Glück in Bad Ischl (eBook) - Christine Grän - E-Book

Glück in Bad Ischl (eBook) E-Book

Christine Grän

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Beschreibung

Chefinspektor Martin Glück ermittelt in seinem 7. Fall in der Europäischen Kulturhauptstadt 2024 Bad Ischl lebt in und von der Vergangenheit, schließlich verlobte sich  hier einst Kaiser Franz Joseph mit seiner Sisi. Der k.u.k.-Tourismus  boomt, ist einigen Bad Ischlern allerdings ein Dorn im Auge: Sie wollen der Kulturhauptstadt einen moderneren Stempel aufdrücken. Die Presse spricht schon von der »Schlacht um Bad Ischl«. Im Mittelpunkt der Auseinandersetzungen steht das Hotel Sisi – der Hotelier, Ex-Lover von Chefinspektor Glücks Freundin Romana, wird bedroht und fürchtet um sein Leben. Er verdächtigt eine Gruppe von Sisi-Fanatikern, die  ihm vorwerfen, das Andenken an die Kaiserin zu beschmutzen. Romana überredet Martin, sich im Hotel kostenlos einzuquartieren und der Sache nachzugehen. Martin, inzwischen verlobt mit Rosie und von diversen Hochzeitsplänen genervt, sagt beinah freudig zu. Und bald darauf geschieht der erste Mord…

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Seitenzahl: 290

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Christine Grän wurde in Graz geboren, lebte in Berlin, Bonn, Botswana und Hongkong und ist heute in ihrer Geburtsstadt zu Hause. Die gelernte Journalistin wurde durch ihre Anna-Marx-Krimis bekannt. Bei ars vivendi erschien 2014 ihr Kurzgeschichtenband »Amerikaner schießen nicht auf Golfer«, 2015 folgte »Sternstraße 24 – Weihnachtsgeschichten vom Parterre bis unters Dach«, 2021 »Anna Marx und der sanfte Tod«.

Hannelore Mezei kommt aus Graz und studierte dort Germanistik und Anglistik. Sie arbeitete viele Jahre als Redakteurin in Wien und war zwischendurch längere Zeit in Zimbabwe und Südkorea. Heute lebt sie als freie Journalistin und Autorin in Wien und Velden am Wörthersee. Hannelore Mezei veröffentlichte bisher Kurzgeschichten für Anthologien sowie Sachbücher und gemeinsam mit Christine Grän die »Glück-Krimis«.

2016 erschien bei ars vivendi »Glück am Wörthersee«, der erste gemeinsame Kriminalroman von Grän & Mezei um Chefinspektor Martin Glück. 2018 folgte »Glück in Wien«, 2019 »Glück in der Steiermark«, 2020 »Glück in Salzburg«, 2021 »Glück im Burgenland«, 2022 »Glück in Kitz«.

Grän & Mezei

Glück in Bad Ischl

Kriminalroman

ars vivendi

Vollständige eBook-Ausgabe der im ars vivendi verlag erschienenen Originalausgabe (1. Auflage November 2023)

© 2023 by ars vivendi verlag

GmbH & Co. KG, Bauhof 1,

90556 Cadolzburg

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar.

www.arsvivendi.com

Lektorat: Dr. Felicitas Igel

Umschlaggestaltung: FYFF, Nürnberg

Motivauswahl: ars vivendi

Coverfoto: © Benjamin Kaufmann

eISBN 978-3-7472-0547-1

Glück in Bad Ischl

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

GLOSSAR

Danke!

1

»Es geht um Leben und Tod!«

Romana war schon immer die Königin aller Dramen. Martin hält sein Handy ein Stück weit weg, während sie mit erhobener Stimme weiterspricht.

»Michael – Mike – Hansen. Er war Fitnesstrainer in Velden. Und wir waren … Ist schon länger her. Später ging er nach Mallorca. Lebt jetzt in Ischl. Jedenfalls haben wir uns letzte Woche zufällig in Salzburg getroffen. Und er hat mir von den Drohbriefen erzählt. Und dass er Angst hat. Da habe ich ihm gesagt, dass ich einen Chefinspektor kenne, der sich um die Sache kümmern wird.«

»Du spinnst wohl«, sagt Martin. »Erstens bin ich kein Privatdetektiv, sondern Polizist, und zweitens kann er sich, wenn es wirklich ernst sein sollte, an die örtliche Behörde wenden.«

Romana Petuschnigg zündet sich mit der freien Hand eine Zigarette an, lässt anschließend das Feuerzeug fallen und flucht.

Martin: »Kein Grund, obszön zu werden. Droht man denn, ihn umzubringen?«

Romana hustet ins Telefon. Ein richtiges Gerät, nicht eins von den kleinen Dingern, die sie ständig verlegt und sucht, was einen wirklich den letzten Nerv kosten kann. »Aber ja. Es sind sehr bedrohliche Briefe. Wer schreibt denn heutzutage noch Briefe?«

»Mit Absender?«

»Haha«, krächzt Romana in den Hörer. »Du könntest dir ein paar Tage Urlaub nehmen und nach Bad Ischl fahren. Ist ein idyllisches Städtchen. Michael hat ein feines Hotel dort, das Sisi. Nein, sag nichts, ist benannt nach seiner Frau, die übrigens die Marie hat. Sie kommt aus dem Finkmeier-Clan, denen gehört die Pharmafirma in Linz. Haben auch ein paar Kliniken. Und Grundbesitz, wohin du schaust. Wenn du den Fall lösen kannst, werden sich die beiden bestimmt revanchieren. Du brauchst doch sicher Geld für deine Flitterwochen! Mit einer wie Rosie kannst ja wohl nicht zelten gehen.«

Nun hustet Martin. Mehr ein nervöses Hüsteln. Jetzt kennt er Romana, seit er ein Bub war – und sie die Schönheit vom Wörthersee. Aber immer noch bringt sie es fertig, ihre inzwischen gichtigen Finger in seine offenen Wunden zu bohren. »Noch sind wir nicht verheiratet«, sagt er, und sie kichert: »Kalte Füße, Martin? Das ist ganz normal für einen Endvierziger, der schon eine Scheidung hinter sich hat. Alle Männer sind Feiglinge, das wissen wir doch. Vielleicht kannst in Bad Ischl ein bisserl den Kopf freikriegen. Dich mental auf die Ehe vorbereiten. Überleg es dir. Ich mail dir jedenfalls Mikes Kontaktdaten. Und bestell schöne Grüße an die Verlobte.«

Sie hat aufgelegt. Eine ihrer zahlreichen Marotten: Romana muss immer das letzte Wort haben. Warum er sie trotzdem mag und schätzt, weiß der Himmel. Vielleicht, weil die attraktive Rothaarige sein erster Schwarm war. Jedes Jahr freute Martin sich auf die Sommerfrische in der Villa am Wörthersee, deren Besitzerin ihn beinahe wie einen Großen behandelte. Als Martins Vater verschwand, fuhren sie nie wieder hin, was seine Mutter mit »schmerzlichen Erinnerungen« begründete. Aber da war Martin schon fast erwachsen und interessierte sich mehr für gleichaltrige weibliche Wesen. Und so entglitt Romana seinem Leben, bis er drei Jahrzehnte später wieder Urlaub am Wörthersee machte. Und beim Schwimmen mit einer Leiche kollidierte. Und Lily traf. Aber das ist eine andere Geschichte.

*

Sein freier Tag zieht sich hin wie Strudelteig. Martin holt sich eine Flasche Bier und schaut in den fast leeren Kühlschrank. Bier und Milch. Er müsste einkaufen gehen. Und joggen war er auch schon länger nicht. Der Bart ist drei Tage alt, und ein Friseurbesuch wär ebenfalls nicht schlecht. Es ist, als hätte ihn eine Art mentaler Lähmung befallen. Und im Polizeipräsidium studiert er derzeit alte Akten. Vermisstenfälle, ungelöste Morde. Der eine oder andere aktuelle Totschlag im Milieu. Nichts, was ihn elektrisieren und aus seinem seltsamen Dämmerschlaf holen würde. Und weil derzeit wenig los ist, hat man ihm auch noch nahegelegt, seinen Resturlaub abzubauen. Aber was soll er damit?

Er wählt die Nummer von Franz, seinem alten Freund und Kollegen, der von Wien zur Salzburger Polizei gewechselt ist. Besetzt. Wahrscheinlich führt der eines seiner Endlosgespräche mit der künftigen Braut, denkt Martin. Franz Fassbinder, nicht zu Unrecht »Fassl« genannt, ist so überglücklich, bald in den Hafen der Ehe einzulaufen, dass er kaum auszuhalten ist. Valerie hier und Valerie dort. Und ja, natürlich wird Martin zur Hochzeit kommen, zwei Wochen, bevor er selbst die Gefängnistür öffnet. Auf eine Heirat mehr oder weniger kommt es ja nicht an …

Selbstmitleid ist ein blödes Gefühl, das Martin mit einem lauten »Jetzt reiß dich z’samm, Alter« zu beenden versucht. Er kann sich ja wohl nicht darüber beklagen, dass Rosie ihm einen Heiratsantrag machte, den er aus freien Stücken angenommen hat. Nicht mehr ganz nüchtern, das ist wahr. Aber auch weit entfernt von geistigen Aussetzern. Genau genommen hat sie ihn überrumpelt mit ihrem Vorschlag, es noch einmal, jetzt aber richtig zu versuchen. Nach der verrückten Affäre, die sie in ihrer Jugend in Wien hatten. Rosie, die Anarchistin und Kommunistin, und Martin, der linke Student. Ihre Aktionen gingen ihm aber zu weit, und als sie Polizeiautos abfackeln wollte, distanzierte er sich. Und Rosie verschwand türknallend aus seinem Leben. Wie er später erfuhr, musste sie auch aus Wien verschwinden, weil ein Verfahren gegen sie lief, und landete in Sankt Petersburg. Martin dachte, dass er Rosie nie wiedersehen würde. Bis er sie in Kitzbühel traf. Eine zufällige Begegnung am Rande eines Klassentreffens, bei dem unter anderem sein Gastgeber ums Leben kam. Tod in Kitz und Sex mit einer alten Liebe, der durch einen Hexenschuss unterbrochen wurde. Und damit hätte es enden können. Doch als Martin nach Wien zurückkehrte, war Rosie schon da: in seinem Schrebergartenhäusl am Küniglberg. Zusammen mit seiner Mutter, die den Schlüssel hatte, während er weg war. Lotte Glück, mehr als beeindruckt von der Oligarchenwitwe mit ihrem dicken Auto, das direkt hinter dem Halteverbotsschild geparkt war.

Geld verleiht Flügel, und Rosie hat es wahrlich weit gebracht. Ein Anwesen in Kitz und eine Villa in Hietzing, nur zwei von unzähligen Immobilien, die ihr Mann ihr hinterlassen hat. Rosie, die Anti-Anarchistin, jetzt rotblond, immer noch kurvig und kaum gealtert, was mit ärztlicher Kunst zu tun haben könnte. Aber wurscht. Martin kann nur nicht begreifen, warum sie sich so auf ihn kapriziert hat. Guter Sex ab und zu, das hätt’s ja auch getan, oder? Doch je mehr er auf Distanz ging, desto heftiger umwarb sie ihn. Bis hin zum Heiratsantrag. Und der Wahnsinnsaussage, dass sie noch ein Kind von ihm wollte – und auch bekommen würde, weil es noch nicht zu spät sei.

Vielleicht war das der Grund! Martin denkt seit fünf Wochen darüber nach, warum er Ja gesagt hat. Oder vielmehr »Warum nicht?«, das waren wohl seine Worte gewesen. Und Rosie hatte gelacht und gesagt, dass er noch nie ein großer Romantiker war. Was nicht stimmt. Gebranntes Kind halt. Eine kurze Liebe, die in eine schlechte Ehe mündete, zumindest war die Scheidung friedlich, wohl weil sie beide froh waren, einander los zu sein. Und was zum Teufel bringt ihn auf den Gedanken, mit Rosie könnte es anders sein? Das Projekt Kind? Rosie war schon in Paris bei ihrem Wunderarzt aus St. Petersburg, der ihr bestätigte, dass ihrer späten Mutterschaft nichts im Wege stünde. Sie war viel unterwegs nach dem Heiratsantrag, und irgendwie hatte Martin gehofft, dass sie es nur aus einer Laune heraus gesagt hat. Aber dann war Rosie plötzlich wieder in Wien. Und begann, über die Hochzeit zu reden. Stephansdom? »Spinnst, wir sind beide Atheisten«, entgegnete Martin. Aber dann doch zumindest ein Ort, der als Standesamt und Festsaal dienen könnte: der Apothekertrakt oder die Orangerie von Schloss Schönbrunn? Das Palais Ferstel oder die Wiener Börsensäle? Maximal vierhundert Gäste. Alles in rot-weißrot, die Blumen und Dekoration. Champagnerbrunnen. Eine Wodka-Bar und ein nachgebauter Heuriger. Österreichische Bands: Wanda oder Bilderbuch – und die Netrebko vielleicht. Seit man sie mit Putin in Verbindung bringe, sei ihre Gage gesunken, sagt Rosie. Und man kennt sich. Was Martin von einem Sternekoch halte? Kaviar natürlich, gegen diese Art von Russisch hätten die Leute ja wohl auch derzeit nichts einzuwenden.

Nichts. Er hält von alledem nichts. Auch nicht von Friedenstauben, die aufsteigen. Und Rosies älterer Sohn, der seine Mutter zum Altar führt. Boris, der Martin ganz offensichtlich verabscheut und für einen armen Schlucker hält, der es auf Rosies Geld abgesehen hat. Wenn Martin nur an die Hochzeit denkt, bricht ihm der Schweiß aus. So wie jetzt.

Er geht zum Fenster und öffnet es, herein kommt heiße Sommerluft. Also zieht er sich aus und stellt sich unter die Dusche. Und ausgerechnet da klingelt sein Handy. Tropfnass mit einem Handtuch um die Hüften geht er von der Dusche ins Wohnzimmer, hinterlässt feuchte Spuren, doch Franz hat schon aufgegeben. Martin flucht. Er vermisst ihn, sie haben über alles reden können, der Franz und er, und jetzt gibt es eine Valerie und eine Rosie und blöde weiße Tauben und einen Freund, der nur noch ein Thema kennt: Liebe, Hochzeit, Baby. Valerie ist schwanger. Das findet Rosie wunderbar, dann könnten die Kinder ja später miteinander spielen. Seit diese Option im Raum steht, hat der Sex – zumindest für ihn – erotisch stark abgenommen. Wurde irgendwie zur Pflichtübung zum Zwecke der Fortpflanzung. Und sie merkt es nicht. Oder will es nicht wahrhaben. Rosie ist in ihren Hochzeits- und Babyfantasien gefangen, wandelt auf einer rosa Wolke. Kommuniziert jeden Tag mit ihrem Arzt. Telefoniert mit Hochzeitsplanern, Event-Agenturen und Designern. Kauft Lotte teure Geschenke, und die Großmutter in spe kann nicht aufhören, die künftige Schwiegertochter zu preisen. Die ganze Situation ist zum Davonlaufen!

Er wählt den Rückruf, und Franz geht sofort ran.

»Ich war unter der Dusche. Aber jetzt bin ich fast trocken. Wie geht’s dir, Fassl?«

Franz hat schon zehn Kilo abgenommen, weil sein Arzt und letztlich auch Valerie ihm Diät verordnet haben. Bald wird »Fassl« nicht mehr zu ihm passen, denkt Martin. Frauen sagen, dass sie dich so lieben, wie du bist – und dann gehen sie dran und wollen dich verändern. Einen schlanken Fassl kann Martin sich gar nicht vorstellen.

»Na, bestens«, antwortet der Freund. »Ich hab schon den ersten Strampler unseres Sohnes mitbekommen. Valerie speibt jeden Morgen. Aber sonst geht es uns prima. Ihr kommt doch zur Hochzeit nach Salzburg?«

»Ich komme auf jeden Fall«, sagt Martin. Das Wir-Gefühl, das Fassl verinnerlicht hat, ist bei ihm noch nicht angekommen.

»A geh, ihr müsst beide dabei sein, alle sind schon ganz gespannt auf deine Zukünftige. Ich kenn sie ja nur von dem Foto im Internet. Schön und reich und in dich verliebt – du bist ein echter Glückspilz.«

Er fühlt sich nicht wie ein solcher, das ist das Problem. »Warst schon einmal in Bad Ischl?«, fragt Martin.

Wenn Franz sich über den Themenwechsel wundert, lässt er es sich nicht anmerken. »Einmal war ich dort auf Kur, ganz hübsch, aber irgendwie kommt es einem vor, als wäre der Ort in Kaisers Zeiten stehen geblieben. Total retro. Aber viele mögen das, diese k.u.k.-Nostalgie. Die Touristen sowieso. Wusstest du, dass die jedes Jahr im August den Kaisergeburtstag feiern? Dann verkleiden sich die Leut’, und der Kaiser fährt mit Sisi im alten Zug vor, und die Kapelle spielt, und dann gehen sie zur Kaiservilla, vorbei an der k.u.k.-Hofbäckerei … eigentlich ganz lustig. Wenn man’s mag. Und wie geht’s Rosie? Ist sie schon schwanger?«

»Keine Ahnung«, sagt Martin, merkt selbst, wie herzlos das klingt, und setzt nach: »Sie ist nach Paris geflogen zu ihrem russischen Superarzt und kommt morgen zurück. Dann weiß ich mehr.«

»Mensch, Martin, das wär doch was, wenn wir beide Vater werden! Ich kann dir gar nicht sagen, wie ich mich auf unser Baby freue.«

Das ist es, denkt Martin. Ich hab bloß Angst davor. Vor Hochzeit und Kind und einem Leben, in dem nichts mehr selbstbestimmt ist. Vielleicht hat Romana recht, und er ist einfach nur ein Feigling. Oder ist es diese Ahnung, dass er Rosie nicht genug liebt, um mit ihr eine Familie zu gründen? Er beneidet Fassl beinah um dessen ungetrübtes Glück. »Ich glaub’s dir und freu mich für dich! Aber jetzt muss ich aufhören, da ist jemand an der Tür. Grüß Valerie von mir.«

Mit dem Telefon in der Hand öffnet Martin und wird von seiner Mutter überrollt. Gewissermaßen. Lotte im eleganten Hosenanzug – ihre Hippiezeit hat sie hinter sich gelassen – hält ein riesiges Mehlspeistablett in der Hand. »Servus, Martin. Nimm mir das ab und stell es auf den Esstisch. Dann zieh dir was an, und wir probieren, was ich mitgebracht hab. Für die Hochzeitstorte. Rosie meint, dass du die Auswahl treffen sollst. Sie isst nix Süßes wegen der Linie. Dabei hat sie eine Bombenfigur.«

Martin nimmt das Tablett und gehorcht. Warum hat er jetzt eine Wut auf Lotte? Weil sie ihn überfallen hat mit ihren blöden Torten. Weil das Feuer inzwischen von zwei Seiten eröffnet ist, und er steht mittendrin und fühlt sich schutzlos, ausgezählt. Selbstmitleid! Während er Jeans und ein T-Shirt anzieht, ignoriert er die Laute seines Mobiltelefons. Rosie ruft an. Das tut sie gefühlt zwanzigmal am Tag, und er ist jetzt einfach nicht in der Stimmung.

»Du solltest dich rasieren. Und zum Friseur gehen«, sagt Lotte. Sie hat inzwischen Kaffee gemacht und den Tisch gedeckt. Zu jedem Stück Torte gibt es ein Foto des Gesamtkunstwerks. Das Brautpaar in Marzipan weist erstaunliche Ähnlichkeit mit den Originalen auf. Die überdimensionale Torte in Turmform muss ein Vermögen kosten, denkt Martin, während er sich brav setzt und sich an den Dreitagebart greift. »Hast ja recht, aber irgendwie komm ich nicht dazu. Ist auch viel zu tun im Präsidium.«

Lotte legt ihm das erste Stück auf den Teller. »Du wirst ja hoffentlich kündigen nach der Hochzeit.«

Martin sieht seine Mutter entgeistert an: »Wieso denn? Meinst, ich spiel dann den Prinzgemahl?«

Lotte seufzt tief, bevor sie die Gabel zum Mund führt. Kaut. Schluckt. »Du kannst ihr beim Verwalten des Vermögens helfen, Martin. Und bei der Erziehung eures Kindes. Jetzt werd endlich erwachsen, Bub.«

Das erste Stück von der Torte mit dem Marzipanpaar und Blattgoldherzen schmeckt nach Schokolade und Orangen. »Sie ist noch nicht schwanger, Lotte. Also red nicht so daher. Schließlich ist Rosie aus dem gebärfreudigen Alter raus, und Ärzte können keine Wunder vollbringen.«

»Wenn Rosie was will, dann schafft sie das auch!« Sie bewundert ihre Schwiegertochter in spe für deren eisernen Willen. Die bessere Hälfte ihres eigenen Lebens hat Lotte als Anhängsel eines Ehemanns verbracht, der sich eigentlich nur für sein Hobby – die Malerei – interessierte.

Martin probiert auch die zweite Torte. Sie schmeckt ein wenig nach Zitrone und Vanille. Das Foto zeigt eine Pyramide, bei der auf jeder Seite das Bild des Brautpaars in Marzipan prangt. Und irgendjemand beißt dann in meine Nase … Martin schüttelt sich innerlich. Rosie ruft schon wieder an, er hat sein Handy auf lautlos gestellt, aber es vibriert.

»Willst nicht rangehen?«

Er schüttelt den Kopf und dreht das Telefon um. »Weißt du was, Lotte: Ich kann nicht zehn Stück Torte probieren, da wird mir schlecht. Lass die alle einfach da, und ich werde mich heute und morgen durchessen. Oder wir wählen einfach die schönste aus. Die Pyramide ist doch sehr originell.«

Seine Mutter sieht ihn misstrauisch an. »Schmähtandler! Dir ist es völlig wurscht, stimmt’s? Seit Tagen bist schon so komisch, was sag ich – seit Wochen! Ich sag dir jetzt was, Martin: Wenn du das vermurkst, dann red ich kein Wort mehr mit dir!«

Maschinengewehrfeuer. Martin steht auf und steckt sein vibrierendes Telefon in die Hosentasche. »Vielleicht ginge es mir besser, wenn ihr mich nicht jeden Tag mit den Hochzeitsvorbereitungen nerven würdet. Weil mir des nämlich wirklich wurscht ist. Und nein, ich will nicht nach London fliegen, um einen Smoking anzuprobieren. Der schwarze Anzug, den ich hab, tut’s nämlich auch.«

»Den hast du für eine Beerdigung gekauft«, sagt Lotte.

Eben, denkt Martin. Passt doch. Und hiermit, liebe Hochzeitsgäste, beerdigen wir meine Freiheit. Das Leben, wie ich es kannte und überwiegend mochte. Und dann fällt ihm Romana ein. Es geht um Leben und Tod. In Bad Ischl.

2

»So halten Sie doch Abstand! Corona ist noch nicht vorbei«, faucht ihn die Frau an der Supermarktkassa an. Martin murmelt eine Entschuldigung und tritt zwei Schritte zurück. Es tut ihm leid, er war in Gedanken. Distanz ist ihm prinzipiell eh lieber. Abstand halten hat er während der Pandemie sogar als wohltuend empfunden. Während er Bier, Gummibären, Schinken, Käse, Brot, Eier und Tomaten auf das Laufband legt, überlegt er, dass er es nie mochte, wenn ihm fremde Menschen zu nahe rückten. Und nicht nur fremde.

»Fünfunddreißig vierzig.«

Ich hab doch kaum was gekauft, denkt Martin, und dass er beim Einkauf auf die Preise schauen sollte. Sicher hat Rosie mehr Geld, als er je verdienen wird. Aber von ihrem Geld zu leben kommt gar nicht infrage. Unabhängigkeit beginnt bei den Finanzen. Was für eine Schnapsidee seiner Mutter, dass er nach der Hochzeit seine Arbeit aufgeben soll. Die seit mehr als zwanzig Jahren ein wichtiger Teil seines Lebens ist. Und das muss auch so bleiben. Rosies Vorschlag, vom Schrebergartenhäuserl in ihre nahe gelegene Villa zu übersiedeln, konnte er nachvollziehen und akzeptieren. Außerdem kommt sein Vermieter demnächst zurück, und er muss das Haus sowieso räumen. Die Villa ist nicht so riesig und auf Repräsentation ausgelegt wie das Schlössl in Kitzbühel, aber immerhin groß genug, dass jeder seinen eigenen Bereich hat. Distanz ist das Geheimnis einer guten Beziehung. Das Wort »Ehe« denkt er noch nicht so gern.

Während er die Einkäufe in den Käfer räumt, wandern seine Gedanken von den Vorzügen des Abstands per direttissima nach Bad Ischl. Das könnte er jetzt brauchen: Abstand von dem ganzen Trara rund um seine Hochzeit. Warum muss sie so groß sein? Rosie kann nämlich, wenn sie will, auch bodenständig sein. Eine kleine standesamtliche Trauung mit wenigen Gästen wäre genau das Richtige. Schließlich ist es für beide nicht die erste Heirat. Aber eine Hochzeit organisiert und bezahlt die Familie der Braut, in dem Fall die Braut selbst. Und die bestimmt dann auch darüber. Hier dominiert eben die Oligarchen-Rosie, die Martin ziemlich fremd ist. Verschiedene Welten.

Andererseits macht Rosie die besten Schinkenfleckerln der Welt, so wie damals, als sie zu zweit in einem kleinen Untermietzimmer gehaust haben. Aber auch ihr Kaiserschmarren ist spitze. Oder wie lieb sie ihn gepflegt hat, als er nach seiner Rückkehr aus Kitzbühel Corona bekam. Und wie verletzlich sie ist, wenn es um ihre Eltern geht, die nichts mehr von ihr wissen wollen. Alles gute Gründe, sie zu mögen. Was ist Liebe? Wo fängt sie an, wo hört sie auf? Und das mit dem Kind ist ein zweischneidiges Schwert. Natürlich wünscht er sich eines. Aber er hat auch Angst vor der Verantwortung. Sind sie nicht einfach zu alt dafür? Wenn das Kind maturiert, sind sie beide fast siebzig.

Er verscheucht diese Gedanken, schaut in den wolkenlosen Himmel und freut sich über einen perfekten Sommertag. Rollt das Dach des Käfer-Cabrios hinunter. Das gibt auch so ein Gefühl von Freiheit. Fröhlich pfeifend startet er seinen geliebten Beinahe-Oldtimer, der widerborstige Laute von sich gibt, hustet und ein bisschen stolpert, dann aber brav Richtung Küniglberg rollt.

Als er in der Schrebergartensiedlung ankommt, steht sein Entschluss fest, Romanas Vorschlag anzunehmen. Eine Auszeit in Bad Ischl ist genau das, was er jetzt an Abstand braucht. Die Gegend ist schön, er könnte wandern und Ausflüge ins restliche Salzkammergut machen. Seen gibt es auch jede Menge, noch dazu recht kühle, in denen man für kurze Zeit Sommerhitze und Klimawandel vergessen könnte. Und nebenbei einen Fall, der wahrscheinlich keiner ist, lösen. Morgen wird er gleich um Urlaub ansuchen und sich dann mit diesem Mike Irgendwas in Verbindung setzen. Vorher sollte er aber noch Rudi, seinen langjährigen Mechaniker, anrufen und das Auto anschauen lassen. Bei Rudi ist sein in die Jahre gekommener Käfer immer gut aufgehoben. Ist sicher nichts Ernstes. Wahrscheinlich muss nur das Standgas höher eingestellt werden.

*

»Wahrscheinlich muss nur das Standgas höher eingestellt werden«, erklärt er dem Mechaniker. Rudi ist zum ungünstigsten Zeitpunkt auf Urlaub, also musste er in eine fremde Werkstätte fahren. Mit dem hustenden Auto will er jedenfalls nicht nach Ischl. Und er wird Montag abreisen, das hat er schon beschlossen.

»Standgas? Des is die Kupplung«, so das finale Urteil seines Gegenübers. »Wie viele Kupplungen haben S’ denn scho verbraucht? Is schließlich a nimma der Jüngste.« Der Mann deutet auf Martins geliebten Käfer. »Hat der wirklich erst hundertachtzigtausend Kilometer drauf?«

»Zweiter Motor. Aber sonst ist er super beinand«, murmelt Martin. »Wie lang dauert die Reparatur? Ich brauche das Auto Anfang nächster Woche wieder.« Ihm fällt auf, dass er gar nicht nach den Kosten gefragt hat. Gewöhnt er sich womöglich schon an die Rolle als Prinzgemahl? Nur das nicht!

»Wieso sagn S’ jetzt ›Nur das nicht‹, wo’s doch grad einverstanden waren mit aner neuen Kupplung?«, fragt der Mechaniker verwundert.

Fange ich jetzt schon an, laut zu denken? »Nein, nein, machen S’ nur die Kupplung.«

»Also, vier Tag wird’s scho dauern. Brauchen S’ inzwischen einen Leihwagen?«

»Ja, ich glaub schon. Ich muss ja nach Bad Ischl. So was wie einen Golf, wenn Sie haben.«

Der Mann nickt zustimmend. »Klaro, da hab i ganz was Besonderes für Sie, und kost a nur 39 Euro am Tag, so wie die anderen. Kommen S’ mit.« Der Mechaniker geht voraus zum Fuhrpark und deutet auf einen golfähnlichen Wagen. »Is ein ID.4 mit Style-Ausstattung.«

»Aha.«

»Ja, setzen S’ Ihna amal eini. Das neueste Elektromodell in der Klasse. Vielleicht wollen S’ Ihren alten Käfer dann eh gegen den eintauschen. Wir könnten Ihnen an guaten Preis machen.«

Martin wehrt ab. Er will kein neues Auto.

»Was hat der denn für eine Reichweite?«

»Ganz super. Vierhundert Kilometer. Kommt aber aufs Wetter an. Und wie Sie ihn fahren.«

»Und wo tanke ich?«

»Laden«, korrigiert ihn der Mechaniker. »Is ka Problem. Inzwischen gibt’s schon an jeder Ecken und natürlich an jeder Autobahnstation Ladesäulen. Dauert halt a bissel länger als beim Benzin. So ungefähr zwanzig Minuten für a volle Ladung, wenn’s die schnelle ist. Sonst länger, das kost dann weniger. Trinken S’ inzwischen gmiatlich an Kaffee …«

Sei nicht feige, denkt Martin bei sich. Er ist neugierig auf das Auto. Morgen Abend wird er Rosie damit vom Flughafen abholen. Ihr Chauffeur, Igor der Schreckliche, ist in Kitzbühel.

*

Als sie in ihrer Villa in der Gloriettegasse ankommen, lobt sie Martins Elektrogefährt. »Ich muss das sofort vom Igor checken lassen, welche Autos in einer anständigen Größe es mit E-Motor gibt.« Rosie, die Protzige.

»Komm, jetzt trinken wir zusammen ein Bier«, versöhnt sie ihn wieder. Im Haus wartet die Haushälterin, die ihnen den Koffer abnimmt und ins Schlafzimmer trägt. Rosie holt noch schnell zwei kleine Flaschen Bier aus dem Kühlschrank und geht mit Martin ins Wohnzimmer. Sie strahlt und versichert ihm, dass sie ihn sooo vermisst hat. Umgekehrt war’s nicht so, denkt er und küsst sie schuldbewusst.

Rosie muss noch was loswerden: »Doktor Iwanow war sehr optimistisch. Er meint nur, dass wir uns beeilen sollten.« Sie lacht ein bisserl künstlich: »Nicht, dass statt einem Baby das Klimakterium kommt.« Statt eines Babys, denkt Martin, der Genitivverfechter auf einsamem Posten. Er versucht sich vorzustellen, wie ein kleines Wesen durchs große Wohnzimmer krabbelt.

»Also, was sagst?«, fragt Rosie.

Martin sieht in Rosies grün gesprenkelte Augen. Die Sommersprossennase. Der kirschrote Mund. »Das sind wunderbare Neuigkeiten.« Wahrheit oder Lüge? Er zieht sie an sich, und Rosie legt ihren Kopf an seine Schulter und seufzt zufrieden. Vielleicht sollten sie jetzt ins Schlafzimmer wechseln … »Sollen wir?«, gurrt Rosie. Doch dann setzt sie eins drauf: »Heute wäre der richtige Tag.«

Aus, Schluss, vorbei! Sex nach Terminplan? Das ist der Tod jeder Erotik. Er lässt Rosie los, greift aus Verlegenheit in seine Brusttasche und zieht eine Zigarettenpackung heraus. Seit er dem Hochzeitsvorbereitungsstress ausgesetzt ist, raucht er wieder mehr.

»Stopp!«, ruft Rosie. Mit strenger Stimme: »Ich hab dir doch gesagt, dass der Iwanow meint, Rauchen ist ganz schlecht für die Qualität der Spermien. Vor allem, weil du auch nicht mehr der Jüngste bist, sagt er.«

Martin schaut sie mit offenem Mund an. Dann legt er los wie in seinen besten Aggressionszeiten. »Dieser russische Quacksalber wagt es, über meine Spermien zu urteilen? Als Nächstes muss ich noch eine Diät machen, damit sie seinen Ansprüchen genügen. Aber mit mir nicht, Rosie!«

Es fällt ihr nicht leicht, doch sie lenkt ein: »Das musst du doch nicht gleich persönlich nehmen. Das ist eine medizinische Tatsache, dass mit dem Alter die Spermienqualität abnimmt.«

Martin, schon leiser, aber immer noch böse: »Meine Spermien, liebe Rosie, werden immer aufs Neue frisch produziert, während die Eier einer achtundvierzigjährigen Frau genau achtundvierzig Jahre alt sind. Nämlich alt.«

Sie ist blass geworden. Er weiß, dass er unfair und verletzend war, und jetzt tut es ihm leid. »Entschuldige, das war gemein«, setzt er nach. Aber Rosie ist bereits aufgestanden und hat den Raum türknallend verlassen.

*

Ein schönes Fahrgefühl, das muss er zugeben. Auf der ganzen Strecke glaubt er zu gleiten, anstatt zu fahren. Zwei Stunden und neunundfünfzig Minuten dauert die Fahrt von Wien nach Bad Ischl, hat ihm das Navi angekündigt. Plus zwanzig Minuten Stromtanken. Denn irgendwo vor der Ausfahrt Regau sollte er laden. Er hat sich eine App für den Stromanbieter aufs Handy geholt. Bei der letzten Tankstelle wird er halten, gemütlich einen Kaffee trinken und inzwischen das Auto an eine Ladesäule hängen. Dann Rosie anrufen. Nach dem Spermienstreit haben sie sich am Sonntag noch halbherzig versöhnt. Trotzdem – die Auszeit wird beiden guttun.

Das Auto piepst. Es ist durstig, verlangt nach Strom, er ist zu schnell gefahren und hat entsprechend mehr verbraucht. Es gibt einen Economy-Modus, das hat er vergessen. Elektroauto-Anfänger. Doch als er zur Tankstelle abfährt und die Ladesäulen am äußersten Rande des Parkplatzes findet, sind beide besetzt.

Gefühlte Stunden später, tatsächlich nach vierzig Minuten, hat er drei Tassen Kaffee getrunken und ein längeres Telefonat mit Rosie geführt. Als endlich eine Ladesäule frei ist, er sein Auto anhängt und nach der App sucht, piepst zur Abwechslung sein Handy. Weil das auch leer ist!

»Verdammter Mist«, flucht Martin lautstark und handelt sich mitleidige bis schadenfrohe Blicke ein. Eine ältere Dame im Vorübergehen: »Man muss ja nicht jeden modernen Scheiß mitmachen, junger Mann!« Ein deutscher E-Autofahrer: »Trödel hier nicht rum, Mensch, es warten noch mehr auf ihren Strom.«

Martin ist schon unter Strom. Ein fast leeres Auto und ein leeres Handy, das gleicht einem Horror-Paar. Er würde gerne losbrüllen, stattdessen greift er nach den Gummibären und stopft sich ein paar in den Mund. Schweineschwartengelatine mit Zucker und Geschmackstoffen, das hat er irgendwo gelesen, aber jetzt ist es ihm egal. Ohne Handy kann er nicht tanken, selbst wenn die Betreiber Kreditkarten nehmen. Weil er ja die Sicherheitsnummer nicht aufs Handy kriegt. Er steigt ins Auto und fährt in eine Parklücke, um den Platz für einen freizumachen, der nicht so blöd ist wie er.

»Ich sag’s ja immer, das System ist noch nicht ausgereift!«, sagt er zum Auto, das nix dafürkann. Dann marschiert Martin zur Raststätte, um sein Handy irgendwo aufzuladen. Isst aus Frust noch ein Paar Frankfurter mit Kartoffelsalat und trinkt ein Bier dazu. Noch nie ist ihm aufgefallen, wie langsam sich so ein Telefon auflädt. Und man sollte sich einmal bewusst machen, wie verdammt abhängig man von diesem kleinen Ding ist. Kann nicht tanken, kann nicht bezahlen, von Null-Kommunikation ganz zu schweigen. Wie war es früher – ohne Handy? Natürlich denkt er jetzt, dass es viel schöner war. Man war nicht ständig erreichbar. Und musste zur Bank gehen, um einen Zahlschein auszufüllen. Keine Apps. Nichts, das piepst und blinkt und dich an irgendwelche Termine erinnert. Und Autos brummten motorstark, gaben aber sonst keine Laute von sich. Wenn der Tank leer war, gab es zur Not den Reservekanister. Martin schaut aus dem Fenster auf einen wolkenlosen Sommerhimmel – und zurück auf seine analoge Jugend. Und beruhigt sich langsam. Ist doch egal, wann er in Ischl ankommt. Ist sowieso eine Schnapsidee, wie sie nur von Romana kommen kann.

Nach all der Warterei wird es erst einmal doch nichts mit dem Laden, da Martin die App eines nicht mit dieser Ladestation kompatiblen Providers auf seinem Handy und auch nicht die gewünschte Art der Kreditkarte bei sich hatte. Also muss er weiterfahren. Er fährt so langsam, wie es auf einer Autobahn möglich ist, und schaltet die Klimaanlage nicht ein, um Strom zu sparen. Die Ladekapazität liegt bei 23 Prozent, unter 20 soll man nicht kommen, weil dann die fast leere Batterie Schaden nimmt. Daran erinnert er sich. Der Computer zeigt ihm die nächste Ladestation an, er fährt wieder ab und hat diesmal Glück im Unglück. Der Strombetreiber akzeptiert seine Kreditkarte, doch es ist eine der langsamen Ladesäulen, und es dauert eineinhalb Stunden, bis er so viel Strom hat, dass es bis Ischl reicht, sogar mit Klimaanlage. Weil er die Navi-Bedienung nicht hinkriegt, weist ihm Google Maps den Weg an Ischl vorbei einen Berg hinauf, wo das Sisi liegt. Ein alter Herrensitz in kaiserlichem Stil mit einem Skulpturenpark rundherum und grandioser Aussicht auf die Kurstadt und den Dachstein. Auffahrt mit knirschenden Kieselsteinen. Ein junger Mann in Tracht kommt ihm entgegen, als Martin aussteigt. »Sie müssen Herr Glück aus Wien sein. Wir haben Sie früher erwartet, die Herrschaften sind beide grad nicht da. Aber ich darf Sie begrüßen und Ihr Gepäck nach oben bringen.«

Danke, er trägt selbst, und der Concierge oder was auch immer sieht ein bisserl pikiert drein.

Nein, Martin muss nichts ausfüllen, das hat Zeit, er wolle doch sicher erst einen Drink nehmen und auspacken vor dem Abendessen. »Soll ich den Wagen auf den Parkplatz fahren?« Das darf er. Martin gibt ihm den Autoschlüssel und steigt die Treppen hinauf in eine Halle, die ultramodern eingerichtet ist und in starkem Gegensatz zur Außenarchitektur steht. Eine junge Frau im Dirndl reicht ihm den Schlüssel und lächelt so strahlend, dass Martin gar nicht anders kann, als es zu erwidern.

Sein Zimmer im dritten Stock ist unterm Dach und ziemlich stickig, Martin reißt alle Fenster auf und geht als Erstes unter die Dusche. Modernes Badezimmer, der Rest des Mobiliars ist alt, Barock trifft auf Bauernmöbel. Immerhin scheint die Matratze okay zu sein. Martin liegt auf dem Bett, sein Handy klingelt, und er lässt es läuten. Eigentlich wollte er noch joggen gehen vor dem Abendessen, aber dann ist er zu faul aufzustehen. Morgen, denkt er, außerdem ist er durstig und hungrig und auch irgendwie neugierig auf diesen Mike Hansen, der vor langer Zeit einer von Romanas Liebhabern war, von Beruf Fitnesstrainer und verheiratet mit einer Erbin aus einer Linzer Pharmadynastie. Martin hat ihn gegoogelt, ein Foto im Netz zeigt das Brautpaar und dahinter einen grimmig blickenden jungen Mann, er tippt auf den Sohn. Und schon hat er seinen ersten Verdächtigen: Vielleicht war er mit der Heirat seiner Mutter nicht einverstanden und möchte ihren Galan vertreiben.

Wieso das Hotel Sisi heißt, weiß Martin ja schon. Laut Romana ist es nicht nach der Kaiserin, sondern nach Mikes Frau benannt. Trotzdem irritiert ihn der Umgang mit der legendären Sisi. In der Eingangshalle, im Foyer und in den Gängen hängen Karikaturen, ganz schön böse Zeichnungen von ihr und dem seligen Franz Joseph. Aber irgendwie auch witzig, denkt Martin, der ein großer Fan von Gary Larson ist.

An der Hotelbar trifft er auf eine attraktive und sehr schlanke Frau, deren Alter er nicht einschätzen kann. Zeitlose Schönheit, nicht unbedingt naturbelassen. Der Barkeeper scheint vom Concierge informiert, er reicht Martin den Autoschlüssel und sagt: »Das ist Herr Glück aus Wien, Frau Hansen, soeben eingetroffen.«

Sie lächelt und sagt: »Ich bin Elisabeth Hansen. Willkommen in unserem Haus, Herr Glück. Ich hoffe, Sie hatten eine angenehme Anreise. Ist Ihr Zimmer in Ordnung?«

»Nur ein bisserl heiß, weil unterm Dach. Aber sehr gemütlich sonst.« Er bestellt ein Bier, sie einen Zitronenspritzer. »Sollen wir Sie woanders einquartieren? Wir haben nur 20 Zimmer, und die sind heute alle besetzt, aber morgen reist die amerikanische Gruppe ab, dann könnten Sie umziehen.«

Martin verneint dankend und greift nach seinem Bierglas. Der erste Schluck ist immer der schönste. Sie nippt nur.

»Sie haben ein wunderschönes Haus, Frau Hansen. Wie ich hörte, sind Sie selbst die Namensgeberin, und nicht etwa die Kaiserin, wie man meinen könnte?«

»Ja und nein«, antwortet sie mit einem Lächeln, das er nicht einordnen kann. »Mein Mann hat ihn ausgesucht. Weil ich Elisabeth heiße und es einige Parallelen zur legendären Sisi gibt, tatsächlich haben sich die Wege unserer Vorfahren gekreuzt. Aber ich will Sie damit nicht langweilen, und mein Mann und ich können mit dem übertriebenen Kaiserkult in dieser Stadt ohnehin wenig anfangen. So altmodisch. Weshalb wir in unserem kleinen, feinen Hotel andere Akzente gesetzt haben. Was wiederum einigen Gästen nicht so gut gefällt …«

Sie verstummt, als ein Mann die Bar betritt. Martin erkennt ihn von dem Foto im Internet. Typ gealterter Sonnyboy mit etwas zu langen Haaren und dekorativen grauen Strähnen. Trägt Jeans mit Trachtenhemd, und seine Zähne sind so weiß, dass sie blenden. Sein Händedruck ist fester, als Martin lieb ist.

»Mike Hansen. Wie schön, dass Sie es einrichten konnten. Meine Frau haben Sie ja schon kennengelernt. Ich hoffe, Sie hatten eine angenehme Anreise …«

Bevor Martin antworten kann – und was hätte er schon sagen sollen? –, redet Mike Hansen weiter: »Wir sprechen