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In diesem Buch schildert der Autor Handlungen und Reflexionen die an heute und gestern erinnern. Mitten aus dem realen Leben. Er betrachtet die Menschen auf der Straße, beim Einkaufen, in der Bahn und im Trubel des Alltags. Was ist wahr, was wird erfunden und als Wahrheit in die Welt gesetzt? Wenn schon dann zwischen den Zeilen lesen. Offenkundiger ist das genaue Hinhören. Mal ehrlich, wer macht das, wer kann das noch. Wir rasen mit galaktischer Geschwindigkeit als mutierte Smartphone-Zombies durch die Zeit. Den Blick aufs Display fixiert. Chatte, twittern, bloggen statt reden. Coffee-to-go im Laufschritt. Yoga zum Entspannen. Im Zeitgeist zwischen Burn-Out und der Gier, nichts zu verpassen. Ziehen Sie den Stecker! Nehmen Sie sich Zeit. Lesen Sie ein schönes Buch und verschenken Sie Liebe und schöne Gedanken.
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Seitenzahl: 176
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Gnadenlos ehrlich
Wenn die Wahrheit
einfach raus muss.
Kurzgeschichten aus dem
ganz normalen Wahnsinn
des Alltags mit viel Gefühl
erzählt von
Manfred Schmidt
Einleitung
Maustot
Halleluja
Schamlos
Das Luxusweibchen
Der kleine Muck
Der Fingermann
Die Qual der Wahl
Besinn dich deiner Stärken
Hermanns Ende
Eine Braut für Christian
Tante Merlit
Benno
Die Kräuterfee
Clemens der Wackere
Die Taube
Der Traumfänger
Olaf und die Angst
Trecker Bilder
Der Millennium-Phönix
Hans
Flugbestäubung
Die Absprache
Yuppdidu
Schorsch
Sie weiß was sie will
Tiefgefroren
Alles nach Plan
Günter ohne H
Risiken und Nebenwirkungen
Jeder Tag zählt
Das Leben war nicht fair
Eule und Lerche
Auszeit
Rolf on Tour
Das ist erst der Anfang
Memo
Auf Rockefellers Spuren
Vier Sekunden
Märchenstunde
Metamorphose
In der Mitte der Wahrheit
Die Sache mit den Fahrrädern
Die Vorhersehbarkeit der Dinge
Vom Anfang bis zum Ende
Sich auf eine Parkbank setzen, die Augen schließen. Geräuschen lauschen, ihnen ein Gesicht geben. Mit der Fantasie spielen und eine Geschichte daraus machen. Eine Amsel vermute ich, gibt ein „Gratiskonzert“. Heute singt sie falsch: “Hören Sie das auch? Ach nein, woher sollen sie das auch wissen“ sagt plötzlich eine Stimme von rechts. Ich öffne die Augen. Die alte Dame lächelt mich an. Wir schauen uns an. Sie lächelt mit den Augen. Ihr Blick zaubert diese magische Altersweisheit so selbstbewusst in den Raum. Sie steht auf, ein lächelnder Gruß. Die Amsel hoch oben im Baum verstummt.
Ein Sprichwort sagt „die Umgebung formt den Menschen“. Für Hans-Georg traf es zu. Er ist das einzige Kind einer versnobten Lehrerfamilie. Die Mutter drillte nachmittags spindeldünne Nestlinge aus der wohlhabenden Nachbarschaft im Ballett-unterricht. Der Vater, ein mittelmäßiger Grund-schullehrer einer katholischen Eliteschule, lief ständig mit verkniffener Gesichtsmimik umher. Warum, wusste er wohl selber nicht. Vielleicht lag es an der vegetarischen Ernährung, die beide Eltern bis zum Erbrechen praktizierten. Hans-Georg verbrauchte sein gesamtes Taschengeld für heimliche Döner und Fritten- Gelage. Das Schicksal hatte eines Tages Mitleid mit Hans-Georg.
Er hatte drei Tage vor den großen Ferien Geburtstag, wurde elf Jahre alt und hatte einen Wunsch frei. Nur raus aus Stadt und dem miefigen Elternhaus. Zwei Tage später kam er zu Tante Elfriede in ein kleines Dorf in Mecklenburg-Vorpommern. Er war noch nie hier, hatte noch nie Ferien auf dem Lande erlebt. Karli, ein kleiner halbverblödeter Junge vom Nachbarhof, zeigte Hans-Georg schnell die wahren Wunder der Natur. Am meisten imponierte ihn die Mäuse-Show. Karli, dieser animalische „Moppel“ präparierte drei Mausefallen mit Käsehäppchen seiner Wahl.
Die Tötungsapparate waren zuverlässig und hundertfach erprobt sowie einfach in der Bedienung. Sie brachten blitzschnell den Sekundentod.
Schnell stellte sich heraus, die Mäuse schnupperten immer zuerst an einer bestimmten Käsesorte. Der Blauschimmel-Käse war der absolute Renner. Keine Maus kam in den wahren Käsegenuss, der Exitus kam blitzschnell ohne Vorwarnung. Mit ihren offenen, schwarzen Knopfaugen starrten sie auf den vor ihnen liegenden, kleinen Käsewürfel, der ihnen den Tod gebracht hatte. Hans-Georg lief ein eisiger Schauer über den Rücken, als er den kleinen warmen Maus- Leichnam aus der Falle entfernte. Der „Moppel“ stand breitbeinig und grinsend daneben. Drei Mäuse weiter schauerte es schon nicht mehr bei Hans-Georg. Hans-Georg war derart beeindruckt das er eine richtige ‚Käsemanie‘ bekam. Ein Blitzschlag brannte diese Erkenntnis auf seine Festplatte. Von da an chattete er im Internet mit Gleichgesinnten, mit Käseliebhabern.
Mit dreißig Jahren verließ Hans-Georg sein Elternhaus. Unzufrieden mit seinem Single-Leben zog er von einer Party zur nächsten. Das Heimtückische, so darf man es ruhig nennen, lag zweifelsohne in der Vermeidung einer noch so klitzekleinen Ankündigung. So blieb ihm nicht einmal die kleinste Chance für Gegenmaßnahmen. Hans-Georg war ein pedantischer Käse-Gourmet. Er war als gefürchteter Party-Nörgler allseits bekannt. Harmoniebewusste Gastgeber verzichteten deshalb auf Käseplatten und Käseschnittchen in ihrem Angebot, wenn Hans-Georg auf der Kommens-Liste stand. Den absoluten Super Gau zelebrierte Hans-Georg vor drei Wochen auf einer Single-Party. Der Single-Börsen-Computer hatte eine Britta als passendes Pendant zu Hans-Georg aus 103 Single-Frauen ausgespuckt. Zwanzig partnerschaftswillige Paare, alle zwischen 30 und 40 Jahre alt, trafen sich am Freitag zum ersten Date in einer ehemaligen Tanzschule, die schon bessere Zeiten gesehen hatte. Der Spaß kostete jeden Teilnehmer 50.- €. Buffet und Getränke all inclusive.
Seine Computer-Braut lispelte ein wenig. Das hatte der Computer wohl überhört. Noch störte es Hans-Georg nicht, ihre enorme Oberweite dagegen irritierte ihn maßlos. Das kann nicht echt sein, wiederholte sein Unterbewusstsein ohne Pause.
Am Buffet war Hans-Georg in seinem Käse-Element, die Offenbarung seiner Käsekenntnisse, für ihn ein Muss. Hans- Georg ist Blauschimmel-Fetischist, er referierte mit hohem Sachverstand. Das Käseangebot entsprach keineswegs der Würde des Augenblicks, schon gar nicht seiner Erwartungs-haltung, aber das sah nur er so. Hans-Georg nahm das Käsetablett vom Buffet-Tisch.
Das war der Augenblick, wo eine höhere Macht Besitz von ihm ergriff. Anders konnte er es sich im Nachhinein nicht erklären. Diese Sekunden in denen er bewegungslos das Käse-Tablett in seinen Händen balancierte, war die Geburtsstunde von zwei Möglichkeiten. Die Tragik lag in dem Umstand, dass beide Optionen das gleiche Finale bringen würden. Doch das ahnte Hans-Georg in diesem Augenblick nicht. Würde er sich für die erste Variante entscheiden und das Tablett mit verachtungsvoller Miene in dem Abfalleimer entsorgen, es wäre das Aus für Beide. Britta hätte nie Hans- Georgs Edelschimmel- Käse kennengelernt.
Hans- Georg entschied sich in diesem Augenblick für die zweite Variante. Er tat das, was er noch nie bei solchen Anlässen getan hatte, er kapitulierte. Ganz tief in seinem Inneren spürte er einen nie gekannten Schmerz und eine Wut, die sich festfraß. Verächtlich schaute er in die Gesichter der Umstehenden, die nun gierig nach den billigen Käse- Häppchen griffen. Ein Ekelschauer kroch über Hans-Georgs Rücken als er sich umdrehte. Vor ihm stand Britta und schaute ihn erwartungsvoll an. Britta war derart beeindruckt von seinem Tun, das sie ihm ein zauberhaftes Dauerlächeln schenkte.
Wie im Trance folgte er ihr auf die Tanzfläche. Das Tanzen ist nicht so sein Ding. Hans-Georg verstand es geschickt, seine Britta an der Bar anzudocken. Die Cocktailprozente machten den Weg frei für das Sympathiepunktesammeln. Hans-Georgs Unterbewusstsein mäkelte schon lange nicht mehr über die ungewöhnliche Oberweite von Britta, im Gegenteil. Das Desaster am Buffet hatte er geschickt verdrängt, vorerst. Brittas Nähe produzierte auf Hans-Georgs Stirn ungewohnte Erregungs-Schweißperlen. Das mit dem Lispeln, na ja, keiner ist vollkommen, dachte er. Der Alkohol nutzte die Chance und setzte den Beiden eine rosarote Brille auf die Nase.
Britta musste sich auf dem Heimweg verdammt an Hans-Georg festkrallen. Der Alkohol lies das Gleichgewicht tanzen. Hans-Georg war ein Gentleman der alten Schule, er brachte Britta bis vor die Haustür. Die Belohnung war eine minutenlange innige Umarmung, bei der Britta auf der Stelle einschlief. Irgendwie schaffte es Hans-Georg auch noch sein eigenes Bett zu finden. In zwei Wochen nun sollte das Date Nr.2 mit seiner Britta folgen. Er hat sie zu sich eingeladen, sie hat sofort zugesagt. Im Nachhinein machte ihn das ein wenig stutzig, seine erwachenden Hormone vertrieben diese Stimmung aber sofort. Der Käse bekam in Hans-Georgs Kopf wieder die Oberhand. Für seine Britta will er etwas ganz besonderes kreieren. Der Termin ist günstig, sein Roh-Käse ist reif für die Spritze. Hans-Georg nimmt den total verschimmelten Brotlaib aus dem Spezialbehälter. Das übliche Prozedere, mahlen, verflüssigen und mit einer groben Spritze in seinen unreifen Käse einbringen. Das alles hat er schon hundert Mal so praktiziert.
Zwei Wochen später, an einem Mittwoch Punkt 12.00 Uhr, sitzt Hans- Georg mit seiner Britta am rustikalen Küchentisch. Zur Feier des Tages hat er extra eine geklöppelte weiße Tischdecke, ein Erbstück von seinen Großeltern aus Breslau, aufgedeckt.
Er holt die Käseglocke, setzt sich an seinen Küchentisch und schaut mit leuchtenden Augen auf seine Kostbarkeiten und dann ganz tief in Brittas Augen.
Sie haben die Wahl zwischen einem Hartkäse aus silofreier Rohmilch oder einem Schweizer Rohmilchkäse, ausgesprochen ‚Nussig‘ und von fester Konsistenz. Hans-Georg schildert ausführlich die Besonderheiten dieser Käsesorten. Nur wirkliche Könner beherrschen den giftigen Brotschimmelpilz. Hans-Georg sei einer von Ihnen, diese Bemerkung konnte er sich nicht verkneifen. Dafür zaubert Britta wieder ihr zauberhaftes Dauerlächeln in ihr total überschminktes Gesicht.
Sie entschieden sich beide für seinen eigenen Blauschimmelkäse. Hans-Georg fühlt sich geehrt und geschmeichelt, ein wohliger Schauer läuft ihm über seinen Rücken. Synchrones aufspießen und zum Mund führen. Synchrone Kaubewegung und genießen. Hans-Georg schließt genießerisch die Augen, seine Geschmacksrezeptoren senden die gewünschten Signale. Hans-Georg ist ein Genussmensch gerade was Käse betrifft. Der Käse rollt wie ein edler Tropfen mehrfach über seine Zunge und löst die kleinen Edelschimmelpartikel aus dem Käse. Die Prozedere wiederholt er mehrmals.
Hans-Georg ist so versunken in diese Tätigkeit, dass er nicht bemerkt wie Britta plötzlich anfängt zu würgen. Und plötzlich macht es rums und ihr Kopf schlägt hart auf den Tisch auf. Erschrocken öffnet Hans-Georg seine Augen. Er will etwas sagen, fängt an zu würgen und reißt seine Augen ganz weit auf. Dann macht auch sein Kopf rums und er liegt wie Britta mit dem Kopf seitlich auf der Tischplatte.
Der Zufall, oder die Bestimmung will es beider Blick gilt der Käseglocke. Wenn sich Hans-Georg so sehen würde, aus dieser Perspektive haben die Mäuse aus seiner Kindheit auch auf den Käse geschaut. Nun ist es auch zu spät für Hans-Georg sich für die zweite Variante an dem Buffet zu entscheiden.
Hätte Hans- Georg das Tablett tatsächlich in den Abfalleimer geworfen, so wie er es auch vorhatte.
Hätte ihn der Tanz-Clubmanager seine Garderobe bringen lassen. Britta wäre wohl auch gegangen, aber in eine andere Richtung.
Sie hätten sich nie wieder gesehen und Britta wäre dieser Exitus durch giftigen Blauschimmel-Käse erspart worden. Hans-Georg würde allein hier auf dem Küchentisch liegen. So wäre die zweite Variante verlaufen.
Es war das Jahr 1949. Er konnte auf schlesisch fluchen, „Halleluja, du Lerge“! Er rauchte dicke Zigarren und spielte in seiner neuen Stammkneipe Skat und Billard bis tief in die Nacht. Er trug lange Unterhosen, auch im Sommer bei 33 Grad im Schatten.
Ein Gaudi für uns Enkel, wenn wir unseren Großvater Hacke voll und laut singend im Bollerwagen von der Kneipe abholten. Immer im Anzug akkurat mit Schlips und Weste. Es gab stets Gezeter und Streit in der häuslichen Notunterkunft, wenn wir heimwärts eintrafen.
Das soziale Elend nach dem Krieg lag wie ein Pesthauch über dem geschundenen Land. Die Flüchtlinge waren überall nicht gern gesehen. Der Großvater schlief in einem kleinen Raum mit uns beiden Enkeln.
In der Heimat war er ein bekannter Buchdrucker und stand in der ersten Reihe im Gesangsverein. Vom Alkohol umnebelt sang er oft noch aus voller Brust im Bett seine Lieder aus der verloren gegangenen Heimat. „Ich furz mir einen Engel herbei“, so kicherte er dabei leise, bevor er endlich einschlief. Es war schon lange nicht mehr seine Welt, das Chaos in der Enge drückte auf sein Gemüt. Keiner hat es je erfahren ob je ein herbei gefurzter Engel ihm des Nachts erschien. Eines Nachts hatte er sich selbst auf den Weg zu ihm gemacht. Er nahm Tabletten und ritzte an seinen Armen. Er wollte sicher gehen.
Ich hab dich sehr gemocht lieber Opa, warum träume ich nicht von dir? Wenn ich wach liege in der Nacht und mir grad so ist, hab ich auch in mein Kissen gefurzt und gekichert. Bei mir ist noch kein Engel erschienen und die Erde dreht sich weiter.
Das perfide an dem Ganzen ist die Schamlosigkeit, der Missbrauch. Der emotionale, gezielte Missbrauch von pubertären Gefühlen der Schüler einer Oberstufen-Klasse in den fünfziger Jahren. In einer Zeit, wo eine unverheiratete Lehrerin mit Fräulein anzusprechen ist, egal wie alt sie ist. Sie unterrichtete in Deutsch und Geschichte. Mindesten einmal am Tag setzte sie sich auf das Schreibpult in der ersten Reihe. Ihr Rock reichte züchtig zehn Zentimeter über ihre Knie. Sie spielte lasziv mit einem Lineal und strich sich dabei über Rock und Beine.
Er saß in der dritten Reihe, genau auf dem Längengrad der zu ihren geschlossenen Knien führte. Wie zufällig öffneten sich die Beine sporadisch einen kleinen Spalt breit und schlossen sich wieder.
Das Schauspiel war wohl inszeniert und wiederholte sich in unregelmäßigen Abständen. Die Fantasie der pubertären Betrachter wuchs analog der kurzzeitigen Öffnung ihrer Schenkel. Gebannt stierten alle, die im Radius der Sichtachse saßen, auf das dargebotene Spektakel.
Sie spielte mit den Betrachtern, benutzte ihr Lineal als erotisches Accessoire. Nach ihrer Inszenierung beobachtete sie in der Pause, wie die Jungen in Gruppen erregt diskutierten, wer hat was genau gesehen. Sie trug einen blauen Schlüpfer, nein rosa, eher grün. Keiner hat den Schlüpfer genau gesehen, oder doch? Sie manipulierte nach ihren Regeln, fütterte die Fantasie der Pennäler und bereitete den Raum für Spekulationen.
Mein Vater wollte einen Sohn, Statthalter für sein Imperium, meine Mutter eine Tochter. Mutter, das Mitbringsel einer romantischen Verirrung eines spätpubertierenden Machos, entkam durch die Hochzeit der Banalität und Enge dem Provinzleben in einem Hotelbetrieb im Schwarzwald.
Mein Vater, bereits Vater einer Liaison mit einem Büroflittchen, rackerte mächtig an meiner Erzeugung. Nichts passierte, die Großeltern bauten Druck auf.
Der Spezialist einer noblen Schweizer Klinik schnippelte an meiner Mutter solange herum, bis die chirurgische Nachhilfe Erfolg versprach.
Ich hatte einen Begleiter in der Wachstumsphase zur Menschwerdung. Meine Erzeuger jubelten, jeder hatte seinen Wunschkandidaten. Was lange währt wird endlich gut, sind wir doch die ersten Zwillinge in der Fortpflanzungsära des Familienclans. Meine Mutter musste leiden, in punkto Bewegung und Ernährung wurden strukturierte Abläufe erfunden. Im siebenten Monat hatte mein Bruder keinen Bock mehr und stieg aus. Ich hatte mehr Platz und Mutter bekam ein hochsensibles Fürsorgepaket geschneidert. Mein Vater war zwei Tage nicht zu erreichen.
Einen Tag verbrachte er bei seinem Liebchen aus den Gründertagen, total betrunken. Den zweiten Tag benötigte er zur Rekonvaleszenz. Am dritten Tag tauchte er mit einem großen Blumenstrauß bei meiner Mutter auf. Von alledem bekam ich noch nicht viel mit, ich musste mich beeilen mit dem Wachsen, wollte pünktlich fertig sein. Ein routiniertes Team von Spezialisten verhalf mir zum Sprung in mein reales Leben. Meine Mutter bekam nicht viel mit, Kaiserschnitt und Narkose zum Finale. Ich hatte Glück, war gesund, alles dran und an der richtigen Stelle. Mutter war Happy und geschafft. Ich mutierte zum Star, zum Begaffer-Objekt in höheren Kreisen. Erste Gehversuche auf dem Golfplatz, Bälle jagen auf dem Tennisplatz. Als Sprechpuppe auf zwei Beinen, Model für abartige Designerklamotten und Clown auf grünen Witwen- Kaffeekränzchen.
Parallel zum Spreizhöschen rubbelte ich im Ponysattel rum. Meine Erzeuger ließen nichts aus. Geigenunterricht, sobald meine dünnen Ärmchen in der Lage sind das Instrument mindestens zehn Minuten freihändig in der Luft zu halten. Eines Tages signalisierten meine Synapsen eine Blockade. Ein Mediziner erkannte es richtig, verordnete eine lange Pause.
Das Leben hatte mich wieder. Ich war lernfähig, wusste wie ich mein eigener Programmgestalter werden kann. Ich reduzierte die Belustigungsorgien meiner Betreuer, Reiten nur noch sporadisch, Musikunterricht schon gar nicht mehr im Programm.
Ich machte meinen Hauslehrern das Leben zur Hölle. Ich stellte beruhigt fest, Zicke sein ist nicht abhängig vom Geldbeutel, eröffnet nur ungeahnte Möglichkeiten. Piercing, Tätowieren, das volle Programm für die Young Generation.
Der Schrecken meiner Erzeuger, mein Erfolgserlebnis. Bulimie-Exzesse hielt ich nicht lange durch, der Hunger blieb Sieger. Den gesellschaftlich erforderlichen Einstieg in die Drogenszene versaute ich mir selbst, weil ich beim ersten Trip einen horrormäßigen Langlauf durch das gesamte Nirwana absolvierte, seitdem will ich davon nichts mehr wissen. Ständig überraschte ich meine Eltern durch spektakuläre Eskapaden. Nachdem eine Horde spontan eingeladener Stadtindianer, auf die nagelneue Sitzgruppe im Wohnzimmer urinierte, rasteten meine Erzeuger total aus. Ein schmales bleiches Bürschchen, eine Auslese aus dem Repertoire der Golfplatzliga, sollte mich bändigen. Eine Woche hielt er stand, dann gab er entnervt auf. Meine Eskapaden trieben meine Mutter an den Rand des Wahnsinns, mein Vater hatte schon lange kapituliert. Er war jetzt fast regelmäßig bei irgendeinem Flittchen auf Asylsuche. Mein hyperaktives Östrogen verlangte nach Kontinuität.
Ich beschloss zu heiraten, möglichst schnell. Auf dem Firmenjubiläumsball weidete genügend Material. Mein Vater agierte als Vermittlungsagentur für karrieregeile Jungstiere und honorige Leithengste. Mein wohlwollendes Nicken zu einer Scheinoption mit einem Leithengst aus der Führungsetage, versüßte ihm den Abend.
Das unkontrollierte Vernichten von Champagner erleichterte die Kontaktaufnahme zu einem makellosen Männerbody auf dem Schreibtisch des Chefimperators. Das willige Mannsbild entpuppte sich als Programmierer aus der Entwicklungs-abteilung.
Er hinterließ hormonelle Spuren nach mehr. Nicht gerade eine Schönheit, dafür sehr potent. Ich stehe auf ihn, fasle was von Schwangerschaft, will ihn für immer haben.
Mein Gewissen, sofern ich überhaupt noch eines habe, ist so verkommen, dass ich diesen Kerl nur haben will um meine Eltern zu ärgern. Das gelingt mir vortrefflich, nur der Leute wegen wird Eintracht an den Tag gelegt. Zur Hochzeit, noble Geste, eine Villa am Wald, am See, am Stadtrand, gewohntes Ambiente.
Mein Programmierer-Mann wird zum Chefprogrammierer im väterlichen Betrieb gekrönt. Morgen flieg ich nach L.A., mit Roxana. Dort gibt es die besten ‚Tattoo-Stecher‘.
Ein Schienbeintreter, Alptraum jeder Begegnung. Ein Zwerg in Menschengestalt, Ausgeburt des Bösen. Aus dem Restbestand der Asservatenkammer des Hofnarrenkabinetts entsprungen. Was vor hundert Jahren der reitende Rosinanten Zausel im Blechkostüm darstellte, ist mitten im Millennium, dieses Monster auf zwei krummen Beinen.
Der Protagonist ist bespickt mit einer Realitätsverweigerung und Selbstüberschätzung, die nur den einen Schluss zulässt, alt wird er auf keinen Fall. Irgendeiner erbarmt sich. Nichts dergleichen, die Götter weigern sich, quälen lieber die Erdenmenschen, besonders mich.
Beidhändig balanciere ich das bestückte Tablett im SB-Restaurant durch die Gänge. Mein linker Fuß verhakt sich, mangelnde Koordination des Balanceausgleiches die Folge.
Das Schicksal hat ein Einsehen, das Tablett entgleitet mit Besteck und Fastfood-Ware in ein menschenleeres Refugium. Begleitet von Gafferblicke spornt mich mein Adrenalinspiegel zur Schadensbegrenzung an. Ein Wischmopfräulein rümpft die Nase und bohrt den Blick in mich. Ich krame nach Hartgeld zur Bestechung und Deeskalation.
Zeitgleich mit dem Stups in meinen Rücken das irre Lachen. Nanosekunden spiegeln erfolgreich die Festplatte, ich brauche ihn nicht zu sehen, eingebranntes Zwergenlachen, die nächste Folter. Schwupp, da schwingt sich dieser Gnom an meinen Tisch. He Alter, du siehst ich habe nichts verlernt, denke grad, den kenn ich doch. Bevor du mir enteilst, streck ich dir mein Bein zur Begrüßung hin.
Wie geht’s, was machst du so in deinem Leben, bestimmt schon fünfzig Jahre her, dass ich euch alle so vermisse.
Wir werfen uns die Bälle zu, Banalitäten ohne Sinn. Er reist seit Jahren mit einer Transvestitentruppe durch die Welt, kommt grad aus London, aus dem Panoptikum Absurdistan. Drei Monate ausverkauftes Haus, ein Zausel im Blechkostüm, spielt Don Quichote, auf seine Art. K. Kinsky ist dagegen Schlafmohn, jedes Finale eine neue Premiere, erzählt er. Zwölf Mann die Truppe, Lesben, Schwule, alles Neurotiker. Maskulin oder feminin, je nach Tageszeit. Der Erlkönig ist zwei Mal in London verlängert worden.
Die perversen Zuschauer toben, wenn er den rettenden Hof erreicht, das ‚Menschenbündel‘ hoch wirft, oder auf den Boden schleudert, oder es in das johlende Publikum wirft. Einmal hat er das Bündel so hoch geworfen, dass es sich im Trapezboden verfangen hat. Er ist natürlich hochgeklettert.
In Ulm mussten sie ihre Vorstellungen abbrechen, seine Elfenkönig Nummer verstößt gegen die guten Sitten, lautete die Anklage. Er hat sein ‚Bündel‘ in die Zuschauer geworfen, dafür einen Hund zum rettenden Ritt durch die Nacht in den Arm genommen.
Diverse Anzeigen wegen Obszönitäten, Beleidigungen und Handgreiflichkeiten schmücken seine Vita. Drei Wochen saß er in Hamburg im Gefängnis, alle waren froh, als er es verließ. Wir waren damals auch froh, wenn wir ihn in unserer Straßenclique nicht sahen. Ich täusche einen Termin vor, gebe ihm meine Handynummer und sause davon. Es tut mir schon irgendwie leid, dass ich ihm eine falsche Nummer. aufgeschrieben habe, aber nicht wirklich.
Unbestritten, er hat seine Fangemeinde. Einen Hähnchenbrater vor dem Baumarkt und die Olga, ein Vollweib vom Dönerfuzzler, gegenüber. Der Fingermann ist ein geklonter John-Wayne-Verschnitt ohne Sheriffstern.
Das Bau-marktpersonal gerät bei seinem Anblick in chronisches Vorgruseln. Sein ausgestreckter rechter Zeige-finger, sein Markenzeichen, spielt Navi und mahnt Kinder, er findet immer was zum Korrigieren.
Jeden zweiten Tag streift er sein Revier ab. Fungiert bereitwillig, ungefragt als Einkaufsberater. Spielt schon mal den Hampelmann für Arbeitshosen Größenvergleiche, für ungeschminkte, naturbelassene Schönheiten.
Oder macht den Klugscheißer in der Lampenabteilung. E 27-, E 14- Schraubgewindefassung für Glühlampen. LED-Lampen sein Spezialgebiet. Er outet sich als Raum-Designer in der Tapetenabteilung, kennt sich aus in den Geheimnissen der Farbenlehre. In der Bäderwelt nun die Begegnung der besonderen Art. Sein geschulter Blick hat sie sofort fest im Visier. Zwei Stellwände umrahmen eine komplette Bade-zimmereinrichtung.
Ein Zopf-Mann, im speckigen Streifentrainingsdress, übt Schattenboxen vor dem großen Spiegel. Donquichotterie, Sancho Pancho, ein Zwerg im langen Mantel, hält sich am Einkaufswagen fest und stiert wie blöde auf diesen Kasper. Der emsige Karatekämpfer sammelt Blicke, Gaffer und Anerkennung von einem Nachahmer.
Nun hampeln zwei Bewegungskünstler in dieser hochmodernen Bäderlandschaft herum. Aufgeweckte Zwergenkinder suchen bereits nach der versteckten Kamera. Atemberaubende Sprünge, Arme und Beine wirbeln durch die Luft. Ein Hobby Artist hat sich verschätzt, ein hässliches Krachen. Die Pappstellwand mit Spiegel verabschiedet sich, geht in die Horizontale. Gekonnter Abgang der Protagonisten. Einer flitzt in Richtung Fingermann, sein Fehler. Der Fingermann fixiert das Bürschchen. Kopfgeld? Fangprämie? grübelt der Fingermann? Dann wird es dunkel für ihn, mehr weiß er nicht.