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Martin Burckhardts Essay Going Viral! schließt an den zusammen mit Dirk Höfer verfassten programmatischen Versuch an, die Urformel aller Digitalität, das Boole'sche x = xn, als Triebwerk der neuen Ordnung der Dinge zu deuten. War Alles und Nichts eine Meditation über die symbolische Viralität, geht Burckhardt nun einen Schritt weiter und postuliert ein durch die Pandemie ausgelöstes Ende des postmodernen Phantasmas, mitten in den Abgrund der Geschichte hinein. Wenn Wittgenstein einmal gesagt hat "Die Welt ist, was der Fall ist", lässt sich der Sturz als Zusammenstoß mit dem Realitätsprinzip deuten. Oder genauer: als Einsicht, dass die überkommenen Sprach- und Gesellschaftsspiele nicht mehr zu tragen vermögen. Als blinder Passagier der globalen Warenketten und Reisebewegungen erweist sich die Pandemie als böser Zwilling der Netzwerkgesellschaft, die mit ihrem Ruf des Going Viral! die industriellen Gesellschaften grundstürzend verändert hat, der nun aus seinem Untergrund auftaucht. Als Behemoth? Oder nicht doch: als fremdes Porträt unserer selbst?
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Seitenzahl: 157
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Martin Burckhardt
Ein Abgesang der Postmoderne
Einleitung
Virale Gesellschaft
Stadien der Eskalation
Geistesbeben
Im freien Fall
Der Aufprall
Ich bin ein anderer
Nach dem Schock
Abgesang
Anmerkungen
Video-Material
Man muss kein Prophet sein, um vorherzusagen, dass die Coronakrise sich tief ins kollektive Gedächtnis eingraben wird. Aber da die Schockwellen andauern, fällt es schwer, die Bedeutung dessen zu ermessen, was uns gerade widerfährt. Bleibt nur die dunkle Gewissheit: Die Party ist vorbei, die schöne Unbeschwertheit des Anything goes ist Geschichte. Verlassene Tanzflächen, geschlossene Reisebüros, Restaurants, deren Kellner aussehen wie Statisten einer verlorenen Zeit; die Erinnerung, wie es war, als die Stadt in den Dornröschenschlaf fiel. Da war eine ohrenbetäubende Stille – als hätte jemand auf dem Höhepunkt eines Konzerts den Stecker gezogen. Vielleicht war es auch keine Stille, sondern ein grauer Schleier, der sich als Mehltau über die Dinge gelegt hat. Menschenverlassene Flughäfen, Kaufhäuser, die nicht mehr verkaufen, Theater, die einfach zu spielen aufgehört haben. Gewiss, es gibt wieder Leben ringsum, aber die Erstarrung ist nicht verschwunden, sondern hat sich in eine inwendige Lähmung verwandelt, ein Störgeräusch, das nicht mehr aus dem Kopf gehen will. Und zugleich stellt sich, gleich einer sich entwickelnden Fotografie, das Bewusstsein ein: Der Ausbruch der Pandemie war eine Zeitenwende, die radikaler ist als alles, was uns die Krisen der letzten Jahrzehnte beschert haben.
Wenn im nachfolgenden Essay die Viralität mit einem Abgesang auf die Postmoderne verknüpft wird, steckt dahinter ein Gedanke, der weit über die Gegenwartsschau hinausreicht: die Behauptung, dass die Pandemie uns aus der Komfortzone des postmodernen Phantasmas entlässt, oder genauer: in eine Abgründigkeit stürzen lässt. In ein Bild übersetzt, könnte man dies mit der Bewegung der Zeichentrickfilmfigur vergleichen, die über ein Kliff hinweg in die blanke Luft vorangestürmt ist – aber erst in dem Augenblick, da sie die Tiefe unter sich realisiert, tatsächlich stürzt. Wenn Wittgenstein einmal gesagt hat: die Welt ist, was der Fall ist, lässt sich der Sturz als Zusammenstoß mit einer unerhellten, unabweisbaren Realität deuten. Und mit dieser Kollision einher geht die Einsicht, dass die vertrauten Sprach- und Gesellschaftsspiele uns nicht mehr zu tragen vermögen. Von daher stellt sich die Frage: Wo genau ist dieser Punkt, der Klippenrand, zu lokalisieren?