Wie die Philosophie unsere Welt erfand - Martin Burckhardt - E-Book

Wie die Philosophie unsere Welt erfand E-Book

Martin Burckhardt

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Beschreibung

Wenn wir an einem Schulhaus vorbeigehen, auf die Uhr schauen oder einem Polizisten begegnen, finden wir das völlig selbstverständlich. Doch wie sind diese Dinge eigentlich in die Welt gekommen? Sie waren einmal philosophische Ideen. Martin Burckhardt erzählt uns ihre Geschichten und beweist, dass die Philosophie nicht nur graue Theorie ist. So erfährt man beispielsweise, dass die Vorläufer des Münzgelds Fleischspieße waren, das Kreuz ursprünglich ein Spottsymbol war und was die Demokratie mit dem Alphabet zu tun hat. Verständlich und amüsant zeigt der Autor, wie die Philosophie unseren Alltag bestimmt.

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Wenn wir an einem Schulhaus vorbeigehen, auf die Uhr schauen oder einem Polizisten begegnen, finden wir das völlig selbstverständlich. Doch wie sind diese Dinge eigentlich in die Welt gekommen? Sie waren einmal philosophische Ideen. Martin Burckhardt erzählt uns ihre Geschichten und beweist, dass die Philosophie nicht nur graue Theorie und unverständliches Gedankenexperiment ist, sondern ihre besten Ideen uns auf Schritt und Tritt begegnen. So erfährt man, dass die Vorläufer des Münzgelds Fleischspieße waren, das Kreuz ursprünglich ein Spottsymbol war und was die Demokratie mit dem Alphabet zu tun hat. Verständlich und amüsant zeigt der Autor wie die Philosophie unseren Alltag bestimmt.    Martin Burckhardt, geboren 1957, ist Kulturtheoretiker und Medienautor. Er studierte Germanistik, Theaterwissenschaften und Geschichte in Köln. Seit 1985 lebt er als freier Autor und Audiokünstler in Berlin. Neben seiner künstlerischen Arbeit lehrt er an der Hochschule der Künste, der Humboldt-Universität Berlin und an der FU

Martin Burckhardt

Wie die Philosophie unsere Welt erfand

Mit Illustrationen

eBook 2014

© DuMont Buchverlag, Köln

Alle Rechte vorbehalten

Umschlag: Lübbeke Naumann Thoben, Köln

Umschlagabbildung: © Getty Images/Alberto Ruggieri

Satz: Fagott, Ffm

eBook-Konvertierung: CPI books GmbH, Leck

ISBN eBook: 978-3-8321-8828-3

www.dumont-buchverlag.de

Einleitung

Ein Duft, ein Pullover, ein Handbuch der Verführung oder ein Navigationssystem – ja, das sind Dinge, die einem wirklich was nützen. Aber Philosophie! Muss man denn wirklich wissen, was tote Denker, an deren Namen sich kaum jemand erinnert, mal gedacht haben? Um Gottes willen, nein! Denn es ist zweifellos so, dass man, wenn man eine Bibliothek betritt, zuallererst einen Haufen Staub aufwirbelt; ganz zu schweigen einmal von all den Gedankensplittern, die längst von der Erdoberfläche verschwunden sind und die man eigens ausgraben müsste, eine Schädelstätte des Geistes, wie ein großer Denker dies einmal treffend charakterisiert hat.

Nein, wenn wir etwas wollen, wollen wir es jetzt. Denn nicht um irgendeine Nach- oder Hinterwelt, sondern um den Augenblick geht es uns: jetzt und hier. Andererseits: Stellen wir uns vor, dass sich unsere Träume einlösen, dass sich das Scheinwerferlicht ganz auf uns, nein, ganz auf mich, mich allein einstellen wird – was dann? Was wäre der große Gedanke, mit dem ich aufwarten könnte? Bei dieser Frage fällt mir eine Geschichte von Obelix ein, der nun wirklich nur Dinge kennt, die ihre Nützlichkeit unter Beweis gestellt haben (Hinkelsteine, Römer und gutes Essen). Obelix soll bei einer Theateraufführung auftreten. Und weil es sich um ein modernes Theaterstück handelt, bei dem es vor allem darauf ankommt, das Publikum zu erschrecken, sagt der Regisseur: »Es ist ganz egal, was du sagst. Sag einfach, was du willst!« Aber diese Aufforderung ist so fürchterlich beunruhigend, dass der Arme sich tagelang darüber den Kopf zerbricht (»die Botschaft, was ist mit der Botschaft?«), und als er dann auf der Bühne steht, wird ihm ganz grün, ganz rot, ganz gelb und ganz schlecht – und er sagt das Einzige, was ihm in diesem Augenblick einfällt: »Die spinnen, die Römer!« Das ist auch schon die ganze Obelix-Philosophie, in einem Satz zusammengefasst.

Das Verhältnis, das die meisten Menschen zur Philosophie unterhalten, entspricht exakt dem, das Obelix zur Botschaft unterhält. Wenn wir vor dem Spiegel stehen oder uns ein Butterbrot schmieren, da stört sie nicht weiter, die Philosophie, sie kommt erst ins Spiel, wenn die Leute unversehens im Scheinwerferlicht stehen und etwas Bedeutsames sagen sollen. Da wird sie zur Frage, die uns den Schweiß auf die Stirn treibt, den Mund austrocknen lässt. Tatsächlich aber ist die Annahme, dass die Botschaft auf eine höhere Bedeutung hinausläuft, der größte Irrtum. Denn die wirklich großen Gedanken der Philosophie sind von vornherein in unser Leben eingebaut – auf eine Art und Weise, die uns häufig gar nicht bewusst ist. Wer zum Beispiel hetzt die Kinder in die Schule und zwingt sie, lauter unnützes Zeug zu lernen? Ist es ein Naturgesetz, dass ein zwölfjähriges Kind, mit einem riesenhaften Scout-Ranzen ausgerüstet, in eine eisige Schule eilt, um dort die a-Deklination herunterzubeten? Nein, auch die Schule ist nichts anderes als ein angewandter Gedanke, die Einbildung nämlich, dass es auf die Bildung eines jeden Menschen ankommt (und aus rätselhaften Gründen hat sich hier die Einschätzung durchgesetzt, dass die a-Deklination ein probates Mittel ist, um brauchbare Juristen heranzubilden). Schaut man genau hin, so sieht man, dass vieles von dem, was wir für selbstverständlich halten, nur durch unsere Einbildung existiert – oder genauer, dass es deswegen existiert, weil wir alle daran glauben.

Nehmen wir einfachheitshalber diesen Schein, mit dem mein Verleger mir vor meiner Nase herumgewedelt hat. Gewiss, das ist Geld (und verführerisch viel noch dazu), dennoch unterscheidet es sich von dieser Buchseite nur dadurch, dass wir allesamt daran glauben, dass es etwas anderes ist als bedrucktes Papier. Schwankt dieser Glaube, wird sich der Geldschein in das zurückverwandeln, was er materiell ist: ein Fetzen bedrucktes Papier und nichts weiter. Nun kennen wir durchaus Zeiten, die den Glauben an den Schein verloren haben: Das Deutschland der Hyperinflation (1923) beispielsweise, eine Zeit, als man Schubkarren brauchte, um die Haufen wertlosen Papiers zu transportieren. In solchen Augenblicken begreift man, dass es doch wichtig ist, sich mit der Philosophie zu beschäftigen. Denn nur weil wir uns allesamt etwas einbilden, existiert es wirklich – und zwar genau so lange, bis jemand kommt und sagt, dass der Kaiser aber doch nackt ist.

Aber wann, außer im Märchen, haben wir schon einen nackten Kaiser gesehen? Genau das ist die Kunst der Philosophie. Zu einem nicht geringen Teil besteht sie darin, dass man etwas unsichtbar macht. Im Gegensatz zum Kaiser, der sich allüberall zeigt, haben die Gedanken eine Gedankentarnkappe auf. Nicht nur, dass die Gedanken als solche unsichtbar sind, man weiß oftmals gar nicht, dass man sie denkt – und gerade darin besteht ihre Macht. Von dieser Macht will dieses kleine Büchlein erzählen: nämlich dass vieles von dem, was wir automatisch denken, doch keineswegs von Natur aus so ist, sondern dass es einen Anfang gehabt hat.

Aber auch hier ließe sich wieder fragen: Warum muss ich wissen, woher etwas kommt? Muss ich, wenn ich einen Reißverschluss zuziehe, wissen, wer ihn erfunden hat? Nein, das muss ich keineswegs. Denn ein Reißverschluss ist wirklich leicht zu verstehen – und eine verborgene Macht ist ihm meines Wissens noch nicht nachgesagt worden. Genau darin besteht der kleine Unterschied: Denn die Gedanken üben, im Gegensatz zu solch handfesten Dingen wie einem Reißverschluss, gerade deswegen Macht auf uns aus, weil sie nur in unserer Einbildung stattfinden. Tatsächlich gibt es gar keine größere Macht als unsere Einbildung. So ist es durchaus töricht zu sagen: »Das ist nur Einbildung«, als ob es sich dabei um etwas Geringfügiges handelt, das mit einem Fingerschnipsen verschwindet oder dadurch, dass man sich einmal schnell in den Arm kneift. Nein, es wäre viel klüger, man nähme die Einbildungen ernst.

Nehmen wir noch einmal die Schule und stellen sie uns als eine gebaute Einbildung vor. Auf diese Vorstellung gestützt sieht man, dass das ganze Gebäude im Grunde um einen Gedanken herum gebaut ist, um eine Idee von Bildung, von der niemand so genau sagen kann, worin sie denn eigentlich besteht. Wir sehen die Verkleidung, die äußere Hülle, aber wir sehen nicht mehr, was drinnen steckt. In der Regel sagt man uns dann: »Schon die alten Griechen haben erkannt …« Rückt man aber einmal ganz nah an die Anfänge unserer Bildung heran, so passiert, was ein Schriftsteller einmal folgendermaßen ausgedrückt hat: »Je näher man ein Wort anschaut, desto ferner schaut es zurück.« Das Wort gymnos zum Beispiel, von dem sich unser Gymnasium herleitet, bedeutet ursprünglich »nackt«, woraus man wohl herleiten muss, dass die Antike weniger an der Grammatik als an einer Form des Bodybuildings interessiert war. Aber was ist das wiederum für eine Nacktheit? Und was hat sie mit unserer Bildung zu tun?

Nun müssen wir die Frage nach des Kaisers nackten Kleidern auch auf den Gymnasiasten ausdehnen, ja auf alle erdenklichen Gespenster, denen man im Leben unweigerlich begegnet: auf den Fiskus zum Beispiel oder die Evolution. Gewiss, man könnte sich auf den Standpunkt stellen, dass es sich dabei um Realitäten oder, stärker, um Naturtatsachen handelt, aber dann sollte man hinzufügen, dass wir sie nur deswegen als solche erleben, weil man uns gelehrt hat, daran zu glauben. Ich erinnere mich, wie mein Sohn, als er vier oder fünf Jahre alt war, auf jeden Fall noch nicht in der Schule, mit mir auf dem Fußboden lag und spielte. Ich hatte ihm gerade erklärt, was Darwin sich gedacht hatte, als er sich daran setzte, die Gesetze der Evolution zu beschreiben – und dass der Mensch früher einmal ein Affe gewesen war. Aber als ich das sagte, sah ich nun diesen kleinen Anflug eines Stirnrunzelns auf dem Kindergesicht. »Eins verstehe ich nicht, Papa. Warum gibt es dann noch Affen?«

Wenn man sieht, wie die großen Gedanken entstehen, verwundert man sich – und denkt: Wie hat aus diesem hässlichen Entlein etwas so Mächtiges werden können, wie kann ein Gedankenzwerg eine solch monumentale Größe annehmen? Andererseits ist dieser Blick ja durchaus tröstlich, sagt er uns doch, dass auch Riesen einmal klein angefangen haben, dass es sich also nicht von vorneherein um große, sondern um groß gewordene Gedanken handelt. Wie aber wird ein Gedanke groß? Wie kommt es, dass der Hort der nackten Schüler zu einer grundlegenden Einrichtung unserer Gesellschaft geworden ist, während andere Gedanken spurlos von der Bildfläche verschwunden sind (wie etwa die Überzeugung des Aristoteles, dass der männliche Samen im Gehirn des Mannes gebildet werde)?

Mit dieser Frage kommen wir zu einem heiklen Problem, das freilich schon im Titel des Buches, klammheimlich sozusagen, beantwortet ist. Denn man hätte sich ja ebenso gut hinsetzen und ein kleines Buch der großen Denker schreiben können. Warum ist statt von den Denkern von den großen Gedanken die Rede? Mit dieser Frage sind wir am Ausgangspunkt angelangt – also der Frage, ob man wirklich wissen muss, was tote Denker, an deren Namen sich kaum noch jemand erinnert, mal gedacht haben. Ist hier die Antwort ein unmissverständliches Nein!, so ist es doch andererseits so, dass es viele Gedanken gibt, die, auch wenn sie mehr als zweitausend Jahre alt sind, noch immer in unser Leben eingreifen. Und genau diese Gespenster, diese Wiedergänger, würde ich große Gedanken nennen. Jetzt, so könnte ein ebenso gewitzter wie widerborstiger Leser einwenden, landen wir doch wieder bei der Philosophie! Aber nein, würde ich antworten. Wenn ein Gedanke eine Wirkungsmacht annimmt, so steht er zumeist nicht in den Philosophiebüchern, sondern an der nächsten Ecke, in der Gestalt des Polizisten beispielsweise, der nur deswegen so heißt, weil es einmal eine Polis gegeben hat. Ja, studiert man die Geschichte der großen Gedanken, so ist man damit konfrontiert, dass viele von ihnen eigentlich gar keinen Urheber besitzen, dass wir also genötigt sind, uns mit Dingen ohne Denker zu beschäftigen. Nehmen wir nur die bereits angerissene Frage, was aus einem Stück bedruckten Papiers einen Geldschein macht, wie also eine ganze Gesellschaft auf den Glauben hat verfallen können, dass das aufgedruckte Zeichen wirklich einen Wert darstellt. Ist dies schon eine Revolution, so sind die Folgen dieses Glaubens noch viel mächtiger. Denn der Glaube hat ja wiederum andere Konsequenzen gezeitigt, nämlich die Vorstellung, dass sich der Wert des Geldes mit der Zeit und dem Zins noch vermehren soll. Und wird uns die Philosophie wohl darüber belehren, was die Kinderfrage zu wissen begehrt? Aber nein, ganz das Gegenteil ist der Fall! Kommt die Frage des Geldes aufs Tapet, so bekommt man es vor allem mit Denkern zu tun, die bestrebt sind, dieses Ärgernis aus der Welt heraus zu philosophieren – wie der Philosoph, der den Zins als Todsünde deklariert, mit der Behauptung, ein Zeichen sei schließlich kein Tier und könne deswegen keine Nachfahren bekommen.

Wenn das kleine Buch der großen Gedanken auf Fragen antwortet, so sind es nicht die Fragen, die in den Philosophiebüchern stehen, sondern diejenigen, die von einem Kind stammen könnten. Woher kommt das Geld? Was ist das? Und warum ist das so? Wenn diese Fragen sich stellen, so deswegen, weil sie in unser Leben eingebaut sind, weil wir, wo wir auch stehen und gehen, unweigerlich damit zu schaffen haben. Und aus diesem Grund gibt es dieses kleine Buch, das im übertragenen Sinn durchaus so etwas wie ein Navigationssystem sein will. Folglich geht es methodisch zur Sache und nimmt sich die großen, wirklichkeitsverändernden Gedanken in geschichtlicher Abfolge vor. Wenn der geneigte Leser will, kann er sich an diese Reihenfolge halten, die von den alten Griechen bis in unsere Gegenwart reicht; aber ebenso gut kann er sich seine eigene Tour durch die Geschichte der großen Gedanken zurechtstellen und eher genießerisch, mal hier, mal dort, eine Seite aufschlagen. Das ist eine Frage des Temperaments. Schön wäre nur, wenn man am Ende begriffe, dass dieses Büchlein gar nicht in Konkurrenz steht zu den so genannten nützlichen Dingen, sondern genau dasjenige ist, was man sich eigentlich gewünscht hat: ein Duft, ein Navigationssystem, ein Handbuch der Verführung. Und noch schöner wäre es, wenn man am Ende nicht nur den Nutzen des Geistes begriffe, sondern zu der Überzeugung gelangt wäre, dass der Gedanke das eigentliche Luxusobjekt ist: Geist ist geil!

Das ABC

Nach dieser Vorrede ist es nicht mehr verwunderlich, wenn das kleine Buch der großen Gedanken nicht mit einem Denker, sondern mit einem jener Gebilde beginnt, die keinen Urheber haben: dem Alphabet. Das Alphabet ist einer der folgenreichsten Gedanken überhaupt, und doch hat man keine Vorstellung, woher es eigentlich kommt, geschweige denn, wer es sich hat einfallen lassen. Wir haben also weder einen Vater des Gedankens noch eine Adresse, nur eine höchst befremdliche Kopflosigkeit. Das ist, so sonderbar das klingen mag, kein Einzelfall, sondern etwas, was die allergrößten Gedanken überhaupt charakterisiert. Sie sind plötzlich da – und wir wissen einfach nicht, wer sie in die Welt gesetzt hat. So haben die Griechen, denen wir die Erfindung des Alphabets zuschreiben, selbst zugestanden, dass sie es von den Phöniziern übernommen haben. Aber mit dieser Auskunft schwindet alle Gewissheit. Denn nun verliert man sich in einer Zeit, die die Altertumsforscher das nennen (etwa von 1300 bis 800v.Chr.). Es war von Völkerwanderungen, Kriegen und Seuchen bestimmt – und ist bis heute mit dem Mythos und dem Namen verbunden.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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