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Konnte die Evolution gar nicht anders, musste sie als Krone der Schöpfung den Menschen hervorbringen? Oder würden heute Dinosaurier über die Welt herrschen, wenn vor 66 Millionen Jahren kein Asteroid auf der Erde eingeschlagen wäre? Dem Evolutionsbiologen Jonathan Losos gelang bei seiner Forschung an Eidechsen etwas, wovon Darwin nicht einmal zu träumen wagte: der Evolution bei ihrem Werk zuzusehen und zu beweisen, dass Evolution sich wiederholt. Auf einer faszinierenden Reise um den Globus lehrt uns der begnadete Erzähler Losos, dass die Evolution nicht würfelt – und die Menschheit ihre Existenz dennoch dem Glück zu verdanken hat.
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Seitenzahl: 564
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Konnte die Evolution gar nicht anders, musste sie als Krone der Schöpfung den Menschen hervorbringen? Oder würden heute Dinosaurier über die Welt herrschen, wenn vor 66 Millionen Jahren kein Asteroid auf der Erde eingeschlagen wäre? Jonathan B. Losos, einer der führenden Evolutionsbiologen unserer Zeit, beantwortet die großen Fragen der Naturwissenschaft. Bei seiner Forschung an Eidechsen gelang Losos etwas, wovon Darwin nicht einmal zu träumen wagte: der Evolution bei ihrem Werk zuzusehen und zu beweisen, dass Evolution sich wiederholt. Manche Tiere aber sind auch evolutionäre Einzelfälle, wie das Schnabeltier, das man sich verrückter nicht hätte ausdenken können. Auf einer Reise um den Globus lehrt uns der begnadete Erzähler Losos, dass die Evolution nicht würfelt – und wir Menschen unsere Existenz dennoch dem Glück zu verdanken haben.
Hanser E-Book
Jonathan B. Losos
Glücksfall Mensch
Ist Evolution vorhersagbar?
Aus dem Englischen von Sigrid Schmid und Renate Weitbrecht
Carl Hanser Verlag
Meiner Frau Melissa Losos und meinen Eltern Joseph und Carolyn Losos für ihre Liebe und Unterstützung
Vorwort
Einleitung: Der gute Dinosaurier
Teil 1 Doppelgänger der Natur
1 Ein evolutionäres Déjà-vu
2 Replizierte Reptilien
3 Evolutionäre Besonderheiten
Teil 2 Evolution im Experiment
4 Evolution im Zeitraffer
5 Farbenfrohes Trinidad
6 Gestrandete Eidechsen
7 Von Dünger und moderner Wissenschaft
8 Evolution in Schwimmbecken und Sandkästen
Teil 3 Evolution unter dem Mikroskop
9 Das Band nochmals abspielen
10 Durchbruch in einer Flasche
11 Unbedeutende Einzelheiten und betrunkene Fruchtfliegen
12 Das menschliche Milieu
Fazit Schicksal, Zufall und der »unvermeidliche« Mensch
Dank
Über den Illustrator
Anmerkungen
Register
Wie viele durchlief auch ich als Kind eine Dinosaurierphase. Im Kindergarten war ich berühmt dafür, dass ich jeden Tag mit einem Korb voller Plastikdinosaurier auftauchte: Allosaurus, Stegosaurus, Ankylosaurus, Tyrannosaurus rex. Ich hatte sie alle, oder zumindest alle zwanzig Arten, die es damals gab (heute haben die Kinder es so viel besser).
Doch im Gegensatz zu den meisten anderen Kindern wuchs ich aus dieser Phase nie heraus. Ich habe meine Spielzeugdinos heute noch, und mehr als damals. Ich kenne immer noch ihre Namen und kann sogar Parasaurolophus aussprechen. Mein Interesse gilt heute jedoch eher lebenden Reptilien: Schlangen, Schildkröten, Eidechsen und Krokodilen.
Diese Veränderung hat zum Großteil mit einer Wiederholung der alten TV-Serie Erwachsen müsste man sein zu tun, vor allem mit der Folge, in der Wally und Beaver per Post einen Babyalligator bestellen und ihn dann im Bad verstecken. Natürlich wird es extrem lustig, als die Haushälterin Minerva das Tier entdeckt. Ich hielt das für eine tolle Idee und kannte ein paar Tiergeschäfte, die damals (in den frühen 1970er-Jahren) Babykaimane, die mittel- und südamerikanischen Verwandten des Alligators, verkauften, daher ging ich mit dem Vorschlag zu meiner Mutter. Sie sagte nicht gern Nein und meinte daher, wir sollten Charlie Hoessle, der stellvertretender Direktor des Zoos von Saint Louis und ein Freund der Familie war, um Rat fragen, weil sie davon ausging, dass er mir die Sache ausreden würde. Danach begrüßte ich meinen Vater jeden Tag nach der Arbeit mit der Frage: »Hast du heute mit Mr. Hoessle gesprochen?« Geduld gehörte noch nie zu meinen Stärken (und mit zehn Jahren schon gar nicht), daher wurde aus meinem Frust schon nach wenigen Tagen Wut. Wo lag das Problem? Mein Vater wollte warten, bis er Hoessle bei einem Meeting traf, statt ihn einfach anzurufen. Würde dieses Meeting je stattfinden? Gerade als ich jede Hoffnung auf einen reptilischen Mitbewohner aufgeben wollte, kam mein Vater eines Abends nach Hause und verkündete, er habe endlich mit Mr. Hoessle gesprochen. »Und?«, fragte ich ganz zappelig vor Hoffnung und Nervosität. Dann Freude: Hoessle hielt es für eine tolle Idee. Genauso sei er selbst zur Herpetologie gekommen!*1 Jetzt hatte meine Mutter keine Wahl mehr, und kurze Zeit später wimmelte es in unserem Keller von Reptilien aller Art. Ich hatte die ersten Schritte auf dem Weg zu meiner beruflichen Laufbahn gemacht.
Während ich mich um meine schuppigen Schützlinge kümmerte, las ich fast religiös die Monatszeitschrift Natural History, die vom American Museum of Natural History in New York herausgegeben wurde. Ein Höhepunkt in jeder Ausgabe war die Kolumne This View of Life des brillanten und belesenen Harvard-Paläontologen Stephen Jay Gould. Der Titel der Kolumne stammte aus dem letzten Satz von DarwinsÜber die Entstehung der Arten und beschäftigte sich regelmäßig mit Goulds heterodoxen Ideen über den Evolutionsprozess. Gould betonte in der Kolumne häufig, die Evolution sei unbestimmt und nicht vorhersagbar. Die Texte waren elegant formuliert, und Gould streute immer wieder Vignetten aus Geschichte, Architektur und Baseball ein, mit denen er überzeugend für seine Weltsicht warb.
Im Jahr 1980 erhielt ich die Studienzulassung für Harvard und freute mich darauf, von diesem großen Mann in seiner bescheiden als Grundstudiumskurs angekündigten Veranstaltung Die Geschichte der Erde und des Lebens direkt zu lernen. Und er war persönlich ebenso faszinierend und einnehmend wie auf dem Papier. Doch von allen Dozenten am meisten beeindruckte mich Ernest Williams, der Kurator für Herpetologie des Museums für Vergleichende Zoologie von Harvard (der heute ich bin). Er war ein gebieterischer, älterer Wissenschaftler, empfing aber mich Neuling, der sich für Reptilien interessierte, sehr freundlich. Nach kurzer Zeit studierte ich die spezielle Eidechsenart, die im Zentrum seines Lebenswerks stand.
Anolis-Echsen sind in aller Regel grün oder braun mit Haftflächen an Fingern und Zehen und einem farbenfrohen, aufstellbaren Kehllappen, der sie fotogen und faszinierend macht. Doch wirklich berühmt sind sie in wissenschaftlichen Kreisen für ihre evolutionäre Produktivität. Vierhundert Arten sind bereits bekannt, und jedes Jahr werden weitere entdeckt, sodass Anolis eine der größten Wirbeltiergattungen ist. Diese unglaubliche Vielfalt ist das Ergebnis von großem örtlichem Artenreichtum – teilweise leben mehr als ein Dutzend Arten nebeneinander –, kombiniert mit regionalem Endemismus. Die meisten Arten kommen nur auf einer einzigen Insel oder einem kleinen Teil des tropischen amerikanischen Festlands vor.
In den 1960er-Jahren dokumentierte Williams’ Doktorand Stan Rand, dass Anolis-Arten nebeneinander koexistieren, indem sie sich an verschiedene Teile des Habitats anpassen, manche leben hoch oben in Bäumen, andere im Gras oder auf Zweigen. Williams’ große Leistung bestand in der Erkenntnis, dass sich auf jeder Insel der Großen Antillen (Kuba, Hispaniola, Jamaika und Puerto Rico) dieselbe Zusammensetzung an Habitatspezialisten entwickelt hatte: Die Echsen hatten sich auf den vier Inseln jeweils unabhängig diversifiziert, aber die Habitate fast exakt gleich untereinander aufgeteilt.
Als Student führte ich ein Forschungspraktikum über die Interaktionen zweier Arten in der Dominikanischen Republik durch und hatte so einen kleinen Anteil an dieser Geschichte. Ich machte meinen Abschluss, begann ein Dissertationsstudium in Kalifornien und schwor mir, nie wieder über diese Echsen zu arbeiten, weil Williams in seinem Labor bereits alles Entscheidende entdeckt hatte.
Oh, die Naivität der Jugend. Denn wie jeder Wissenschaftler weiß, führt der erfolgreiche Abschluss eines Projekts zwar zur Beantwortung einer Frage, wirft aber drei neue auf. Zwei Jahre und ein Dutzend verworfene Projektideen für meine Dissertation später erkannte ich schließlich, dass Insel-Anolis einfach perfekt sind, um die Vorgänge bei der evolutionären Diversifikation zu untersuchen.
Also verbrachte ich vier Jahre in der Karibik, kletterte auf Bäume, fing Eidechsen und gönnte mir hin und wieder eine Piña Colada. Am Ende hatte ich mit den neuesten Analysemethoden gezeigt, dass Williams völlig recht hatte. Auf den verschiedenen Inseln hatten sich unabhängig voneinander anatomisch und ökologisch sehr ähnliche Arten entwickelt. Darüber hinaus hatten meine biomechanischen Untersuchungen – wie Echsen rennen, springen, sich festhalten – die adaptiven Grundlagen für die anatomischen Variationen enthüllt, die erklärten, warum sich Merkmale wie lange Beine oder große Haftsohlen bei Arten entwickelten, die bestimmte Teile des Habitats nutzten.
Die Tinte auf meiner Dissertation war kaum getrocknet, als Zufall Mensch: Das Wunder des Lebens als Spiel der Natur in den Buchhandlungen auftauchte, wohl Stephen Jay Goulds bestes Werk. Ich verschlang das Buch und fand die Argumentation überzeugend. Er schrieb, die Wege der Evolution seien verschlungen und nicht vorhersagbar; würde man den Film des Lebens noch einmal ablaufen lassen, käme man zu einem völlig anderen Ergebnis.
Goulds Idee, die Uhr zurückzustellen und den evolutionären Film des Lebens noch einmal ablaufen zu lassen, ist (zumindest in der Natur) unmöglich realisierbar. Allerdings könnte man die Wiederholbarkeit der Evolution auch testen, indem man den gleichen Film an unterschiedlichen Orten ablaufen lässt. Geschieht nicht genau das auf den karibischen Inseln, auf denen ein Urahn der Anolis-Echsen angespült wurde? Wenn man davon ausgeht, dass diese Inseln eine mehr oder weniger identische Umgebung darstellen, ist das dann kein Test für die evolutionäre Wiederholbarkeit?
Doch, genau das ist es, und daher befand ich mich in einer intellektuellen Zwickmühle. Gould argumentierte überzeugend, dass Evolution sich nicht wiederholen könne, doch meine eigenen Forschungen zeigten, dass sie genau das tat. Hatte Gould unrecht? Oder war meine Arbeit nur die Ausnahme, welche die Regel bestätigt? Ich entschied mich für die letztere Erklärung und übernahm Goulds Weltsicht, obwohl meine eigene Arbeit ein Gegenbeispiel lieferte.
In den letzten 25 Jahren hatte es diese Sichtweise schwer, denn in dieser Zeit kristallisierte sich ein intellektueller Kontrapunkt zu Goulds Beharren auf der Unvorhersagbarkeit und Nicht-Wiederholbarkeit von Evolution heraus. Diese neue Sicht betont die Allgegenwärtigkeit von adaptiver, konvergenter Evolution: Arten, die in ähnlichen Umgebungen leben, unterliegen demselben natürlichen Selektionsdruck und entwickeln als Anpassung ähnliche Merkmale. Meine Anolis-Echsen sind ein Beispiel für eine solche Konvergenz. Vertreter halten sie für einen Beweis, dass Evolution keineswegs verschlungen und unbestimmt ist, sondern tatsächlich gut vorhersagbar: Es gibt nur eine begrenzte Anzahl von Möglichkeiten, wie man in der Natur überleben kann, was dazu führt, dass sich aufgrund natürlicher Selektion immer wieder die gleichen Merkmale herausbilden.
Seit der Veröffentlichung von Zufall Mensch hat die Evolutionsbiologie bedeutende Fortschritte gemacht, und ich habe meinen Doktortitel erworben. Neue Ideen, neue Ansätze und neue Methoden für die Datenerhebung sind aufgekommen. Heute beschäftigen sich sehr viel mehr Wissenschaftler mit der Evolution als damals. Das Genom ist geknackt, der Baum des Lebens ist kartiert, Mikrobiome sind entdeckt. Spektakuläre Fossilienfunde haben viel über die Geschichte der Evolution enthüllt.
Diese Daten sagen sehr viel über die Vorhersagbarkeit von Evolution aus. Je mehr wir über die Geschichte des Lebens auf diesem Planeten erfahren, umso deutlicher wird, dass Konvergenzen stattgefunden haben, dass sich ähnliche Erscheinungsformen wiederholt herausbildeten. Meine Anolis wirken immer weniger wie Ausnahmen, die Regel gerät ins Wanken.
Aber man kann Evolution nicht nur studieren, indem man Daten darüber sammelt, was im Lauf der Zeitalter passiert ist. Wie man inzwischen weiß, kann man Evolution auch beobachten, während sie geschieht, vor unseren Augen. Und das bedeutet, dass wir, durch die Macht experimenteller Methoden – dem Markenzeichen der Laborforschung –, den Film tatsächlich noch einmal ablaufen lassen können, um die Frage der evolutionären Vorhersagbarkeit zu klären.
Mit Experimenten lässt sich die Evolution hervorragend untersuchen. Und diese Experimente machen Spaß. Manch einer denkt dabei vielleicht an den Chemieunterricht in der Schule. Chemische Stoffe in Bechergläsern zu mischen und sie dann in Reagenzgläser zu füllen, war nicht wirklich spannend – so ging es mir. Aber wenn das Reagenzglas die Bahamas und die Zutaten Eidechsen sind, ist das etwas ganz anderes. Klar, manchmal brennt die Sonne ein bisschen stark vom Himmel, und es gibt nichts Frustrierenderes, als wenn einem eine wichtige Echse entwischt, weil man sich von einem vorbeischwimmenden Delfin ablenken lässt. Aber experimentelle Evolution bildet derzeit die Speerspitze der Evolutionsbiologie, und sie erlaubt, Theorien über Evolution in freier Natur, in Echtzeit zu überprüfen. Was könnte aufregender sein? Inzwischen werden überall auf der Welt Experimente zur Evolution durchgeführt – von den Bergregenwäldern von Trinidad über die Sandhills von Nebraska bis zu den Teichen von British Columbia –, durch die unmittelbar untersucht werden kann, ob Evolution vorhersagbar ist.
Ach, wäre ich doch wieder Doktorand! Dies ist eine tolle Zeit für Evolutionsbiologen, ein goldenes Zeitalter. Mit den verfügbaren Werkzeugen, von Genomsequenzierung bis zu Feldversuchen, können wir endlich Antworten auf die Fragen finden, die unser Fachgebiet im letzten Jahrhundert umgetrieben haben.
Ich begann mit einem Buch über die aktuelle Suche nach einer Antwort auf eine dieser Fragen: Wie vorhersagbar ist Evolution? Doch beim Schreiben wurde mir klar, dass es in diesem Buch um sehr viel mehr gehen musste als nur um das, was die Wissenschaft uns sagt. Wissenschaftliche Erkenntnis erscheint nicht aus dem Nichts; sie ist das Ergebnis langwieriger Arbeiten von Wissenschaftlern, die mit Kreativität und Verständigkeit etwas über die Natur erfahren wollen. Und die Leute, die sich mit der Vorhersagbarkeit von Evolution beschäftigen, sind ein besonders faszinierender Haufen.
Vor diesem Hintergrund wird Glücksfall Mensch nicht nur von dem handeln, was wir über Evolution wissen, sondern auch davon, wie wir wissen, was wir wissen. Damit meine ich nicht nur Technologien oder Wissenschaftstheorien, sondern auch, wie Ideen entstehen – wie Forscher auf Ideen kommen, wie diese Ideen durch Erfahrungen im Feld verfeinert werden und wie viel wissenschaftliche Erkenntnis durch die Gegenüberstellung völlig andersartiger Ideen entsteht, die durch unerwartete Beobachtungen miteinander in Einklang gebracht werden. Darüber hinaus erweisen sich scheinbar esoterische akademische Fragestellungen, die diese Forscher untersuchen, doch als wichtig für uns, um unseren eigenen Platz im Universum zu erkennen und zu verstehen, wie das Leben um uns herum mit einer sich verändernden Welt zurechtkommt. Daher ist dieses Buch eine Geschichte über Menschen und Orte, Pflanzen und Tiere, große Fragen und drängende Probleme. Und sie beginnt, wie meine Liebe zur Natur, mit Dinosauriern.
Der Trailer des Pixar-Films Arlo & Spot (Originaltitel: The Good Dinosaur) beginnt mit einem Asteroidenfeld, in dem es von übergroßen Felsbrocken wimmelt. Ein Asteroid schießt durch den Felshaufen und stößt mit einem anderen Asteroiden zusammen, der dadurch gegen einen dritten geschleudert wird, der wiederum durch den Schwung ins Weltall schießt, direkt auf ein weit entferntes Objekt zu. Er kommt dem Objekt immer näher, und schließlich erkennt man, worauf er da zusteuert: einen blauen Planeten mit grünen Flecken und weißen Wolkenfäden. Zwischen den Szenen wird im Trailer ein Text eingeblendet: »Vor Millionen Jahren starben durch einen Asteroiden alle Dinosaurier dieser Welt aus.« Man sieht, wie der Asteroid in die Erdatmosphäre eindringt und sich glühend orange verfärbt.
Was danach folgt, ist klar: Der Einschlag im Golf von Mexiko, Erdbeben auf der ganzen Welt, Wälder auf der nördlichen Halbkugel gehen in Flammen auf, Rauch verdunkelt den Himmel monatelang. Die Dinosaurier und viele weitere Lebewesen werden ausgelöscht. Ein wahrhaft trauriger Tag. Dieser Pixar-Film ist offensichtlich düsterer als die meisten anderen Produkte der Filmschmiede, eine Tragödie, die mit dem Untergang der großen Reptilien endet.
Oder doch nicht?
»Aber was wäre, wenn …« wird im Trailer gefragt, und dann ist zu sehen, wie der Asteroid eine Feuerspur durch den kreidezeitlichen Himmel zieht. Grasende Giganten – Sauropoden, Dinosaurier mit Entenschnäbeln – schauen kurz auf und widmen sich dann wieder der Aufgabe, ihre hohlen Mägen mit Grünfutter zu füllen. Der Asteroid fliegt vorbei, es ist nur ein »near miss«, ein Beinahezusammenstoß, kein tödlicher Einschlag. Das Leben geht weiter. Die paradiesischen Zeiten für Dinosaurier dauern an.
Die Antwort auf die Frage »Was wäre, wenn?« ist nun die folgende: Die Dinosaurier waren vor 66 Millionen Jahren auf dem Höhepunkt ihrer Herrschaft. Sie hatten die Erde mehr als 100 Millionen Jahre lang dominiert. Ohne den Asteroiden hätten die Dinos ihre Weltherrschaft fortgesetzt: T. rex, Triceratops, Velociraptor, Ankylosaurus– sie alle hätten überlebt. Neue Dinosaurier hätten sich entwickelt und die alten ersetzt. Die sich ewig wandelnde Dinosaurierparade wäre weitermarschiert. Aller Wahrscheinlichkeit nach würden sie heute noch die Erde bevölkern.
Wir wären dann aber wohl nicht hier. Zwar entwickelten sich die ersten Säugetiere vor etwa 225 Millionen Jahren, fast zur selben Zeit wie die Dinosaurier, aber in den ersten 160 Millionen Jahren ihrer Existenz hatten die Säugetiere nicht viel zu melden. Dafür sorgten die Dinosaurier. Unsere pelzigen Vorfahren waren nur eine unbedeutende Randerscheinung in der globalen Biosphäre, meist deutlich kleiner als der kleinste Dinosaurier. Die Ursäuger waren nachtaktiv, um den herrschenden Reptilien aus dem Weg zu gehen, und huschten auf der Suche nach Nahrung, die die Dinos übrig gelassen hatten, durchs Unterholz. Unsere Verwandten in der Kreidezeit waren einem Opossum in Aussehen und Lebensstil recht ähnlich, auch wenn sie wohl eher noch kleiner waren.
Erst nachdem der Asteroid die Dinosaurier ausgelöscht hatte, hatte das Säugetierteam eine evolutionäre Chance – und die Säuger nutzten sie, vermehrten sich rasch, bis sie die leere Ökosphäre bevölkert hatten. So wurde aus den vergangenen 66 Millionen Jahren das Zeitalter der Säugetiere. Aber all das verdanken wir jenem Asteroiden.
Wir alle – Wissenschaftler und Laien – glaubten einst, der Aufstieg der Säugetiere sei unausweichlich gewesen, wir Säugetiere seien, dank unserer großen Gehirne und unserem internen Verbrennungsmotor, der Körperwärme erzeugt, von Natur aus jenen brutalen Reptilien überlegen gewesen. Es habe eine Weile gedauert, so dachte man, aber letztendlich hätten wir die Dinosaurier verdrängt, vielleicht ihre Eier gegessen, bis sie ausgestorben wären, oder sie sonst irgendwie auf ihre Plätze verwiesen.
Das war Quatsch, wie man heute weiß. Im evolutionären Stück des Reptilienzeitalters spielten Säugetiere nur winzige Nebenrollen. Den Dinos ging es an jenem lieblichen Tag im Jahr 66 Millionen v. Chr. wunderbar, das kleine Ungeziefer zu ihren Füßen bedrohte ihre Herrschaft nicht einmal ansatzweise. Ohne den Asteroiden wäre das fröhliche Leben für sie weitergegangen, mit den Intrigen und Machenschaften der Reptilien, neue Arten hätten sich entwickelt, andere wären ausgestorben, so wie es seit Millionen von Jahren gewesen war. Es gibt kaum Anlass zur Annahme, dass wir Säugetiere aus dem Schatten hervorgetreten und zu Hauptakteuren im Ökosystem aufgestiegen wären. Die Dinosaurier waren bereits da, hatten die ökologischen Nischen besetzt und nutzten die Ressourcen – erst nach ihrem Verschwinden gab die Evolution uns die Karten in die Hand.
Ohne den Asteroiden und ohne das Massenaussterben hätte es kein evolutionäres Aufblühen der Säugetiere und somit weder Sie noch mich gegeben. Daher begeisterten mich diese ersten Szenen im Filmtrailer. Pixar hatte einen Film nur über Dinosaurier gemacht und über die Welt, wie sie gewesen wäre, wenn der Asteroid vorbeigerast wäre. Nach 45 Sekunden Vorschau wusste ich, dass der Film ein Erfolg werden würde.
Der Trailer zeigte danach einen T. rex, der eine Herde Pflanzenfresser jagt und sie in die Flucht treibt, ein wildes Durcheinander riesiger Herbivoren, langhalsiger Brontosaurier*2 und dreihörniger Triceratopse, ein typischer Tag im Mesozoikum.1 Doch dann traute ich meinen Augen kaum: Zum einen sahen einige dieser Tiere eher aus wie haarige Großhornbisons und weniger wie Ceratopse. Zum anderen aber galoppierte in der nächsten Szene ein Brontosaurier daher, dem etwas auf dem Kopf saß – ein menschliches Kind!
Wenn der Asteroid die Erde verpasst hatte, was hatten dann Säugetiere dort zu suchen? Ok, dies war ein Pixar-Film; da erwartet man ein paar künstlerische Freiheiten (Englisch sprechende Dinosaurier zum Beispiel), aber: Gibt es irgendwelche wissenschaftlichen Hinweise, die eine zeitgleiche Existenz von Brontosauriern, Bisons und einem menschlichen Baby stützten? Wenn die Dinosaurier nicht ausgelöscht worden wären, hätten sich dann trotzdem neue Säugetierarten – Bisons und vor allem wir – überhaupt entwickeln können? Dinosaurier hielten die Säugetiere damals über mehrere Millionen Jahre klein – vor allem körperlich und in ihrem Lebensraum, dem Unterholz. Wäre es irgendwie möglich gewesen, dass Säugetiere nach all der Zeit auch unter der Herrschaft der großen Reptilien den evolutionären Freiraum bekommen hätten und gediehen wären?
Der britische Paläontologe Simon Conway Morris sieht zumindest eine Möglichkeit. Dinosaurier sind Reptilien und mögen es daher heiß. Aufgrund ihrer verminderten Stoffwechselrate produzieren sie kaum Eigenwärme. Solange es draußen warm ist, stellt das kein Problem dar – die Tiere können sich an ihrer Umgebung erwärmen, falls notwendig auch noch in der Sonne zusätzliche Wärme tanken. Eine lange, weltweite Wärmephase ermöglichte die Dinosaurierdynastie. Damals herrschte in weiten Teilen der Welt tropisches Klima, es war eine günstige Zeit für Reptilien.
Doch vor etwa 34 Millionen Jahren änderte sich das Klima. Die Erde kühlte ab. Irgendwann begannen dann die Eiszeiten, Gletscher dehnten sich aus, und in weiten Teilen der Erde wurde es empfindlich frisch. Es gibt einen Grund, warum man hoch im Norden und tief im Süden heute keine Reptilien mehr findet – es ist dort schlicht zu kalt für sie. Conway Morris glaubt, dass diese globale Abkühlung den Säugetieren zum Aufschwung verholfen und ihre evolutionäre Verbreitung beschleunigt hätte, selbst wenn Dinosaurier noch existiert hätten. Die Dinos hätten sich in die tropischen Äquatorregionen zurückziehen und die höheren und mittleren Breitengrade verlassen müssen. So hätten die Säugetiere endlich eine evolutionäre Chance bekommen.
Mal angenommen, Conway Morris läge mit seinem Szenario richtig. Die Säugetiere hätten neue Arten gebildet und ökologische Nischen besetzt, die lange Zeit Dinosaurier eingenommen hatten, sie wären größer und vielfältiger geworden. Vielleicht hätte diese evolutionäre Diversifizierung dank der Eiszeit zu einem ebenso großen und facettenreichen Zeitalter der Säugetiere geführt wie das vom Asteroiden ausgelöste.
Aber wäre es dasselbe Zeitalter der Säugetiere gewesen? Hätte es Elefanten, Nashörner, Tiger und Erdferkel gegeben? Oder hätte diese alternative Welt völlig andere Tierarten hervorgebracht – uns völlig unbekannte Arten, die die Ressourcen der Welt unter sich aufgeteilt und ihre ökologischen Nischen besetzt hätten, aber ganz anders als die Wesen, die uns heute umgeben? Und: Gäbe es heute Menschen, die Babys bekommen, die dann oben auf Pixars Brontosaurier sitzen könnten?
Conway Morris beantwortet diese Frage mit einem überzeugten »Ja«. Er und andere Wissenschaftler in seinem Lager halten Evolution für deterministisch, vorhersagbar, glauben, dass sie jedes Mal denselben Bahnen folgt. Dies liege daran, dass es nur eine begrenzte Anzahl an Möglichkeiten auf der Erde gebe, um zu überleben. Für jedes Problem, vor das die Umwelt ein Lebewesen stellt, gebe es eine einzige, optimale Lösung. Dies führe dazu, dass die natürliche Selektion immer zu den gleichen evolutionären Ergebnissen führe, jedes Mal.
Als Beweis verweisen diese Wissenschaftler auf die konvergente Evolution, das Phänomen, dass Arten unabhängig voneinander ähnliche Merkmale entwickeln. Wenn es nur eine begrenzte Anzahl von Anpassungsmöglichkeiten an bestimmte Umweltbedingungen gibt, dann würde man erwarten, dass Arten, die in ähnlichen Umgebungen leben, die konvergierend gleichen Anpassungen entwickeln, und genau das geschieht auch. Es gibt einen Grund, warum Delfine und Haie sich so ähnlich sehen – sie entwickelten die gleiche Körperform, um sich auf der Jagd nach Beute schnell durchs Wasser bewegen zu können. Die Augen von Kraken und Menschen sind kaum voneinander zu unterscheiden, weil die Vorfahren von beiden sehr ähnliche Organe entwickelt haben, um Licht wahrnehmen und scharf sehen zu können. Die Liste evolutionärer Konvergenzen ist sehr lang. Conway Morris und seine Kollegen halten sie für allgegenwärtig und unvermeidbar und glauben, dass sie uns Vorhersagen darüber erlauben, wie die Evolution verlaufen wäre, wie eine spät einsetzende evolutionäre Radiation der Säugetiere ausgesehen hätte. Conway Morris kommt zu dem Schluss, dass »der Aufstieg aktiver, agiler und auf Bäumen lebender, affenartiger Säugetiere, und letztendlich einer hominiden Art, sich … ohne den Asteroideneinschlag am Ende der Kreidezeit … nur verzögert hätte, nicht aber verhindert worden wäre … sodass die Hominiden nur etwa dreißig Millionen Jahre später aufgetreten wären.«2 Pixars Vermischung von Babys und Brontos hat also solide Grundlagen.
Aber denken wir mal einen Schritt weiter: Hätte sich eine Art wie die unsere mit einer anderen Abstammungslinie entwickeln können, wenn die Säugetiere es nicht geschafft hätten, aus dem Schatten der Dinos herauszutreten? Wenn Konvergenz so unvermeidlich, der Druck hin zu einer bestimmten Lösung so unerbittlich ist, gibt es keinen Grund, den Aufstieg der Säugetiere als eine notwendige Voraussetzung anzusehen. Eine auf zwei Beinen gehende gesellschaftsbildende Art mit großem Gehirn, vorwärts gerichteten Augen und Vordergliedmaßen, mit denen man Objekte handhaben kann, hätte sich aus irgendeinem anderen Vorfahren entwickeln können. Aber aus welchem, wenn schon nicht den Säugetieren?
Um diese Frage zu beantworten, muss man das Augenmerk nur weg vom guten und hin zum bösen Dinosaurier richten, genauer zum Velociraptor, dem Bösewicht aus Jurassic Park (und in einer unerwarteten Wendung dem Helden von Jurassic World). Das sind mal intelligente Viecher! Diese gerissenen Reptilien arbeiten im Team zusammen, überlisten die erfahrenen Safarijäger und können mit ihren dreifingrigen Händen sogar Türen öffnen. Sie sind außerdem visuell orientiert und laufen auf zwei Beinen. Klingt das irgendwie vertraut?
Bis auf ein paar wenige Ausnahmen war die Darstellung des Velociraptors in Jurassic Park halbwegs korrekt.*3 Natürlich weiß niemand, wie intelligent Velociraptoren waren, aber sie hatten ein großes Gehirn, und manche Paläontologen vermuten, es könnten soziale Tiere gewesen sein, die in Gruppen lebten und gemeinsam auf die Jagd nach Löwen oder Wölfen gingen. Als alternativer Ausgangspunkt für die Evolution eines hominidähnlichen Tieres bietet sich der Velociraptor also an.
Und genau dort begann der kanadische Paläontologe Dale Russell in den frühen 1980er-Jahren.3 Er beschäftigte sich mit einem engen Verwandten des Velociraptors, einem anderen kleinen Theropoden mit dem Namen Troodon, der ebenfalls am Ende der Kreidezeit lebte. Troodon hatte von allen Dinosauriern das größte Gehirn im Verhältnis zum Körpergewicht. Das Größenverhältnis war dem eines Gürteltiers oder Perlhuhns vergleichbar. Diese Reptilien waren also keine Genies, aber sie waren auch nicht völlig blöd. Russell fiel auf, dass Tiere im Verlauf von mehreren hundert Millionen Jahren immer größere Gehirne entwickelten. Der Umstand, dass das größte Dinosauriergehirn gegen Ende ihrer Herrschaftszeit auftauchte, legt die Vermutung nahe, dass auch Dinosaurier diesem evolutionären Trend hin zu größeren Gehirnen folgten. Was wäre geschehen, fragte Russell, wenn der Asteroid sie nicht ausgelöscht hätte? Wie hätten sich die Nachfahren von Troodon entwickelt, wenn die natürliche Selektion sie zu immer größeren Gehirnen gedrängt hätte?
Russell stellte eine Reihe logischer Spekulationen darüber an, wie ein heutiger Nachkomme des Troodon aussehen würde: Das größere Gehirn hätte einen größeren Hirnschädel notwendig gemacht; ein größerer Hirnschädel führt in aller Regel zu einer kürzeren Gesichtsregion; schwere Köpfe sind leichter zu balancieren, wenn sie sich an der obersten Spitze des Körpers befinden; das spricht wiederum für eine aufrechte Haltung, was einen Schwanz als Gegengewicht unnötig macht, weil die Vorderhälfte des Körpers nicht mehr nach vorn geneigt ist. Ein paar weitere Annahmen über die optimale Struktur von Armen und Knöcheln für einen aufrechten Gang und, voilà, schon war der wenig elegant benannte »Dinosaurid« beschrieben, ein grünes, geschupptes Wesen, der einem Menschen auf unheimliche Art ähnlich sah, samt Pobacken und Fingernägeln.
Dabei war Russell gar nicht der Frage nachgegangen, wie sich ein Dinosaurier zu einem Humanoiden entwickeln könnte. Er interessierte sich vielmehr dafür, zu welchen weiteren anatomischen Veränderungen die Entwicklung eines vergrößerten Gehirns führen würde. Am Ende seines Projektes stand die Vision eines Wesens, das uns Menschen auffallend ähnelte: ein reptilischer Humanoid.
Der Dinosaurid
Russells Evolutionsprognose geht den Vorstellungen von Conway Morris, nach denen die Entstehung von menschenähnlichen Lebensformen unvermeidbar war, zwar um Jahre voraus, aber sie passt zu ihnen. Sie passt so gut, dass Conway Morris in einer Dokumentation der BBC sogar in einem Café neben einem Zeitung lesenden Dinosaurid sitzt und seinen Kaffee schlürft.4
Pixar standen also ein paar Optionen für die Handlung offen. Wenn der Asteroid aus der Kreidezeit tatsächlich die Erde verfehlt hätte, dann hätten sich, laut Conway Morris und anderen, trotzdem Menschen entwickelt oder zumindest etwas Ähnliches. Fraglich war nur, ob diese Wesen Haare gehabt hätten, also das Ergebnis einer verspäteten evolutionären Diversifikation der Säugetiere gewesen wären, oder Schuppen, als Ergebnis der natürlichen Selektion durch ein vergrößertes Dinosauriergehirn.
Kontrafaktisch zu denken, sich zu fragen, was sich ereignet haben könnte, wenn die Geschichte anders verlaufen wäre, macht Spaß. Aber die Frage, ob die Entstehung von Humanoiden unvermeidbar ist, geht über reine Spekulationen zur Geschichte der Erde hinaus.
Heute wissen wir, dass es im Universum viele Planeten gibt, auf denen Leben, so wie wir es kennen, existieren könnte. Diese »habitablen Exoplaneten« sind weder zu heiß noch zu kalt, und sie verfügen über flüssiges Oberflächenwasser. Aktuelle Forschungen legen nahe, dass es allein in der Milchstraße mehr als eine Milliarde solcher Planeten geben könnte. Der nächste ist womöglich nur vier Lichtjahre entfernt.5
Nehmen wir einmal an, auf manchen dieser Planeten hätte sich Leben entwickelt. Wie würde es aussehen? Gäbe es dort ähnliche Lebensformen wie hier bei uns? Und wie sähe es mit intelligenten Lebensformen aus, mit unserem Intelligenzniveau oder sogar höherem? Wie sehr würden sie uns gleichen, wenn überhaupt?
Wenn man den Filmen glaubt, dann sind sie uns sehr ähnlich, und manche angesehene Wissenschaftler teilen diese Meinung. »Wenn es uns je gelingt, mit intelligenten Wesen in den Weiten des Alls zu kommunizieren«, schrieb der Biologe Robert Bieri, »dann werden das keine Kugeln, Pyramiden, Würfel oder Pfannkuchen sein. Höchstwahrscheinlich werden sie uns erstaunlich ähnlich sehen.«6 David Grinspoon, Wortführer des aufstrebenden interdisziplinären Fachbereichs der Astrobiologie,*4 geht noch einen Schritt weiter: »Wenn [die Aliens] irgendwann wirklich auf dem Rasen des Weißen Hauses landen, dann wird das, was da den Landungssteg hinabgeht oder gleitet, seltsam vertraut aussehen.«7 Auch Conway Morris vertritt, wenig überraschend, diese Meinung: »Die Zwänge der Evolution und die Allgegenwart von Konvergenzen machen die Entstehung von Wesen wie uns fast unvermeidbar.«8 Doch bevor ich weiter auf die wissenschaftliche Basis dieser außerirdischen Vorhersagen eingehe, möchte ich noch einmal auf den Planeten Erde zurückkehren.
Nach Südostafrika, um genau zu sein. In den sambischen Wäldern bricht die Nacht schnell herein. Ich bin Herpetologe – ein Echsenforscher –, daher gehört die Beobachtung nachtaktiver Löwen nicht zu meinem Tagesgeschäft, aber ich war vor meiner Feldforschung in Südafrika noch nach Sambia gekommen, um ein wenig Urlaub zu machen. Löwen gewöhnen sich überraschend gut an die Anwesenheit von Fahrzeugen, sodass man sie auf der Jagd begleiten kann, und genau das taten wir.
Irgendwo rechts gab es Bewegung; ein nicht allzu großes Tier näherte sich uns, ohne zu ahnen, dass es sich auf Kollisionskurs mit einem Löwenrudel befand. Schließlich war es nahe genug, dass man erkennen konnte, was es war – ein Gewöhnliches Stachelschwein. Der gut 25 Kilogramm schwere Nager war von Kopf bis Schwanz mit bis zu 45 Zentimeter langen, spitzen Stacheln bewehrt. Die dienten natürlich der Verteidigung, waren für Situationen wie diese gedacht, aber sie sind nicht immer effektiv. Denn Löwen haben eine Gegenstrategie entwickelt: Sie schieben eine Pfote unter den Körper des Stachelschweins und drehen es um, sodass der verwundbare Bauch oben liegt. Den Rest kann man sich denken.
In einer Folge der TV-Serie Seinfeld schaut sich Jerry eine Naturdokumentation über Antilopen an; als die Löwen angreifen, schreit er: »Lauf, Antilope, lauf! Du bist doch so schnell. Flieh!« Am nächsten Abend sieht er sich einen anderen Naturfilm an, bei dem diesmal Löwen im Mittelpunkt stehen. Und als die Löwen eine Antilope angreifen, schreit er: »Schnappt euch die Antilope; fresst sie; beißt ihr den Kopf ab! Lasst sie bloß nicht davonkommen!« Doch in dieser Nacht war ich auf der Seite des Stachelschweins, obwohl wir den Löwen folgten: Lasst das kleine Tier in Ruhe und jagt etwas, das so groß ist wie ihr!
Aber natürlich tun sie das nicht. Eine Löwin ging auf das Stachelschwein zu. Der Nager drehte ihr den Rücken zu, richtete die Stacheln auf, wie eine Katze, die buckelt und sich sträubt, und dann schüttelte er die Stacheln klackernd gegeneinander.
Und das funktionierte, überraschenderweise. Die Löwin zögerte kurz, drehte sich dann um und kehrte zu ihrem Rudel zurück. Das Stachelschwein verschwand wieder in der Dunkelheit.
Spät an jenem Abend spielte ich die Ereignisse im Kopf noch einmal durch und erinnerte mich an frühere Begegnungen mit Stachelschweinen. Stachelschweinverwandte gibt es nicht nur in Afrika und Asien, sondern auch fast überall in der Neuen Welt. Die in Nordamerika einheimischen Baumstachelschweine habe ich in freier Wildbahn nur ein einziges Mal gesehen, und zwar, keine Überraschung auch hier, in einem Baum – in gut neun Metern Höhe aus einem Skilift heraus. In den Regenwäldern Costa Ricas habe ich allerdings häufig Greifstachler gesehen, auch dort vor allem in Bäumen.
Zwei Stachelschweine: Das Gewöhnliche Stachelschwein aus Afrika (links) und der nordamerikanische Baumstachler (rechts)
Zwischen diesen Arten gibt es deutliche Unterschiede. Der auffälligste Unterschied ist die Größe: Das Gewöhnliche Stachelschwein wiegt doppelt so viel wie das Gegenstück aus Nordamerika, das Baumstachelschwein, und dreißigmal so viel wie der winzige Anden-Greifstachler. Entsprechend unterschiedlich lang sind die Stacheln – 35 Zentimeter beim Gewöhnlichen Stachelschwein, zehn Zentimeter beim Baumstachelschwein und noch weniger beim Anden-Greifstachler.*5 Manche Arten haben rote Nasen, andere braune; Gewöhnliche Stachelschweine haben am Schwanz keine Stacheln. Doch die Unterschiede verblassen im Vergleich mit den Ähnlichkeiten: Allen Arten gemeinsam sind nicht nur die Stacheln, sondern auch der stämmige Körperbau mit kurzen Beinen, die kleinen Augen und die zackige Frisur. Angesichts dieser Ähnlichkeiten zweifelte ich nie daran, dass diese Stachelschweinarten alle zu einer großen, glücklichen Evolutionsfamilie gehörten, dass sie alle von demselben Urstachelschwein abstammten.
Daher war ich ziemlich überrascht, als ich erfuhr, dass ich damit falsch lag. Die Stachelschweine der Neuen und der Alten Welt sind zwar alle stachlig, aber sie haben keinen gemeinsamen Stammbaum. Die beiden Abstammungslinien verdanken ihr zackiges Aussehen nicht einem gemeinsamen, struppigen Vorfahren, sondern sie haben die Stacheln unabhängig voneinander aus unterschiedlichen, stachellosen Nagetierarten entwickelt. Sie sind das Ergebnis von konvergenter Evolution.
Konvergenzen haben in der Geschichte schon einige Forscher in die Irre geführt. Tatsächlich befinde ich mich in erhabener Gesellschaft. Charles Darwin selbst wurde bei seinem berühmten Besuch auf den Galapagosinseln davon in die Irre geführt. Dort entdeckte er die kleinen Vögel, die heute seinen Namen tragen – die Darwinfinken. Darwin erkannte jedoch nicht, dass diese Vogelarten alle eng miteinander verwandt waren, Nachkommen eines einzigen Finken-Vorfahren, der die Insel einst besiedelt hatte. Er glaubte stattdessen, die Arten stünden für vier Gruppen, die er von zu Hause kannte: Finken, Kernbeißer, Amseln und Zaunkönige.
Nach seiner Rückkehr übergab Darwin seine mitgebrachten Exemplare an den bekannten Ornithologen John Gould. Erst dann erkannte er seinen Fehler. Die Arten waren gar keine Vertreter verschiedener vertrauter Vogelfamilien, sondern gehörten zu einer einzigen Gruppe, die es nur auf den Galapagosinseln gab – Darwin hatte sich von der konvergenten Evolution täuschen lassen. Diese Offenbarung passte zu anderen Erkenntnissen, die Darwin auf seiner Reise gesammelt hatte und die alle auf dasselbe hinwiesen – die »Veränderbarkeit« der Arten. In der überarbeiteten Version des Bestsellers Die Fahrt der Beagle aus dem Jahr 1845 nahm Darwin in der Finken-Geschichte vorweg, was ein Jahrzehnt später folgen sollte: »Wenn man diese Abstufung und strukturelle Vielfalt bei einer kleinen, eng verwandten Vogelgruppe sieht, möchte man wirklich glauben, dass von einer ursprünglich geringen Zahl an Vögeln auf diesem Archipel eine Art ausgewählt und für verschiedene Zwecke modifiziert wurde.«
Darwin erkannte durchaus die weiteren Implikationen der Geschichte – dass die Finken auf den Galapagosinseln sich zu unterschiedlichen Arten auseinanderentwickelt hatten, die vertraute Arten in den entsprechenden Habitaten anderswo widerspiegelten. In Die Fahrt der Beagle sprach er die konvergente Evolution zwar noch nicht an, aber vierzehn Jahre später, in Die Entstehung der Arten, formulierte er die Vorstellung aus: »Fast auf dieselbe Weise, wie zwei Menschen manchmal dieselbe Erfindung machen, so hat auch die natürliche Selektion … zu fast denselben Modifikationen an zwei Teilen zweier unterschiedlicher Organismen geführt, die ihre Struktur nur zum kleinsten Teil der Vererbung von einem gemeinsamen Vorfahren verdanken.«
Darwin war nicht der einzige frühe Naturforscher, der darauf hereinfiel. Der Naturalist Joseph Banks, der bei Captain Cooks erster Südpazifik-Expedition mit an Bord war, schickte im Jahr 1770 aus der Botany Bay Exemplare und Zeichnungen australischer Vögel zurück nach England. Damit begann eine Flut an Material, das Siedler und Forscher in den folgenden 50 Jahren ins Mutterland sandten, um die Existenz zahlreicher neuer Arten zu belegen.
John Gould trug entscheidend dazu bei, Ordnung in diese Masse neuer Arten zu bringen. Etwa zur selben Zeit, als er mit Darwin über die Finken sprach, beschloss Gould, eine umfassende Beschreibung australischer Vogelarten zu verfassen. Er merkte schnell, dass er selbst nach Australien fahren musste, wenn er es richtig machen wollte. Er packte daher seine Sachen, ließ sich in Down Under nieder und verbrachte dort drei Jahre mit der Produktion eines sieben Bände umfassenden Mammutwerks voller Zeichnungen und Beschreibungen.
Bei Darwins Finken hatte Gould richtiggelegen, aber bei den evolutionären Verwandtschaftsverhältnissen der Vogelwelt Australiens lag er ebenso daneben. Viele australische Vögel gleichen in Aussehen und Verhalten europäischen Arten, wie Zaunkönigen, Grasmücken, Sperlingen, Schnäppern, Rotkehlchen, Kleibern und anderen. Daher ordnete Gould die neu entdeckten australischen Vögel den vertrauten Familien der nördlichen Hemisphäre zu.
Goulds Fehler ist verständlich. In den folgenden anderthalb Jahrhunderten wurden viele äußerst sachkundige Ornithologen gleichermaßen getäuscht und behandelten diese Vögel als koloniale Außenposten, das Ergebnis mehrerer Invasionswellen in Australien durch viele verschiedene Vogelarten.
Doch genetische Untersuchungen ab den 1980er-Jahren zeigten, dass viele dieser Arten in Wirklichkeit Teil einer riesigen australischen Vogelradiation sind, die sich vor Ort entwickelt hat.9 Diese australischen Vögel sind also eng miteinander verwandt; sie gehören nicht zu vielen verschiedenen Familien aus der nördlichen Hemisphäre, sondern sind mit ihnen konvergent.*6
Unerwartete Fälle von konvergenter Evolution werden auch heute noch entdeckt. Tatsächlich gibt es bei unserem Verständnis evolutionärer Verwandtschaftsverhältnisse, dank der Flut genetischer Daten, die heute über viele verschiedene Spezies zur Verfügung stehen, riesige Fortschritte, sodass wir immer bessere Einblicke in den evolutionären Stammbaum des Lebens bekommen. Als Folge davon werden immer neue Fälle aufgedeckt, in denen anatomische Ähnlichkeiten die Forscher auf falsche Fährten führten, weil wir erst jetzt erkennen, dass diese Ähnlichkeiten nicht das Ergebnis einer Abstammung von einem gemeinsamen Vorfahren sind, sondern aus unterschiedlicher Herkunft heraus entstanden.
Darwin fand eine vernünftige Erklärung für diese weite Verbreitung von konvergenter Evolution: Wenn Arten in ähnlichen Umgebungen leben und vor ähnlichen Herausforderungen für ihr Überleben stehen, dann führt die natürliche Auslese zur Ausbildung ähnlicher Merkmale. Große Pflanzensamen sind eine Nahrungsquelle für Vögel, aber sie brauchen große Schnäbel, um diese Samen aufzuknacken. Daher entwickeln sich an Orten mit vielen Pflanzensamen Vögel mit großen Schnäbeln. Wenn überdimensionalen Nagetieren Gefahr durch Großkatzen droht, entwickeln sie Stacheln zur Verteidigung, egal, ob es sich bei diesen Großkatzen um Löwen in Afrika oder um Pumas auf dem amerikanischen Kontinent handelt.
In den letzten beiden Jahrzehnten übertrugen Biologen diese Sichtweise auch auf den Kosmos. Hier, auf der Erde, stehen Arten weltweit und zu allen Zeiten vor denselben Herausforderungen und entwickeln dieselben Lösungen. Diese Wissenschaftler argumentieren, auch Lebensformen auf erdähnlichen Planeten stünden vor denselben physischen Herausforderungen, die hier auftreten, und dies führe daher zu denselben biologischen Lösungen. Der Paläontologe George McGhee von der Rutgers-Universität meint, es gebe nur einen Körperbau für schnell schwimmende Wasserorganismen, und deswegen ähnelten sich Delfine, Haie, Thunfische und Ichthyosaurier (ein ausgestorbenes Meeresreptil aus dem Dinosaurierzeitalter).
McGhee geht noch einen Schritt weiter: »Wenn es in den Ozeanen des Jupitermondes Europa große, schnell schwimmende Organismen gibt, die unter dem ewigen Eis leben, das ihre Welt bedeckt, dann bin ich sicher, dass sie stromlinienförmige, fusiforme Körper haben …, die stark jenen von Schweinswalen, Ichthyosauriern, Schwertfischen oder Haien ähneln.«10 Dasselbe sagt auch Conway Morris: »Sicherlich wird es nicht auf jedem erdähnlichen Planeten Leben geben, schon gar keine Humanoiden. Aber eine hoch entwickelte Pflanze wird einer Blume sehr ähnlich sehen. Auch für Fliegen gibt es nur wenige mögliche Bauarten. Wenn man schwimmen will wie ein Hai, schafft man das nur auf wenige Arten. Für Warmblüter, wie Vögel und Säugetiere, gibt es auch nur wenige Möglichkeiten.«11
Hai (oben), Ichthyosaurier (Mitte), Delfin (unten)
Nicht alle teilen diese Ansicht – und ließen sich dabei von Filmen inspirieren.
In der entscheidenden Szene des Filmklassikers Ist das Leben nicht schön? von 1946 ist der verzweifelte George Bailey (gespielt von Jimmy Stewart) überzeugt, dass sein Leben ein Fehlschlag war, und er wünscht sich, er wäre nie geboren worden. Sein Schutzengel, Clarence Odbody, zeigt George daraufhin, wie anders – und wie viel schlechter – das Leben in Bedford Falls verlaufen wäre, hätte George nie existiert: Sein Bruder wäre tot, seine Freunde und seine Familie unglücklich, obdachlos oder im Irrenhaus, ein Schiff voller Soldaten wäre gesunken, die ganze Stadt wäre eine Lasterhöhle. George erkennt, dass sein Leben wertvoll ist, und gibt seine Selbstmordpläne auf. Anschließend wird er von den Stadtbewohnern gerettet, zum Dank für seine guten Taten.
Das American Film Institute ernannte Ist das Leben nicht schön? (Originaltitel: It’s a Wonderful Life) im Jahr 2006 zum inspirierendsten Film aller Zeiten. Auch der berühmte Paläontologe und Evolutionsbiologe Stephen Jay Gould ließ sich von dem Film anregen, wenn auch auf andere Weise als die meisten. Er sah darin eine Parabel für die Evolutionsgeschichte des Lebens und bezog sich sogar im Originaltitel seines Buches Wonderful Life (deutscher Titel: Zufall Mensch) auf den Filmklassiker. Im Buch betont Gould die Bedeutung von Kontingenz für die Evolution. Seiner Meinung nach bestimmt die genaue Abfolge von Ereignissen den Lauf der Geschichte: A führt zu B, B zu C, C zu D und so weiter. Wenn man in einer historisch kontingenten Welt A verändert, kommt man nicht zu D. Wenn George Bailey nie geboren wird, verläuft die Geschichte von Bedford Falls anders.
Gould schreibt, das Leben sei voller George-Bailey-Ereignisse – manche mit größeren Auswirkungen als andere –, von denen alle dem Leben eine andere Richtung geben könnten. Blitzeinschläge, umstürzende Bäume, Asteroideneinschläge, sogar die zufällige Auswahl, welche genetischen Varianten eine Mutter an ihre Tochter weitervererbt – jedes dieser Ereignisse könnte einen Unterschied ausmachen, der sich auf alle weiteren Zeitalter auswirkt. Wie Bedford Falls ohne George Bailey, schrieb Gould, hätte das »nochmalige, in einer scheinbar unbedeutenden Einzelheit veränderte Abspielen des Bandes, … ein … Ergebnis ganz anderer Art hervorgebracht«.12
Diese Sichtweise hat weitreichende Auswirkungen auf unser Verständnis der Vielfalt des Lebens. Wenn die Evolution von Kontingenz bestimmt wird, dann kann es keine Vorhersagbarkeit geben, keinen Determinismus nach Conway Morris. Das Endergebnis ist so stark von Zufällen beeinflusst, dass man unmöglich am Anfang vorhersagen kann, was am Ende geschieht. Wenn man noch einmal von vorn beginnt, könnte man zu einem völlig anderen Ergebnis gelangen. Gould kam zu dem entscheidenden Schluss: »Wenn Sie das Band [des Lebens] millionenmal … ablaufen lassen, bezweifle ich, dass sich nochmals so etwas wie ein Homo sapiens entwickeln würde.«13
Goulds elegante und überzeugende Argumentation spricht uns alle an. Jeder dachte doch schon einmal voller Reue: »Wenn ich X nicht getan hätte, dann wäre Y nicht passiert.« Wobei X für ein kleineres (ein falsch ausgesprochener Name) oder größeres Ereignis (ein Drink zu viel) stehen kann und Y etwas ist, von dem man sich wünscht, es wäre nie geschehen.
Das Argument mag vernünftig klingen, aber welche Beweise gibt es dafür? Es gibt nur eine einzige Geschichte des Lebens. Wie kann man überprüfen, ob die Evolution wiederholbar ist? Gould schlug dazu ein Gedankenexperiment vor: Man solle das Band des Lebens mit denselben Anfangsbedingungen noch einmal ablaufen lassen, um zu sehen, ob es zum selben Ende kommt. Derartige Gedankenexperimente haben eine lange Tradition in Wissenschaft und Philosophie. Dieses eine wurde mehrfach aufgegriffen und erwies sich als besonders fruchtbar.
Conway Morris und Kollegen widersprechen natürlich Goulds Grundannahme und sagen, das Endergebnis müsse sich nicht grundsätzlich ändern, wenn ein frühes Ereignis anders eintritt. Sie behaupten, die Allgegenwart konvergenter Evolution beweise, wie wenig Einfluss Kontingenzen haben, dass es in vielen Fällen zu mehr oder weniger demselben Ergebnis kommt, unabhängig von der historischen Abfolge der Ereignisse.
Als GouldZufall Mensch schrieb, waren Konvergenz und evolutionärer Determinismus noch kein Thema. Doch in einem Schriftwechsel mit Conway Morris, der neun Jahre später veröffentlicht wurde, gab Gould den Deterministen eine Antwort: Die Bedeutung von Konvergenz werde »überschätzt«, sagte er und verwies auf Australien als Beweisstück A.14
Kehren wir noch einmal zu Captain Cooks Expedition zu den Antipoden zurück. Eines der ersten Tiere, denen die Expedition begegnete, war das Känguru, der größte einheimische Pflanzenfresser im heutigen Australien. Kängurus erfüllen dort dieselbe Funktion wie Rotwild, Bisons und unzählige andere Herbivoren im Rest der Welt. Dennoch hatten Kängurus keine konvergente Entwicklung im Vergleich zu diesen anderen Pflanzenfressern durchgemacht, wie Gould (Stephen Jay, nicht John) bemerkte – jedes Kleinkind erkennt, dass Kängurus sich von Rotwild deutlich unterscheiden.
Und dann gibt es da noch den Koala, diesen liebenswerten, bärenartigen Baumbewohner, der es im Leben langsam angehen lässt und zwanzig Stunden am Tag schläft, während sein Körper die Eukalyptusblätter entgiftet, die seine Hauptnahrung ausmachen (und die sein Fell nach Menthol riechen lassen). Auf der ganzen Welt gibt es kein vergleichbares Tier, und es gibt auch keine Fossilienfunde, die belegen würden, dass es je existiert hat.*715
Der wahre König unter den evolutionären Unikaten ist allerdings ein anderes Tier: Giftstachel an den Knöcheln; opulentes Fell; Elektrorezeptoren an der Schnauze, mit denen es elektrische Entladungen in den Muskeln seiner Beute aufspüren kann; kräftiger flacher Schwanz; Schwimmflossen; Eier legend; entenartiger Schnabel. Das großartigste Tier der Welt, das Schnabeltier, ist ein Mischmasch aus Teilen aller möglichen anderen Tiere. Ein so verwirrendes Lebewesen, dass Forscher bei den ersten Exemplaren, die gegen Ende des 18. Jahrhunderts von Sydney über den Indischen Ozean nach England verschifft wurden, stundenlang vergeblich nach Nähten suchten, an denen chinesische Händler diesen Betrug zusammengeschustert haben mussten.
Das Schnabeltier
Dieses Beispiel stammt aus Australien, aber evolutionäre Unikate kommen überall vor. Giraffen, Elefanten, Pinguine, Chamäleons – alle diese Arten sind perfekt an ihre speziellen ökologischen Nischen angepasst. Evolutionäre Kopien dieser Arten gibt es nicht und gab es auch nie. (Hinweis: »Evolutionäres Unikat« muss nicht unbedingt eine einzelne Art bezeichnen. Zum Beispiel gibt es drei lebende Elefantenarten, und in der Vergangenheit gab es noch viele weitere, Mastodons und Mammuts etwa. Doch alle diese Elefantenarten stammen von einem einzigen Urelefanten ab. Deswegen gelten Elefanten als evolutionär einzigartig – die Lebensweise der Rüsseltiere entwickelte sich nur ein einziges Mal.)
Konvergente Evolution ist ein wissenschaftliches Phänomen, und eigentlich sollte man erwarten, dass die Wissenschaft inzwischen zu sagen vermag, warum sie so allgegenwärtig ist. Doch leider ist es gar nicht so einfach herauszufinden, was in der Vergangenheit geschehen ist. An den Hochschulen wird wissenschaftliche Methodik gelehrt: wie Beobachtungen zur Formulierung einer Hypothese führen, die dann mit einem entscheidenden Experiment im Labor überprüft wird. So ließe sich mit einfachen Worten zusammenfassen, wie mechanistisch orientierte Wissenschaften funktionieren – also jene Wissenschaften, die untersuchen, wie etwas funktioniert, eine Zelle oder ein Atom etwa. Sie glauben, ein bestimmtes Gen spiele für das Auftreten eines bestimmten Merkmals eine wichtige Rolle? Dann deaktivieren Sie das Gen mithilfe molekularbiologischer Magie und warten ab, ob das Merkmal immer noch auftritt.
Aber Evolutionsbiologie ist eine historische Wissenschaft. Wir Evolutionsbiologen wollen herausfinden, was sich in der Vergangenheit ereignet hat, genau wie Astronomen und Geologen. Und wie Historikern erschwert auch uns die Asymmetrie des Zeitstrahls die Arbeit – wir können nicht in der Zeit zurückreisen, um zu sehen, was damals vor sich ging. Darüber hinaus ist Evolution auch ein berüchtigt langsamer Vorgang, sodass es nahezu unmöglich erscheint, ihn zu beobachten.
Stephen Jay Goulds erdachte ein Experiment, das wir gerne durchführen würden: Man lässt die Evolution immer wieder ablaufen und überprüft, wie stark das Ergebnis durch verschiedene experimentelle Störungen beeinflussbar ist. Doch derartige Ideen heißen nicht umsonst Gedankenexperimente – sie sind in der Realität nicht durchführbar. Oder zumindest glaubte man das lange.
Doch es stellte sich heraus, dass Darwin und alle Biologen des folgenden Jahrhunderts sich in einem entscheidenden Punkt irrten: Evolution ereignet sich nicht immer im Schneckentempo. Wenn der natürliche Selektionsdruck hoch ist – etwa, wenn sich die Bedingungen ändern –, dann kann die Evolution Lichtgeschwindigkeit erreichen. (Die Geschichte, wie wir herausfanden, dass Evolution genauso Hase wie Igel sein kann, erzähle ich in Kapitel vier.)
Die schnelle Evolution ermöglicht uns mehr, als nur zu beobachten, ob und wie eine Art reagiert. Heute entwickeln Forscher eigene Evolutionsexperimente, die Darwin in Staunen versetzt hätten. Sie verändern die Bedingungen kontrolliert und statistisch basiert. Wir können evolutionäre Abläufe draußen in der Natur bei echten Populationen beobachten. Forscher stecken helle und dunkle Mäuse in 2000 Quadratmeter große Käfige in den Sanddünen von Nebraska, setzen Guppys in Trinidad von Flüssen mit Fressfeinden in Flüsse ohne Raubfische um und verfrachten Gespenstschrecken (lange grüne oder braune Verwandte der Gottesanbeterinnen, die aussehen wie kleine Zweige) von einem Habitat in ein anderes.
Einige dieser Experimente habe ich selbst durchgeführt, ich überprüfte die Hypothese, warum manche kleine Eidechsen auf den Bahamas kurze Beine entwickelt haben und manche lange. Ich weiß, wie sich das anhören muss, aber meine Kollegen und ich sind bereit, für die Wissenschaft Opfer zu bringen. Es ist schmutzige Arbeit, draußen auf einer wunderschönen, windgepeitschten Insel mitten im Ozean zu sitzen, aber einer muss sie machen, und das waren eben wir. In Kapitel sechs erzähle ich genauer davon. Jetzt verrate ich nur, dass man sehr schnell sieht, wie sich eine Eidechsenpopulation entwickelt, wenn man Jahr für Jahr auf die Bahamas zurückkehrt und die Beine von Tausenden Eidechsen mit einem mobilen Röntgengerät vermisst. Vor allem aber entwickeln sich die Populationen auf diesen Inseln schnell und in vorhersagbare Richtungen, wenn man die Lebensbedingungen der Eidechsen experimentell verändert und sehr schnell dafür sorgt, dass die Tiere ihr Habitat anders nutzen.
Evolutionsexperimente in der Natur stehen erst ganz am Anfang, aber im Labor arbeiten Wissenschaftler schon seit Jahrzehnten so. Bei diesen Untersuchungen wird der Realismus der freien Wildbahn durch die Hyperpräzision des Labors ersetzt, die äußerste Kontrolle über die Bedingungen erlaubt, denen die sich entwickelnden Populationen unterliegen. Darüber hinaus erlauben kurze Lebenszeiten von Labororganismen, vor allem von Mikroben, Langzeitstudien, die mehrere Generationen umfassen und der Evolution mehr Gelegenheiten bieten, sich auszuwirken.
Ich vergleiche Evolutionsbiologie oft mit der Arbeit eines Detektivs. Ein Verbrechen wurde begangen – oder in diesem Fall hat sich etwas entwickelt –, und wir wollen wissen, was geschah. Mit einer Zeitmaschine würden wir zurückreisen und es uns selbst ansehen. Weil das nicht möglich ist, und eben auch nicht, die Anfangsbedingungen herzustellen und noch einmal in Gang zu setzen (mit einer wichtigen Ausnahme, auf die ich in Kapitel neun eingehen werde), stehen wir mit einer Handvoll Hinweisen da und müssen, wie Sherlock Holmes, die Lösung selbst rekonstruieren, so gut wir können. Zur Verfügung stehen uns dafür die Muster der Evolutionsgeschichte, die heute lebenden Arten und die Fossilien des Lebens, wie es in der Vergangenheit existiert hat. So können wir nachvollziehen, in welchem Umfang die Evolution mehrfach das gleiche Ergebnis hervorgebracht hat. Und wir können die Evolutionsprozesse untersuchen, die heute ablaufen. Mithilfe dieser Experimente lässt sich feststellen, wie wiederholbar und vorhersagbar Evolution ist: Kommt man immer zum gleichen Endergebnis, wenn man am gleichen Punkt beginnt? Und wenn man unterschiedliche Anfangsvoraussetzungen hat, aber auf dieselbe Weise selektiert, wird man dann zum gleichen Ergebnis konvergieren? Wir können zwar das Band des Lebens nicht noch einmal von vorn ablaufen lassen, aber wir können die Muster und Prozesse der Evolution untersuchen. Wissenschaftler fügen diese Erkenntnisse zusammen und gelangen so zu einem immer besseren Verständnis der Wiederholbarkeit von Evolution.
In diesem Buch geht es darum, in welchem Umfang sich das Leben wiederholt, in welchem Umfang verschiedene Arten ähnliche Anpassungen als Reaktion auf ähnliche Umweltbedingungen entwickeln. Oder etwas vornehmer ausgedrückt: Es geht um Determinismus, darum, ob natürliche Selektion unausweichlich die gleichen evolutionären Ergebnisse hervorbringt oder ob bestimmte Ereignisse in einer Abstammungsgeschichte – die Zufälle der Geschichte – das Endergebnis beeinflussen.
Gleichzeitig geht es darum, wie Wissenschaftler sich mit diesen Themen beschäftigen, wie sie in den abgelegensten Ecken der Welt Werkzeuge entwickeln, um die evolutionären Ursprünge des Lebens zu verstehen. Und es geht um die Entwicklung der Wissenschaft selbst, wie neue Theorien und Forschungsprogramme entstehen, um diese Theorien zu überprüfen. Besondere Aufmerksamkeit werde ich neu aufkommenden experimentellen Methoden in der Evolutionsforschung widmen, einem Ansatz, der mehr als ein Jahrhundert lang nach Darwin undenkbar war.
Dieses Buch steckt voller Wissenschaftler und ihren Forschungen, in sterilen Laboren und in der Wildnis, aber das Thema ist nicht nur von akademischem Interesse. Evolution ereignet sich heute noch überall, und sie hat größere Auswirkungen, als uns nur Antworten auf alte Fragen zu liefern. Besonders zu erwähnen sind hierbei die direkten evolutionären Kämpfe, die zwischen uns Menschen und unseren Kommensalen ausgefochten werden. Auf der einen Seite wehrt sich die Natur gegen unsere Bemühungen, sie unter unsere Kontrolle zu bringen. Manche Arten betrachten wir als Ungeziefer, weil sie die Frechheit besitzen, Ressourcen zu verbrauchen, die wir für uns selbst reservieren wollen. Unkraut, das in unseren Feldern wuchert, Ratten, die unser Getreide fressen, Insekten, die unsere Ernten zerstören. Wir setzen ein ganzes Arsenal chemischer – und zunehmend genetischer – Waffen ein, um sie unter Kontrolle zu bringen, aber sie entwickeln rasch neue Abwehrmethoden.
Manchmal sind auch die mehr als sieben Milliarden Menschen selbst die Ressource, die genutzt wird. Malaria, HIV, Hantaviren, Virusgrippe – für Mikroorganismen sind unsere Körper nur eine Beute unter vielen, und sie sind im Vorteil, weil sie sich immer weiterentwickeln. Wir bekämpfen sie, wie das Ungeziefer in der Landwirtschaft, mit Chemikalien, gegen die sie rasch Resistenzen entwickeln.
Hier wird die Debatte zwischen Determinismus und Kontingenz persönlich. Wenn wir nicht nur vorhersagen können, wie schnell die Evolution voranschreitet, sondern auch, welche Formen sie annehmen wird, dann können wir daraus ein Grundsatzprinzip ableiten und so effektiver auf neue Entwicklungen reagieren. Aber wenn jeder Fall von schneller Evolution von den zufallsbestimmten, genauen Umständen abhängt, dann müssen wir bei jedem neuen Unkraut, jedem Ungeziefer und jeder Krankheit wieder ganz neu herausfinden, wie unser evolutionärer Gegner sich anpasst und was wir dagegen unternehmen können.
Doch die Debatte über Kontingenz versus Determinismus beeinflusst uns noch auf eine weitere, weniger greifbare Weise. Menschen unterliegen konvergenter Evolution ebenso wie alle anderen Spezies. Dass wir als Erwachsene Milch trinken können, ist eine unter Tieren einzigartige Fähigkeit, die natürlich erst relevant wurde, als wir vor ein paar tausend Jahren anfingen, Nutztiere zu halten; seither hat sie sich in verschiedenen pastoralen Gesellschaften weltweit konvergent entwickelt. Auch die Hautfarbe, die in der Geschichte der Menschheit eine so große Rolle spielt, ist das Ergebnis konvergenter Evolution, ebenso wie die Fähigkeit, in großer Höhe überleben zu können, und viele andere Merkmale.
Die menschliche Art selbst ist nicht konvergent. Wir sind einzigartig, haben keinen evolutionären Zwilling. Sagt unser Verständnis des evolutionären Determinismus irgendetwas darüber aus, wie wir uns entwickelt haben oder warum? Hätte es uns nicht gegeben, hätte dann eine andere Abstammungslinie unseren Platz eingenommen und wären diese anderen uns ähnlich gewesen? So ähnlich, dass einer von ihnen dieses Buch geschrieben hätte, wenn auch vielleicht mit schuppigen, dreifingrigen Händen? Und wenn nicht hier, dann vielleicht auf den Jupitermonden oder auf xh3-9?
Aber ein Schritt nach dem anderen. Zunächst möchte ich wieder zur Erde zurückkehren und herausfinden, wie verbreitet die konvergente Evolution auf unserem eigenen Planeten ist.
Stellen Sie sich einen Wal vor, der durchs Meer schwimmt: ein stromlinienförmiger Körper, Schwimmflossen, eine kleine Finne auf dem Rücken, ein auf und ab wogender Schwanz. Angesichts dieses fischähnlichen Erscheinungsbilds kann man es den alten Griechen kaum verdenken, dass sie Wale für eine Fischart hielten. Diese Vorstellung hielt sich jahrtausendelang, bis Carl Linnæus vor 250 Jahren klarstellte, dass sie falsch war. Er erkannte an bestimmten Merkmalen dieser riesigen Meerestiere, vor allem daran, dass sie lebenden Nachwuchs gebären und Milchdrüsen haben, dass sie Säugetiere sind.*8 Die Griechen ließen sich von einer konvergenten Evolution täuschen.
Seit den prälinnæschen Forschern sind wir weit gekommen. Wir wissen jedenfalls viel mehr über Evolution und haben dank unseres besseren Verständnisses der Anatomie und der evolutionären Beziehungen zwischen Spezies schon unzählige Fälle von konvergenter Evolution entdeckt. Doch unsere Liste ist noch lange nicht vollständig. Bei der Auswertung der ständig neuen Daten aus der Molekularbiologie stellen wir immer wieder fest, dass wir uns, wie einst die Griechen, getäuscht haben, dass Spezies, deren Ähnlichkeiten wir für das Erbe eines gemeinsamen Vorfahren hielten, stattdessen unabhängig voneinander die gleichen Merkmale entwickelten.
Das zeigen zwei neuere Beispiele. Seeschlangen gehören in mancher Hinsicht zu den gefährlichsten Schlangen. Das Gift einiger Arten ist Tropfen für Tropfen genauso tödlich wie das anderer Giftschlangen. Doch zum Glück beißen die meisten Seeschlangen selten, selbst wenn sie berührt werden. Das gilt allerdings nicht für die Schnabel-Seeschlange(Enhydrina schistosa), die sich aggressiv verteidigt und 90 Prozent der weltweit verzeichneten menschlichen Todesopfer von Seeschlangen zu verantworten hat. Ihren Namen verdankt sie ihrer schmalen Schnauze, die über den Unterkiefer hinausragt. Die Spezies kann regional sehr häufig vorkommen, und ihr riesiges Verbreitungsgebiet reicht vom Persischen Golf bis nach Sri Lanka und Südostasien und hinunter nach Australien und Neuguinea. Damit gehört sie zu den am weitesten verbreiteten Schlangenarten der Welt.
Das dachte man jedenfalls. 2013 berichtete ein Team von Wissenschaftlern aus Sri Lanka, Indonesien und Australien,1 sie hätten bei genetischen Standardvergleichen zwischen Populationen der Spezies ein absolut ungewöhnliches Ergebnis erhalten. Obwohl die anatomischen Unterschiede zwischen den Populationen im ganzen Verbreitungsgebiet der Spezies gering waren, waren die genetischen Unterschiede beträchtlich. Und nicht nur das. Die australischen Populationen der australischen Schnabel-Seeschlange waren anderen australischen Seeschlangenarten genetisch ähnlicher als den asiatischen Populationen ihrer eigenen Art. Und die Populationen von asiatischen Schnabel-Seeschlangen waren gleichfalls mit anderen asiatischen Seeschlangenarten am engsten verwandt. Mit anderen Worten, es gibt nicht nur eine Spezies von Schnabel-Seeschlangen, sondern zwei. Und die typischen Merkmale der Spezies – nicht nur ihr »Schnabel«, ihre Färbung und ihr allgemeines Erscheinungsbild, sondern auch ihre Aggressivität – haben sich konvergent entwickelt, sodass entfernte Verwandte von der anderen Seite des Indischen Ozeans für Exemplare derselben Spezies gehalten wurden.
Für alle, die noch nie eine Seeschlange gesehen haben, folgt jetzt ein alltäglicheres Beispiel. Als Jugendlicher war ich geistig und körperlich ziemlich unschuldig. Ich war spät dran, was den Genuss von Stimulanzien und Sinnesfreuden betraf. Als junger Erwachsener war ich eines Tages bei einer Freundin zu Besuch, die mir Tee anbot. Ich war kein Teetrinker, aber ich wollte weltgewandt und sympathisch wirken, deshalb nahm ich das Angebot an. Bald begann ich, mich seltsam zu fühlen. Mein Körper kribbelte, meine Hände zitterten, und mein Herz raste. Ich überlegte mir, ob das eine Herzattacke sein könnte, aber dann sagte ich mir, dass ich dafür zu jung war, außerdem putschten Herzanfälle einen wohl kaum so auf. Ich kann mich nicht mehr genau erinnern, wie ich, um Gelassenheit bemüht, meine Gastgeberin fragte, was ich da trank. Sicher gab ich beiläufig zu, dass ich mich ein bisschen sonderbar fühlte, aber sie erklärte mir schnell, dass das eine besonders belebende Teesorte war, die damals Red Bull am nächsten kam. Heute komme ich morgens mit einer Tasse Kaffee auf Touren, aber nach vier Uhr nachmittags meide ich den Muntermacher strikt. Wenn ich zu einer späteren Tageszeit Kaffee trinke, liege ich die ganze Nacht wach.
Vielleicht ist es bei Ihnen anders, aber mir scheint, dass es zum Leben gehört, dieselben Lektionen ständig neu zu lernen. So wälzte ich mich kürzlich im brasilianischen Pantanal nachts schlaflos im Bett herum, obwohl ich einen harten Tag hinter mir und eine schwere Mahlzeit im Magen hatte. »Warum kann ich bloß nicht schlafen?«, fragte ich mich, während mein Geist von einem Gedanken zum nächsten raste. Dann kam mir ein Verdacht. Dieses unbekannte fruchtige Erfrischungsgetränk beim Abendessen. Ich hatte Durst gehabt und zwei große Gläser davon getrunken. Es war kohlensäurehaltig und schmeckte ein bisschen nach Apfelsaft.
Eine kurze Suche im Internet ergab, dass diese Limonade Guaraná Antarctica heißt und aus der Guaraná-Pflanze hergestellt wird. Das ist eine großblättrige Kletterpflanze aus der Familie der Seifenbaumgewächse, die aus dem Regenwald des Amazonasbeckens stammt. Und raten Sie mal, was Guaraná-Samen in großen Mengen enthalten. Dieselbe Verbindung, die in Kaffee und Tee, Cola und Mountain Dew und der Schokolade in Hostess Ding Dongs enthalten ist. Ein Purinalkaloid, chemische Bezeichnung: 1,3,7-Trimethylpurine-2,6-dione, Molekülformel: C8H10N4O2.
Koffein.
Ich kannte zwar viele Koffeinlieferanten (wie Cola, Tee, Energydrinks), doch ich hatte nie weiter darüber nachgedacht, wo das Koffein selbst eigentlich herkommt. Kaffee und Tee macht man aus den gleichnamigen Pflanzen, Cola-Limonaden (zumindest ursprünglich) aus der Nuss des Kolabaumes, Schokolade aus Kakao und Guaraná Antarctica aus den Samen der Guaraná-Pflanze (die doppelt so viel Koffein enthalten wie Kaffeebohnen). All diese Pflanzen produzieren Koffein. Und zwar nicht verschiedene Sorten, sondern genau das gleiche Molekül. Koffein ist Koffein, egal, wo es herkommt. Ein Molekül, viele Quellen.
Als Evolutionsbiologe hätte ich mich eigentlich neugierig fragen müssen, ob die vielen verschiedenen Pflanzen, die Koffein produzieren, eng miteinander verwandt sind oder ob die Koffeinproduktion sich mehrmals konvergent entwickelte, aber ich war wohl nicht geistesgegenwärtig genug, um auf diesen Gedanken zu kommen.
Zum Glück beschlossen ein paar wissbegierigere Botaniker, genau dieser Frage nachzugehen. In einer 2014 veröffentlichten Arbeit2 zeigte ein internationales Forscherteam mit genetischen Daten auf, dass sich die Koffeinproduktion in diesen Pflanzen unabhängig entwickelte. Der erste Teil ihres zweiteiligen Ansatzes war ein DNA-Vergleich vieler Pflanzenarten, um einen evolutionären Stammbaum der Beziehungen zwischen den Koffein produzierenden Pflanzen zu erstellen. Sie konzentrierten sich auf drei Pflanzen: Kaffee, Tee und Kakao. Solche evolutionären Stammbäume – der Fachbegriff für sie ist Phylogenien