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Wollen Sie Ihre Katze wirklich verstehen? Dann lernen Sie ihre Vorfahren kennen!
Ihre Fans wird es nicht überraschen: Die Katze zählt nicht nur zu den beliebtesten Haustieren– sie hat sich seit ihren Ursprüngen in Afrika auch zu einer der erfolgreichsten Spezies auf dem Planeten entwickelt. Jonathan B. Losos, vielfach ausgezeichneter Evolutionsbiologe und begeisterter Katzenbesitzer, erläutert unterhaltsam, was die Wissenschaft über Herkunft und Verhalten der Hauskatze weiß. Neben Genomforschung, GPS-Tracking und forensischer Archäologie stützt er sich dabei auch auf Beobachtungen aus dem eigenen Alltag. Das Ergebnis: eine originelle Evolutionsgeschichte der Katze, die komplexe Naturwissenschaft mit all den Fragen verbindet, die jeder Katzenhaushalt kennt, wenn wieder einmal ein toter Vogel auf dem Kopfkissen liegt.
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Seitenzahl: 604
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Wollen Sie Ihre Katze wirklich verstehen? Dann lernen Sie ihre Vorfahren kennen!Ihre Fans wird es nicht überraschen: Die Katze zählt nicht nur zu den beliebtesten Haustieren— sie hat sich seit ihren Ursprüngen in Afrika auch zu einer der erfolgreichsten Spezies auf dem Planeten entwickelt. Jonathan B. Losos, vielfach ausgezeichneter Evolutionsbiologe und begeisterter Katzenbesitzer, erläutert unterhaltsam, was die Wissenschaft über Herkunft und Verhalten der Hauskatze weiß. Neben Genomforschung, GPS-Tracking und forensischer Archäologie stützt er sich dabei auch auf Beobachtungen aus dem eigenen Alltag. Das Ergebnis: eine originelle Evolutionsgeschichte der Katze, die komplexe Naturwissenschaft mit all den Fragen verbindet, die jeder Katzenhaushalt kennt, wenn wieder einmal ein toter Vogel auf dem Kopfkissen liegt.
Jonathan B. Losos
Von der Savanne aufs Sofa
Eine Evolutionsgeschichte der Katze
Aus dem Englischen von Hainer Kober
Mit Illustrationen von David J. Tuss
Hanser
Für meinen verstorbenen Vater, Joseph Losos, dem ich meine Liebe zu Katzen und so viel mehr verdanke
1
Es sei ein Glück, dass Katzen nicht so groß wie Hunde sind, heißt es in einem alten Witz, sonst würden sie ihre Besitzer fressen. Als Wissenschaftler, der zugleich ein großer Katzenliebhaber ist, habe ich zunächst gelacht, dann aber überlegt: »Wie kann ich diese These erforschen?« Leider hat selbst die Wissenschaft ihre Grenzen. Bis wir in der Lage sind, 35 Kilo schwere Hauskatzen zu züchten, werden wir keine gültige Antwort bekommen.
Damit soll nicht gesagt sein, dass die Wissenschaft gar nichts zu dieser Frage zu sagen hätte. Eine Forschungsarbeit aus dem Jahr 2014 fand ein großes Medienecho, als sie zu der Schlussfolgerung kam: »Katzen würden Sie umbringen, wenn sie größer wären«, so der Orlando Sentinel in seiner Schlagzeile. USA Today entsorgte die Feinheiten und erklärte: »Ihre Katze möchte Sie vielleicht umbringen.«
In Wahrheit stand nichts dergleichen in dem Forschungsbericht, sondern die Forscher hatten bei fünf Katzenarten, die sich in der Größe von der Hauskatze bis zum afrikanischen Löwen erstreckten, Eigenschaften wie Aggressivität und Umgänglichkeit untereinander verglichen. Die erste Schlussfolgerung lautete, dass es bezogen auf die Persönlichkeit — unabhängig von der Größe — kaum Unterschiede zwischen Katzen gibt. Tierpfleger haben mir das Gleiche erzählt: Versteht man Ausdruck und Körperhaltung seiner Katze, erkennt man auch, was ein Löwe oder Tiger denkt. Die Forscherinnen haben nicht behauptet, Hauskatzen würden, wären sie so groß wie Löwen, überlegen, ob Sie sich zur Abendmahlzeit eignen — dieser Schluss stammt von den Journalisten und Bloggern.*1*2
Unabhängig von ihrer Bedeutung für menschenfressende Miezen offenbart die Forschungsarbeit eine wichtige Tatsache: In vielerlei Hinsicht ist eine Katze eine Katze, egal, wie groß sie ist. Dieses Ergebnis wird niemanden überraschen, der stundenlang Internetvideos geschaut hat, in denen Tiger hinter Laserpunkten herjagen, Leoparden in Pappschachteln springen und Löwen sich in Katzenminze wälzen.
Warum unsere Hausfreunde ein wenig anders sind als ihre wild lebenden Verwandten, wurde mir vor Augen geführt, als ich vor einigen Jahren mit meiner Frau Melissa eine Reise nach Südafrika unternahm. Als wir nachts unweit des Krüger-Nationalparks umherfuhren, sahen wir oft schlanke sandfarbene Katzen, schwach getupft oder gestreift, die einen Augenblick im Licht der Scheinwerfer verharrten, bevor sie wieder in der Dunkelheit verschwanden.
Die ersten sahen wir relativ nahe an der Wild-Lodge, in der wir wohnten. Aufgrund ihrer Größe und ihres Erscheinungsbilds nahm ich an, es handle sich um Haustiere oder sie gehörten einem Mitarbeiter der Lodge, der sie hielt, um die Nager zu verjagen. Auf jeden Fall schien es sich um Hauskatzen zu handeln, die einen Streifzug in die afrikanische Wildnis unternahmen. Das kann nicht gut gehen, dachte ich, bei all den größeren Raubtieren, die sich hier herumtreiben, aber das ist ihre Sache, nicht meine. Daher schenkte ich diesen kleinen Rumtreibern keine besondere Aufmerksamkeit und war auch nicht enttäuscht, wenn sie schnell wieder im Busch verschwanden — wenn ich sie im Lager wiedersah, wollte ich sie ein bisschen streicheln.
Eine Falbkatze.
Doch eines Tages begegneten wir einer dieser Katzen kilometerweit von der Lodge entfernt, und mir wurde klar, dass sie niemandes Hauskatze sein konnte. Und sie war es tatsächlich nicht, sondern eine Afrikanische Wildkatze oder Falbkatze (Felis lybica), die Art, von der Hauskatzen abstammen (in Kapitel sechs werden wir erörtern, woher wir das wissen).*3 Die genauere Betrachtung offenbarte charakteristische Merkmale: Beine, die länger sind als die der meisten Hauskatzen, und eine auffällige schwarze Schwanzspitze. Doch sähen Sie eine von Ihrem Küchenfenster aus, wäre Ihr erster Gedanke »Sieh da, was für eine schöne Katze in unserem Garten«, nicht: »Was hat diese Afrikanische Wildkatze nach New Jersey verschlagen?«
Auch im Verhalten unterscheiden sich die meisten Hauskatzen nur wenig von ihren Vorfahren. Gewiss, sie sind freundlicher — oder zumindest duldsamer — gegenüber Menschen und manchmal geselliger im Umgang miteinander, doch in anderen Hinsichten — Jagen, Fellpflege, Schlafen und allgemeiner Habitus — verhalten sie sich genau wie Wildkatzen. Tatsächlich belegt der Umstand, wie leicht ausgesetzte Katzen verwildern und wieder in ihre tief verwurzelten, ursprünglichen Verhaltensweisen verfallen, dass es mit der Evolution der Hauskatze nicht so weit her ist.
Aus diesem Grund bezeichnet man Hauskatzen gemeinhin als »kaum domestiziert« oder »halb domestiziert«. Domestizierung ist der Prozess, in dem sich Tiere und Pflanzen durch ihre Interaktion mit den Menschen in einer Weise verändern, die uns nutzt.*4 Mit »verändern« meine ich dabei, dass sie genetischen Modifikationen unterworfen waren, die sie in Verhalten, Physiologie und Anatomie von ihren Vorfahren unterscheiden.*5
Im Gegensatz zu Katzen gibt es bei »vollständig domestizierten« Arten tief reichende Unterschiede zu ihren wild lebenden Vorfahren. Betrachten wir das Hausschwein. Groß, dick, rosa, Ringelschwanz, Schlappohren, sehr spärliche Behaarung. Sus domestica ist der Inbegriff des domestizierten Tiers, eine vom Menschen geformte Tierart, erheblich verändert gegenüber dem ursprünglichen Wildschwein (Sus scrofa), damit es unseren Bedürfnissen und Wünschen entspricht. Oder nehmen wir die Kühe; himmelweit sind sie von den wild lebenden majestätischen Rindern entfernt, die ihre Vorfahren waren. In Jahrtausenden haben wir sie durch selektive Züchtung in Fleisch und Milch produzierende Maschinen verwandelt.*6 Durch eine ähnliche Selektion hat man Nahrungspflanzen wie Mais und Weizen gezogen, die nur noch wenig mit ihren wild lebenden Urahnen gemein haben.
Nicht so die Hauskatzen. Man werfe einen Blick unter den Lack — die Unterschiede in Haarlänge, Farbe und Textur —, und schon kann man die meisten Hauskatzen und Wildkatzen kaum noch auseinanderhalten. Die vielen großen Unterschiede in Anatomie, Physiologie und Verhalten, die die überwiegende Zahl domestizierter Arten von ihren Vorfahren unterscheidet, gibt es bei Katzen nicht.
Neuere Genomstudien bestätigen diese Ansicht. Während die Hunde in vielen Genen von Wölfen abweichen, sind es bei domestizierten Katzen und Wildkatzen nur eine Handvoll. Katzen sind in Wahrheit kaum domestiziert.
Doch diese Feststellung ist mit einer Einschränkung zu versehen. Eine kleine Minderheit von Katzen sind Mitglieder bestimmter Rassen (der Rest wird zusammengefasst zur Kategorie »domestizierte Kurz- und Langhaarkatzen«, eine höfliche Umschreibung für »Mischlinge«*7). Eine Rasse ist eine Gruppe von Individuen, die eine Reihe charakteristischer Merkmale gemeinsam haben und sich durch sie von anderen Mitgliedern der Art unterscheiden. Die Besonderheit der Rasse wird gewahrt, indem man die Mitglieder einer Rasse Generation für Generation nur miteinander paart. Das verankert die Gene für diese Merkmale fest in der ganzen Rasse.*8
Katzenrassen variieren in ihrer Unterschiedlichkeit. Einige Rassen weichen nur ein wenig vom Standardmodell ab und sehen wie typische Hauskatzen aus, höchstens dass das Fell ein wenig gelockt ist oder die Ohren etwas hängen.
Doch viele Katzenrassen sind in Gestalt und Verhalten ganz anders als ihre Vorfahren. Begegneten Sie einem Mitglied dieser Rassen auf der afrikanischen Savanne, würden Sie sie nie für eine Afrikanische Wildkatze halten.
Tatsächlich unterscheiden sich einige Rassen nicht nur erheblich von einer normalen Hauskatze, sondern auch von anderen Mitgliedern der Felidae (der wissenschaftliche Name für die Katzenfamilie, die alles umfasst, von Hauskatzen und Ozelots bis zu Löwen und Tigern). Mit anderen Worten, selektive Züchtung hat Katzen hervorgebracht, die kaum noch eine Ähnlichkeit mit den Ergebnissen einer Jahrmillionen währenden Evolution haben.
Damit haben wir ein Katzenrätsel. Die meisten Miezen haben sich gegenüber ihrer ursprünglichen Form kaum verändert, doch eine Minderheit hat sich ganz anders entwickelt. Wie kann sich die Katzenevolution gleichzeitig in einem langsamen und einem schnellen Gang bewegen? Offensichtlich ist Felis catus — die Hauskatze — kein monolithisches Ganzes, das sich als Einheit entwickelt. Ganz im Gegenteil, es gibt vielfältige Katzenreiche, und diese Reiche sind der Evolution unterschiedlich unterworfen.
Um den Grund zu verstehen, müssen wir bedenken, wie viele verschiedene Kategorien von Katzen es in unserer Umgebung gibt. Einerseits sind da die Hauskatzen, die unterteilt sind in Tiere, die Mitglieder bestimmter Rassen sind, und diejenigen, die es nicht sind. Andererseits gibt es die herrenlosen Katzen, die sich auch in zwei Gruppen unterteilen lassen: Katzen, die ganz auf sich gestellt sind, und Katzen, die von Menschen (wenigstens bis zu einem gewissen Grad) gefüttert und versorgt werden.*9
Die Möglichkeit, dass verschiedene Katzengruppen sich verschieden entwickeln, gibt Anlass, nach der Zukunft zu fragen. Erleben wir die Entstehung der Arten, jetzt, da die Katzen die Savanne gegen menschliche Umgebungen eingetauscht haben? Erleben wir, wie die Hauskatze sich in vielfältige Entwicklungslinien aufteilt, wobei jede ihren eigenen evolutionären Weg geht?
Um uns mit diesen Fragen auseinanderzusetzen, wollen wir betrachten, welche Arten von Selektion auf die Gruppen einwirken, wobei wir mit Katzen beginnen, die bestimmten Rassen angehören. Charles Darwin erkannte, dass die Art und Weise, wie Züchter zu Werke gehen, dem Geschehen in der Natur entspricht: Individuen mit bestimmten Merkmalen überleben und pflanzen sich in höherem Maße fort als Individuen ohne diese Merkmale. Sind die Merkmale genetisch bedingt — das heißt, haben die Individuen mit den Merkmalen andere Genversionen als Individuen ohne die Merkmale —, dann werden diese Versionen der Gene und die Merkmale, die sie hervorbringen, in der nächsten Generation häufiger auftreten. Setzt sich das über mehrere Generationen fort, kann es zu erheblichen Veränderungen führen. Auf diese Weise entwickeln sich Arten durch natürliche Selektion in freier Wildbahn. Der gleiche Prozess — die künstliche Selektion durch den Menschen — liegt der Entwicklung und Veredelung neuer Rassen zugrunde.*10
Wir wollen uns die Erörterung der Frage, warum Züchter sich dazu entscheiden, bestimmte Merkmale zu favorisieren, und warum sie sich überhaupt die Mühe machen, neue Arten zu entwickeln, für später aufheben. Hier interessiert uns nur, dass die Züchtung von Rassen ein evolutionärer Prozess ist, der Pflanzen und Tiere mit vollkommen neuen Merkmalen oder neuen Kombinationen von bereits existierenden Merkmalen hervorbringt. Da die Mitglieder einer Rasse die Gene besitzen, die für diese Merkmale verantwortlich sind, bewahrt eine Rasse ihre Besonderheit von einer Generation zur nächsten. Das ist der Grund, warum Züchter vom »Stammbaum« eines bestimmten Individuums sprechen — er beweist, dass ein Individuum auf etliche Generationen von Vorfahren zurückblickt, die ebenfalls dieser Rasse angehörten. Es ist also davon auszugehen, dass das Individuum die besonderen Merkmale der Rasse besitzt (infolgedessen werde ich Katzen, die Mitglieder einer Rasse sind, als reinrassig bezeichnen).
Doch die meisten Katzen, die ein menschliches Zuhause haben, gehören keiner Rasse an (ungefähr fünfundachtzig Prozent aller Hauskatzen in den Vereinigten Staaten gegenüber fünfzig Prozent, oder weniger, aller Hunde). Das sind die Katzen, die Sie in den meisten Häusern und Wohnungen antreffen oder in Tierhandlungen und Tierheimen sehen. Entweder sind sie genetische Kombinationen mehrerer Rassen oder — sehr viel häufiger — Katzen ohne irgendwelche Rassen in ihrem Stammbaum. Als Gruppe haben sie keine andere charakteristische Eigenschaft als die, dass sie Hauskatzen sind. Wenn Sie mir sagen, dass Sie eine Kurzhaar-Hauskatze haben, weiß ich über das Tier lediglich, dass es eine Katze mit kurzen Haaren ist. Sagen Sie mir hingegen, dass sie Mitglied einer bestimmten Rasse ist — etwa eine Singapura —, habe ich sofort eine Vorstellung im Kopf, die mir mitteilt, wie Ihre Katze aussieht, und vielleicht auch, wie sie sich verhält.
Für unseren Zusammenhang ist entscheidend, dass die Mehrheit — über neunzig Prozent — der mit Menschen lebenden Hauskatzen in den Vereinigten Staaten kastriert sind und daher ihre Gene nicht an die nächste Generation weitergeben. Sie befinden sich in einer evolutionären Sackgasse. Die Katzen, die bei uns zu Hause leben, stammen von den Afrikanischen Wildkatzen ab, aber die meisten von ihnen haben keinen Einfluss auf die Zukunft der Art.
Meistens findet die Fortpflanzung von Mischlingskatzen außerhalb des Hauses statt, in kleinen Gassen, Wäldern und Scheunen, unserer Kontrolle entzogen. Die Katzen entscheiden selbst, wer sich fortpflanzt und wer nicht. Dort findet keine künstliche Selektion statt. Wir bestimmen nicht, wer darf und wer nicht, daher gibt es keine Selektion für Merkmale, die wir bevorzugen würden.
Einige Katzen leben ganz auf sich gestellt, von den Menschen getrennt und unabhängig. Sie haben eine ganz ähnliche Lebensweise wie ihre Vorfahren, die Wildkatzen, und wir können davon ausgehen, dass die natürliche Selektion sie in dem bestärken wird, was sie sind, in den Merkmalen, die die Wildkatzen über Jahrmillionen erfolgreich gemacht haben.*11
Viele streunende Katzen leben jedoch in der Nachbarschaft des Menschen. Häufig interagieren sie mit uns und werden von uns gefüttert. Für diese Katzen können wir uns eine Mischung von selektiven Drücken vorstellen, die auf der einen Seite die Merkmale der ursprünglichen Wildkatze beim Überleben außerhalb des Hauses favorisieren, aber auf der anderen Seit Merkmale verstärken, die sich günstig auf das Leben in unserem Umfeld und den Umgang mit uns auswirken.
Natürlich wäre es noch besser, wenn wir, statt uns vorstellen zu müssen, wie die natürliche Selektion auf diese Katzen einwirkt, auf wissenschaftliche Daten zurückgreifen könnten. Später wird sich zeigen, dass es überraschend wenige Forschungsarbeiten gibt, die die Frage aufgreifen, wie sich die natürliche Selektion auf diese Katzen auswirkt. Es ist höchste Zeit für eine Veränderung.
Dies ist also die Unterteilung der modernen Katzenwelt, ein Entwicklungsstrang erstreckt sich in neues evolutionäres Gebiet und bringt Geschöpfe hervor, die die Welt noch nicht gesehen hat und die sich eines Tages vielleicht als vollständig domestiziert erweisen werden. Auf der anderen Seite unterscheidet sich die Lebensweise vieler Katzen noch nicht sonderlich von der ihrer Vorfahren in der Natur, sie setzen sich mit den Elementen auseinander, interagieren mit anderen Arten, wirken auf Ökosysteme ein. Da sie ihr Liebesleben selbst bestimmen, entscheiden sie allein über ihre evolutionäre Zukunft und bleiben erwartungsgemäß dem erprobten Wildkatzen-Muster treu. Ein dritter Entwicklungsstrang weicht den Unterschied zwischen den beiden Gruppen auf — herrenlose Katzen, die sich den schwierigen Lebensverhältnissen draußen anpassen, aber uns gleichzeitig als Nahrungsquelle nutzen.
Im vorliegenden Buch geht es um die Frage, wie die Katzen an diese evolutionäre Weggabelung gekommen sind. Wir untersuchen, wie die natürliche und künstliche Selektion im Laufe der letzten Jahrtausende die moderne Katze herausgebildet hat und diesen Prozess heute noch fortsetzt; wie die Katzen sich ihrerseits mit ihrer Umwelt auseinandersetzen; und welche Zukunft Felis catus wohl erwartet.
Alles schön und gut, aber wie bin ich, ein Evolutionsbiologe, der sich auf die Anpassung von Eidechsen an ihre Umwelt spezialisiert hat, dazu gekommen, dieses Buch zu schreiben? Ich will gestehen, dass ich Katzen liebe, seit mich meine Mutter als Fünfjährigen zum Tierschutzverein von Missouri mitnahm und mich eine siamesische Katze adoptieren ließ, um meinen Vater zum Geburtstag zu überraschen. Ich weiß noch, wie ich versuchte, Tammy hinter meinen dünnen Knabenbeinen zu verstecken, als er von der Arbeit kam und in die Küche ging, aber ihr Miauen verdarb die ganze Überraschung. Seither bin ich verrückt nach Katzen jeder Art.
Doch als ich Evolutionsbiologe wurde, kam mir nie in den Sinn, über Katzen zu forschen. Ihre sprichwörtliche Geheimniskrämerei war wenig verlockend für einen jungen Wissenschaftler, der Tiere in ihrem natürlichen Lebensraum beobachten wollte. Eidechsen erschienen so viel geeigneter: reichlich vorhanden, mühelos zu finden und leicht im Umgang, im Feld wie im Labor. Ich entschied mich für Eidechsen und habe es nie bereut.
Während ich meinem Beruf nachging, widmete ich Katzen wenig wissenschaftliches Interesse, obwohl ich sie streichelte, wann immer es möglich war. Ich hatte den Eindruck, dass nicht viel über Katzen geforscht wurde, und die wenigen Untersuchungen, die vorlagen, waren nicht sehr interessant.
Was sich als falsch erwies. Vor einigen Jahren erfuhr ich, dass die Forschung an Hauskatzen alle Methoden verwendete, die meine Kollegen und ich bei Untersuchungen über Eidechsen, Löwen, Elefanten und andere wild lebende Arten verwendeten. Von Katzenkameras über GPS-Ortung bis hin zur Genomsequenzierung war alles vertreten. Ich war überrascht und beeindruckt. Wer hätte gedacht, dass sich so viele Wissenschaftler für Katzen interessieren, und vor allem, dass sie so viel über die Biologie unserer kleinen Freunde herausgefunden haben?
Und dann hatte ich, wie ich in aller Bescheidenheit behaupten möchte, eine tolle Idee. Ich beschloss, einen Anfängerkurs über Katzenforschung zu halten. Auf diese Weise wollte ich die Studenten für das Thema Katzen erwärmen und ihnen dann, wenn ihr Interesse geweckt war, eine Fülle von Information über neueste Forschungsmethoden, Evolution und Genetik vermitteln — während ich sie noch immer in dem Glauben wiegte, sie erführen etwas über Katzen.
Es klappte wunderbar. Zwölf fabelhafte Harvard-Erstsemester schrieben sich für meinen Kurs ein. Wir hörten einen Gastvortrag von einem Ägyptologen über antike Katzen, besuchten eine Katzen-Show auf Cape Cod, schauten uns Katzenporträts im Fogg Art Museum an und fütterten streunende Katzen im Morgengrauen hinter brettervernagelten Häusern in Südboston. Natürlich lernten wir eine Menge über Katzen, und ganz nebenbei erfuhren die Studenten, wie moderne Biologen Biodiversität erforschen.
Doch es passierte auch etwas Unerwartetes. Obwohl ich die Katzen eigentlich nur als Mittel benutzte, um den Studenten die Grundlagen der Wissenschaft zu vermitteln, verfiel ich selbst dem Zauber der Wissenschaft von den Katzen.
Besonders fasziniert war ich von der Vielfalt moderner Katzenrassen. Großteils hatte meine Katzenforschung sich mit der Frage beschäftigt, wie über Tausende und Millionen von Jahren eine einzige Gründerart eine große Zahl von nachfolgenden Arten hervorbringen kann, wobei jede in ihrer physischen Gestalt und ihrem Verhalten darauf spezialisiert ist, einen anderen Teil der Umwelt zu nutzen (der Fachbegriff für dieses Phänomen ist »adaptive Radiation«). Im Vergleich dazu ist die Vielfalt der Katzen, die sich in Jahrzehnten statt in Jahrtausenden herausgebildet hat, ganz enorm.
In der Novemberausgabe 1938 des National Geographic stand ein Artikel über Katzen mit Fotos von Perser- und Siamkatzen, die sich nicht sehr voneinander unterschieden. Das gilt mit Sicherheit nicht für die heutigen Rassen. Nur fünfundachtzig Jahre später haben sich die Siamkatzen von normal aussehenden Katzen mit etwas eckigen Köpfen zu außerordentlich länglichen, schlanken, geschmeidigen Tieren entwickelt, deren Köpfe wie Speerspitzen geformt sind. Es sieht aus, als hätte jemand eine Siamkatze des Jahrs 1938 gepackt und ihre Nase von den Augen weg weit nach vorne gezogen. Perserkatzen haben sich in die entgegengesetzte Richtung verändert, sodass kurze, untersetzte Tiere fast ohne Nase entstanden. Mit anderen Worten, in nur wenigen Jahrzehnten haben Züchter die Anatomie dieser Katzen so verändert, dass sich Katzen entwickelt haben, die voneinander außerordentlich verschieden sind und auch sonst keinen Katzen ähneln, die jemals gelebt haben. Oder betrachten wir die kurzbeinige Munchkin-Rasse. Fänden Paläontologen Katzen mit solcher Anatomie, ordneten sie sie wahrscheinlich nicht unter Felis catus ein, sondern ganz woanders.
Katzen sind also ein wunderbares Beispiel für evolutionäre Diversifikation — eine Diversifikation, die sich extrem rasch vollzogen hat und ein lohnender Gegenstand für die wissenschaftliche Forschung ist. Als mir das klar wurde, habe ich meinen Hauptberuf als Eidechsenforscher zwar nicht an den Nagel gehängt, aber studiere nun auch Katzen und versuche herauszufinden, wie ihre Evolution verlaufen ist und weiterhin verläuft und was sie uns über den Evolutionsprozess im Allgemeinen verraten können.
Katzenforscher leiden unter heftigem Neid auf Hunde. Und das aus gutem Grund: Hunde sind die Lieblingstiere von Laborforscherinnen und von den Journalisten, die über diese Forschung berichten. Will man der New York Times Glauben schenken, liegt die Hundeforschung an der vordersten Front der modernen Wissenschaft, während die Katzenforschung noch im Mittelalter steckt. Tatsächlich hat die Hundeforschung wichtige Fortschritte auf einigen Gebieten erzielt, etwa der Genetik. Doch Katzenstudien waren, auch wenn sie ein geringeres Medienecho finden, genauso ergiebig, nicht nur in vielen Bereichen, in denen Hundestudien durchgeführt wurden, sondern auch auf Gebieten, die von den Hundeforschern nicht berücksichtigt wurden. In vielerlei Hinsicht erleben wir ein goldenes Zeitalter für das wissenschaftliche Verständnis unserer geliebten Haustiere. Den Wundern der modernen Technik ist es zu verdanken, dass viele Rätsel, die die Katze aufgibt, dank einer neuen Generation von ailurologischen*12 Forscherinnen gelöst wird.
Die Ergebnisse dieser Forschung liefern das Material für dieses Buch. Um moderne Katzen zu verstehen, müssen wir ihre Herkunft kennen, wissen, wer ihre Vorfahren waren, wie sie sich verändert haben und warum das so war. Archäologie, Genetik, Verhaltensbeobachtungen und Audio-Spektrum-Analyse sind nur einige der Forschungsmethoden, mit deren Hilfe wir herausfinden können, wie die evolutionäre Entwicklung der Katzen während der letzten zehntausend Jahre verlaufen ist. Wir werden auch betrachten, welche Hightech-Geräte Forscher verwenden, um zu beobachten, wie Katzen mit ihrer Umwelt interagieren — was sie tun, wenn sie zur Hintertür hinausgehen und schnurstracks irgendwelche unbekannten Ziele ansteuern. Der Zustand der Umwelt ist ein fester Bestandteil solcher Betrachtungen, und wir werden darauf zu sprechen kommen, welche Auswirkungen Katzen auf andere Tierarten haben und was für einen Handlungsbedarf es dort gibt. Zum Schluss werden wir uns Gedanken über die Zukunft der Katzen machen: was vor ihnen liegt und welche Möglichkeiten sich ihnen bieten.
Im vorliegenden Buch werden wir auch festhalten, was wir nicht über Katzen wissen. Natürlich herrscht kein Mangel an Information infolge der unzähligen Bücher, Webseiten und Zeitschriften, die uns über alles unterrichten, was unsere Miezen betrifft. Doch als Wissenschaftler bin ich häufig frustriert; es ist manchmal schwer, zwischen Fakt und Fiktion zu unterscheiden. Ist die Ägyptische Mau wirklich eine wenig veränderte Nachfahrin der Pharaonenkatzen? Und verraten uns die Namen der Perser-, Abessinier-, Siam- und Balinesenkatzen tatsächlich ihre Ursprungsorte?*13
Häufig wundere ich mich auch darüber, was für evolutionäre Erklärungen Katzenflüsterer für die verrückten Dinge finden, die Katzen manchmal tun. Legt Ihnen Bella wirklich tote Mäuse aufs Kopfkissen, um Ihre Jagdfähigkeit zu verbessern, und keckern Katzen am Fenster tatsächlich, weil der Anblick von Vögeln bei Katzen die gleichen schnellen Kieferbewegungen auslöst, mit denen sie ihre Beute erledigen? Und warum sucht sich Herr Schnurrhaar Ihren Bauch aus, um auf der Stelle zu trampeln? Zwar ist es niedlich und lästig zugleich, aber warum macht er das? Es ist leicht, sich evolutionäre Ad-hoc-Geschichten auszudenken, um zu erklären, warum bestimmte Arten bestimmte Merkmale besitzen. Doch die wissenschaftliche Überprüfung solcher Ideen ist häufig sehr viel schwerer. Aus diesem Grund müssen wir nicht nur berücksichtigen, was wir über die evolutionäre Reise der Katze wissen, sondern auch, was wir noch zu entdecken haben und welche Fragen die Wissenschaft möglicherweise überhaupt nicht beantworten kann.
Natürlich kommen in der Geschichte der Katzenevolution nicht nur Katzen, sondern auch Menschen vor. Wie wir sehen werden, war unsere Rolle über Tausende von Jahren absichtslos; Katzen trafen die Entscheidung, entwickelten sich aus eigenen Stücken zu Tieren, die in unserer Umgebung lebten. Doch in den letzten fünfzehn Jahrhunderten kehrte sich das Ganze um. In vielerlei Hinsicht haben wir die Entwicklung der Katzen — zumindest eines Teils von ihnen — in ganz neue Richtungen gelenkt. Wir werden untersuchen, wie und warum Katzenliebhaber neue Rassen züchten und inwieweit die Wissenschaft uns sagen kann, was dabei passiert.
Das Züchten und Kaufen von Katzen sorgt in manchen Kreisen für erhebliche Kritik. Wir werden uns mit dieser Kritik beschäftigen, die teilweise durchaus berechtigt ist. Gleichzeitig werden wir uns fragen, ob selektives Züchten nicht die Möglichkeit bietet, Katzen zu entwickeln, die sich besser dazu eignen, als domestizierte Tiere in unserer modernen Welt zu leben.
Die Katzen werden natürlich den Mittelpunkt dieses Buchs bilden. Um sie zu verstehen, werden wir die Orte aufsuchen, an denen sie leben und an denen sie studiert werden — von vorstädtischen Schlafzimmern über wissenschaftliche Laboratorien und Urlaubsinseln bis hin zum australischen Outback. Dort werden wir die Menschen kennenlernen, die in dieser Katzenwelt zu Hause sind — die Forscher und Züchterinnen, bei denen es aus dem einen oder anderen Grund dazu gekommen ist, dass sich ihr Leben vor allem um Katzen dreht.
Menschen entwickeln starke Gefühle für Katzen, daher kann die Entscheidung, wie man sie bezeichnen will, heikel sein. Es kann nicht sehr strittig sein, eine Katze als »Heimtier« zu bezeichnen. Aber wie nennen wir die menschliche Seite der Beziehung? Es gibt ja den hübschen Satz: »Hunde haben Besitzer, Katzen Angestellte.« Auf einer weniger scherzhaften Ebene halten viele Menschen ihre kätzischen Gefährten eher für Freunde oder Familienmitglieder als für Besitztümer. »Katzenbesitzer« oder »Katzenhalter« ist in vielen Kreisen verpönt.
Immer häufiger wird als Alternative »Katzeneltern« verwendet. Obwohl ich verstehe, warum einigen Menschen diese Bezeichnung zusagt,*14 werde ich sie hier nicht verwenden, weil ich Wert auf die Feststellung lege, dass Katzen weder Mini-Löwen noch Mini-Menschen sind. Sie sind Katzen!
»Freund«, »Gefährte« und viele andere Wörter werden verwendet. Nach meiner Ansicht ist an all diesen Bezeichnungen etwas Wahres dran, aber keine ist perfekt. Ich werde die verschiedenen Ausdrücke austauschbar verwenden.
Wert lege ich auf die Feststellung, dass Katzen keine Dinge sind. Sie sind lebendige, fühlende Geschöpfe, und als solche sollten wir sie behandeln.
Außerdem stellt sich die Frage, welchen Namen wir der Art geben. Wissenschaftlich erfüllt natürlich Felis catus diesen Zweck, aber wie sieht es im alltäglichen Sprachgebrauch aus? In meiner Kindheit sprach man von Hauskatzen. Doch manche Leute regen sich über diese Bezeichnung auf. Nachdem ich in einem Artikel für die Website vom National Geographic das Wort »Hauskatze« (housecat) benutzt hatte, erhielt ich einen hochmütigen Brief, der mich darüber in Kenntnis setzte, dass die Bezeichnung nur Katzen vorbehalten sei, die nie nach draußen gingen.*15 Dem Verfasser des Briefs — und seinen pedantischen Mitstreitern — sei ihre Meinung unbenommen, aber tatsächlich wird die Bezeichnung allgemein auf alle Mitglieder von Felis catus angewendet, unabhängig von ihrem Aufenthalt.
Wir könnten auch einfach von »Katzen« sprechen und tun es meist. Allerdings verwenden wir diesen Begriff auch, um alle Mitglieder der Katzenfamilie zu bezeichnen, von den Löwen bis zu den Luchsen (warum Hunde ihre eigene Bezeichnung haben, unabhängig von den anderen Mitgliedern der Familie Canidae, ist eine interessante Frage, der ich allerdings nicht nachgehen werde).
Meine Lösung? Ich werde alle beide Bezeichnungen austauschbar verwenden. Von »Katzen« spreche ich, wenn klar ist, wovon die Rede ist, wenn aber die Gefahr der Verwechslung mit anderen Mitgliedern der Katzenfamilie besteht, werde ich sie »Hauskatze« nennen.
Schließlich gibt es noch eine Vielzahl von Bezeichnungen, mit denen man Katzen unterschiedlicher Lebensweise bezeichnet. Da teilweise sehr feine Unterschiede für diese Unmengen von Kategorien verantwortlich sind, werde ich, wenn es eine Unterscheidung zu treffen gilt, von Haushaltskatzen und von »herrenlosen« Katzen sprechen, wohl wissend, dass es eine Grauzone zwischen ihnen gibt. Bei den herrenlosen Katzen unterscheiden wir zwei Kategorien: die »Kolonie-Katzen«, die in großen Gruppen leben und von Menschen gefüttert werden. Die »verwilderten« Katzen dagegen leben gewöhnlich allein und auf sich gestellt, das heißt, sie werden nicht von Menschen gefüttert und versorgt. Auch die Grenze zwischen verwilderten Katzen und Kolonie-Katzen ist verschwommen. Der Unterschied zwischen »streunenden« und »verwilderten« Katzen wird häufig darin gesehen, dass Streuner durch frühere Interaktionen mit Menschen an diese sozialisiert sind und unsere Gegenwart nicht fürchten. Aber wenn Katzen längere Zeit streunen, können sie ihre Sozialisierung verlieren und verwildern.
Genug der Terminologie! Die meisten Bücher über Katzen beginnen mit dem alten Ägypten und berichten, wie es kam, dass die Afrikanische Wildkatze zu den Menschen kam, unter Menschen heimisch und von ihnen domestiziert wurde, erst als Mäusefänger, dann als Haustier und schließlich als Gott. Es ist eine großartige Geschichte, und wir werden auch noch zu ihr kommen. Doch ich möchte anders beginnen und mich zunächst mit den heutigen Katzen beschäftigen.
Wie schon erwähnt, haben sich die meisten Katzen nur wenig gegenüber ihren Vorfahren verändert, das heißt aber nicht, dass sie keinem evolutionären Wandel unterworfen gewesen wären. Zunächst werden wir die wenigen Veränderungen betrachten, die bei Mischlingskatzen festzustellen sind — das »Semi« in ihrer Domestizierung. Für viele Arten ist der erste Schritt des Domestizierungsprozesses eine Veränderung von Verhalten und Temperament. Daher wollen wir zunächst die Verhaltensveränderungen betrachten, die Felis catus nach der Trennung von der Entwicklungslinie der Afrikanischen Wildkatze im Zuge der weiteren Evolution ausgebildet hat.
2
Ein vertrautes Geräusch für jeden, der jemals mit einer Katze zusammengelebt hat, und auch für die meisten anderen Menschen. Das Miauen ist das charakteristischste Merkmal der Katzen, der Inbegriff der Kätzischen. Aber was versuchen Katzen zu sagen, wenn sie miauen, und wem wollen sie es eigentlich sagen? Wenn sie dabei mit uns sprechen, folgt dann daraus, dass das Miauen einer Hauskatze ein Merkmal ist, das sich während der Domestizierung entwickelt hat?
Ich nahm immer an, dass Katzen sich durch Miauen untereinander verständigen und dass sie uns einfach in ihren erweiterten Kommunikationskreis aufgenommen haben. Doch die Katzenexpertinnen sehen das anders. Schauen Sie sich einfach einen wissenschaftlichen Übersichtsartikel zur Katzenkommunikation an, und Sie werden lesen, dass ausgewachsene Katzen, wenn sie miteinander agieren, selten miauen (obwohl sie andere Laute verwenden, besonders in unfreundlichen Interaktionen).
Doch diese wissenschaftlichen Artikel haben eine komische Eigenheit. Wenn Forscher in einem Artikel Aussagen machen, verweisen sie auf andere Artikel, in denen Belege für diese Aussage stehen (es sei denn, sie interpretieren ihre eigenen, in diesem Aufsatz veröffentlichten Daten). Wenn Sie sich nun all die Artikel anschauen, in denen steht, dass Katzen nicht untereinander miauen, stellen Sie fest, dass sie sich alle auf eine einzige Studie beziehen.
Es sieht also ganz so aus, als stammten alle Untersuchungsergebnisse, die besagen, dass Katzen sich nur selten gegenseitig anmiauen, aus einer Studie an kastrierten englischen Kolonie-Katzen, die im Freien lebten. Ich habe keinen Grund, diese Ergebnisse infrage zu stellen — ich kann mich nicht erinnern, dass meine Katzen jemals untereinander miaut haben (im Gegensatz zu gelegentlichem Zischen oder Knurren).
Trotzdem frage ich mich, ob es zulässig ist, von einer im Freien lebenden Katzenkolonie auf alle Katzen zu schließen, die bei uns zu Hause leben. Der Idee folgend, überlegte ich, Katzen welcher Rasse sich denn am ehesten miteinander unterhalten würden. Und dann fiel es mir ein: Sicherlich wären es die Siamkatzen, die Plaudertaschen der Katzenwelt, die bekannt dafür sind, dass sie ununterbrochen plappern. Aber machen sie das auch untereinander?
Da ich weder die Zeit noch das Geld hatte, um eine richtige wissenschaftliche Studie durchzuführen, wählte ich die zweitbeste Möglichkeit: eine informelle Umfrage auf Facebook. In der privaten Gruppe postete ich: »Siamkatzen sind bekannt dafür, dass sie mit ihren Menschen sprechen. Aber miauen Ihre Katzen auch untereinander?«
Die Ergebnisse waren uneinheitlich: achtundzwanzig von einundvierzig Teilnehmerinnen (achtundsechzig Prozent) gaben an, ihre Siams miauten andere Katzen an. Einige der Befragten, die die Frage verneint hatten, sagten, ihre Katzen gäben andere Laute von sich, die wie leises Zirpen klängen, miauten aber nicht.
Konnten all die Siam-Aficionados, die die Frage bejahten, eine andere Art der Vokalisation als Miauen missverstanden haben? Oder war es denkbar, dass sie — da sie nicht in der Verhaltensbeobachtung von Tieren geschult waren — sich irrten, wenn sie meinten, Jasmins Miauen sei an Mimi gerichtet?
Vielleicht. Aber andererseits verbringen Menschen viel Zeit mit ihren Katzen und kennen sie gut. Wenn zwei Drittel der Befragten antworten, ihre Katzen miauten miteinander, sollte man das vermutlich ernst nehmen.
Zwei Beobachtungen untermauern den Schluss, dass Siamkatzen tatsächlich miteinander reden. Zehn der achtundzwanzig Ja-Antworter erklärten ausdrücklich, dass ihre Katze, wenn sie keine anderen Katzen im Haushalt ausfindig machen könne, zu miauen beginne, um sie ausfindig zu machen. Außerdem erklärten mehrere Ja-Antworter, wenn eine ihrer Siamkatzen laut miaute, kämen die anderen herbeigelaufen.
Nicht direkt zum Thema gehörig, aber lustig war ein anderes Ergebnis: Einige der Befragten gaben an, ihre Siamkatze miaue ihren Hund an!
Ich habe diese Ergebnisse mit mehreren Fachleuten für Sozialverhalten und Kommunikation von Katzen erörtert, und sie waren sich alle darin einig, dass diese Ergebnisse wohl glaubwürdig seien.*16 Obwohl Katzen häufiger uns anmiauen, miauen sie gelegentlich auch untereinander (und mit Hunden), besonders wenn sie einander suchen.
Dessen ungeachtet bleibt die Frage der artübergreifenden Kommunikation. Da Katzen häufiger uns als sich gegenseitig anmiauen, geht es also nicht nur darum, dass sie uns als Mitglied ihrer Sippschaft betrachten. Was wollen sie uns mitteilen?
Jeder, der mit einer Katze gelebt hat, weiß, dass es kein »Einheitsmiauen« gibt, sondern ein vielfältiges Miau-Vokabular mit verschiedenen Lauten für verschiedene Situationen. Andere Tiere haben ein ähnliches Lautrepertoire: Hunde passen ihr Bellen unterschiedlichen Situationen an, Affen haben spezifische Warnrufe für spezifische Raubtiere.
Würde ich gerne wetten — und das tue ich! —, würde ich viel Geld auf die Annahme setzen, dass die verschiedenen Miau-Rufe der Katzen alle ihre eigene Bedeutung haben. Und genau das tat ein Doktorand an der Cornell University.
Nicholas Nicastro beschäftigte sich zu Beginn seines Hauptstudiums mit der Evolution der menschlichen Sprache. Als er feststellte, dass der Fachbereich Anthropologie durch akademische Grabenkämpfe und Political Correctness tief zerstritten war, wechselte er in den psychologischen Fachbereich mit der Absicht, über Primaten zu arbeiten.
Eines Nachmittags unterhielt er sich mit seinem Doktorvater, einem Fachmann für Tierkommunikation. Der Professor erklärte, Tierrufe könnten zwar emotionale Inhalte besitzen, aber nichts, was einer Sprache ähnele. Nicastro erwiderte, er sei mit Katzen groß geworden und glaube, dass unterschiedliche Miau-Rufe durchaus Bedeutung hätten. Sein Doktorvater blieb skeptisch, woraufhin sie eine Wette abschlossen. Der Plan, über Primaten zu promovieren, war begraben — Katzenkommunikation war angesagt.
Nicastro zeichnete die Miau-Rufe etlicher Katzen auf — diejenigen seiner beiden eigenen und die der Katzen eines Dutzends Freunde und Verwandter. Für seine Aufzeichnungen ging Nicastro in die Häuser und Wohnungen der Katzen und wartete ab, bis die Tiere sich an seine Gegenwart gewöhnt hatten, was gewöhnlich nach einer Stunde der Fall war. Mithilfe eines Mikrofons, das ungefähr zwei Meter von der Katze entfernt platziert wurde, nahm er dann das Miauen der Katze auf, wenn sie sich freundlich an ihre menschliche Mitbewohnerin wandte, wenn sie ihr Futter bekam oder kräftig gebürstet wurde. Das Aufzeichnungsgerät wurde ebenfalls eingeschaltet, wenn man die Katze hinter eine Tür oder ein Fenster setzte, durch die sie hindurchwollte, oder wenn sie in fremde Umgebungen gebracht wurde (ganz besonders in Nicastros Auto).
Manchmal war das Warten auf das Miauen einer unkooperativen Katze ein ziemliches Geduldsspiel. Wurden die Katzen gebürstet, fuhr er ihnen mit der Hand gegen den Strich durch das Fell, um ein Miauen zu provozieren, das auf Missfallen oder Unzufriedenheit schließen ließ. Doch statt des erwarteten Miauens erntete er manchmal Bisse. Ansonsten verlief die Studie aber ohne Zwischenfälle, und Nicastro zeichnete mehr als fünfhundert Miau-Rufe auf.
Die Frage, die seiner Untersuchung zugrunde lag, war einfach: Können Menschen am Ruf einer Katze die Situation, in der er geäußert wird, richtig einschätzen? Neunzehn College-Studenten wirkten mit, deren Teilnahme auf den Kurs angerechnet wurde. Weitere neun junge Erwachsene wurden mit Schokolade entlohnt.
Die Teilnehmerinnen kamen in den Testraum, setzten Kopfhörer auf und hörten jeweils einen Ruf. Ihre Vermutung über den Kontext, in dem das Miauen geäußert wurde, äußerten sie, indem sie bestimmte Knöpfe auf einer Konsole drückten.
Alles in allem hatten die Teilnehmer erhebliche Schwierigkeiten, den Kontext richtig zu erkennen: Siebenundzwanzig Prozent der Rufe wurden richtig eingeordnet, während man bei fünf vorgegebenen Möglichkeiten schon bei reinen Zufallsentscheidungen zwanzig Prozent richtige Antworten erwarten durfte. Teilnehmer, die schon länger mit Katzen zusammenlebten oder sich als besondere Katzenliebhaber charakterisierten, schnitten besser ab, aber selbst die erfolgreichste Teilnehmerin, eine Frau, die mit Katzen zusammenlebte, sie liebte und häufig mit ihnen interagierte, konnte den Kontext nur in einundvierzig Prozent der Fälle richtig bestimmen. Nicastro verlor seine Wette über die Bedeutungshaltigkeit des Miauens, schrieb aber eine ganz hervorragende Dissertation.
Ähnliche Ergebnisse wurden in einer Folgestudie in Italien erzielt, in der die Teilnehmer Miau-Rufe von Katzen hörten, die auf ihr Futter warteten, im Zimmer eines unbekannten Hauses saßen oder sanft von ihrem Menschen gebürstet wurden. Insgesamt war die Genauigkeit nicht größer, als sie beim Raten gewesen wäre, obwohl Frauen etwas besser als Männer abschnitten und Personen, die schon mit Katzen zusammengelebt hatten, bessere Ergebnisse erzielten als Teilnehmende, die noch keine Erfahrungen im Zusammenleben mit Katzen gemacht hatten.
Diese Ergebnisse lassen darauf schließen, dass Menschen nur eine begrenzte Fähigkeit besitzen, zwischen den kontextuellen Bedeutungen von Katzen-Rufen zu unterscheiden. Die Ergebnisse sind verwirrend, weil wir wissen, dass jede Katze ein großes Repertoire an verschiedenen Miau-Rufen besitzt. Außerdem haben ähnliche Studien an Hunden gezeigt, dass Menschen den Kontext beim Bellen in verschiedenen Situationen sehr viel besser einschätzen können. Warum sind Menschen nicht in der Lage, herauszufinden, was eine Katze zu sagen versucht?
Die Antwort offenbarte eine Studie, die 2015 in England durchgeführt wurde. Ähnlich wie Nicastro in seiner Untersuchung, gingen die Forscher in die Häuser und Wohnungen der Menschen und zeichneten das Miauen von Katzen in vier verschiedenen Kontexten auf.*17 Dann spielten sie die Rufe Zuhörerinnen vor, um festzustellen, ob diese den Kontext von jedem Ruf richtig einordnen konnten. Doch ein wichtiger Unterschied zu Nicastros Studie bestand darin, dass sich unter den Zuhörern auch die Personen befanden, die mit einer der Versuchskatzen zusammenlebten.
Wenn Teilnehmer die Katze hörten, die sie kannten, waren sie in der Lage, den Kontext in sechzig Prozent der Fälle zu bestimmen — ein recht gutes Ergebnis. Hörten diese Teilnehmer jedoch eine unbekannte Katze, gingen ihre korrekten Antworten auf klägliche fünfundzwanzig Prozent zurück, das Niveau von bloßen Zufallsantworten.
Diese Ergebnisse legen den Schluss nahe, dass jede Katze ihre eigenen spezifischen Miau-Rufe hat, die sie in verschiedenen Situationen anwendet, und dass die Menschen, die mit ihnen zusammenleben, im Laufe der Zeit erkennen, was jeder Miau-Ruf bedeutet. Doch diese Rufe sind katzenspezifisch; es gibt keine universelle Katzensprache, in der eine Miau-Art verkündet »Ich bin hungrig« und eine andere »Ich habe Angst«.
Wie diese Unterschiede entstehen, wissen wir nicht. Einige Forscherinnen vermuten, die Katzen würden eine Vielfalt von Rufen ausprobieren und lernen, mit welchen sie in bestimmten Situationen bei ihren menschlichen Gefährten die günstigsten Reaktionen erzielen. Einleuchtend, aber ich habe keine Daten, um diese These zu untermauern. Aus was für Gründen auch immer, das Ergebnis zeigt, dass jede Katze einen privaten Wortschatz hat, den sie mit ihren menschlichen Mitbewohnern teilt.
Vergessen wir nicht, dass diese Thesen nur für die Lautäußerung gelten, die wir als Miauen bezeichnen. Katzen erzeugen viele andere Laute, deren Bedeutung in einigen Fällen — etwa beim Fauchen und Knurren — jedem klar ist. Die schwedische Ailurologin Susanne Schötz, vielleicht die weltweit größte Autorität auf dem Gebiet der Katzenvokalisation und Gewinnerin des prestigeträchtigen Ig Nobelpreises (der »Leistungen auszeichnet, die Menschen zuerst zum Lachen, dann zum Nachdenken bringen«), unterscheidet acht Ruf-Arten — Miauen, Gurren, Heulen, Knurren, Fauchen, Schnattern, Schnurren und Zwitschern — sowie Kombinationen aus ihnen, etwa Knurr-Heulen oder Gurr-Miauen.
Zu der Frage, wie das Miauen genau entsteht, sagt sie: »Miauen wird in der Regel mit öffnendem-schließendem Maul hergestellt (…). Im »M« ist das Maul geschlossen, es öffnet sich beim »i«, das »a« wird mit offenem Maul geäußert, und beim »u« wird das Maul wieder geschlossen. Probieren Sie einmal, selbst ein »Miau« zu sagen, und schauen sich dabei im Spiegel an. Merken Sie, wie sich Ihr Mund erst öffnet und dann wieder schließt?«
Sie hat recht — so miaue ich auch. Aber Schötz weist darauf hin, dass der Miau-Laut außerordentlich wandlungsfähig ist. Manchmal ersetzen Katzen das M am Anfang durch ein U. Manchmal fügen sie auch zusätzliche Silben ein, zum Beispiel »Miau-au« oder »Mia-a-au«. Die Bandbreite der Zusammenstellungen ist fast endlos. Schötz stellt vier Unterkategorien auf — Fiepen, Quieken, Jammern und Miauen —, weist aber darauf hin, dass »ein Miauen fast unendlich variiert werden [kann], und weil es so viele Variationen gibt, ist es nicht ganz einfach, die verschiedenen Laute in Unterkategorien einzuteilen«.
Das »Fiepen« verdient besondere Aufmerksamkeit. Ein hohes Miau, bei dem die letzte, maulschließende Silbe ausgelassen wird. Fiep-Rufe sind die entzückenden Laute, mit denen Kätzchen nach ihren Müttern rufen. Einige Forscherinnen haben die Vermutung geäußert, das normale Miauen unserer kätzischen Freunde, das sie so häufig an uns richten, sei eine Fortführung ihres jugendlichen Verhaltens — einst fiepten sie ihre Mamas an, jetzt wenden sie sich mit einem ähnlichen, erwachseneren Laut an uns.
Wenn Miau-Rufe in erster Linie für die Kommunikation mit Menschen bestimmt sind, was verrät uns das über den Ursprung des Miauens? Ist es also ein Merkmal, dessen Evolution einsetzte, als Katzen vor einigen Tausend Jahren anfingen, sich Menschen anzuschließen?
Augenscheinlich nicht. Beobachtungen an Zootieren lassen darauf schließen, dass die meisten kleinen Arten der Katzenfamilie ebenfalls miauen.*18 Wie ihre zahmen Vettern miauen diese Arten nur sehr wenig untereinander, noch seltener als Hauskatzen. Eine weitere Übereinstimmung liegt darin, dass Junge dieser Arten genau wie Hauskätzchen ihre Mütter anmiauen.
Doch im Unterschied zu Hauskatzen ist das Miauen dieser wild lebenden Arten selten für Menschen bestimmt. Eine Umfrage unter Tierpflegerinnenn ergab, dass von den 365 Katzen, die zu versorgen waren, nur zwei — beides Buschkatzen — miauten, wenn ihre Pfleger in der Nähe waren. Das lag nicht an einem Mangel an Freundlichkeit: Etliche andere Arten bezeugten den Pflegern ihre Zuneigung auf andere Weise. Wenn aber das Miauen dieser Katzenarten nicht für Artgenossen oder Menschen bestimmt ist, mit wem versuchen sie dann zu kommunizieren? Oder führen sie einfach Selbstgespräche? Das gehört zu den vielen Rätseln der Katzenbiologie, die es noch zu erforschen gilt.
Eine Katzenart, die natürlich unsere besondere Aufmerksamkeit verdient, ist die Afrikanische Wildkatze. Untersuchen wir das Rufverhalten dieser Art, können wir verstehen, welche Aspekte ihres Verhaltens die Hauskatze von ihrem Vorfahren geerbt und welche sie evolutionär entwickelt hat, als sie sich dem Leben in der Umgebung des Menschen angepasst hat.
Genau dieser Frage wollte Nicholas Nicastro im zweiten Teil seiner Promotionsforschung nachgehen. Dazu reiste er um die halbe Welt zum Pretoria-Zoo, der sich auf die Züchtung Afrikanischer Wildkatzen spezialisiert hat. Ein Dutzend Katzen wurden in nebeneinanderstehenden Käfigen gehalten, die so nahe zusammenstanden, dass die Katzen miteinander interagieren konnten. Rund um die Käfige stellte Nicastro Mikrofone auf und beobachtete die Katzen von außen.
Das Projekt klappte wunderbar. Dank der aufmerksamen Fürsorge ihrer Pfleger waren die Katzen »Menschen gegenüber völlig gleichgültig« und ließen sich durch die zudringliche Anwesenheit des Doktoranden überhaupt nicht stören.
Afrikanische Wildkatzen miauen eindeutig! »Ich war überrascht, dass sie so viel miauen. Es ist praktisch ein ständiger Radau«, meint er.
In fünfzig Beobachtungsstunden zeichnete er fast achthundert Miau-Rufe auf, wobei er jeweils die Umstände festhielt, unter denen sie ausgestoßen wurden. Die Wildkatzen miauten, wenn sie gefüttert werden sollten, wenn es zu aggressiven Begegnungen kam oder wenn sie auf und ab liefen. Nur sehr selten miaute eine Katze bei einer freundlichen Interaktion mit einem Menschen oder einer anderen Katze. Nicastro berücksichtigte in seiner Studie nur erwachsene Katzen, doch aus anderen Forschungsberichten wissen wir, dass sich die Jungen Afrikanischer Wildkatzen genau wie andere Kätzchen verhalten, sie fiepen ihre Mütter an.
Nicastro wollte nicht nur wissen, ob Afrikanische Wildkatzen miauen oder nicht. Er wollte das Miauen der Wildkatzen auch mit dem der Hauskatzen vergleichen. Dazu unterzog der das akustische Spektrum der Rufe einer digitalen Analyse und verglich Rufe miteinander, die in ähnlichen Situationen abgegeben wurden.
Die Computeranalyse zeigte deutlich, dass die Rufe der beiden Arten sich in allen Kontexten unterscheiden: Hauskatzenrufe sind höher und von kürzerer Dauer. Wildkatzenrufe, »Mii-U-U-U-U-U!« in Nicastros Schreibweise, wirken dringender, fordernder als das angenehmere »MII-au« der Hauskatzen.
Dann rekrutierte Nicastro Collegestudenten, ließ sie die Aufzeichnungen anhören und entscheiden, ob sie die Rufe von Haus- oder Wildkatzen angenehmer fanden. Jede Teilnehmerin hörte sich achtundvierzig Rufe an, vierundzwanzig von jeder Art, und bewertete bei jedem Ruf auf einer Skala von eins bis sieben, wie angenehm er ihm war. Wie nicht anders zu erwarten, konnten die Teilnehmer zwischen den afrikanischen und einheimischen Katzen unterscheiden und favorisierten mit großer Mehrheit die Rufe der Heimmannschaft.
Ist es Zufall, dass Hauskatzen für unsere Ohren melodischer miauen als Afrikanische Wildkatzen? Nicastro denkt nicht. Er geht davon aus, dass kurze, höhere Töne angenehmer für unser Hörsystem sind, vielleicht weil jüngere Menschen höhere Stimmen haben und weil die Evolution der Hauskatzen Eigenschaften favorisiert hat, mit denen sie unsere Gunst gewinnen konnten.
Das ist ein Beispiel für die »Hypothese der sensorischen Bevorzugung« (sensory bias hypothesis). Dem liegt der Gedanke zugrunde, dass Arten sich im Interesse einer effektiven Kommunikation evolutionäre Merkmale ausbilden, die dem Wahrnehmungsvermögen der Empfänger entsprechen. Beispielsweise nimmt das Hörsystem weiblicher Frösche Geräusche einer bestimmten Frequenz besonders gut wahr, daher produzieren die Männchen ihre Paarungsrufe genau in dieser Tonhöhe. Entsprechend können Guppys die Farbe Orange besser als andere Farben sehen — vielleicht weil ihre Lieblingsnahrung diese Farbe hat. So kommt es, dass die Männchen auffällige orangefarbene Flecke ausbilden, um die Aufmerksamkeit der Weibchen zu erregen. Zwar beziehen sich diese Beispiele auf Interaktionen innerhalb einer Art, doch Gleiches gilt auch für artübergreifende Kommunikation. Vielleicht haben Katzen diese Eigenschaft evolutionär erworben, um sich unsere Vorliebe für hohe Töne zunutze zu machen.
Generell lassen diese Daten darauf schließen, dass Hauskatzen das Miauen nicht erfunden haben. Trotzdem haben sie diese Äußerungsform dem Zusammenleben mit uns angepasst, indem sie den Miau-Laut veränderten und ihn in anderen Kontexten verwendeten. Sie betrachten uns nicht einfach als Mitkatzen und kommunizieren mit uns so, wie sie sich mit Artgenossen verständigen, denn es gibt praktisch keine Katzenart, deren Mitglieder miauen, wenn sie miteinander reden. Der große Unterschied liegt darin, dass die Evolution Hauskatzen mit einem Miauen für freundliche Interaktionen mit Menschen ausgestattet und infolgedessen das Miauen so verändert hat, dass wir es ansprechender finden.
Das Miauen ist nicht die einzige Lautäußerung von Katzen, die durch ihr Zusammenleben mit uns geprägt wurde. Betrachten wir ihre anderen situationsbezogenen Laute.
Katzen schnurren in vielen Situationen. Nicht nur, wenn sie zufrieden sind, sondern auch, wenn sie auf Nahrung warten, gestresst sind, und manchmal sogar, wenn sie Schmerzen haben. Wie bei ihren Vokalisationen kann sich das Schnurren von einer Situation zu anderen ändern.
Insbesondere wissen wir, dass Katzen laute, eindringliche Schnurrlaute produzieren, wenn sie gefüttert werden sollen — denken Sie an die Katze zu Ihren Füßen, vielleicht reibt sie sich an Ihrem Bein, während Sie die Büchse mit Nassfutter öffnen. Ein Forscherinnenteam wollte herausfinden, was die Katzen uns mitzuteilen versuchen, wenn sie ihr Schnurren verändern.
Zu diesem Zweck haben sie die Schnurrlaute von zehn Katzen in zwei Situationen aufgezeichnet. In der ersten wurde die Katze von ihrem Menschen gestreichelt, während die beiden ihr Zusammensein entspannt genossen. Die Katze erzeugte das zufriedene Schnurren, das wir alle lieben. Die zweite war morgens, Fütterungszeit für die Katze; doch statt aufzustehen und seinen kulinarischen Pflichten nachzukommen, blieb der menschliche Gefährte der Katze einfach im Bett liegen, wie es der Versuchsleiter von ihm verlangte. Daraufhin sprang die Katze auf das Bett, stellte sich in Positur und verstärkte ihr Schnurren bis zur höchsten empfangenen Dezibelstufe. Dieses »Aufforderungs-Schnurren« war nicht das angenehme Geräusch, das eine zufriedene Katze hervorbringt, sondern ein durchdringendes Kettensägen-Br-rr-uum, das Aufmerksamkeit forderte.
Als man die Aufzeichnungen fünfzig Versuchsteilnehmern vorspielte, wurde das Aufforderungs-Schnurren durchgehend als »drängender und weniger angenehm« eingestuft.
Dann wandten sich die Forscherinnen wieder ihren Aufzeichnungen zu und analysierten die akustischen Eigenschaften der Schnurrlaute. Der häufigste Unterschied war eine Komponente in hoher Tonlage, die sich in das Aufforderungs-Schnurren mischte, aber im Zufriedenheits-Schnurren nicht vorhanden war. Um zu überprüfen, ob dieses Element wirklich dafür sorgte, dass die Teilnehmer die beiden Schnurrlaute unterschiedlich bewerteten, nahmen die Forscher eine digitale Manipulation am Aufforderungs-Schnurren vor, indem sie diese Komponente herausnahmen. Als man einer Gruppe neuer Beobachter die ursprünglichen und die digital veränderten Versionen vorspielte, bewerteten die Teilnehmer die manipulierten Aufzeichnungen als weit weniger lästig.
Am Ende des wissenschaftlichen Artikels, in dem diese Ergebnisse beschrieben wurden, äußerten die Forscherinnen die Vermutung, die akustische Struktur des Aufforderungs-Schnurrens könne gewisse Ähnlichkeiten mit dem Schreien eines menschlichen Babys haben. Wir wissen, dass Menschen besonders empfindlich auf diesen Laut reagieren; die Forscher meinten, möglicherweise habe sich die Evolution der Katzen unsere präexistierende Empfindlichkeit zunutze gemacht, um ein Schnurren zu entwickeln, das unsere Aufmerksamkeit erregte.
Als ich das las, hielt ich es für Quatsch. Mit einer imponierenden statistischen Analyse Ähnlichkeiten auf dem Computer zu entdecken ist ja gut und schön, aber nur weil die Eigenschaften eines Schnurrens und des Schreiens eines Babys einige digitale Ähnlichkeiten aufweisen, heißt das noch lange nicht, dass sie auch wirklich ähnlich klingen.
Dann hörte ich mir Audiodaten an, die die Autoren mit ihrem Artikel ins Netz gestellt hatten. Und ehrlich gesagt, als ich die Aufzeichnungen abspielte, konnte ich die Ähnlichkeit mit dem Schreien eines Babys heraushören! Dann fand ich andere Aufzeichnungen des Aufforderungs-Schnurrens im Internet, und wenn ich sehr, sehr genau hinhörte, vernahm ich möglicherweise auch in ihnen ein schreiendes Baby.
Alle Kleinkatzen-Arten können schnurren, daher muss sich die Fähigkeit des Schnurrens sehr früh entwickelt haben — lange bevor Hauskatzen begannen, sich den Menschen anzuschließen. Tatsächlich haben Tierpfleger berichtet, freundliche Katzen mehrerer Arten hätten in ihrer Gegenwart geschnurrt. Aber genau wie beim Miauen scheinen Hauskatzen ihr Schnurren evolutionär verändert zu haben, um besser mit uns kommunizieren zu können.
Diese Schlussfolgerung setzt jedoch voraus, dass eine Afrikanische Wildkatze — selbst ein Ozelot oder Luchs — kein dringliches, babyähnliches Schnurren erzeugen kann, wenn sie auf Fütterung wartet. Ist diese Annahme falsch, wäre die Ähnlichkeit mit dem Schreien eines menschlichen Babys reiner Zufall und nicht ein evolutionär erworbenes Mittel zu unserer Manipulation, weil es keine anderen Kleinkatzen-Arten gibt, deren Evolution irgendwann in der Gegenwart von Menschen stattgefunden hat.
Soweit ich weiß, gibt es keine publizierten Daten, an denen sich diese Annahme überprüfen ließe. Um Genaueres zu erfahren, sprach ich mit zahlreichen Kleinkatzen-Pflegerinnen aus Zoos überall in den Vereinigten Staaten, erhielt aber keine relevanten Informationen. Zahlreiche Arten werden als Haustiere gehalten, vielleicht kennt also jemand die Antwort.
Meine — auf keinerlei Daten gestützte — Mutmaßung lautet: Selbst wenn beispielsweise zahme Ozelots schnurren, weil sie Futter erwarten, wird sich dieses Knurren sicherlich nicht nach wehklagenden menschlichen Babys anhören. Doch ohne Daten, wer weiß? Sieht nach einem guten Thema für eine Masterarbeit aus!
Schon lange vermutet man, dass Katzen uns um den kleinen Finger wickeln; meisterhaft verstehen sie sich darauf, uns so zu manipulieren, dass sie bekommen, was sie haben wollen. Die Daten über Miauen und Schnurren zeigen, dass diese Ideen eine evolutionäre Basis haben. Kommunikation ist jedoch nur ein Aspekt der Katze-Mensch-Interaktion. Betrachtet man all die anderen erstaunlichen Verhaltensweisen im Repertoire der Hauskatze, kommt man unausweichlich zu dem Schluss, dass ihre Evolution neue Richtungen eingeschlagen hat, als sie sich dem Leben mit uns anpassten.
3
Während ich in meinem Lehnstuhl sitze und diese Wörter tippe, hat sich mein treuer Helfer Nelson über meinen Torso ausgebreitet, wobei seine braune Pfote gelegentlich das Touchpad berührt und neue Ansätze zur Rechtschreibung und Interpunktion vorschlägt. Zweifellos unterhalten viele von Ihnen ähnliche Beziehungen zu Ihren kätzischen Gefährten. Solche Intimität scheint doch der Gipfel häuslicher Glückseligkeit zu sein. Wie kann es da Leute geben, die behaupten, Katzen seien »kaum domestiziert«?
Die Freundlichkeit vieler (wenn auch gewiss nicht aller) Hauskatzen sieht doch nach einem überzeugenden Beweis für den domestizierten Status der Hauskatzen aus. Welche andere Katzenart wird sich in Ihrem Schoß zusammenrollen, Ihnen die Haare ablecken und durchs ganze Haus folgen? Dieser Frage liegt die Vermutung zugrunde, dass die Vorfahren der Hauskatzen überhaupt nicht freundlich zu Menschen waren (sie werden nicht ohne Grund den Namen Afrikanische »Wild«-Katzen tragen) und dass Nelsons Schmusigkeit eine jüngere evolutionäre Entwicklung ist, ein Ergebnis der Domestizierung.
Aber Sie wissen, was geschieht, wenn Sie mit bloßen Annahmen kommen. Was wir wirklich brauchen, sind Zeugnisse aus erster Hand über die Liebenswürdigkeit wild lebender Katzenarten im Vergleich zu unseren Hauskatzen. Und wer würde das besser wissen als die Tierpfleger, die täglich mit diesen Arten zu tun haben und sogar in die Käfige der kleineren Arten gehen?
Um dieses Wissen über Katzenfreundlichkeit zu nutzen, befragten Verhaltenswissenschaftler die Tierpfleger von einundsiebzig Zoos. Dabei wurden Daten über fast vierhundert Kleinkatzen gesammelt. Wie nicht anders zu erwarten, ergaben die Antworten, dass sich Katzenarten erheblich in ihrem Temperament unterscheiden. Einige Arten setzen sich in der Nähe ihrer Pflegerin hin oder rollen sich auf den Rücken, manchmal reiben sie sich sogar an ihm oder lecken ihn ab. Andere wollen mit ihren Pflegern nichts zu tun haben.*19
Die drei Katzenarten, die den Ehrentitel »freundlichste Katzen« bekamen — Ozelot, Kleinfleckkatze (Leopardus geoffroyi) und Langschwanzkatze —, gehören zu den Pardelkatzen, amerikanischen Kleinkatzen, die sich durch ein geflecktes Fell auszeichnen. Schöne Flecken sind jedoch noch keine Garantie für Geselligkeit: Als unfreundlichste Kratzbürste bezeichneten die Pfleger die Leopardkatze,*20 ein Unterschied, der später noch größere Bedeutung in diesem Buch gewinnen wird.
Kleinfleckkatze (Geoffroy-Katze).
Selbst einige nah verwandte Katzen unterscheiden sich in ihrem Temperament. Zu den freundlichsten gehört die Afrikanische Wildkatze, während die unfreundlichsten enge Verwandte sind, die Europäischen Wildkatzen (entwicklungsgeschichtlich hat man Afrikanische und Europäische Wildkatzen als Mitglieder derselben Art angesehen; mehr davon später, aber merken Sie sich bitte, dass ich zu den »Wildkatzen« nicht irgendwelche wild lebenden Katzen zähle, sondern nur die Mitglieder dieser spezifischen Arten). Diese Ergebnisse decken sich mit vielen Berichten von Menschen, die diese Tiere gehalten haben. Es heißt, wenn man Kätzchen Afrikanischer Wildkatzen aufziehe, entwickelten sie sich zu liebevollen Gefährten, während Europäische Wildkatzen trotz zärtlichster Aufmerksamkeit zu teuflisch gemeinen Biestern heranwachsen.
Belege für die Freundlichkeit von Katzen stammen nicht nur aus Zoos. Menschen haben junge Katzen der verschiedensten Arten bei sich zu Hause aufgezogen, um sie als Haustiere zu halten. Dabei hat sich herausgestellt, dass viele Katzenarten angenehme Gefährten werden, wenn sie richtig aufgezogen werden. Selbst Großkatzen kann man bei entsprechender Aufzucht als Haustiere halten — angeblich eignen sich Pumas dafür besonders (nicht dass ich diese Praxis befürworten würde; Pumas*21 und andere Wildkatzenarten als Haustiere zu halten ist aus vielerlei Gründen keine gute Idee).
Die Gewohnheit, wilde Katzenarten aufzuziehen, hat eine lange Geschichte. Beispielsweise zähmten die alten Ägypter nicht nur Afrikanische Wildkatzen (die sie anschließend domestizierten), sondern auch Geparden, Löwen, Leoparden, Dschungelkatzen (langbeinige, kurzschwänzige gelbbraune Katzen mit langen Schnauzen) und Servale (schöne, getupfte, extrem langbeinige Katzen, auf den afrikanischen Ebenen beheimatet — später mehr von ihnen). In den letzten Jahrtausenden haben die Menschen insgesamt vierzehn Katzenarten gezähmt, vor allem in Afrika und Asien. Im Großen und Ganzen gibt es eine fast perfekte Entsprechung zwischen den Katzen, die von Tierpflegern als freundlich beschrieben werden, und den Katzen, die im Laufe der menschlichen Geschichte als zahme Tiere gehalten wurden.
Allerdings bleibt ein wichtiger Unterschied zwischen zahmen und domestizierten Tieren. Er ist ein Beispiel für das Gegensatzpaar Anlage versus Umwelt. Zahme Tiere unterscheiden sich biologisch nicht von den wilden Mitgliedern derselben Art, aber weil sie auf besondere Art aufgezogen wurden, verhalten sie sich anders. Lassen Sie eine Berglöwin mit Menschen in einem Haus aufwachsen, und sie wird sich friedlich verhalten. Wildern Sie sie aus, und die Kleinen werden so wild werden wie jeder andere Berglöwe. Dagegen haben domestizierte Tiere genetische Besonderheiten erworben, durch die sie sich von ihren wilden Vorfahren unterscheiden.
Wie sind unsere kätzischen Gefährten da einzuordnen, als zahm oder domestiziert? Die Antwort lautet: Sie haben ein wenig von beidem. Groß ist der Unterschied zwischen Hauskatzen und Pumas nicht. Die Kätzchen brauchen menschlichen Kontakt, um sich zu freundlichen Katzen zu entwickeln. Werden sie beim Aufwachsen nicht von Menschen versorgt, vielleicht weil ihre Mutter verwildert ist, werden die meisten unwiderruflich wild. Das Alter von vier bis acht Wochen ist eine kritische Phase; Kätzchen, die in dieser Phase regelmäßig von Menschen betreut werden, wachsen zu gut angepassten Hauskatzen heran. Kätzchen dagegen, die erst nach acht Wochen zum ersten Mal von Menschen gehegt werden, verhalten sich distanzierter, und diejenigen, die sich während der ersten zehn Wochen nicht in den Händen von Menschen befinden, werden nie zu Freunden werden, egal wie liebevoll sie anschließend behandelt werden.*22
Andererseits werden Hauskatzen, die schon als Kätzchen mit Menschen umgehen, im Erwachsenenalter freundlicher als andere, ähnlich aufgezogene Angehörige der Katzenfamilie. Ein Ozelot setzt sich nicht auf Ihren Schoß, während Sie auf dem Laptop tippen, auch können Sie nicht mit einem völlig entspannten Serval auf dem Arm ums Haus gehen, egal, wie gut er beim Aufwachsen sozialisiert wurde. Hauskatzen sind nicht einfach zahme Afrikanische Wildkatzen. Wenn sie in der richtigen Umgebung aufwachsen, besitzen sie die Fähigkeit, freundlicher und liebevoller zu werden als andere Katzen. Diese wachsende Seelenverwandtschaft ist das Ergebnis evolutionärer Veränderungen während des Domestizierungsprozesses.
Die bedingte Freundlichkeit der Hauskatzen zeigt, dass Anlage versus Umwelt eine falsche Gegenüberstellung ist. Das Verhalten eines Organismus resultiert aus der Interaktion von Anlage und Umwelt. Weder die richtigen Gene noch die richtige Umwelt sind ausreichend. Vielmehr sind extrem freundliche Katzen das Ergebnis einer Kombination der beiden Faktoren.
Trotzdem sind diese Verhaltensunterschiede zwischen Hauskatzen und ihren wild lebenden Vettern relativ gering. Betrachten Sie dagegen, wie tief Hunde durch die Domestizierung verwandelt worden sind: Wölfe sind, egal, wie sie aufwachsen, nicht im Mindesten mit ihren sklavisch gehorsamen, besitzeranbetenden Nachkommen zu vergleichen. Neben dem Übergang vom Wolf zum Hund ist der Unterschied zwischen Afrikanischen Wildkatzen und Hauskatzen weit weniger spektakulär. Die Bezeichnungen »kaum« oder »halb« domestiziert sind Ansichtssache, keine wissenschaftlichen Befunde, daher müssen Sie sich selbst eine Meinung bilden und entscheiden, wo Hauskatzen auf dem Domestizierungs-Spektrum angesiedelt sind. Um Ihnen dabei zu helfen, wollen wir betrachten, in welchen Hinsichten sich das Verhalten von Felis catus außerdem gegenüber dem seiner Vorfahren verändert hat.
Kurz nachdem Nelson in unsere Familie gekommen war, kam er eines Tages in die Küche und hatte einen der Kaschmirhandschuhe meiner Frau imMaul. Ich habe keine Ahnung, warum der kleine Kater eine Vorliebe für den Handschuh entwickelt hatte, aber er ließ ihn mir vor die Füße fallen. Als ich ihn aufhob und ihm damit vor der Nase herumwedelte, schlug er mit den Pfoten danach; nachdem er mir den Handschuh entrissen hatte, rollte er sich auf den Rücken und ging ihm erbarmungslos mit allen scharfen Teilen seines Körpers zu Leibe. Wenn ich den Handschuh durch das Zimmer warf, schoss er hinterher und brachte ihn mir sofort zurück. Das wiederholte sich monatelang. Nachdem der Handschuh weitgehend zerfetzt war, erweiterte Nelson seine Apportier-Liste um Katzenspielzeuge und weitere Objekte, die er faszinierend fand.
Nelson sagt: »Spielzeit!«
Ich war erstaunt. Wir hielten Nelson wegen seiner Freundlichkeit und Zuneigung, ein Erkennungszeichen der europäischen Burma-Rasse, zu der er gehört, ohnehin schon für einen verkleideten Hund. Aber das hier war ungewöhnlich: eine Katze, die apportiert! Weder hatte eine der sieben Katzen, mit denen ich zusammengelebt hatte, so etwas getan noch hatte ich jemals dergleichen gehört. Ich war nicht der Einzige, der so dachte. Verkündete NPR*23 doch in einer Schlagzeile »Katzen apportieren nicht«.
Also glaubte ich, Nelson sei wirklich etwas Besonderes, die tollste Katze der Welt. In meinem Kopf tummelten sich die abenteuerlichsten Ideen: eine landesweite Tournee, die Tonight Show, der Nelson-YouTube-Kanal. Gefolgt von Ruhm und Reichtum.
Doch dann meldete sich die Vernunft: Vielleicht sollte ich die Sache doch noch einmal überprüfen, um sicherzugehen, dass Nelsons Fähigkeiten wirklich einzigartig waren.
Eine rasche Online-Recherche setzte mir den Kopf zurecht. Das Internet quillt über von Videos, in denen Katzen Spielzeuge apportieren. Es gibt sogar ein wenig Literatur zu dem Thema. Eine Online-Umfrage an fast dreitausend Katzenhaltern ergab, dass zweiundzwanzig Prozent der Katzen ihren Gefährten Spielzeuge brachten, um sie zum Spielen aufzufordern. In einer anderen Umfrage, die viertausend finnische Katzen betraf, stellte sich das Apportierverhalten ebenfalls als häufige kätzische Angewohnheit heraus, wobei die Siamkatzen den Vogel abschossen.
Ich habe keinen Zweifel daran, dass Nelson, wenn er ein Spielzeug anschleppt und es mir vor die Füße fallen lässt, spielen möchte. Viele Tiere, wilde und domestizierte, neigen zum Spielen, vor allem, wenn sie jung sind, wobei einige Forscherinnen vermuten, dass es bei domestizierten Arten häufiger vorkommt. Warum Tiere spielen — vielleicht, um motorische Fähigkeiten zu entwickeln, um soziale Interaktionen zu lernen oder das Jagen zu üben —, wird unter Forschern viel diskutiert. Gewiss könnte das übliche Spielverhalten von Kätzchen — sich anpirschen, sich gegenseitig anspringen, Ringkämpfe — diesen Zwecken dienen und kommt wahrscheinlich bei allen Katzenarten vor. Dagegen ist schwer vorstellbar, dass Apportieren ein Verhalten ist, das sich bei wilden Katzenarten evolutionär entwickelt hat.
Selbstverständlich lautet die Frage nicht, ob Wildkatzen in der Natur ein Spielzeug apportierten, wenn man es würfe — natürlich täten sie das nicht. Sie würden einfach weglaufen oder Sie fressen, wären sie groß genug. Die Frage ist vielmehr, ob Apportierverhalten latent in anderen Arten angelegt ist, sodass zahme Individuen dieser Arten es möglicherweise an den Tag legen. Die andere Möglichkeit ist, dass wilde Katzen, zahm oder nicht, keine Spielzeuge bringen oder apportieren, was darauf schließen ließe, dass das Apportierverhalten während der Domestizierung der Hauskatze evolutionär erworben wurde.
Um zwischen diesen Alternativen unterscheiden zu können, müsste man das Verhalten von zahmen Mitgliedern anderer Katzenarten untersuchen. Durch Gespräche mit Tierpflegern konnte ich die Frage nicht klären. Einigen Katzen kann das Apportieren antrainiert werden, aber das ist nicht dasselbe wie eine spontane Verhaltensäußerung.