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Mit dem Glauben tun sich heute viele Menschen schwer. Sie meinen, es sei gleichbedeutend damit, etwas nicht so genau zu wissen. Andere haben den Eindruck, sie müssten glauben, was ihnen die Kirche vorschreibt, und das widerstrebt ihnen. Sie möchten das glauben, was ihrem Herzen entspricht. Wieder andere verbinden mit Glauben ein System, eine starre Dogmatik, die man blind übernehmen müsse. Anselm Grün lädt in diesem Buch dazu ein, Glauben anders zu sehen, als wir es gewöhnlich tun. Er ermutigt uns aus dieser anderen Sicht auf die Dinge ein neues Verhalten und ein neues Daseinsgefühl zu entwickeln und so einen Weg zu finden, wie man Glauben auch sehen und leben kann.
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Seitenzahl: 83
Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie. Detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Printausgabe
© Vier-Türme GmbH, Verlag, Münsterschwarzach 2020
ISBN 978-3-7365-0337-3
Neuausgabe des erstmals 1986 erschienenen gleichnamigen Titels.
E-Book-Ausgabe
© Vier-Türme GmbH, Verlag, Münsterschwarzach 2024
ISBN 978-3-7365-0614-5
Alle Rechte vorbehalten
E-Book-Erstellung: Sarah Östreicher
Lektorat: Marlene Fritsch
Covergestaltung: Finken und Bumiller
Covermotiv: © almondtartlet/shutterstock.com
www.vier-tuerme-verlag.de
Anselm Grün
Glauben als Umdeutung
Edition Münsterschwarzach Band 5
Vier-Türme-Verlag
Einleitung
Mit dem Glauben tun sich heute viele Menschen schwer. Sie meinen, Glauben sei »etwas nicht so genau wissen«. Andere haben den Eindruck, sie müssten glauben, was ihnen die Kirche vorschreibt. Und das widerstrebt ihnen. Sie möchten das glauben, was ihrem Herzen entspricht. Wieder andere verbinden mit Glauben ein Glaubenssystem, eine starre Dogmatik, die man blind übernehmen müsse. Bei Diskussionen über den Glauben merke ich, wie viele schnell damit fertig sind. Sie behaupten, sie würden nicht glauben. Andere sagen, sie würden zwar an ein höheres Wesen glauben, aber mit all dem, was die Kirche als Glauben verkündet, könnten sie wenig anfangen. Ich möchte in diesem Buch Sie, liebe Leserin, lieber Leser, nicht davon überzeugen, dass sie unbedingt glauben müssten. Ich möchte mich bewusst an die suchenden Menschen wenden und ihnen einen Weg aufzeigen, wie man Glauben auchsehen kann. Dabei beanspruche ich nicht, dass das die einzig mögliche Sicht ist. Ich möchte vielmehr einen etwas ungewohnten Zugang zum Glauben aufzeigen.
Auf die Idee, den Glauben so zu sehen, wie es in diesem Buch geschieht, brachte mich das psychologische Buch »Lösungen. Zur Theorie und Praxis menschlichen Wandels«.1 Dort untersuchen drei amerikanische Psychologen die Bedingungen, wie Probleme und Konflikte sinnvoll gelöst werden können. Sie unterscheiden dabei Lösungen erster und zweiter Ordnung. Lösungen erster Ordnung bleiben auf der gleichen Ebene und entspringen dem gesunden Menschenverstand. Eine solche Lösung liegt vor, wenn wir uns bei zunehmender Kälte immer wärmer anziehen. Oft genügt aber diese Lösung »Mehr desselben« nicht. (51ff) Wenn wir zum Beispiel einen depressiven Menschen immer mehr aufmuntern, wird ihm das in seiner Traurigkeit auch noch ein schlechtes Gewissen einimpfen, dass er überhaupt traurig ist. Oder wenn wir Probleme beim Einschlafen haben, dann sind die verstärkten Versuche, den Schlaf willentlich herbeizuführen, zum Scheitern verurteilt.
Die Autoren unterscheiden drei typische Fehllösungen:
Ein Problem wird einfach verleugnet. Man will es nicht wahrhaben. Die Franzosen sprechen dann von »terribles simplificateurs«, von den schrecklichen Vereinfachern. Man meint, alles sei in Ordnung, und verteufelt alle, die die Verleugnung des Problems nicht mitmachen. (60f)
Es werden utopische Lösungen versucht. Zu hohe Ideale werden als erreichbar und erstrebenswert hingestellt. Man meint, eine allgemeine, allumfassende Lösung für diese Welt gefunden zu haben, und man setzt diese Lösung dann gegen alle Widerstände durch. Oder man schildert zum Beispiel die Ehe in so rosigen Farben, dass sich jede Durchschnittsehe als höchst unvollkommen erscheinen muss. »Und hier nun, unter der Flagge der Vervollkommnung, entsteht ein Problem, wo vorher keines war. Wer diese These von der idealen Ehe übernimmt, begibt sich damit nicht nur nicht auf den Weg der Lösung eines Problems, sondern schafft durch diesen Akt der Zielsetzung erst sein Problem: die Lösung ist dann das Problem, das zu lösen ist.« (79)Die utopische Lösung wird häufig auf politischem Gebiet angestrebt. Man erwartet sich eine ideale Welt, in der alle in Frieden leben. Schon Hölderlin stellte dazu fest: »Immerhin hat das den Staat zur Hölle gemacht, dass ihn der Mensch zu seinem Himmel machen wollte.« (81)
Die Paradoxien. Eine Paradoxie liegt vor, wenn man einem befiehlt »sei spontan!«. Oder wenn eine Mutter ihrem Kind beibringen will, dass es nicht nur arbeitet, weil sie es ihm befiehlt, sondern dass es von sich aus arbeiten will. Die Paradoxie besteht in der »Forderung nach einem Verhalten, das sich seinem Wesen nach nur spontan geben kann, dessen Spontaneität (und damit die Möglichkeit seines Eintretens) aber eben durch sein Gefordertwerden unmöglich gemacht wird« (86).
Gegenüber diesen Fehllösungen werden Lösungen zweiter Ordnung beschrieben, die die Ebene, auf der das Problem besteht, übersteigen und von einer anderen Warte aus eine Lösung finden. Diese Lösungen zweiter Ordnung erscheinen oft »absurd, unerwartet und vernunftwidrig. Sie sind ihrem Wesen nach überraschend und paradox. Lösungen zweiter Ordnung heben die zu lösende Situation aus dem paradoxen, selbstrückbezüglichen Teufelskreis heraus, in den sie die bisherigen Lösungsversuche geführt haben, und stellen sie in einen neuen weiteren Rahmen.« (105)
Als Beispiel führen die Autoren das Problem an, die neun Punkte in einem Quadrat durch vier gerade zusammenhängende Linien zu verbinden:
Wenn ich im Rahmen des Quadrates bleibe, gibt es keine Lösung. Ich muss den Rahmen übersteigen. Dann ist die Lösung ganz einfach (siehe S. 94). Eine solche Lösung, die den Rahmen des Problems übersteigt, ist die »sanfte Kunst des Umdeutens«.
Auch die folgende Geschichte von Mark Twain erzählen die Autoren als Beispiel dafür:
Es ist Samstagnachmittag, Freizeit für alle Jungen, außer Tom Sawyer, der dazu verurteilt ist, einen dreißig Meter langen, neun Fuß hohen Zaun zu tünchen. Das Leben scheint ihm öde, das Dasein eine Last. Es ist nicht nur die Arbeit, die er unerträglich findet, sondern besonders der Gedanke an alle Jungen, die vorbeikommen und ihn auslachen werden, weil er zu arbeiten hat. In diesem dunklen, hoffnungslosen Moment, erklärt Mark Twain, kommt Tom eine Eingebung. Eine große, eine herrliche Eingebung! Und kurz darauf schon nähert sich ein Junge, Ben, dessen Spott er von allen am meisten gefürchtet hatte:
»Hallo, alter Knabe, Strafarbeit, ja?«
»Ach, du bist’s, Ben, ich hab’ gar nicht aufgepasst!«
»Hör’ du, ich geh’ schwimmen, willst du vielleicht mit? Aber gelt, du arbeitest lieber, natürlich, du bleibst viel lieber da, gelt?«
Tom maß ihn erstaunt von oben bis unten.
»Was nennst du eigentlich arbeiten?«
»W-was? Ist das keine Arbeit?«
Tom tauchte seinen Pinsel wieder ein und bemerkte gleichgültig:
»Vielleicht – vielleicht auch nicht! Ich weiß nur soviel, dass es dem Tom Sawyer passt.«
»Na, du willst mir doch nicht weismachen, dass du’s zum Vergnügen tust?«
Der Pinsel strich und strich.
»Zum Vergnügen? Na, ich seh’ nicht ein, warum nicht. Kann unsereiner denn alle Tage ’nen Zaun anstreichen?«
Das warf nun ein neues Licht auf die Sache. Ben überlegte und knupperte an seinem Apfel. Tom fuhr sachte mit seinem Pinsel hin und her, trat dann zurück, um die Wirkung zu prüfen, besserte hier und da noch etwas nach, prüfte wieder, alles ohne sich im geringsten um Ben zu kümmern. Dieser verfolgte jede Bewegung, eifriger und eifriger mit steigendem Interesse. Plötzlich sagte er:
»Du, Tom, lass mich ein bisschen streichen!«
Gegen Mitte Nachmittag hat der Zaun drei Lagen Tünche, und Tom schwimmt in Reichtum: für das Privileg, einen Teil des Zauns tünchen zu dürfen, hat sich ein Junge nach dem anderen von seinen Kostbarkeiten getrennt. Es ist Tom gelungen, harte Arbeit als ein Vergnügen hinzustellen, für das man zu zahlen hat, und seine Freunde haben wie ein Mann diese Umdefinierung der Wirklichkeit angenommen. (116f)
Das ist für die Autoren ein typisches Beispiel für eine Lösung zweiter Ordnung. Es ist die Lösung des Umdeutens. Mich hat der Begriff der Umdeutung dazu geführt, neu über das Wesen des Glaubens nachzudenken. Der Glaube erscheint für mich so eine Umdeutung der Wirklichkeit zu sein. Im Glauben versuche ich, die Wirklichkeit in einem neuen Licht zu sehen und in einer neuen Weise zu deuten. Ich übersteige die Ebene, auf der das Problem liegt, und versuche, es von Gott her zu sehen. Damit verlasse ich die erste Ordnung, auf der Probleme oft nicht zu lösen sind.
Von Gott her sehe ich die Wirklichkeit, wie sie in Wahrheit ist. Ich übersteige meinen engen Horizont und kann manches verstehen, was auf den ersten Blick unverständlich erscheint. Von Gott her kann ich die Wirklichkeit umdeuten, um besser und wirklichkeitsgerechter damit umzugehen. Das Übersteigen der Ebene, auf der die Probleme bestehen, lässt mich Lösungen zweiter Ordnung entdecken.
Zwei Merkmale kennzeichnen jedoch das Umdeuten im Glauben gegenüber der »sanften Kunst des Umdeutens«, die Tom Sawyer so erfolgreich praktiziert hat. Der Glaube ist ein umfassendes Deutungsmodell, das sich nicht mehr nur auf einzelne Probleme wie das Streichen eines Zaunes bezieht, sondern auf das Leben als ganzes. Tom Sawyer hätte Krankheit, Unglück und Tod wohl nicht so leicht umdeuten können. Da nützen keine spontanen Einfälle mehr. Da brauche ich schon ein tragfähiges Deutungsmodell.
Der Glaube deutet das ganze menschliche Leben um. Er bezieht sich auf alle Bereiche, auf Erfolg und Misserfolg, auf Geburt und Tod, auf Gesundheit und Krankheit, auf Glück und Unglück, auf alle Erfahrungen, die uns oft dunkel erscheinen und die wir nicht einordnen können: auf die Erfahrung von Krisen, die unser Leben erschüttern, auf die Erfahrung von Einsamkeit und Verzweiflung, von Leere und Sinnlosigkeit, von Enttäuschung und Nichtverstandenwerden, von Ungeborgenheit und Fremdheit. So ein umfassendes Deutungsmodell kann ich mir nicht mehr selbst entwerfen, sondern es muss mir von einem anderen angeboten werden.
Ich kann mir die Deutung nicht selbst geben, ich muss sie mir von Gott sagen lassen. Gott deutet uns die verschiedensten Situationen unseres Lebens in seinem Wort, das uns in der Bibel überliefert ist. Dieses Wort wird uns in der Liturgie gesagt, wir tragen es mit uns in der Meditation und im Gebet. Indem wir uns ein Schriftwort immer wieder vorsagen, üben wir uns ein in die Umdeutung des Glaubens, versuchen wir, unser Leben von diesem Wort her zu beleuchten und umzudeuten.