese Hoffnung wider alle Hoffnung zudem auf zwei wesentlichen Punkten. Der eine ist, dass Jesus nicht dem Tod überlassen blieb, der andere, dass die Schöpfung existiert statt des Nichts. Insofern bezieht sich über diese beiden Punkte die Hoffnung auf Gott, der aus dem Nichts alles schafft und Tote ins Leben zu rufen vermag. Die Erwartung, dass dies wahr ist, ist die Begründung für die Hoffnung des Glaubens.
Warum und wozu ist überhaupt etwas und nicht nichts? Dies ist eine der Ursprungsfragen der gesamten Philosophie. Dass etwas ist, ist evident. Wir setzen all die Dinge, die uns umgeben, als selbstverständlich voraus. Indes trägt nichts, was es im Sein gibt, also all das, was wir in Erfahrung bringen, den Erhaltungsgrund unmittelbar in sich selbst. Es könnte sein und es kann auch nichts sein. Wenn nun aber alles Seiende einmal sein Sein einbüßen wird, muss man fragen, ob nicht im Grund alles nichts und nichtig ist. Diese Position wird im Nihilismus vertreten. Auch der Naturalismus kommt dieser Ansicht sehr nah, wenn er allenfalls bewusst- und leblosen Entitäten dauerhaftes Sein zuschreibt.
Unser bevorstehender Tod wird unser Leben zu Ende bringen und mit ihm jedes tatsächliche und mögliche Bewusstsein von der Welt. Es gibt deshalb viele Menschen, die sagen, mit dem Tod sei alles aus und zunichte, im Tod erwartet uns das Nichts. Aber setzt dieses Nichts nicht immer ein Etwas voraus – subjektiv denjenigen, der von ihm spricht, objektiv das gelebte Leben, das der Tod zwar beendet, ohne es aber vernichten zu können? Denn auch der Tod kann gelebtes Leben nicht rückgängig machen, das Gewesensein des Lebens ist evident. Oder anders ausgedrückt: Was einmal war oder aktuell ist: Es ist gewesen und nicht nicht gewesen. Ein im Tod beendetes Leben bleibt gewesen, und zwar auch dann, wenn sich kein Mensch mehr an uns erinnert. Der Tod als Tod ist unserer Selbst- und Welterfahrung entzogen und unzugänglich. Wir haben kein Erfahrungswissen von ihm. Insofern ist Sein oder Nichtsein angesichts des Todes eine Elementarfrage des Menschen, die er von sich aus nicht zu beantworten vermag.