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Lassen sich Job und Liebe auf einen Nenner bringen? Der humorvolle Liebesroman »Gleichung mit zwei Unbekannten« von Cara Feuersänger jetzt als eBook bei dotbooks. Cate O’Reilly liebt Zahlen. Mit Menschen hat sie dagegen Schwierigkeiten – die scheinen sie aus irgendeinem Grund immer falsch zu verstehen. Darum schottet Cate sich ab. Sie konzentriert sich auf ihre Karriere bei einer Hamburger Bank und genießt den Luxus ihres schicken Hafencity-Appartments. Cates Leben ist genau so, wie es sein soll: ordentlich, planbar, unter Kontrolle. Bis unverhofft ihre irische Cousine Joanne vor der Tür steht – mitsamt einer Straßenkatze, die sie irgendwo aufgelesen hat. Der Überraschungsbesuch bringt nicht nur Cates heißgeliebte Wohnung durcheinander, sondern ihr gesamtes Leben. Plötzlich klappt gar nichts mehr: Bei der Arbeit kommt es zu einer Meuterei in Cates Team. Joanne weckt Erinnerungen an ein traumatisches Ereignis aus der Vergangenheit. Und dann ist da noch der charmante, aber eigenwillige Matthis, der Cates Herz zu ganz unvernünftigen Dingen verführt ... Witzig, anrührend – die perfekte Strandlektüre, nicht nur für Hamburg-Fans Jetzt als eBook kaufen und genießen: Die spritzige Liebeskomödie »Gleichung mit zwei Unbekannten« von Cara Feuersänger wird alle Fans von Ali Hazelwood und Mhairi McFarlane begeistern. Das Hörbuch und die Printausgabe sind bei SAGA Egmont erschienen. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.
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Cara Feuersänger
Roman
dotbooks.
Gleichung mit zwei Unbekannten
eBook-Ausgabe
Dieser Roman ist außerdem als Hörbuch und Printausgabe bei SAGA Egmont erschienen, www.sagaegmont.com/germany.
Copyright © der Originalausgabe 2022 Cara Feuersänger und SAGA Egmont
Copyright © der eBook-Ausgabe dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Covergestaltung: Magda Wurst unter Verwendung mehrerer Bildmotive von © shutterstock
ISBN: 978-3-98690-594-1
Für Maike
Die Elbe grüßt die Isar
Dumpfe Schreie hallten durch das Flugzeug und wurden immer wieder von seltsamen Geräuschen überdeckt. Sie machten ihr Angst, denn sie waren unerträglich laut und fremd. Sie wollte schreien, doch kein einziger Ton verließ ihren Mund. Da war ein Loch im Rumpf, ein scharfer Luftzug traf ihr Gesicht, und dann raste ein Feuerball auf sie zu. Direkt vor ihren Augen teilte sich das rot glühende Monster in zwei Hälften, die links und rechts an ihr vorbeirauschten. Dorthin, wo ihre Eltern saßen. Sie wollte es verhindern, doch sie war völlig hilflos. Plötzlich war alles ganz still, nur sie allein fand irgendwann ihre Stimme wieder.
„Mamaaaaa! Papaaaaa!“, schrie sie aus voller Kehle.
Doch neben ihr war niemand! Alles war schwarz. Und sie war plötzlich nicht mehr in diesem Flugzeug, sondern schwebte schwerelos durch die Nacht. Und dann entdeckte sie es, ganz weit entfernt unter ihr. Einen Moment lang flog es noch, doch dann durchzogen rote Feuerblitze den gesamten Himmel, und sie schwebte weit weg von diesem blauen Planeten, mutterseelenallein. Die lähmende Angst schnürte ihr die Luft ab und ließ sie vollkommen erstarren, bis ihr Körper sie zwang, wie wild um sich zu treten …
Immer hektischer versuchte ich, Luft in meine Lungen zu pumpen, während ich meinen Rücken an das Kopfteil des Bettes presste.
„Ich hasse diesen Traum“, entfuhr es mir, obwohl das außer meiner Plüschmöwe, die versteckt hinten im Regal saß, niemand hören konnte. Und die hatte auch schon bessere Tage gesehen.
Ich ließ mich zurück auf meine Matratze fallen und rollte mich so fest in meine Decke ein, wie es nur möglich war. Nach diesem Traum fühlte ich mich immer einsam und allein und wusste, dass mir ein harter Tag bevorstand. Das Grauen dieser Nacht würde mich verfolgen. Meine Hände zitterten, als ich das gerahmte Foto vom Nachttisch hob und meine Finger über die Gesichter meiner Eltern gleiten ließ.
„Ich vermisse euch so sehr …“, flüsterte ich, und meine Stimme fühlte sich ganz schwach dabei an.
Trotzdem wollte ich tapfer sein, so wie ich es Tag für Tag war. Ich hatte es schon so oft geschafft und würde auch heute wieder souverän meinem Job nachgehen und mich von allem Schmerz ablenken. Deshalb stellte ich das Bild zurück, legte die warme Bettdecke weg und schlurfte ins Badezimmer. Zuerst fiel der Frottee-Schlafanzug, danach folgte eine kalte Dusche, und anschließend schminkte ich mich penibel. Schließlich war ich eine ambitionierte und erfolgreiche Geschäftsfrau, und genau das sollte jeder sehen können. Alles andere war meine Privatangelegenheit, und die ging ja wirklich niemanden etwas an.
*
Das grelle Licht im verspiegelten Aufzug eignete sich perfekt für einen letzten Check. Auf dem kurzen aber verregneten Fußweg zur Bank war nichts von meiner Mascara verwischt, und mein blonder Zopf saß ordentlich und straff. Das war gut.
„So, nun tief durchatmen, und dann reiß dich zusammen, Cate“, befahl ich meinem Spiegelbild.
Ich war sehr früh dran heute Morgen und würde eine Weile ganz in Ruhe arbeiten können.
Die frühen und späten Stunden mochte ich am liebsten, denn diese Zeit nutzte ich gern, um mir einen gründlichen Überblick über unsere aktuellen Projekte zu verschaffen.
Als Bereichsleiterin war ich für das komplette Finanz- und Rechnungswesen unserer Bank verantwortlich. Ich liebte es, komplexe Zusammenhänge in Zahlen auszudrücken und diese in jeder erdenklichen Art und Weise zu analysieren. Trotz meiner Führungsaufgaben genoss ich es, wenn ich die Chance bekam, einige Analysen selbst durchzuführen, statt andere damit zu beauftragen. Das wäre auch für diese frühen Morgenstunden mein Plan gewesen.
Doch als ich das Vorzimmer meines Büros betrat, brannte dort schon Licht. Wieso saß meine Assistentin bereits an ihrem Schreibtisch, obwohl sie sonst erst gegen neun Uhr ihren Dienst begann und nicht schon um halb sieben? Das entsprach nicht dem gewohnten Ablauf, weshalb ich stockte und Julia irritiert beobachtete. Total abwesend starrte die wiederum ihren Kaffeebecher an und begann dann, ruppig auf der Tastatur zu tippen. Merkwürdig!
„Guten Morgen, Julia … Ist alles in Ordnung?“, hörte ich mich sagen.
Wieso fragte ich meine Assistentin eigentlich plötzlich nach persönlichen Dingen wie ihrem Gemütszustand? Das fiel schließlich nicht in meinen Zuständigkeitsbereich. Doch ich hatte es ausgesprochen, und ehe ich schnell in mein Büro huschen konnte, hörte ich schon eine Antwort:
„Hallo, Frau O’Reilly. Alles bestens …“
„Das ist gut.“
Dann war ja alles prima. Erleichtert darüber, dass alles in bester Ordnung war, ging ich zwei Schritte weiter. Doch gleich darauf blieb ich wieder stehen. Nein, irgendetwas stimmte hier nicht. Es war einfach nicht normal, dass Julia so früh bei der Arbeit war. Dann fiel mir plötzlich eine mögliche Erklärung ein: Bestimmt hatte sie auch schlecht geträumt heute Nacht. Ich überlegte, wie hoch die Wahrscheinlichkeit dafür war, dass der Vollmond Albträume begünstigte.
„Die Wahrscheinlichkeit, dass der Vollmond zu Albträumen beiträgt, liegt bei siebenundfünfzig Prozent und ist signifikant. Das habe ich neulich in einem Artikel gelesen“, sagte ich, da ich seltsamerweise den Impuls verspürte, Julia aufmuntern zu wollen.
Die schaute mich an, als hätte ich gerade eine falsche Prozentzahl genannt. Ich grübelte. Sollte ich mich etwa geirrt haben?
„Interessant … Aber was wollen Sie mir damit genau sagen, Frau O’Reilly?“
Na, das war doch völlig klar! Die logische Schlussfolgerung war, dass es morgen wieder besser sein würde. Ich seufzte auf, denn so viel Sachverstand, um das zu verstehen, hätte Julia doch eigentlich haben sollen! Wobei … wieso mischte ich mich überhaupt ein? Üblicherweise legte ich sehr viel Wert darauf, dass Beruf und Privatleben strikt getrennt wurden. Andererseits war diese junge Kollegin sehr fähig. Sie machte einen tollen Job, studierte parallel dazu und beteiligte sich nicht an dem Klatsch und Tratsch der anderen Mitarbeiter. Deshalb sollte es ihr gut gehen. Außerdem hatte ich nun schon begonnen, mit ihr diese Unterhaltung zu führen.
„Frau O’Reilly?“, riss Julia mich aus meinen Überlegungen. „Ich weiß ehrlich gesagt gar nicht, ob letzte Nacht Vollmond war, und Albträume habe ich auch nicht. Ich bin nur etwas gestresst, das ist alles. Wieso fragen Sie überhaupt?“
Hoppla! Ich hatte die Situation falsch eingeschätzt, und zu allem Überfluss machte sich ein schlechtes Gewissen in mir breit. Der Jahresabschluss lag hinter uns und damit die stressigste Zeit im Jahr. Was mich anspornte, war für andere Menschen wohl manchmal zu viel auf einmal. Das jedenfalls hatte ich den Wortfetzen entnommen, die ich beim Gang über den Flur manchmal mitbekam. Julia hatte ich eine ganze Menge abverlangen müssen in den letzten Wochen.
„Ist es, ähm … wegen der Arbeit? Der Jahresabschluss und die Projekte, das war doch nicht zu viel, oder?“, versuchte ich einen weiteren Vorstoß, in der Hoffnung, diese unangenehme Situation schnell zu beenden.
Obwohl … Ich biss mir auf die Lippe. Vielleicht hatte Julia einfach nur Streit mit ihrem Freund? Leise äußerte ich diese Vermutung. Prompt sah ich einige Tränen in Julias Augen glitzern. Lag ich also richtig?
„Nein, es gibt keinen Stress mit meinem Freund! Ich bin nur so früh hier, weil … – oh Mann, wenn ich das ausspreche, werden Sie mich für eine Versagerin halten.“
Doch ehe mir etwas einfiel, das ich erwidern konnte, sprach Julia nervös weiter: „Ich muss nachher noch megaviel lernen für eine Prüfung. Ich bin noch nie durchgeflogen vorher, und jetzt ist es passiert, wegen zwei lächerlicher Punkte, obwohl ich dachte, ich kann das alles. Aber die Aufgaben hatten es echt in sich, und jetzt bin ich nervös. Mir bedeutet dieses Studium so viel, und man hat nur drei Versuche. Mir wird ganz schlecht, wenn ich daran denke, dass ich den zweiten auch noch vergeigen könnte und dann im dritten Versuch lande und dann …“
Die Uni war es also! Schwierig, sich das vorzustellen, denn ich hatte keine Ahnung, wie es sich anfühlte, durch eine Prüfung zu fallen. Das war mir nie passiert. Etwas Angst vor diesem hypothetischen Szenario hatte ich während meines Studiums trotzdem gehabt, doch Fleiß und Disziplin waren ein hilfreiches Mittel dagegen gewesen.
„Ähm. Dann solltest du ganz ruhig bleiben, glaube ich. Soweit ich weiß, sind deine Leistungen bislang passabel. Wo lag denn das Problem im Erstversuch?“
Tränen trocknen und Trost spenden war kein Terrain, das ich nach dieser Unterhaltung auch noch betreten wollte, doch vielleicht konnte ich ganz pragmatisch helfen. So hörte ich ganz genau hin, als Julia beschämt „Monte-Carlo-Simulation“ nuschelte.
„Dein Erstversuch ist an der Monte-Carlo-Simulation gescheitert?“ Ich spürte, wie mein Herzschlag sich beschleunigte. Risiko-Modelle waren nun mal eine große Leidenschaft von mir. Meiner Meinung nach sollten sie viel häufiger zum Einsatz kommen – und das nicht nur bei beruflichen Entscheidungen. Zu genau diesem Thema hatte ich kürzlich einen sorgfältig ausgearbeiteten Fachbeitrag veröffentlicht. Der Artikel war allerdings nicht bei allen Lesern gut angekommen. Ich hatte eine Reihe von kritischen Rückmeldungen erhalten, wobei einige davon schlichtweg unlogisch gewesen waren. Sie bestritten nämlich, dass Risikomanagement auch im Privatleben oberste Priorität haben sollte. Dabei gab es kaum etwas Wichtigeres, als Risiken korrekt zu kalkulieren – oder etwa nicht? Glücklicherweise war bei Julia nicht mit ähnlich laienhaften Reaktionen zu rechnen, auch wenn sie derzeit Probleme mit einer so essenziellen Grundlage wie der Monte-Carlo-Simulation hatte.
„Es ist nicht akzeptabel, dass meine Assistentin Lücken bei der Interpretation dieser Modelle hat“, erklärte ich entschieden und nahm Julia mit in mein Büro.
Dort startete ich meinen Laptop und öffnete ein Portfoliomodell, das ich gerade programmierte. Der Quellcode war spannend, doch ich wollte vorn anfangen.
„Die Monte-Carlo-Simulation“, sprudelte ich hervor, „ist tatsächlich nach Monte Carlo benannt, der Casinohochburg. Während dort gezockt wird und die Gewinne beispielsweise im Roulette komplett zufällig sind, so handelt es sich in unserer Simulation um scheinbar zufällige Zahlen, man könnte auch Pseudozufallszahlen sagen. Wir sind Profis und nutzen die Stochastik. Der große Vorteil liegt bei dieser Methode darin, dass wir Probleme lösen können, die analytisch nicht oder nur mit riesigem Aufwand lösbar wären. In unseren Beispielen trifft Ersteres zu. Wir simulieren unter Einsatz diverser Parameter also eine Vielzahl an Zahlen. Hunderttausend Simulationen sind eine gängige Größe, ich bevorzuge eine Million.“
Ein Lächeln huschte mir übers Gesicht, weil ich an die Zeit dachte, in der ich diese Grundlagen gelernt hatte, die mich von Anfang an gefesselt hatten.
„Diese simulierten Werte nutzen wir zur Erstellung einer Verteilung, und die bildet schließlich Grundlage für die Ermittlung unseres Portfoliorisikos – ganz vereinfacht ausgedrückt. Jetzt schauen wir uns das mal im Detail an.“
In Erinnerung an meine Anfänge nahm ich nun Stift und Papier zur Hand, notierte einige Formeln und Zusammenhänge, stellte Gleichungen um und erklärte Julia somit sehr anschaulich den Einstieg in das spannende Thema.
„… das Tollste daran ist, dass wir es nicht nur zur Quantifizierung unserer Portfoliorisiken in der Bank einsetzen können, sondern dass eine solche Simulation in diversen Fachdisziplinen hilfreiche Ergebnisse liefert. Von Fertigungsprozessen über Wetterdaten hin bis zur Nuklearmedizin“, endete ich meinen Vortrag schließlich leicht atemlos.
Gespannt blickte ich Julia an und wartete auf ihre Erwiderung.
„Klingt echt … cool … ähm, danke“, sagte sie nach einem kurzen Schweigen. „Das ist wirklich äußerst … interessant.“
Ich meinte sogar, ein zaghaftes Lächeln auf ihrem Gesicht zu entdecken.
Na also, dachte ich befriedigt. Endlich mal jemand, der meine Begeisterung teilte.
*
Die spontane Nachhilfestunde hatte mich überraschenderweise von meinen furchtbaren Träumen abgelenkt und sogar ein wenig Spaß gemacht. Doch in den folgenden Stunden holte der alltägliche Wahnsinn mich wieder ein. Die langjährigen Mitarbeiter meiner Abteilung waren weitaus selbstsicherer als Julia, aber leider sehr viel weniger lernwillig und nicht immer besonders talentiert. Es strengte an, mit Menschen zu arbeiten, deren riesiges Ego ihr Know-how um Längen übertraf. Vor allem, weil ich als Abteilungsleiterin verantwortlich für alle Ergebnisse war. Zügig verschaffte ich mir einen Überblick über die wichtigsten Deadlines und beschloss ein Meeting für ein Projekt anzusetzen, damit man mir längst überfällige Zwischenergebnisse präsentierte und ich in einigen Fragestellungen rechtzeitig intervenieren konnte. Doch bevor ich die Einladung dafür versendet hatte, informierte mein E-Mail-Programm mich über eine Nachricht, die mich neugierig machte. Sie kam unerwartet und lenkte mich völlig ab. Um sie ganz zu lesen, musste ich mich zuerst bei der Berufsplattform LinkedIn anmelden. Ständig bekam ich dort Jobangebote, die ich regelmäßig ignorierte, aber das, was ich jetzt las, war privat! Meine Augen flogen immer wieder über die Zeilen der Nachricht. Ich versuchte, das Zittern in meinen Beinen zu unterbinden, und starrte so lange auf den Bildschirm, bis dieser schwarz wurde. Der Traum in dieser Nacht. Ich hatte ihn nicht grundlos ausgerechnet jetzt, nach so langer Zeit, wieder geträumt.
„Bitte nicht …“, flehte ich in den Raum hinein, kniff meine Augen zu und versuchte, meine viel zu hastige Atmung zu beruhigen. Es kostete viel Kraft, diese aufkommende Panikattacke so weit in den Griff zu bekommen, dass ich mir zutraute, dieses Bankgebäude zu verlassen. Das war erforderlich, denn es fühlte sich an, als würde ich die Fassung verlieren, und das wäre dann wirklich der Höhepunkt dieses grauenvollen Tages.
Der Versuch, meine Handtasche zu verschließen, scheiterte jedoch, und so verteilte sich die Hälfte deren Inhalts auf dem Fußboden. Erst nach mehreren Anläufen hatte ich alles wieder eingepackt und riss ungeduldig meinen Mantel von der Garderobe. Ich wollte endlich hier raus, denn was zu viel war, war zu viel. Doch als ich auf den Flur trat, kam ausgerechnet Sophia Baumann in Richtung meines Büros. Mist! Was wollte die jetzt von mir? Modellierung … Formel … Fehler … – ich hatte den Anfang verpasst und konnte mich kaum konzentrieren, wurde immer nervöser. Offensichtlich wurden mir irgendwelche Ausreden vorgetragen, warum in der letzten Modellierung lauter Fehler steckten.
„Sie sollten Ihre Berechnungen am besten sofort in der Elbe versenken. Wenn sogar meine Assistentin innerhalb kurzer Zeit mehr von Zinsänderungsrisiken versteht als Sie, besteht Rede- und Handlungsbedarf!“
Ich war lauter geworden als beabsichtigt. Bestimmt hatte man mich quer über den Gang meiner Abteilung und bis in sämtliche Büros hinein hören können. Hinter den Milchglastüren wurden garantiert Augen gerollt und Köpfe geschüttelt. Meine Mitarbeiter hatten nun wieder einen Anlass, um zu tuscheln oder zu lachen oder genervt zu stöhnen. Zu oft war ich Gesprächsthema Nummer eins. Das wusste ich, denn ich war weder blind noch taub. Natürlich nahm ich das Gerede über meine Person wahr. „Die Eisprinzessin dreht wieder zu Höchstform auf.“ Bildeten die Leute sich hier wirklich ein, dass ich nicht wusste, wie man mich nannte? Was ich darüber dachte, musste jetzt egal sein, nun galt es, meine Reputation als kompetente Vorgesetzte nicht auch noch zu gefährden. All meine restliche Energie nahm ich tapfer zusammen und investierte sie krampfhaft in den Willen, jetzt bloß nicht in Tränen auszubrechen. Ein Kontrollverlust im Büro war nicht akzeptabel, und dazu gehörte vor allem weinen. Deshalb weinte ich nicht. Fast nie. Ganz sicher war jedenfalls, dass ich es niemals in der Anwesenheit anderer Menschen tat – das, was zu Hause im Schlafzimmer passierte, war etwas ganz anderes. Hier im Büro musste ich mein Gesicht wahren.
„Worauf warten Sie denn noch, machen Sie sich wieder an die Arbeit“, fuhr ich Sophia Baumann nun an, weil diese offensichtlich keinen Anlass zu irgendeiner Reaktion sah, nachdem sie mich zuvor noch zugetextet hatte.
Was war das nur für eine Arbeitsmoral? Davon auszugehen, dass die Arbeit korrekt durchgeführt wurde, war doch das Mindeste, dafür waren die Menschen schließlich hier. Sie waren da, um ihren Job zu machen und nicht, um Fehler zu produzieren. So einfach war das System doch. Gerade Sophia Baumann musste ich diesbezüglich ständig im Blick behalten. Deren Schreibtisch war voll mit Familienfotos. Was das für Probleme mit sich brachte, zeigte sich nun erneut, nämlich Ablenkung pur! Selbst ich musste mir eingestehen, dass mein Blick manchmal an diesen Bildern hängenblieb, sodass ich aus wichtigen fachlichen Überlegungen herausgerissen wurde. Erst vor wenigen Tagen hatte mich der Anblick des glücklichen Kinderlachens auf einem dieser Fotos völlig aus dem Konzept gebracht. Ein kurzer Blick auf das Bild hatte genügt, und schon war ich mit meinen Gedanken ganz weit fort gewesen – tief in der Vergangenheit. Damals. Als ich selbst noch ein Kind gewesen war.
Ich hatte mich selbst gesehen, wie ich glücklich den Strand entlangrannte. Mama hatte meine eine Hand gehalten, die andere Papa. Auf diese wunderschöne Erinnerung war jedoch sofort eine umso schrecklichere gefolgt: Wieder hatte ich mich selbst am Strand gesehen. Diesmal allerdings allein und völlig verzweifelt, nachdem ich gerade mit der Endlichkeit des Lebens konfrontiert worden war.
Beinahe wäre mir bei dieser Erinnerung ein Schluchzen entwichen. Zum Glück war es mir dann aber gelungen, den Moment der Schwäche zu überwinden, indem ich alles andere ausgeblendet und mich voll auf eine schwierige Kreditgeschäft-Analyse konzentriert hatte. Mir persönlich hatte es sehr geholfen, mich in die Details zu vertiefen. Trotzdem zeigte mir dieser Vorfall einmal mehr, wie wichtig eine konsequente Trennung von Arbeit und Privatleben war, und zwar für alle Beteiligten. Unzählige Studien gaben mir da recht.
„Frau O’Reilly, es tut mir leid! Natürlich hätte sich in diese Formel niemals ein Fehler einschleichen dürfen. Doch ich habe ihn direkt erkannt und …“, versuchte die Teamleiterin die Situation zu retten, doch meine Geduld war nun wirklich an ihre Grenzen gekommen: „Ein Fehler schleicht sich nicht ein, sondern wird aktiv gemacht. Ich verbitte mir solche Ausreden! Sie werden jetzt umgehend an Ihren Schreibtisch zurückgehen und die gesamte Kalkulation prüfen. Morgen möchte ich eine fehlerfreie Version vorliegen haben. Sollten Sie sich überfordert fühlen, teilen Sie mir das besser rechtzeitig mit!“
Wut. Wut war besser als Tränen, denn es war besser, gehasst zu werden, als Mitleid zu bekommen. Und wie ich gerade sah, gab es doch immer irgendeinen Grund, wütend zu sein, wenn man gerade dringend seine Tränen zurückhalten musste. Doch heute ging mir alles so nah, dass es mir nur mit größter Mühe gelang, Sophia Baumann einfach stehen zu lassen und ohne glasige Augen aus dem edlen Bürogebäude zu rauschen. Nun kam mir besonders zugute, dass sich meine geräumige Eigentumswohnung ebenfalls in der HafenCity befand. Binnen Minuten war ich endlich in meinen eigenen vier Wänden, die ich gerade brauchte, um irgendwie abzuschalten. Denn ich hatte noch keine Idee, wie ich auf die Nachricht reagieren sollte, die ich über LinkedIn erhalten und die diesen Tag völlig durcheinandergebracht hatte.
Die hübsche Decke, in die ich mich auf dem Sofa eingewickelt hatte, spendete kaum Wärme. Überfordert starrte ich auf die Nachricht auf meinem Handy. Sie konfrontierte mich mit dem schwärzesten Tag meines Lebens, der mir alles genommen hatte. Soweit ich mich erinnern konnte, hatte ich damals nichts verstanden und zugleich gewusst, dass plötzlich nichts mehr so war wie bisher. Und dass es nie wieder gut werden würde. Damit hatte ich wohl recht gehabt, denn inzwischen waren fünfundzwanzig Jahre vergangen. Das war ein Vierteljahrhundert! Und es hatte nicht ausgereicht, um zumindest Narben aus meinen Wunden zu machen. Kopfschüttelnd legte ich mein Handy zur Seite. Ich konnte es nicht fassen. Meine Cousine Joanne, wegen der das Drama damals seinen Lauf genommen hatte, hatte es gewagt, Kontakt zu mir aufzunehmen! Dann spürte ich, dass meine Wangen nass waren. Dicke Tränen liefen über mein Gesicht. Zum Glück war ich in meiner Wohnung und somit vor fremden Blicken geschützt.
„Was soll ich denn jetzt nur tun?“, fragte ich in die Stille.
Von meiner eigenen Frage war ich völlig überfordert. Nicht an das denken, was damals passiert war, war meine übliche Strategie. Normalerweise klappte das durch mein hohes Arbeitspensum ganz gut. Weil es angeblich nicht gesund war, sich zu viel Stress durch Arbeit zuzumuten, ernährte ich mich zum Ausgleich gesund und hatte mir ein umfassendes Sportprogramm zusammengestellt. Ich glaubte zwar daran, dass die Probanden, die ihren Job wirklich gern mochten, in den meisten Studien über die Effekte des Arbeitslebens nur unterproportional vertreten waren und ich mir mit meinem Arbeitspensum nicht schadete. Doch etwas zusätzliche Sicherheit für einen gesunden Lebensstil war gut! Mir persönlich half es außerdem, gar keine Zeit zu haben, um mich mit meinen Erinnerungen und Gedanken auseinanderzusetzen. So gesehen war es quasi ein Vorteil, dass es enorm viel Zeit kostete, meinen Mitarbeitern ständig auf die Finger schauen zu müssen, weil man ihnen eben nie so ganz vertrauen konnte. Selbst die Kontrolle über alles behalten, das war meine Devise! Und nach ihr richtete ich stets mein Handeln.
Nur nicht heute.
Ich war so irritiert von allem, dass selbst ich nicht mehr in der Lage war zu arbeiten. Beim Gedanken an eine Mahlzeit zog sich mein Magen zusammen, und meine Arme fühlten sich an wie Gummi. Liegestütze und Co waren gerade undenkbar. Das Nichtstun fühlte sich allerdings noch schlimmer an. Ob ich vielleicht putzen sollte? Dabei war alles frisch gereinigt. Ich schaute mich um. Selbst die Glasvitrine glänzte, und auch darin war kein Staubkorn zu finden. Sehr wohl aber an der Rotweinflasche mit dem edlen Etikett, die ich kurz vor Weihnachten von einem Geschäftspartner zugeschickt bekommen hatte. Unangetastet verweilte sie dort seit Wochen, was für eine Verschwendung! Eine Weinverkostung war wohl genau richtig für diesen anstrengenden Tag. Normalerweise mochte ich keinen Alkohol, aber heute war schließlich eh schon alles aus den Fugen geraten. Neugierig geworden probierte ich ein paar Schlucke und war überrascht. Lecker war der gute Tropfen, und mir wurde gleich etwas wärmer. Übermütig schaltete ich französische Musik ein und drehte die Lautstärke höher, passend zu diesem Flair. Moment, nein, laut der kleinen Flagge am Etikett kam der Wein aus Italien. Also spielte ich italienische Songs ab, das war auch gut so, denn die gefielen mir weitaus besser. Immer wieder nippte ich am Glas, schenkte nach, hörte Musik und umschlang die Sofalehne. Alles wurde so viel entspannter. Für einen Moment war ich versucht, das „Ti amo“ mitzusingen, dann fiel mir auf, dass das Lied ja eigentlich auf Deutsch war und so gar nicht in mein aktuelles Konzept passte. Was hatte Howard Carpendale denn in dieser Playlist, die bislang so stimmig gewesen war, zu suchen? Ich wollte schnell ein Lied weiterschalten, und dabei passierte das Malheur: Die Weinflasche fiel um, und der Rest des Flascheninhaltes fand seinen Weg auf mein cremefarbenes Kissen. Es waren nur noch ein paar Tropfen, und trotzdem schienen sie sich schon jetzt in den zarten Stoff zu fressen.
„Auch das noch!“
Warum hatte ich ausgerechnet dieses Kissen getroffen, statt die überschwappenden Weintropfen auf dem schwarzen Ledersofa zu vergießen? Obwohl ich spürte, wie ich Kopfschmerzen bekam und mir dezent schwindelig wurde, hätte ich die Flecken von dem Leder bestimmt entfernen können. Doch das Kissen war vermutlich für immer verdorben. Erneut traten mir Tränen in die Augen, dabei hing ich kein bisschen an diesem Teil und könnte es doch ganz einfach ersetzen. Geldsorgen hatte ich noch nie gehabt, und meine Eigentumswohnung in diesem HafenCity-Neubau war ausnahmslos mit Designermöbeln ausgestattet. Damit alles perfekt zueinanderpasste, hatte ich vor ihrem Einzug eigens einen Innenarchitekten engagiert. Alles war hochwertig und aufeinander abgestimmt, obwohl ich den Rat des Architekten missachtet und auf gewisse Farbelemente und diese so genannte persönliche Note verzichtet hatte. Klare Linien gefielen mir ebenso wie apokalyptische Bilder. Das hatte bislang niemanden gestört. Gut, ich bekam auch nie Besuch. Überhaupt ließ ich fremde Menschen ungern in mein Revier und kümmerte mich lieber selbst um den Haushalt, samt Fensterputz und Müllentsorgung. Nur wenn unausweichliche Techniker-Termine anstanden, musste ich fremde Menschen in meine Wohnung lassen. Würde denen auffallen, wie schlimm mein Kissen nun aussah? Ich drückte mein Gesicht mitten auf die Flecken, dann ließ ich das Kissen fallen und taumelte ins Schlafzimmer.
*
Als am nächsten Morgen immer lauter werdende dumpfe Geräusche zu hören waren, war ich zunächst irritiert. Es dauerte eine Weile, bis ich realisierte, dass etwas gegen meine Eingangstür knallte, immer und immer wieder. Erst stöhnte ich auf, dann blinzelte ich. Grelles Licht fiel in meine Augen. Den ersten Versuch, mich aufzusetzen, musste ich aufgeben, weil mir schwindelig wurde. Was hatte ich da gestern bloß getrieben? Ganz sicher war ich mir nicht mehr. Hatte ich wirklich eine komplette Flasche Rotwein auf leeren Magen ausgetrunken, obwohl ich ganz genau wusste, wie schlecht mir die Kombination aus zu vielen Histaminen und Alkohol bekam?
Das Schlafzimmer drehte sich für einen Moment, und in meinem Kopf krachte … – nein, das Krachen war real. Da war jemand an meiner Tür. Unangemeldet! Musste ich dem nachgehen? Lieber wäre ich liegen geblieben und hätte meine Augen so lange zugelassen, bis mein vierunddreißigjähriger Körper mir die Fehler des Vortages verziehen hätte. Weil die Geräusche jedoch nicht aufhörten und ich nun auch noch Rufe hörte, entschied ich mich anders. Zunächst streckte ich nur ein Bein aus dem Bett und stellte erst dabei fest, dass ich noch angezogen war. Ich verzichtete darauf, einen Blick auf die Uhr zu werfen. Mein ganzer Stolz galt gerade der Tatsache, dass ich mein Bett ohne weiteren Zwischenfall verlassen und es bis an die Wohnungstür geschafft hatte, ohne mich auf dem Weg dorthin übergeben zu müssen.
„Wozu gibt es Klingeln! Und warum … – oh, hoppla. Warum um alles in der Welt geben Sie Ihre Pakete nicht unten beim Concierge …“, versuchte ich zu meiner alten Stärke zurückzufinden. Allerdings klang ich dabei äußerst jämmerlich.
Damit dieses laute Klopfen ein Ende nahm und ich dem Paketboten endlich verdeutlichen konnte, wie unangemessen dieses Theater war, riss ich die Tür auf. Als ich nach Sekunden realisierte, dass ich ins Gesicht einer mir durchaus bekannten Person schaute, stolperte ich rückwärts zurück. Dank einer ungeschickten Bewegung bekam die Tür dabei den notwendigen Stoß, um ins Schloss zu fallen, bevor meine Mitarbeiterin möglicherweise noch einen Fuß dazwischenschieben konnte. So langsam dämmerte es mir. Es war unter der Woche und vermutlich längst Mittag, zumindest sah es draußen erstaunlich hell aus. Mein Handy würde ich nicht gehört haben, hätte jemand versucht, mich zu erreichen. Ich wusste nicht mal, ob sich dieses Teil überhaupt hier irgendwo in der Nähe befand. Warum aber ausgerechnet Sophia Baumann vor meiner Tür stand und wie die überhaupt bis hierher gefunden hatte, blieb für mich trotzdem ein Rätsel, das sich mit diesen Kopfschmerzen wohl kaum lösen ließ. Leider war mir bewusst, dass diese Person zumindest für einen kurzen Moment einen Blick auf mich hatte werfen können. Wie sah ich wohl aus? Zerzauste blonde Haare, verschmiertes Make-up, zerknitterte Klamotten … – ich durfte mich selbst später unter keinen Umständen in einem Spiegel betrachten. Denn so genau wollte ich gar nicht wissen, in welch elendigem Zustand sie mich überrascht hatte.
„Frau O’Reilly, bitte! Niemand kann sich daran erinnern, dass Sie jemals auch nur fünf Minuten zu spät gekommen sind. Geschweige denn daran, dass Sie Ihr Handy seit drei Stunden ignorieren und man Sie auf keinem Wege erreichen kann!“
In dem Tonfall klang Empörung mit, doch irgendwie war es auch, als hätte Sorge in diesen Worten mitgeschwungen. Oder täuschte ich mich? Inzwischen erinnerte ich mich wieder viel zu genau an den gestrigen Tag. Ich hatte der Mitarbeiterin, die vor meiner Tür stand, schließlich ordentlich meine Meinung mitgeteilt, die Bank dann verlassen und war heute gar nicht erst dort aufgetaucht. Vielleicht war Sophia Baumann deshalb wirklich besorgt? Es könnte aber auch Schadenfreude sein. Ich verstand es nicht, wusste hingegen, dass es jetzt galt, wieder zur alten Fassung zurückzufinden. Dazu atmete ich einmal tief durch und räusperte mich.
„Wo ist Ihr Problem, Frau Baumann? Auch ich kann einmal krank sein und hab meine Ruhe verdient. Stattdessen terrorisieren Sie mich mit diesem Lärm. Wenn ich nicht erreichbar bin, geht der erste Weg noch immer zum Concierge dieses Hauses! Ich bin krank, ist das so weit klar?“
Klang ich wie eine Autoritätsperson? Wohl nicht so ganz. Dass der unerwünschte Besuch in meinem privaten Reich eine Grenzüberschreitung war, sollte trotzdem verständlich genug gewesen sein.
„Gestern verlassen Sie vollkommen aufgelöst die Bank – mit Verlaub, so haben wir Sie noch nie erlebt –, und dann verschwinden Sie spurlos. Ihre Assistentin dreht durch vor Sorge, weil sie dachte, es ist etwas Schlimmes passiert! Ich wollte vermeiden, dass sie die Polizei ruft, und nur deshalb bin ich hier.“
Nun klang Sophia Baumanns Stimme trotzig. Meine Mitarbeiterin war besorgt hergekommen, trotz des gestrigen Vorfalls und obwohl wir in den letzten Wochen des Öfteren Meinungsverschiedenheiten diskutiert hatten, und nun gab ich ihr auch noch einen Anlass, sich berechtigterweise zu ärgern. Wieso musste alles so kompliziert sein? Ich wollte doch einfach einen guten Job machen und nicht immer wieder in Situationen geraten, in denen mir diese Leute ein Rätsel nach dem anderen stellten. Es überforderte mich, und in diesem Moment konnte ich nicht länger an meiner Strategie der Wut festhalten, um Tränen zu verhindern. Glücklicherweise war die Tür zugefallen, sodass Sophia Baumann dies nicht sehen konnte.
„Ich habe sie selten. Also die Migräne. Aber wenn sie kommt, dann bin ich nicht einmal in der Lage zu telefonieren. Das ist aber kein Grund, gleich durchzudrehen oder an die Polizei zu denken“, erklärte ich. Dann atmete ich tief durch. „Okay, ich bin sonst nie zu spät und melde mich in den seltenen Krankheitsfällen immer ab. Sie konnten es nicht wissen, keiner konnte das. Aber jetzt sind Sie ja davon in Kenntnis gesetzt, dass ich nur einen Migräneanfall habe und heute nicht zur Arbeit kommen werde. Habe ich mich klar genug ausgedrückt?“
„Vollkommen klar. Dann ruhen Sie sich gut aus – vielleicht wäre ein gemütlicher Pyjama dafür besser geeignet als ein Hosenanzug.“
Verflixt. Der kurze Moment hatte zu viel verraten. Warum um alles in der Welt hatte ich die Tür auch einfach geöffnet? Warum hatte mir überhaupt jemand ein Flasche Rotwein geschenkt? Dieses Zeug war schließlich schuld an diesem Kater und all seinen Folgen. Ohne diesen Absturz hätte ich mich heute Morgen einfach krankgemeldet und in Ruhe ausgeweint. Nun galt es, Schadensbegrenzung zu betreiben.
„Nachdem wir das hier geklärt haben, lassen Sie uns zu den wichtigen Dingen zurückkehren. Denken Sie an die Korrektur bei dem Zinsänderungsrisiko. Sobald ich zurück bin, nehme ich mir Ihr Modell vor, und ich erwarte eine gründliche und fehlerfreie Arbeit. Und ich verbitte mir in Zukunft Besuche aus der Bank hier in meiner Privatsphäre.“
Erschöpft ließ ich mich an der Wand entlang auf den Boden rutschen. Schwindel und Übelkeit waren mir vor lauter Aufregung vergangen, stattdessen drohte mein Kopf zu zerplatzen, und trotzdem regte sich etwas wie Mitleid für diese nervige perfekte Familienmutter in mir. Ich hatte offensichtlich selbst die Macht über meine Gedanken verloren.
„Tut mir leid für den harschen Ton. Bringen Sie die Formel bitte einfach in Ordnung. Ich validiere sie, sobald ich zurück bin. Aber ich brauche jetzt Ruhe.“
„Nachdem wir uns wirklich Sorgen gemacht haben, ist es wohl beruhigend zu hören, dass Sie Ihre Top-Form fast wieder erreicht haben!“
Hatten meine Mitarbeiter sich also wirklich um mich gesorgt? Davon war jetzt allerdings schon nichts mehr zu spüren, denn aus Sophia Baumanns Stimme war nur noch Wut herauszuhören:
„Und was diese Formel angeht: Das Modell ist längst überarbeitet! Und Sie könnten ruhig mal an Ihrem Tonfall arbeiten, so vergraulen Sie nur Ihre Mitarbeiter. – Erholen Sie sich gut von Ihrer Migräne!“
Ein Schluchzer erklang, und dann entfernten sich Schritte. Das hatte ich mal wieder ganz wunderbar hinbekommen. Enttäuscht blieb ich auf dem Marmorboden sitzen, als hätte mich jemand mit Panzertape fixiert – zu erschöpft, um noch irgendetwas Sinnvolles zu tun und die Situation zu retten. Ich grübelte und versuchte zu verstehen, was falsch gelaufen war, denn der Schluchzer, den ich von Sophia Baumann gehört hatte, ging mir nicht aus dem Kopf. Diese Frau hatte sich offensichtlich nie geschworen, dass Tränen nicht zu ihrem Leben gehörten. Warum auch, sie war schließlich die perfekte Mutter oder so was. Schon wieder kam dieses dumpfe Gefühl in mir hoch. Ich kannte die Frau jenseits der Arbeit gar nicht, und trotzdem beneidete ich sie, obwohl ich das nicht wollte. Außerdem tat mir dieser ganze Vorfall leid. Hatte ich diese Mitarbeiterin ungerecht behandelt und einen zugegebenermaßen kleinen Berechnungsfehler durch meine Worte zu hart bestraft? Vielleicht war es nur ein Tippfehler gewesen. Natürlich konnten solche kleinen Fehler große Auswirkungen haben. Doch Sophia Baumann war ansonsten eigentlich verlässlich, sodass sie den Fehler eventuell noch entdeckt und verbessert hätte.
„Warum vermassel ich so was bloß immer?“
Es lief alles aus dem Ruder, so wie mein ganzes Leben aus dem Ruder gelaufen war, seit diesem schrecklichen Tag, auch wenn ich wirklich gut darin war, trotzdem eine kompetente Führungskraft zu sein. Warum fühlte ich mich nicht so stark, wie ich gern wäre? Was war, wenn meine Mitarbeiter mich jetzt nicht mehr ernst nahmen, weil heute meine schwache Seite zum Vorschein gekommen war? Ausgerechnet jetzt, wo ich mich mit viel Energie im Berufsleben etabliert hatte und diese Karriere für mich der wichtigste Faktor meines Lebens war, drohte dieses Kartenhaus einzustürzen. Auf allen vieren krabbelte ich ein Stück und hangelte mich dann an der Wand entlang bis ins Wohnzimmer, wo ich mein Handy wiederfand. Diese Nachricht … – nein! Ich konnte nicht einmal den Gedanken daran ertragen, die Nachricht, die mir den Boden erneut unter den Füßen weggezogen hatte, noch einmal zu lesen. Stattdessen ruhte ich mich einen Moment auf dem Sofa aus und holte anschließend eine Flasche Wasser, um diese in kürzester Zeit komplett zu leeren. Das tat gut. Mein Kopf schmerzte zwar immer noch, und flau war mir auch im Magen, doch immerhin drehte sich nicht mehr die ganze Wohnung um mich, und ich begann, wieder klare Gedanken zu fassen. Gestern hatte ich völlig unkoordiniert gehandelt, nun überlegte ich mit Bedacht, ob ich dem Impuls, von all dem angerichteten Chaos Abstand zu gewinnen, tatsächlich nachgeben wollte oder einfach mal gar nichts tat.
Nachdem ich einige Stunden auf dem Sofa gesessen und Löcher in meine Wände gestarrt hatte, hielt ich es nicht länger zu Hause aus. Meine Kopfschmerzen waren verblasst, und körperlich fühlte ich mich wieder halbwegs fit. Doch nach dem peinlichen Desaster am Vormittag konnte ich mich heute nicht in der Bank blicken lassen und mich dort mit meiner Arbeit ablenken. Auch wenn an einem Freitagabend wahrscheinlich wenig Betrieb dort sein durfte, weil die Leute lieber feiern gingen oder bei ihren Familien saßen. Nein, es kam nicht infrage, noch eine weitere Peinlichkeit zu riskieren. Abgesehen davon ließ mich die Nachricht meiner Cousine nicht los, und mir dämmerte so langsam, dass ich dieser Kontaktaufnahme nicht dauerhaft aus dem Weg gehen konnte. Oder konnte ich sie einfach ignorieren? Zögernd stand ich auf, um einen warmen Mantel anzuziehen, und obwohl es meiner Frisur nicht sonderlich guttat, setzte ich eine dunkle Mütze auf. Meine Augen versteckte ich unter einer überdimensionierten Sonnenbrille. Nur für den Fall, dass sich trotz der Kälte und der abendlichen Dunkelheit noch jemand meiner Kollegen in der HafenCity herumtrieb und mich erkannte. Dunkelheit. Sonnenbrille. Seufzend legte ich Letztere zurück auf die Kommode, denn eine Witzfigur wollte ich draußen auch nicht darstellen. Außerdem war es legitim, nach einer Migräne einen Spaziergang zu machen, und frische Luft brauchte ich tatsächlich.
Dass meine Überlegungen überflüssig gewesen waren, wurde mir bewusst, als ich unten angekommen war. Ungefähr niemand spazierte im Winter in der dunklen HafenCity herum, noch dazu wenn es leicht regnete. Die Abwesenheit von Menschen und Lebendigkeit, die viele an diesem jungen Stadtteil kritisierten, gefiel mir. Wobei dieses Klischee leider auch nicht mehr so aktuell war wie noch vor einiger Zeit. Es wurde belebter hier, doch an einem Abend wie diesem hatte ich zumindest hier draußen an der frischen Luft meine Ruhe, die ich gerade so dringend brauchte. Deshalb ging ich zügig an der stylischen Cocktailbar vorbei, die heute der einzige besuchte Ort zu sein schien, und nutzte lieber den nahezu menschenleeren Weg entlang des Hafenbeckens bis hin zur Elbphilharmonie, die stolz Richtung Freiheit ragte. Kurz war ich versucht, dort hoch auf die Plaza zu fahren und den Rundumblick über den Hafen zu genießen, doch dann sah ich die hysterisch lachenden Frauen, die ganz offensichtlich einen Junggesellinnenabschied feierten und die gleiche Idee hatten. Feierte man so was heutzutage nicht mehr auf Sankt Pauli?
„Drei Schnäpse für vier Eurohohoho“, quietschte eine der Ladys, die mit ihrem glitzernden Bauchladen auf mich zugekommen war.
„Danke, nein!“
„Spielverderberin!“
Kopfschüttelnd nahm ich Reißaus in Richtung Speicherstadt. Hier hatte ich wieder meine Ruhe, und es gefiel mir jedes Mal aufs Neue, zwischen den altehrwürdigen Gebäuden entlangzuspazieren. Glücklicherweise hatte ich vorhin flaches Schuhwerk gewählt, denn das konnte man auf dem Kopfsteinpflaster bestens gebrauchen. Aus einem geöffneten Fenster eines Cafés roch es nach Kaffee und Tee. Ein Stück weiter beobachtete ich zwei Männer, die Teppiche in einen der Speicher trugen. Immer wenn ich hier war, fiel es mir leicht, in eine andere Welt abzutauchen. Kein Wunder, schließlich lag viel Geschichte zwischen diesen Bauwerken und Fleeten. Auch heute war ich fasziniert von diesen Gebäuden, doch die Ablenkung hielt nicht ewig. Nach und nach wirbelten mir die Worte meiner Cousine wieder durch den Kopf. Mit dem Rücken stellte ich mich an eine Wand und zog das Handy aus meiner Manteltasche. Anders als gestern war ich gewappnet, als ich LinkedIn aufrief. Ich wusste nun, was mich dort erwartete, und trotzdem erstarrte ich, als ich das Profilbild von Joanne erblickte, und das hatte nichts mit der Tatsache zu tun, dass eine Ratte auf ihrer Schulter saß, auch wenn ich solche Tierchen nicht sonderlich zu schätzen wusste. Der Mensch, der schuld am Tod meiner Eltern war, hatte ein Gesicht bekommen und war damit in mein Leben getreten.
„Ja, Regen, ich will auch, dass sie verschwindet!“, flüsterte ich, als sich die Regentropfen auf dem Display sammelten und Joannes Gesicht somit immer unkenntlicher wurde. Obwohl mir das gerade ganz gut gefiel, wischte ich mit meinem Ärmel über das Display, um durch ihr Profil zu scrollen. Möglicherweise war die Nachricht, die mich gestern so sehr aus der Bahn geworfen hatte, nur eine spontane Entscheidung gewesen, bedingt durch eine durchzechte Partynacht. Das Profilbild unterstützte diese Theorie. Die Tatsache, dass Joanne die Plattform LinkedIn in dieser Aufmachung überhaupt nutzte, sprach hingegen für eine extra vorgenommene Registrierung. Tatsächlich waren keine Details zum Lebenslauf ausgefüllt, und es gab nur zwei Kontakte. Also hatte Joanne mich ganz bewusst gesucht – oder es handelte sich um ein Fake-Profil, und die Nachricht war überhaupt nicht echt. Verflixt, nein, dazu passten die Details zu gut. Die konnte niemand kennen, der mich einfach nur mal ärgern wollte, weil niemand aus meinem Umfeld mein Privatleben und meine Geschichte kannte. Die Nachricht, die ich nun wieder aufrief, musste wirklich von meiner Cousine stammen:
*Hey Cousinchen,
du wunderst dich bestimmt, dass ich dir schreibe. Ich bin bei der Suche nach meiner Mutter auf dich gestoßen. Man hat mir immer gesagt, sie sei tot, aber jetzt habe ich herausgefunden, dass das nicht stimmt. Lange Geschichte. Von dir habe ich auch erst vor Kurzem erfahren. Wir sollten uns kennenlernen. Und du könntest mir bei der Suche nach Mum helfen.
Lass mal von dir hören,
XOXO Joanne.
Und: Es tut mir leid, das mit deinen Eltern … auch wenn der Flugzeugabsturz zum Glück schon lange her ist …*