Gold! - Friedrich Gerstäcker - E-Book

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Friedrich Gerstäcker

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Beschreibung

Der Autor selbst verfügte, dass dieser Band – und nicht etwa die bekannten Werke wie die Regulatoren oder Flusspiraten – den Anfang seiner Werkausgabe bei Costenoble bilden sollte. Ob das klug gewählt war, lässt sich heute kaum noch sagen – aber auch dieser Roman ist ein 'echter Gerstäcker, durch und durch'. Er enthält alles, was seine umfangreichen Werke auch heute noch so lesenswert macht: Authentische Schilderung von Land und Leuten, dazu eine spannende Handlung mit einem Kriminalfall, geschickt hineinverwoben sogar noch eine Liebesgeschichte.

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Friedrich Gerstäcker

Gold

Ein californisches Lebensbild

Gesammelte Schriften

Volks- und Familien-Ausgabe Band Eins

der Ausgabe Hermann Costenoble, Jena

Friedrich-Gerstäcker-Gesellschaft e.V., Braunschweig

Ungekürzte Ausgabe nach der von Friedrich Gerstäcker für die Gesammelten Schriften, H. Costenoble Verlag, Jena, eingerichteten Ausgabe „letzter Hand“, herausgegeben von Thomas Ostwald für die Friedrich-Gerstäcker-Gesellschaft e.V., Braunschweig

Umschlagzeichnung von Petr Sadecky © Verlag

Unterstützt durch die Richard-Borek-Stiftung und

die Stiftung Braunschweigischer Kulturbesitz, beide Braunschweig

Friedrich-Gerstäcker-Gesellschaft e.V. u. Edition Corsar

Braunschweig. Geschäftsstelle Am Uhlenbusch 17

38108 Braunschweig

Alle Rechte vorbehalten. © 2005 / 2020

1.

Ho! Califormien!

„Land! - Land!" - über die blaue leise wogende See schallte der laute jubelnde Ruf von der Mastspitze nieder, „Land!" - und „Land! Land!" schrie es im jauchzenden Echo nach, in Kajüte und Zwischendeck hinein, und von einem Ende des Decks zum andern.

Noch dämmerte kaum der Morgen; aber eben dieser erste lichte Streifen, der den östlichen Horizont erhellte, hatte auch die noch ferne zackige Küste dem Auge des vom Top ausschauenden Steuermanns verrathen. Schon vor Tag war es ihm auf seiner Wacht so gewesen, als ob er manchmal das dumpfe Rauschen der Brandung höre, wie es die Brise in unterbrochenen Absätzen herübertrug. Deshalb stieg er nach oben, und der dämmernde Morgen zeigte ihm, daß er sich nicht geirrt. Der Jubel, den die frohe Kunde hervorbrachte, kannte keine Grenzen, und auch der alte Seemann freute sich der willkommenen Erscheinung, wenn auch aus einem andern Grunde wie die Passagiere da unten.

„Gott sei Dank," murmelte er vor sich hin, als er langsam an der Want des Fockmastes wieder nieder an Deck stieg, „daß wir die verwünschten Landlubbers, das Passagierpack, nun endlich los werden. Wie die Kerle grölen, daß sie nun bald wieder Schlamm treten können. So viel weiß ich aber, das war die letzte Fahrt, die ich mit einem Passagierschiff /6/ gemacht, und lieber wahrhaftig auf einem alten Walfischfängcr Blubber auskochen, als sich mit solchem Gesindel noch einmal abzuplagen. - Hallo, da kommen sie - jetzt seh' ein Mensch die blinden Maulwürfe an."

Ingrimmig vor sich hin lachend, blieb er noch oben in der Want halten und schaute auf das Deck nieder, wo gerade unter seinen Füßen die Zwischendecks-Passagiere aus der Vorderluke zu Tage drängten. Für den Seemann mochte es auch wohl ein komischer Anblick sein, wie die verschlafenen Gesichter der Leute, noch nicht halb munter, verdutzt umher und in die Höhe schauten, gerade als ob sie einen hohen, ganz nahen Berg mit den Augen suchen wollten. Die Wenigsten wußten dabei, nach welcher Himmelsrichtung sie ausschauen müßten, die ersehnte Küste zu entdecken, und nur als die glänzende Sonne dem Meer entstieg, ließ sich in ihrer Scheibe das scharf und schwarz abgezeichnete Land nicht mehr verkennen. Leider war aber die Brise nicht besonders günstig, die Küste anzulaufen, und die wackere Brig Leontine mußte schräg daran niederhalten, um durch Laviren näher hinan zu kommen. Gegen Mittag bäumte der Wind allerdings etwas auf, und der Bug der Leontine konnte sich mehr der Küste entgegenneigen. Die Brise blieb aber außerordentlich schwach, und das Fahrzeug rückte trotz des ausgeblähten Segels nur langsam von der Stelle.

Den Passagieren durfte man es übrigens nicht verdenken, daß sie der Erlösung von dem engen Schiffsleben entgegenjubelten. Die Leontine, eine deutsche Brigg, hatte, seit sie von Hamburg ausgelaufen, eine Reise von beinahe sechs Monaten gehabt, der ein wöchentlicher Aufenthalt in Rio de Janeiro und Valparaiso allerdings einige, doch nur geringe und viel zu kurze Abwechselung gegeben, und - was versäumten sie indessen nickt Alles an Bord. Jene ersten Auswanderer nach Kalifornien, zu denen im alten Vaterland nur eben auch die ersten, fabelhaft klingenden Nachrichten gefundener Schätze gedrungen waren, hatten noch Alle den Kopf voll goldener Hoffnungen und Träume. In den Minen fanden sie, jener Kunde nach, „eine Unze Gold täglich", und wenn sie diese nur geradehin zu zwanzig Thlr. Pr. Cour, taxirten, ließ /7/ sich eine vollkommen genaue Berechnung aufstellen, um was sie hier in jeder Woche nutzlosen Harrens gebracht wurden.

Endlich, endlich war das so heiß ersehnte Ufer am Horizont in Sicht, und die Leute wogten und drängten jetzt hastig durcheinander, um so rasch als möglich ihre nöthigen Vorbereitungen zum Landen zu treffen. Sie wollten nicht selber noch muthwillig Zeit versäumen.

Kajüte und Zwischendeck hatten sich bis dahin auch ziemlich streng geschieden gehalten; der Capitain des Schiffes gestattete wenigstens unterwegs nie, daß die Zwischendecks-Passagiere das Hinterdeck betraten, wenn er auch den Kajüts-Passagieren nicht verwehren konnte, sich dann und wann unter die weniger begünstigten Reisegefährten zu mischen. Aber auch von dieser stillschweigenden Erlaubniß hatten die ersteren nur sehr spärlich Gebrauch gemacht, bis auf einmal die Nähe des Landes alle derartigen Formen aufzuheben schien. Es war ordentlich als ob die Leute ahnten, daß sie doch jetzt sehr bald alle miteinander „in einen Topf geworfen würden", und Alles drängte vorn nach der Back - dem Ueberbau des Vorpastells gerad' am Bugspriet - um einen möglichst vollen Überblick über die Küste zu gewinnen.

Wie es unter ähnlichen Verhältnissen auf fast allen Passagierschiffen geschieht, so lebten die meisten der Leute auch in dem Wahne, daß sie, das Land kaum in Sicht, auch schon aussteigen könnten, und zum innigen Ergötzen der Matrosen beendeten Viele von ihnen in äußerster Hast ihre „Ufertoilette" - um sie gegen Abend wieder auszuziehen. So standen auch jetzt auf der Back der Leontine eine Anzahl von Menschen in den wunderlichsten Trachten versammelt, und zwar ein Theil von ihnen in Hemdsärmeln oder dünnen Jacken, wie sie gewöhnlich an Bord herumgingen, und Andere wieder mit Röcken oder gar Frack angethan, Stöcke in der Hand und schwarze hohe Hüte auf den Köpfen. Besonders auffallend erschien unter diesen eine Figur, die man an Bord bis dahin kaum bemerkt hatte. Sie trug einen langen erbsgelben, allerdings arg mitgenommenen Mantel, mit einer unbestimmten Anzahl von Krägen jeder Breite. Dieser Mantel, dessen linker Aermel einen hellgrünen baumwollenen und sehr /8/ dicken Regenschirm hielt, ging bis fast auf die Knöchel hinunter und ließ dort ein Paar schwere, mit großen Nägeln beschlagene Stiefeln sichtbar werden, während unmittelbar oben darauf ein schmalrandiger, entsetzlich ausgeschweifter und abgeschabter Hut saß. Ob in dem Hute noch ein Kopf steckte, blieb dahingestellt; äußerlich war wenigstens nichts von einem solchen zu erkennen.

Neben ihm stand ein junger, sehr anständig gekleideter Mann mit sorgfältig frisirten und geölten Haaren, ja selbst in gewichsten Stiefeln, und blickte neugierig fast mehr nach seinem Nachbar als dem Land hinüber. Es kam ihm nämlich sonderbar vor, fast ein halbes Jahr mit allen diesen Leuten auf dem eng gedrängten Schiffe zusammengewesen zu sein, und jetzt plötzlich Jemanden vor sich und an Bord zu sehen, der ihm vollkommen fremd und unbekannt schien. Herr Hufner, wie der junge Mann hieß, war aber zu schüchtern ihn anzureden, bis ein Hamburger - ein Kaufmann wie man munkelte, der, wegen schlechter Geschäfte daheim, bessere in Californien beginnen wollte - ihm ziemlich ungenirt den gelben Mantelkragen etwas zurückschob und dann ganz erstaunt ausrief:

,,Ballenstedt - hol's der Henker - Junge, wie siehst Du aus?"

„Wie soll ich denn aussehen, Herr Lamberg," sagte aber der Mann sehr ruhig, indeß die Umstehenden in ein lautes Gelächter ausbrachen. „Man darf doch wohl seinen Mantel anziehen?"

„Gewiß darf man, mein Bursche," lachte der Hamburger, der noch kein Stück seiner Schiffskleidung abgelegt hatte, „aber wenn Du nicht gerade jetzt bedeutend frierst, hättest Du Dir wohl das Stück Ueberzug mit seinem gewaltigen Fachwerk heute noch ersparen können. Oder willst Du gleich an Land?"

„So wie wir anlegen," sagte der Mann auf das Entschiedenste.

„Und wo ist Dein übriges Gepäck?"

„Hier," antwortete Ballenstedt und producirte unter dem Mantel vor ein in ein rothbaumwollenes Taschentuch einge-/9/knüpftes Bündel und - eine Schaufel, die er jedoch mürrisch wieder verbarg, als er die Fröhlichkeit der Umstehenden bemerkte. Diese hatten aber doch zu viel mit sich selbst zu thun, als aus den wunderlichen Gesellen weiter zu achten, und die Matrosen, die jetzt auf die Back sprangen, die Anker da vorn „klar zu machen", brachen überhaupt die Unterhaltung kurz ab. Der Ort mußte geräumt werden, und die Passagiere zerstreuten sich wieder über Deck, um, hinter der Schanzkleidung vor, nach der immer noch fernen Küste sehnsüchtig hinüber zu schauen.

Eine der hervorragendsten Gestalten unter diesen war ein ältlicher Herr, ebenfalls schon vollständig gerüstet an Land zu gehen, vorläufig aber noch mit einer langen Pfeife im Munde, der ernst und schweigsam, die rechte Hand auf den Rücken gelegt, auf- und abging und ein Lied, fortwährend dabei detonirend, vor sich hin brummte.

„Na, Justizrath, Sie sind auch schon fertig?" redete ihn da ein kleiner Mann in einem grauen Rocke an, der auf der Nagelbank des Fockmastes saß und den vor sich auf und ab Schreitenden schon eine Weile lächelnd gemustert hatte. Es war ein Apotheker aus Hannover, und sonst ein drolliger, aber höchst anständiger Gesell.

„Ich? - ja," sagte der „Justizrath", indem er sich scharf gegen ihn wandte und vor ihm stehen blieb - „habe das verwünschte Schiffsleben satt - machen, daß ich an Land komme - daran gedenken - hol's der Teufel!"

Der Mann sprach außerordentlich rasch, mußte aber noch viel rascher denken, denn er verschluckte die eine Hälfte seiner Worte, während er die andere auf eine so barsche Weise herauspolterte, daß er Allen, mit denen er sprach, fortwährend die größten Grobheiten zu sagen schien. Ohlers, der Apotheker, kannte ihn aber schon, und war auch überhaupt nicht der Mann, sich leicht einschüchtern zu lassen.

„Der Herr Justizrath scheinen mit der Behandlung nicht recht zufrieden," lachte er leise vor sich hin und sah dabei an seiner langen, scharfgeschnittenen Nase nieder.

„Hundeleben," bezeichnete der Justizrath seine ganze gegenwärtige Existenz mit dem einen, eben nicht schmeichelhaften /10/ Wort - „wollen's Capitain aber schon anstreichen - Criminal-Proceß."

„Na da gratulir' ich," sagte Ohlers - „der arme Capitain."

„Nun, Justizrath, auch schon gestiefelt und gespornt?" näselte in diesem Augenblick ein langer junger Mensch, ein Kajüts-Passagier, dessen Eltern ihn, wie es hieß, zu ihrem eigenen Besten nach Californien geschickt hatten, um ihn nur von Hamburg los zu werden. Die Hände in den Taschen war er langsam angeschlendert, und lehnte sich jetzt mit der Schulter an einen der Hühnerkasten an, als ob er seinen Beinen das Gewicht des dürren Körpers nicht weiter anvertrauen möge.

„Ja woll, Herr Binderhof," brummte der Angeredete, indem er eine solide Tabakswolke von sich blies und den Kajüts-Passagier nur über die Schultern anblickte. - „Ihnen besser gefällt - können hier bleiben."

„Danke Ihnen, Herr Justizrath," lachte aber der Lange, „ausgenommen Sie schenken mir die Ehre Ihrer Gesellschaft."

„Unausstehlicher Mensch," brummte der Justizrath in den Bart, qualmte ärger als vorher und lief auf die andere Seite des Decks.

„Verrückter Kerl," lachte der Lange hinter ihm drein - „was erzählte er Ihnen denn eben, Ohlers?"

„Oh," sagte der Apotheker, „blos von Ihnen, Herr Binderhof."

„Von mir?"

„Ja wohl, Herr Binderhof; er erzählte mir, wie Ihre Eltern so außer sich gewesen wären, daß Sie absolut nach Californien wollten."

„Holzkopf," murmelte Herr Binderhof vor sich hin, verließ den Hühnerkasten und schlenderte ärgerlich nach der Kajüte zurück. Ohlers sah ihm mit einem seiner trocken-komischen Blicke nach, als Herr Hufner an ihm vorüberschritt. Die Gelegenheit war zu verlockend, nicht wenigstens ein Gespräch mit ihm anzuknüpfen.

„Herr Hufner, Herr Hufner," drohte er ihm lächelnd mit dem Finger, „Sie scheinen mir auf bösen Wegen zu sein!" /11/

„Ich? mein guter Herr Ohlers," rief der junge Mann bestürzt, „ich wüßte wahrhaftig nicht weshalb. Ist etwas vorgefallen?"

„Noch nicht," sagte Ohlers ernst, „aber Sie haben sich so herausgeputzt, als ob Sie in San Francisco augenblicklich auf Eroberungen ausgehen wollten, und indessen sitzt Ihre Braut daheim und grämt und härmt sich ab."

„Wahrhaftig nicht," rief aber Herr Hufner rasch und erröthend - „nein, da thun Sie mir unrecht, mein guter Herr Ohlers."

„Schalk, Schalk," fuhr aber dieser fort, „ich hätte große Lust, Ihrer armen Braut mit der nächsten Post ein paar Zeilen zu senden und das unschuldige Ding zu warnen."

„Um Gottes willen machen Sie keinen solchen Scherz," rief aber Herr Hufner erschreckt, „Sie haben keine Idee davon, wie eifersüchtig sie ist, und - sie nähme den Spaß am Ende für Ernst. Nun Gott sei Dank, unsere Trennung har jetzt die längste Zeit gedauert." .

„Was?" rief Ohlers erstaunt, „wollen Sie gleich wieder umkehren?"

„Nein, das nicht," sagte Herr Hufner vergnügt, „aber es ist schon unter uns ausgemacht, daß sie mir in drei Monaten - von meiner Abreise an gerechnet - nachkommen soll. Sie kann also schon jetzt recht gut in Rio de Janeiro sein."

„Aber was um Gottes willen wollen Sie mit Ihrer Braut in Californien machen!" sagte Ohlers kopfschüttelnd - „Sie wissen noch selber nicht einmal, was aus Ihnen wird. Hat sie denn Geld?"

„Meine Braut? - nein," sagte Herr Hufner, „das ist aber auch nicht nöthig."

„Na, haben Sie denn 'was?"

„Noch nicht," lächelte der junge Mann vergnügt vor sich hin, „aber da drüben liegt ja Californien."

„S-o?" sagte Ohlers - „und das ist Alles?"

„Nun, ist das nicht genug?" lächelte Herr Hufner. „Ich habe volle drei Monat Zeit, mir ein Vermögen zu erwerben. Als Commis darf ich freilich nicht eintreten, denn wenn ich auch drei- bis viertausend Dollar Gehalt bekäme, machte das /12/ auf drei Monate höchstens tausend Dollar, und damit kann man noch nicht viel beginnen. Aber ich gehe in die Minen; eine Unze täglich ist mir dort gewiß, und drei Monate, den Monat nur zu siebenundzwanzig Arbeitstagen gerechnet, liefern doch immer schon ein kleines Capital von wenigstens eintausend sechshundert und zwanzig Thalern, einzelne glückliche Tage, die gar nicht ausbleiben können, ganz abgerechnet. Ich weiß aus zuverlässiger Quelle, daß Goldwäscher dort an manchen Tagen fünf- und sechshundert Dollar gefunden haben."

„Und darauf hin allein lassen Sie wirklich Ihre Braut nachkommen?"

„Darauf hin?" wiederholte Herr Hufner erstaunt. „Als ob das nicht Sicherheit genug wäre! Fragen Sie einmal die Frau Siebert, oder lassen Sie sich einmal die Briefe zeigen, die deren Mann ihr von San Francisco geschrieben hat. In drei Tagen haben ihrer Zwei aus irgend einer alten Schlucht dort drüben für viertausend Dollar blankes Gold herausgegraben. In drei Tagen sage ich Ihnen."

„Da haben sie allerdings brillante Geschäfte gemacht," meinte Ohlers, „wie Viele aber werden da oben in den Bergen herum hacken und schaufeln, ohne mehr zu finden, als was sie .eben zum Leben brauchen - und wie theuer sind die Provisionen dann wahrscheinlich dort? Ne, mein guter Herr Hufner, wo ein Viergroschen-Brod fünf spanische Dollar kostet, hört die Gemüthlichkeit auf."

„Aber weshalb sind denn Sie da nach Kalifornien gegangen?" lächelte Herr Hufner, und sah Ohlers schalkhaft von der Seite an, als ob er ihn jetzt fest und sicher gefangen hätte.

„Wahrhaftig nicht, um oben in den alten faulen Bergen nach Gold zu puddeln!" rief aber der Apotheker. „Kranke Menschen wird's genug in San Francisco geben - leichtsinniges Gesindel, das sich oben in den Minen so lange Herumgetrieben hat, bis es die Knochen nicht mehr regen kann. Die fallen mir nachher in die Hände, und daß ich die auspressen will, bis sie auch kein Korn Gold mehr hergeben, darauf können Sie sich verlassen."

Ihr Gespräch wurde hier unterbrochen oder vielmehr ge/13/stört, denn zwei andere Personen waren den Gangweg heraufgekommen, und standen jetzt an der Larbord-Schanzkleidung, nach dem Lande hinüber zu schauen. Die eine von diesen war eben jene Frau Siebert, von der Herr Hufner vorhin gesprochen; die andere der alte Assessor Möhler, der gefälligste, bescheidenste, aber auch wunderlichste Mensch unter der Sonne.

Der Mann jener Frau, eigentlich ein etwas leichtes Subject, wenigstens in früherer Zeit, war nach Amerika gegangen, sein Glück zu versuchen, und hatte Frau und Kinder indeß' in Deutschland zurückgelassen.

Er ließ auch Jahre lang nichts von sich hören, bis plötzlich - fast mit der ersten Kunde von der Entdeckung des Goldes in Californien - ein Brief von ihm kam, der die unglaublichste Botschaft enthielt. Siebert war nämlich, mit noch vielen anderen Deutschen, in damaliger Zeit unter jenem Trupp von Freiwilligen gewesen, den die Vereinigten Staaten nach Californien schickten, um von dem Land Besitz zu er-greifen. Diese Leute, meist Abenteurer, die aus keine andere Weise ihr Leben hatten fristen können, hielten auch im Anfang vortrefflich aus und gingen nicht aus dem Bereich ihrer Rationen. Kaum aber drang die Kunde der neuentdeckten Goldminen zu ihnen, als sie fast Alle desertirten und sich nun in den Bergen zerstreuten, um nach Gold zu graben.

Eigenthümlicher Weise fielen diese Leute gleich im Anfang auf die reichsten Stellen, und Manche von ihnen gruben allerdings in wenigen Tagen den Goldwerth von Tausenden von Dollars aus den Bergschluchten. Zu diesen gehörte auch Siebert, und wenn auch leichtsinnig, doch von gutem Herzen, schrieb er augenblicklich nach Hause, seine verlassene Familie zu sich zu rufen. Die Beschreibung der californischen Schätze, die er dem Briefe beifügte, lief sogleich mit Blitzesschnelle durch die ganze Nachbarschaft und verleitete Manchen, die eigene Heimath zu verlassen und sich gleichfalls mit so leichter Mühe Schätze zu erwerben. Niemand aber war glücklicher als die Frau Siebert, die von Haus zu Haus zu ihrer Bekanntschaft lief, den Glücksbrief ihres Mannes vorzuzeigen. Wie sie dabei beneidet wurde, läßt sich denken, aber sie verlor /14/ auch keine Zeit, sich und die Kinder zu ihrer Reise zu rüsten. Das Geld zur Ueberfahrt hatte ihr der Mann auf Hamburg angewiesen, und das erste Schiff, das von dort nach San Francisco bestimmt in See ging, nahm sie und die Kinder an Bord, um dem Ruf des Gatten Folge zu leisten und in seine Arme zu eilen.

Unterwegs war die Frau übrigens, in so ärmlichen Verhältnissen sie bis jetzt gelebt haben mochte, mit einer eigenen Art von Ehrfurcht betrachtet worden. Ging sie doch in Californien keineswegs einer ungewissen Zukunft entgegen, und gehörte ja ihr Mann selber mit zu den wenigen Glücklichen, die im ersten Anfang Gelegenheit gehabt, die Schätze jenes wunderbaren Landes auszubeuten. Sie hatten gewissermaßen den Rahm schon abgeschöpft, und die Frau traf jetzt nur dort ein, die Früchte jener leichten Arbeit zu genießen. Ihr Mann wußte dabei gewiß die besten und reichsten Stellen in den Bergen, und hätte ihnen treffliche Anleitung geben können - wenn er eben wollte. Jedermann behandelte deshalb die Frau höchst achtungsvoll und that ihr alles Mögliche zu Gefallen - vielleicht daß sie doch ein gut Wort für sie einlegen konnte.

Dieses ehrfurchtsvolle Betragen der Leute an Bord gegen sie verwöhnte sie aber. Nach dem Brief ihres Mannes mußte sie sich außerdem als eine, ihren Begriffen nach reiche Frau betrachten, und das neue, bis dahin nie gekannte Gefühl: Jemanden protegiren zu können, that das Uebrige. So schüchtern sie an Bord gegangen war, so zuversichtlich wurde sie nach und nach, und ihre Einbildungskraft half ihr dabei sich das Leben in Californien mit den glühendsten, lebendigsten Farben auszumalen.

Der „Assessor" Möhler war gerade das Gegentheil von ihr, und zwar ein Mann schon im reifsten Mannesalter - ein angehender Fünfziger. Er selber sprach allerdings nie über seine früheren Verhältnisse; Einzelne an Bord schienen ihn aber früher gekannt zu haben, und so erfuhren denn die Andere» auch sehr bald, daß er, wenn auch nicht in glänzenden, doch ganz angenehmen, jedenfalls gesicherten Verhältnissen in Deutschland gelebt hatte, und eigentlich nur durch seine ver/15/heiratheten Töchter - kleine Gonerils und Regans, als ein sehr bescheidener König Lear - nach Californien geschickt war. Während er früher Alles, was in seinen Kräften stand, und eigentlich noch mehr, für seine Kinder gethan hatte, ermüdeten diese seine kleinen, sehr unschuldigen Eigenheiten. Zum Reisen hatte er überdies stets Lust gezeigt, und man wußte ihn aus geschickte Art halb zu überreden, halb zu zwingen, daß er noch in seinem Alter „sein Glück" in dem fremden und fabelhaften Goldlandc versuche.

Der Assessor ging allerdings - aber wenn er auch nicht darüber sprach, fühlte er doch, wie er eigentlich behandelt worden und daß er seinen eigenen Kindern im Wege gewesen wäre, und das gab seinem ganzen Wesen etwas Gedrücktes, Schmerzliches. Seine angeborene Gutmüthigkeit ließ es jedoch keinem Andern entgelten wie nur sich selber. Gegen sämmtliche Mitpassagiere war und blieb er, trotz mancher heimlichen und offenen Neckerei, die Gefälligkeit selber, und half, wo er nur irgend konnte. Kein Messer wurde an Bord geschliffen, zu dem er nicht den Stein drehte, kein Knopf angenäht, den er nicht, aus einem beträchtlichen Vorrath solcher Artikel, mit Zwirn und Nähnadel lieferte; sein Kochgeschirr wanderte von Hand zu Hand, und so oft es auch verbogen oder beschädigt 'zu ihm zurückkehrte - so oft er sich dann auch vornahm, es nicht wieder auszuleihen, dauerte solch ein guter Vorsatz doch nie länger als bis zur erneuten Bitte eines Reisegefährten - denn eine Bitte konnte er nun einmal nicht abschlagen.

Schon in Deutschland hatte er sich dabei sehr gern mit kleinen Kindern beschäftigt. Die einzigen jedoch, die er an Bord vorfand, gehörten der Frau Siebert, und die kleinen Wesen merkten gar bald, wie sie mit ihm standen. Wo er sich aufhielt, hingen sie sich an ihn, und er wurde auch wirklich nicht müde, sich mit ihnen zu beschäftigen und sie nach Umständen selbst zu warten und reinlich zu halten. Zugleich wußte er eine Menge Spielereien für sie anzufertigen, malte ihnen Bilder und schnitt ihnen Figuren und Häuser aus Papier, und war mit einem Wort das Factotum der drei Kleinen an Bord. Die Frau hatte das im Anfang mit großem und /16/ aufrichtigem Dank angenommen, und es sich sogar nicht nehmen lassen, dem Assessor, für so manchen ihr erwiesenen Dienst, wenigstens die Wäsche in Stand zu halten. Schon von Rio ab fand sie aber, daß der Mann nur wenig mehr that als die Uebrigen, wenn auch auf andere und nützliche Art. Alle übrigen Passagiere wuschen sich dabei die Wäsche selber, warum konnte es der Assessor nicht ebenfalls thun? Und als er sich endlich den Kübel selber vorholte, seine Hemden einweichte und dann die eigenen Aermel zu der etwas ungewohnten Arbeit aufstreifte, machte sie sich an einem andern Theil des Decks etwas zu schaffen und ließ es ruhig geschehen.

Von da an blieb der Assessor allerdings seine eigene Waschfrau, trotzdem aber auch derselbe Freund und Beschützer der Kinder, mit dem einzigen Unterschied, daß sich die Frau nicht mehr bei ihm dafür bedankte. Wenn sie aber nach Kalifornien kam, hatte sie sich vorgenommen, daß ihr Mann ihm ,,eine gute Stelle sagen solle"; das versprach sie auch dem Assessor aus freien Stücken, und der gutmüthige einfache Mann hatte eine aufrichtige Freude darüber. Kalifornien kam ihm jetzt nicht mehr so fremd und öde vor; er sollte ja einen Freund dort finden, der ihn mit seinem Rath und seiner Erfahrung unterstützen würde. Mit diesen Gefühlen schaute er, das jüngste Kind der Frau Siebert auf dem Arm, nach dem auftauchenden Land hinüber und zeigte dem kleinen dreijährigen Burschen die Berge, „hinter denen sein Vater wohnte".

„Die Frau ist versorgt," sagte jetzt Herr Hufner, aber mit etwas unterdrückter Stimme, zu dem Apotheker - „der Mann hat ein Heidenglück gehabt."

„Wer? - der Assessor?"

„Bst - sprechen Sie nicht so laut - nein, ich meine jener Siebert. Ich weiß nicht, wie viel tausend Dollar der und seine Kameraden im Ganzen förmlich aus der Erde geschaufelt haben. Der Stellen giebt es aber noch mehr, und die Matrosen haben da ein vortreffliches Sprüchwort: Es sind noch so gute Fische im Meer, wie je herausgekommen."

„Ja," sagte Ohlers, „und: was Deines Amts nicht ist, /17/ da laß Deinen Vorwitz, ' oder: Schuster bleib bei Deinem Leisten."

„Wie so?" frug Herr Hufner verwundert.

„Nun, ich meine nur," erwiderte Ohlers trocken. „Die aber, denk' ich, die sich das als ein so großes Vergnügen vorstellen, eine Schaufel statt Spazierstock und eine Spitzhacke statt Regenschirm zu tragen, werden am Ende doch wohl finden, daß sie sich eine verwünscht unbequeme Unterhaltung ausgesucht haben. Nun - der Geschmack ist verschieden. - Aber - wenn ich nicht irre, kommt da unser verrückter „Amerikaner" angeschlichen. Bin auch neugierig, was der eigentlich in Kalifornien verloren hat, und was er dort mit seiner Frau anfangen will."

Der Passagier, von dem er sprach, war ein noch junger, schlanker und blasser Mann, ein geborener Amerikaner, der auf dem Schiff, seines scheuen, abgeschlossenen Wesens wegen, kurzweg den Beinamen des „Verrückten" erhalten hatte. Schiffs-Passagiere sind außerordentlich rasch mit solchen Beinamen bei der Hand. Er war erst in Valparaiso mit einer jungen, höchst liebenswürdigen Frau an Bord gekommen, da ein paar Kajüts-Passagiere dort das Schiff verlassen hatten, und konnte Tage lang auf dem Quarterdeck sitzen, ohne ein Wort mit irgend Jemandem zu sprechen. Nur auf das Meer starrte er dann hinaus, der Richtung zu, in der er Kalifornien wußte, und die Zwischendecks-Passagiere meinten dabei, er suche sich nur einen Platz unten im Wasser aus, wo er nächstens einmal bequem hineinspringen könne.

Die ersten Tage war er allerdings, und zwar ununterbrochen, auf dem Schiff umhergegangen, die verschiedenen Passagiere zu mustern. Er sah sie dann einzeln, wie sie an ihm vorüber- oder ihrer Beschäftigung nachgingen, starr und aufmerksam an, sprach aber mit keinem, und es schien ordentlich, als ob er Jemanden unter ihnen suche. Auch hatte er sich gleich am ersten Tage die Namenliste geben lassen und sie eifrig durchstudirt. Ob er freilich irgend einen Bekannten zu finden hoffte oder fürchtete, wußte Niemand, und es war wohl natürlich, daß sich die Passagiere, mit keiner weiteren Beschäftigung, über das sonderbare Betragen des Mannes /18/ die wunderlichsten Erzählungen bildeten. Da er sich aber still und anspruchslos zurückhielt, ermüdeten sie auch endlich, sich mit ihm zu beschäftigen, und fertigten ihn zuletzt mit dem schon erwähnten Beinamen ab.

Seine Frau war ein junges liebenswürdiges Wesen von kaum achtzehn oder neunzehn Jahren, und wenn sie an Deck erschien, wich sie nie von seiner Seite. Gegen sie selber blieb er auch immer zärtlich und aufmerksam, ja er konnte dann sogar heiter sein. Nur wenn sie ihn verließ, kam der düstere, unheimliche Geist über ihn. Heute freilich schien selbst ihre Nähe den sonst so wohlthätigen Einfluß auf ihn verloren zu haben. Mit dem Land in Sicht, war eine seltsame wilde Unruhe über ihn gekommen, und wieder und wieder lief er über das ganze Deck bis vorn zum Bugspriet, starrte hinüber nach der Küste, als ob er damit ihre Ankunft dort beschleunigen könne, und kehrte dann wieder auf das Quarterdeck zurück.

An Bord befand sich noch, als Kajüts-Passagier, ein alter Herr, ein Arzt, und nur schlichtweg der Doctor genannt - der sein Kojen-Nachbar und dabei der Einzige war, mit dem er sich manchmal unterhielt. Er klagte dann über Schmerzen im Kopf und Beklemmung auf der Brust, und ließ sich leichte Mittel von dem Arzt verschreiben. Diese nahm er auch gehorsam ein, aber das Uebel besserte sich nicht, und Doctor Rascher merkte bald, daß dem hartnäckigen Unwohlsein eine tiefere, das Gemüth betreffende und berührende Ursache zu Grunde liege. Alle Anspielungen darauf blieben jedoch erfolglos. Der Patient leugnete hartnäckig etwas Derartiges zu kennen, ja wich zuletzt ängstlich jeder nur dahin zielenden Andeutung aus. Er schien entschlossen, den fremden Doctor nicht zu seinem Vertrauten zu machen, und dieser konnte ihn natürlich nicht dazu zwingen, deshalb aber auch seinen Zustand nicht verbessern.

Der Amerikaner, dessen Name Hetson war, hatte wieder eine Weile über Bord gesehen, während Ohlers ihn schweigend und kopfschüttelnd betrachtete. Endlich richtete er sich auf, hob gegen Süden, von welcher Richtung sie hergekommen waren, wie drohend die geballte Faust, murmelte einige Worte /19/ in englischer Sprache, die weder der Apotheker noch Hufner verstanden, und wandte sich dann rasch wieder, um auf das Quarterdeck zurückzukehren. Die ihn umstehenden Zwischendecks-Passagiere hatte er keines Blicks gewürdigt.

„Ob sie wohl Narrenhäuser in San Francisco haben?" sagte Ohlers, der ihm nachsah, als er langsam über den Gangweg schritt - „wäre am Ende gar keine so üble Speculation, ein solches, etwas geräumiges Institut da drüben anzulegen. Eigentlich und genau genommen ist schon die Hälfte von Denen, die überhaupt jetzt hier hinüberlaufen, halb und halb verrückt, und daß es bei den Meisten drüben zum Ausbruche kommt, läßt sich mit Gewißheit annehmen. Ich muß mir die Sache doch einmal ordentlich überlegen/'

Hetson schritt indessen auf dem Quarterdeck auf und ab. Seine Frau ging zu ihm und legte ihren Arm in den seinen, und das schien ihn zu beruhigen; wenigstens verließ er bald daraus das Deck und stieg in seine Kajüte hinunter.

Der Mittag rückte jetzt heran, und Capitain wie Steuermann hatten sich mit ihren Instrumenten an Deck eingefunden, ihre Observationen zu nehmen. Leider aber versteckte sich gerade gegen zwölf Uhr die Sonne hinter dichten Wolken, und wenn auch die Seeleute hartnäckig versuchten wenigstens einen Schein ihrer Scheibe zu bekommen, blieb doch Alles vergeblich. Auf offener See hat das nun nicht viel zu sagen; das Schiff hält eben seinen Kurs, und ein heller Tag gleicht Alles wieder aus. Hier aber, dicht vor einer fremden Küste, deren Landmarken noch Keiner von ihnen kannte, mußten sie nothwendig eine mittägige Sonnen-Observation bekommen, um genau die Breite zu erfahren, in der sie sich befanden. Die Wolken verhinderten das, und doch rückten sie, bei der jetzt immer günstiger werdenden Brise, dem Land rasch näher. Das geschah aber nur, um möglicher Weise ein oder das andere Fahrzeug zu treffen, das ihnen den Weg zeigte, wenn sie nicht die Einfahrt selber von außen erkennen konnten. Jedenfalls mußten sie den Versuch machen.

Mehr und mehr traten jetzt auch die schlossen, felsigen und vollkommen kahlen Küstenberge des Festlandes vor, und deutlich konnten sie in deren Nähe mehrere Segel erkennen. An-/20/statt aber von diesen eine Richtung zu erfahren, wurden sie nur noch mehr irre gemacht, denn einige hielten nach Süden hinunter, andere nach Norden hinauf, während einzelne sogar ihren Cours änderten und von der Küste wieder abfielen. Es war augenscheinlich, daß diese alle die Einfahrt eben so wenig kannten wie sie selber, und gleichfalls ein Schiff, das sie führe, oder den nächsten Mittag erwarten wollten.

Die Leontine änderte jetzt ebenfalls ihren Cours, den starren Uferklippen nicht zu nahe zu kommen, und die Passagiere wußten gar nicht, was sie davon denken sollten. Draußen in offener See nämlich sind sie wohl gezwungen, der Führung des Capitains zu vertrauen. Sie selber haben keinen Anhaltepunkt für das Auge, und die Seeleute waren ja dafür verantwortlich, sie richtig an Ort und Stelle zu bringen; hier jedoch wurde das ganz etwas Anderes. Hier sahen sie das Land hell und klar mit all' seinen Einschnitten und Kuppen, seinen Bergen und Thälern liegen, und daß der Capitain dort nicht geradezu anlief und Anker warf, kam ihnen unverantwortlich vor und betrog sie nur wieder so viele Stunden um ihre kostbare Zeit. Die Gefahr, die ihnen und ihrem Schiff drohte, wenn ein schweres Wetter sie in der Nähe der fremden Küste betroffen hätte, kannten sie ja nicht.

Mr. Hetson war ebenfalls wieder an Deck gekommen, und besonders schien ihn hier der Anblick der fremden Schiffe aufzuregen. Er lief zum Capitain und verlangte von diesem zu wissen, was für Fahrzeuge das wären und wo sie herkämen. Da jedoch keins derselben geflaggt hatte, ließ sich das gar nicht bestimmen, und höchstens konnte ihm der Seemann nach der Bauart einzelner und der Stellung ihrer Segel die Vermuthung aussprechen, daß es Amerikaner, Engländer, Franzosen oder Deutsche seien.

Die Sonne neigte sich dem Horizont, und die Leontine, anstatt so rasch als möglich einen Ankerplatz zu suchen, hatte ihre Segel umgebraßt und hielt so viel sie konnte von der Küste ab. Die Passagiere deshalb, die sich für eine augenblickliche Landung vorbereitet hatten, waren gezwungen, ihre „Uferkleider" wieder auszuziehen, und unverhehltes Mißvergnügen herrschte ziemlich überall an Bord. Erst mit Dunkel/21/werden war der junge Amerikaner in seine Koje hinabgegangen, und die meisten der Passagiere hatten sich ebenfalls, trotz des wundervollen und warmen Abends, in die Haupt-Kajüte zurückgezogen, um mit Kartenspielen und einer Bowle den „hoffentlich letzten" Abend an Bord zu feiern. Nur der Doctor war mit dem Steuermann oben auf Deck eine Weile hin und her geschritten, und als diesen seine Geschäfte nach vorn riefen, irgend etwas an Segeln oder Tauwerk nachzusehen, blieb der Doctor allein zurück, lehnte sich über das Deck hinaus und schaute nach dem Steuerruder nieder, das in der leicht bewegten See einen Feuerstrudel zog und in tausend und tausend Funken blitzte und glitzerte.

„Doctor," flüsterte da eine leise, ängstliche Stimme an seiner Seite.

Rasch fuhr er empor, denn an der Stimme hatte er Mrs. Hetson, die Frau des Amerikaners, erkannt.

Die junge Dame stand auch wirklich, fest in ihren Shawl gehüllt, dicht neben ihm, und erstaunt rief er aus:

„Mrs. Hetson? und was führt Sie noch so spät in der feuchten Nachtluft hier allein an Deck? - wo ist Mr. Hetson?"

„Er schläft, Doctor,"' antwortete ihm die Frau, sichtlich erregt, „und ich habe den Augenblick benutzt, Sie einmal allein zu sprechen. Ich muß Sie sprechen, muß mit Ihnen reden, so lange das noch ungestört geschehen kann, und an Land zweifle ich fast, daß mir die Gelegenheit werden wird. Ich - ich weiß nur nicht, ob Sie Geduld haben, mir eine Viertelstunde Gehör zu schenken."

„Beste Mrs. Hetson," sagte der alte Mann freundlich - wäre - und hier also nur meine Pflicht thue - würde der Zweifel ungerecht gewesen sein. Sie wollen mit mir über Ihren Gatten sprechen?"

„Ja“, hauchte die Frau und warf einen scheuen Blick über das Deck zurück, ob auch Niemand weiter in der Nähe wäre. Nur der steuernde Matrose lehnte an den Speichen seines in Rades, konnte aber von der mit unterdrückter Stimme und in englischer Sprache geführten Unterhaltung nichts verstehen. Der Steuermann, der wieder auf das Quarterdeck gekommen /22/ war, stand vorn an einer der auf das Mitteldeck niederführenden Treppen und beobachtete den Gang des Schiffes.

„Ich dachte es mir," sagte der Arzt, „und habe mir lange gewünscht, daß er oder Sie offen gegen mich gewesen wären - ich hätte Ihnen dann vielleicht Hoffnung auf seine Heilung geben können, denn sein Leiden scheint mir tief und schwer zu sein. So leicht wir aber die meisten Krankheiten des Körpers nach ihren äußeren Erscheinungen zu bestimmen vermögen, so schwer, ja unmöglich ist es für den Arzt, den Seelenleiden eines Patienten aus die Spur zu kommen, wenn er selber uns nicht freiwillig die Hand dazu bietet - und ein Seelenleiden ist es jedenfalls, das den Körper Ihres Gatten aufreibt und auf die Länge der Zeit selbst verderblich für ihn wirken muß."

„Sie haben Recht," antwortete leise die Frau, „und oft schon bat ich ihn, aber stets vergebens, Ihnen zu vertrauen. Er hat mir sogar streng verboten, mit irgend Jemandem, wer es auch sei, darüber zu sprechen. Aber ich fühle, daß ich nur zu seinem Besten handle, wenn ich sein Gebot übertrete - ja ich muß meinethalben reden, wenn mich nicht die Sorge um ihn - um mich zuletzt aufreiben soll."

„Fassen Sie sich, beste Frau, fassen Sie sich," bat aber der alte Mann die Erregte, indem er hinüber nach dem aufmerksam werdenden Matrosen deutete. „Die Leute verstehen fast alle etwas Englisch, und wir brauchen keinen weiteren Zeugen."

„Sie haben Recht," sagte die junge Frau mit völlig ruhiger, gesammelter Stimme. „So hören Sie denn, und zürnen Sie nicht, wenn ich etwas weiter ausholen, wenn ich auf mich selbst zurückkommen muß - ich werde Sie aber mit keinem unnöthigen Wort ermüden."

„So kommen Sie hier zur Schanzkleidung," sagte der Arzt - „in die See hinausgesprochen verhallen die Worte, und Niemand an Deck kann hören, über was wir hier verhandeln."

Die Frau trat zu ihm, lehnte sich mit ihrem Arm auf die breiten Bulwarks und sagte dann, mit jetzt fast ruhiger Stimme: /23/

„Ich will Ihnen Alles ersparen, was mich selbst betrifft; nur so viel müssen Sie wissen, daß ich vor etwa zwei Jahren mit einem Landsmann von mir, einem jungen Engländer, in meinem Vaterlande verlobt wurde und ihn von Herzen liebte. Er war Seemann und wollte nur noch eine Reise nach Ostindien machen; nach seiner Rückkehr sollte dann der Kirche Segen uns verbinden. - Wenige Tage später traf uns da die Schreckenskunde, daß sein Schiff, gleich beim Auslaufen aus der Themse, auf den Goodwin Sands verunglückt und mit seiner ganzen Mannschaft untergegangen sei. Nur ein einziger Matrose war wie durch ein Wunder gerettet und wieder an die englische Küste gebracht worden. Mich warf der Schmerz um den Bräutigam auf das Krankenlager, und mein Vater nahm in jener Zeit um so lieber eine ihm gebotene amtliche Sendung nach Buenos Ayres an, als er auch für mich am leichtesten Heilung in einem Luft- und Scenenwechsel zu finden hoffte. Wir reisten dorthin ab, und schon unterwegs erholte ich selber mich vollkommen. Unser Aufenthalt in der Argentinischen Republik dauerte aber nicht lange, und die politischen Verhältnisse jenes unruhigen Landes nöthigten meinen Vater, dem ihm nicht gewogenen, allmächtigen Dictator Rosas aus dem Wege zu gehen. Von dort schifften wir uns nach Chile ein, und in Valparaiso machte ich die Bekanntschaft meines jetzigen Gatten, Mr. Hetson's. Dieser hatte nämlich meinem Vater mit der aufopferndsten Uneigennützigkeit verschiedene Dienste geleistet. Wir lernten ihn dabei Alle als einen so wackern und edlen Mann kennen, daß wir ihn lieb gewinnen mußten und ich endlich seiner Bewerbung um meine Hand nachgab. Er war unendlich glücklich und trug mich auf den Händen - ja, thut es noch, und ich durfte an seiner wahren Liebe keinen Augenblick zweifeln.

„So kam unser Hochzeitstag heran. - Wir sollten im Hause des amerikanischen Consuls getraut werden, und eben im Begriff einzusteigen, um dorthin zu fahren, bekam mein Vater noch Depeschen von Europa, die er natürlich bis nach dem Schluß der feierlichen Handlung liegen ließ."

Mrs. Hetson schwieg einen Augenblick, als ob sie erst Kräfte sammeln müsse, die Erinnerung an jene Zeit noch /24/ einmal durchzuleben; als sie der Arzt aber mit keinem Worte unterbrach, fuhr sie endlich nach kurzer Pause langsam fort:

„Als wir nach Haus zurückkehrten, wo meine Eltern ein kleines Fest für uns arrangirt hatten, fand ich auch einen Brief für mich vor, und ein eigenes Zittern durchlief schon bei dem Anblick der Aufschrift meinen ganzen Körper. - Ich will Sie aber nicht mit dem ermüden, was ich empfand und litt, sondern Ihnen nur einfach die Thatsachen mittheilen. Der Brief war von Charles -"

„Von wem?"

„Von meinem früheren Bräutigam," flüsterte die Frau. „Nach dem Schiffbruch seines eigenen Fahrzeugs von einem amerikanischen Schooner gerettet, hatte diesen der in jener Nacht und die nächsten Tage tobende Nord-Ost-Sturm verhindert, ihn an Land zu setzen. Bald ließen sie Europa hinter sich, und Charles war gezwungen, die Reise nach Brasilien, wohin der Schooner bestimmt war, mitzumachen. Dort warf ihn ein hitziges Fieber Monate lang aus das Krankenlager; schon bewußtlos wurde er an Land und in ein Spital geschafft, und als er wieder zu sich kam und an uns nach England schrieb - erhielt er von dort keine Antwort mehr. Wir waren indessen abgereist - ja hatten eine volle Woche in einer und derselben Stadt, in Rio de Janeiro, zugebracht, ohne von seinem Leben eine Ahnung zu haben. So wie er sich aber erholt, reiste er selber nach England, erfuhr unsern Aufenthaltsort und schrieb nach Buenos Ayres. Aber auch der Brief verfehlte uns, da wir indessen nach Valparaiso übergesiedelt waren, und erst als er nach langer Zeit zufällig in England unsern neuen Aufenthaltsort erfahren, schrieb er auf's Neue, schrieb von seinem Leben - von seiner Liebe - und daß er dem Briefe auf dem Fuße folgen würde."

„Und weiß Mr. Hetson von dem Briefe?" frug der Arzt.

„Ja," sagte die Frau. „Ich war sein Weib - ich fühlte, daß ich kein Geheimniß - kein solches Geheimniß vor ihm haben dürfe, wenn nicht unser ganzes künftiges Lebensglück gefährdet sein sollte, und beschloß, wahr gegen ihn zu sein. Eine Verbindung mit Charles war ja doch unmöglich geworden - ich gehörte meinem Gatten an und hoffte, er würde mir /25/ genug vertrauen, meinen Versicherungen auch zu glauben.

An dem nämlichen Abend konnte ich freilich keinen Muth zu dem Schritt fassen; aber am nächsten Morgen gestand ich meinem Gatten Alles, zeigte ihm den Brief und versicherte ihm, daß ich Charles zwar früher geliebt, aber auch fest entschlossen sei, jede, selbst briefliche Verbindung mit ihm abzubrechen. Das nächste Postschiff sollte den Scheidebrief an ihn mitnehmen, in dem ich ihm das Geschehene auseinandersetzte und ihn bat, sich wie ein Mann in das nun einmal Unabänderliche zu fügen."

„Und wie nahm Ihr Mann das Geständniß auf?" frug der Arzt leise.

„Im Anfang so ruhig und vernünftig, wie ich nur hoffen und erwarten konnte," erwiderte die Frau. „Er dankte mir auf das Herzlichste für das Vertrauen, das ich in ihn gesetzt, bedauerte den Unglücklichen, der durch eine solche Reihe von Unglücksfällen um meinen Besitz gebracht sei, und bat mich selber, ihm so rasch und ausführlich als möglich zu schreiben. Nur wenn er Alles wußte, lernte er am leichtesten entsagen.

„Augenblicklich schrieb ich den Brief, den ich Hetson zu lesen gab. Er war vollkommen damit einverstanden, und die nächste Post nahm ihn nach England mit; aber selbst von dem Tage an bemächtigte sich meines Gatten eine eigene Unruhe. Wieder und wieder las er Charles' Zeilen, der mir allerdings geschrieben, daß er keine Antwort abwarten, sondern seinem Briefe mit dem nächsten Schiffe folgen würde. Vergebens gab ich ihm die Versicherung, daß ich ihn, wenn er selbst nach Valparaiso käme, nicht sehen wolle und fest überzeugt wäre, er würde das Land augenblicklich wieder verlassen, sobald er erfuhr, was indessen hier geschehen war. Es blieb Alles umsonst. Tag und Nacht ließ es ihm keine Rast; der Gedanke, daß Charles kommen und mich zurückfordern werde - so wild und unwahrscheinlich auch immer - bemächtigte sich mit jeder Stunde mehr seiner Seele, und in einem reinen Ausbruch von Verzweiflung bat er mich endlich, mit ihm in ein anderes Land zu fliehen, denn er sei nicht mehr im Stande, diese stete, ihn aufreibende Angst zu ertragen.

„Ich willigte endlich ein. Mein Vater, dem ich Alles ge-/26/standen, redete mir selber zu, den Wunsch meines Mannes zu erfüllen, und da gerade Ihr Schiff, nach San Francisco bestimmt, in Valparaiso anlegte, beschloß Mr. Hetson die Gelegenheit ohne Weiteres zu benutzen. Unsere Vorbereitungen waren auch bald getroffen, nur wußte ich nicht, weshalb Mr. Hetson dieselben so geheim betrieb. Endlich gestand er mir, er fürchte, daß uns mein früherer Bräutigam selber nach Kalifornien folgen würde, und habe deshalb beschlossen, ihn von unserer Fährte abzubringen. Ein anderes Schiff lag nämlich gleichzeitig, nach Sidney in Australien bestimmt, im Hafen von Valparaiso, und ein Brief, der für Charles zurückbleiben sollte, enthielt die Meldung, daß wir uns nach Neu-Holland eingeschifft hätten.

„Vergebens bat ich Hetson, bei der Wahrheit zu bleiben und sich fest darauf zu verlassen, daß Charles seine Ruhe nie versuchen würde zu stören. Schon die Bitte allein erweckte sein Mißtrauen, seine Eifersucht. Er fing an zu glauben, daß mir daran liege, ihm ein Zeichen zu hinterlassen, wohin wir uns gewendet, und überwachte jeden meiner Schritte, ja selbst meine Blicke auf das Aengstlichste, so lange wir uns noch an Land befanden. Meine Eltern beschwor er dabei bei Allem, was ihnen heilig sei, dem Ankommenden unsern wahren Aufenthalt nicht zu verrathen, und befand sich auch fortwährend in einer solchen Aufregung, daß ich zuletzt selber den Augenblick herbeisehnte, in dem wir Chile verlassen würden. Hoffte ich doch, daß sich dann seine Unruhe legen, seine unglückliche Angst beschwichtigt werden würde."

„Aber das hat sich nicht erfüllt?" sagte theilnehmend der Arzt.

„Nein," seufzte die Frau; „es ist im Gegentheil, seit wir das Land in Sicht haben, noch mit vermehrter Stärke wieder ausgebrochen. Hatte er doch schon in den ersten Tagen unserer Reise die unglückselige und fixe Idee, daß sich Charles heimlich mit an Bord geschlichen habe. Erst als er sich vom Gegentheil fest und unleugbar überzeugt, wurde er ruhiger; mit dem Land aber vor sich, mit den fremden Schiffen in Sicht, scheint die alte Angst nur stärker wiederzukehren. Auf jedem Fahrzeug, das den Eingang zur San Francisco-Bai /27/ sucht, fürchtet er den Mann, den er für seinen Nebenbuhler hält. Er zittert sogar schon vor dem Betreten des fremden Bodens, den Jener vor uns erreicht haben könnte, und ich selber bin über diesen Zustand des Unglücklichen, der nahe an Wahnsinn grenzt, in Verzweiflung. Deshalb, verehrter Herr, drängte es mich auch, mein Herz einmal gegen irgend Jemanden auszuschütten, und wem hätte ich da eher vertrauen können, wie gerade Ihnen?"

„Ihr Vertrauen soll Sie da nicht getäuscht haben, verehrte Frau," sagte der alte Mann gerührt, „aber ich weiß nicht recht, wie ich Ihnen da jetzt beistehen kann. Ihr Gatte hat einmal diese unglückliche fixe Idee gefaßt, und mit äußeren Mitteln ist da nichts zu bessern."

„Wenn man ihm nur die Kunde bringen könnte," seufzte die Frau, „daß - Jener wirklich nach Australien gegangen sei."

„Um Gottes willen nicht," rief der Arzt schnell, „dann würde er erst die Gewißheit haben, daß er Sie wirklich verfolge, und nie im Leben mehr Ruh' und Rast finden. Von Australien kommen überdies, wie ich gehört habe, sehr häufig Schiffe in San Francisco an, und jedes von diesen würde seiner Unruhe neue, und dann gerechtfertigte Nahrung geben."

„Aber was soll, was kann ich da thun? Wie wird das überdies enden," frug verzweifelnd die Frau, „wenn diese fixe Idee mehr und mehr überhand nimmt? Schon jetzt ist sein Körper dieser ununterbrochenen Aufregung fast erlegen."

„Fahren Sie vor allen Dingen fort," sagte der alte Mann, „wahr und aufrichtig gegen Ihren Gatten zu sein. Der geringste Widerspruch, auf dem er Sie beträfe, könnte und müßte das Uebel nur verschlimmern. Geben Sie ihm dagegen nicht den geringsten Anlaß zu Verdacht, und hört er nichts mehr von dem vermeintlichen Nebenbuhler, so ist die Zeit sein bester Arzt und wird ihn bald vollkommen wiederherstellen."

„Aber wenn nicht?" frug, ängstlich die Hände gefaltet, die Frau - „wenn in dem fremden Lande diese entsetzlichen Träume stärker und stärker würden?"

„Vertrauen Sie auf Gott," unterbrach sie ernst der alte Mann, „und bedenken Sie vor allen Dingen, daß Sie durch solche ängstliche Phantasien Ihre eigene Gesundheit muth-/28/willig untergraben. Haben Sie guten Muth; das neue rege Leben da drüben wird den besten und heilsamsten Einfluß auf Ihren Gatten ausüben. Jetzt in das enge Schiff einge¬schlossen, Tag für Tag ohne jede Beschäftigung, nur immer auf die gewohnte Umgebung angewiesen, deren man ohnedies müde wird, ist es kein Wunder, daß er sich solchen unglück¬lichen Ideen mit doppelter Schärfe hingegeben. Erst einmal von dem praktischen californischen Leben, von all' dem Drängen und Ringen nach Gold und Schätzen umrauscht, wird und muß er seine trüben Gedanken bald vergessen."

„Ich will es hoffen," seufzte die Frau aus tiefstem Herzen, „ich selber will ja gern Alles thun, was in meinen Kräften steht, ihn aufzuheitern und zu zerstreuen - wenn nur sein Geist nicht schon gelitten hat."

„Ich fürchte das nicht," sagte freundlich der Arzt. „Geben (sie sich nur nicht selber solchen gefährlichen Träumen hin, dann wird schon Alles gut werden. Uebrigens kenne ich nun sein Leiden, und sollten Sie in San Francisco meiner Hülfe bedürfen, so seien Sie versichert, daß ich Ihnen treu und redlich zur Seite stehen werde."

„Das lohne Ihnen Gott," sagte die Frau und ergriff zitternd seine Hand; der alte Herr bot ihr aber freundlich den Arm und geleitete sie zu der in die Kajüte hinabführenden Treppe, wo er sie verließ, um an Deck zurückzukehren.

2.

Das „goldene Thor".

Sonnen und klar brach der nächste Morgen an. Kaum aber warf der erste Dämmerschein seinen mattgrauen Strahl über die ruhig wogende See, als das Deck der Leontine schon von Passagieren wimmelte, denn „Da liegt das /29/ Land! Dort liegt Califonium!" (wie es die Leute wunderbarer Weise nannten) schoß wie ein Lauffeuer durch das ganze Zwischendeck.

Der Capitain hatte nämlich die erste Hälfte der Nacht vom Land soviel als möglich abgehalten; nach acht Glasen aber (um Mitternacht) ließ er die oberen Segel einnehmen, um nicht zu viel Fortgang zn machen, und segelte gerade wieder auf die Küste los, um mit vollem Tag derselben nahe zu sein. Bei dem ruhigen Wetter hatte er auch nichts für sein Schiff zu fürchten und lag mit anbrechendem Morgen kaum zwei englische Meilen von der Küste entfernt, die er jetzt, die Brandung voll und deutlich in Sicht, nach Norden auflief.

Acht verschiedene andere Fahrzeuge konnten sie dabei um sich her zählen; einige noch weiter südlich, andere oben mehr nach Norden, und einzelne noch weit draußen in See, die Küste jetzt ebenfalls anlaufend, und keins von diesen schien mehr von der Einfahrt zu wissen wie sie selber.

„Hallo!" schrie da plötzlich der Obersteuermann, der oben in die Marsen gestiegen war, einen besseren Ueberblick zu gewinnen, und deutete mit dem Arm hinüber nach der schroffen Felsenküste, „was ist das da drüben?"

„Wo?" rief der Capitain, der mit dem Fernglas in der Hand auf dem Quarterdeck stand, indem er das Teleskop auszog und hinüberrichtete - „was giebt es dort?"

„Ein Segel, so wahr ich lebe, das gerade aus dem Felsen herauskommt," rief aber der Seemann fröhlich zurück - „dort muß die Einfahrt sein. Sehen Sie da drüben den flachen Felsenkegel, Capitain, mit scharf ausgezackter Wand daneben?"

„Ich hab's!" rief der Capitain zurück, und der Steuermann ergriff eine der ihm nächsten Pardunen, an der er blitzesschnell an Deck hinunterglitt. Aber langes Schauen war nicht mehr nöthig. Der Capitain hatte mit seinem guten Fernrohr bald die schmale Felsschlucht ausgemittelt, aus der heraus gerade jetzt das Helle Segel sichtbar wurde, und im Nu flogen die Raaen herum und strebte der eigene Bug der ersehnten und lange gesuchten Einfahrt entgegen. Kaum weniger aufmerksam waren aber die übrigen Fahrzeuge gewesen, denn wie sie nur die veränderte Richtung der Leontine /30/ sahen, die nicht ohne Grund so gerade auf die schroffe Felsenküste lossteuern konnte, änderten sie sämmtlich ihren Cours. Vielleicht hatten sie dabei ebenfalls das kleine Segel bemerkt; sie mußten aber jedenfalls dort die Einfahrt vermuthen und - hatten sich auch in der That nicht geirrt. Je näher sie der Küste kamen, je deutlicher erkannten sie, daß sich dort die schroffen Felsen von einander trennten und einen schmalen, kanalartigen Eingang bildeten. - Gerade in dem Augenblick kam noch eine amerikanische Brig heraus, und sie wußten nun, daß sie wirklich vor dem sogenannten golden gate oder „goldenen Thore" Kaliforniens lagen.

Das war ein Jubel an Bord, wie sich die Passagiere plötzlich ihrem Ziel so nahe sahen. Alles drängte nach vorn, das so lang ersehnte Ufer endlich begrüßen zu können, oder doch wenigstens zu den hohen kahlen Felsen empor zu starren, die rechts und links die Einfahrt bezeichneten. Zwischen den Passagieren hindurch aber, die heute überall im Wege standen, schoben und preßten die Matrosen, fluchend und wetternd, und, wo dies nicht genügte, auch wohl ohne besondere Umstände die Fäuste gebrauchend, bis sie sich Raum für ihre nothwendigsten Arbeiten erzwangen.

- Jetzt, wie mit einem Zauberschlag, klafften die beiden schroffen Felsenwände zurück, während das Fahrzeug, von Wind und Fluth begünstigt, rasch durch die enge Straße schoß, und weit voraus öffnete sich das herrliche, großartige Wasserbecken der Bai von San Francisco, an dessen rechter Seite, nur noch von einer vorspringenden Landzunge geschützt, sie schon den Mastenwald der dort ankernden Schiffe erkennen konnten. Das war ein Drängen und Fragen und Jubeln und Laufen an Bord, denn wunderbar rasch entfaltete sich mehr und mehr das eigenthümliche Leben der Bai vor ihren Augen; aber zum Antworten hatte Niemand Zeit oder Lust. Jeder wollte nur sehen - genießen, und achtete schon des Gegenwärtigen nicht mehr, denn gerad' voraus enthüllte sich mit jeder Schiffslänge mehr das eigentliche Ziel der langen Fahrt, die Hauptstadt ihrer goldenen Träume: San Francisco.

Noch hatten sie erst einzelne zerstreute Häuser und Zelte auf den dort nächsten Hängen erkannt; plötzlich aber, die /31/ Spitze der Landzunge umfahrend, lag die wunderlichste Stadt der Erde in ihrer ganzen Ausdehnung, vorn von Hunderten von abgetakelten Schiffen, im Hintergründe von kahlen Bergen umschlossen, vor ihnen da. Der eigene niederrasselnde Anker - die herrlichste Musik nach so langer Fahrt - brachte sie auch erst wieder zu sich selber und kündete den Passagieren, daß ihr passives Leben, dem sie sich fast ein halbes Jahr gezwungen hingegeben, jetzt einem thätigen, selbstständigen Raum machen müsse.

Der Anker faßte - das Hintertheil ihres Fahrzeugs schwang herum, den Bug der Einfahrt wieder zugekehrt, und zu gleicher Zeit fielen die Raaen und flatterten die gelösten Segel und kletterten die Matrosen nach oben, die in der scharfen Brise auswehende Leinwand fest zu beschlagen. Das Manöver aber, das zu jeder andern Zeit die Aufmerksamkeit der Passagiere gefesselt haben würde, blieb in diesem Augenblick von ihnen vollkommen unbeachtet. Da draußen war mehr zu sehen, als ihnen ihr eigenes Schiff und dessen Regierung bieten konnte, und wer von ihnen gerade nicht damit beschäftigt war, sein eigenes Gepäck zusammenzuraffen, hing gewiß an der Schanzkleidung und schaute hinüber nach dem lärmenden Leben und Treiben der Bai.

Dicht neben der Leontine, d. h. vielleicht zweihundert Schritte davon entfernt, lag eine Bremer Barke, die gleichfalls eben, oder doch vor ganz kurzer Zeit eingekommen schien; sie hatte wenigstens ein flachbodiges Boot langseits, in das die Seeleute die Güter der Passagiere hinabließen. Das Lichterfahrzeug war auch geräumig genug, eine ziemlich schwere Last und eine Anzahl von Menschen zu fassen. Kisten und Kasten, Ballen, Fässer, Koffer und Hutschachteln standen schon in Masse darin weggestaut, und die wunderlichste menschliche Fracht hütete überdies dabei ihr Eigenthum und wartete auf den Moment des Abstoßens.

Fast Alle waren bis an die Zähne bewaffnet mit Flinten, Pistolen, Säbeln und Dolchen; ganze Bündel Spaten, Spitzhacken und Brecheisen lagen ebenfalls in dem Boot aufgeschichtet, und ein paar matrosenähnliche Burschen mit rothen chinesischen Schärpen und Strohhüten auf - aber ohne /32/ Dolche und Pistolen - schienen die Führer des californischen Bootes zu sein.

„Alle an Bord?" rief jetzt der Steuermann der Bremer Barke vom Deck hinunter.

„Alle - Gott sei Dank, daß wir Euer nichtsnutziges Schiff hinter uns haben!" schrie einer der Passagiere.

„Ihr werdet froh sein, wenn Ihr hier trocken Brod zu kauen habt!" rief da der Capitain von seinem Quarterdeck aus.

„Und das wird uns gut schmecken, wenn wir Eure Fratze nicht mehr dabei anzusehen haben, Capitain Meier," lautete die wenig schmeichelhafte Antwort.

„Werft die Falle da los!" tönte der Ruf des Steuermanns über Deck - „na, was heißt das? - was schleppt Ihr das Boot noch weiter nach vorn? Hinunter mit den Tauen!"

„Ja woll, Stürmann!" lachte einer der Matrosen - „Alles in Ordnung! - soll gleich besorgt sein!"

„Halt! - was werft Ihr da noch hinunter?" schrie der Steuermann plötzlich, als sechs oder acht weißleinene, festgeschnürte Säcke in das Boot hinabflogen. „Was ist das? - was geht da vor?"

„Nichts, mein Herzchen; nur unsere Garderobe," lautete die Antwort des Matrosen zurück, und wie die Katzen folgten eben so viele der Seeleute ihrem vorangegangenen Eigenthum in das Boot.

„Halt - Donnerwetter, das wird zu viel!" riefen die beiden Eigenthümer erschreckt - „wir sinken!"

„Gott bewahre - Kameraden - stoßt ab! aho ih!" - und sich mit bestem Willen gegen die Seite ihres eigenen Schiffes legend, schoben sie das vierkantige Frachtfahrzeug ein Stück ab und in offenes Wasser hinaus.

„Ihr dürft nicht abstoßen! bleibt hier! - halt! meine Jolle hinunter!" schrie und tobte der Capitain auf seinem Deck herum, denn diese kecke Flucht der eigenen Leute, gerad' unter seinen Augen, war ihm doch außer dem Spaß. Die Bootführer kehrten sich aber entsetzlich wenig an seine Ausrufungen. Erstlich bekamen sie von jedem Kopf, den sie mehr hinüberbrachten, einen Dollar extra, und dann waren es /33/ ebenfalls weggelaufene Matrosen, die andere Kameraden nicht so leicht im Stiche ließen. Freilich führten sie nur zwei Ruder, und das Boot ging so schwer im Wasser, daß sie entsetzlich langsam damit fortrücken konnten, aber das Land war auch nicht weit entfernt, und das erst einmal erreicht, und alle Capitaine der Bai hätten sie nicht wieder holen können.

Capitain Meier gedachte indessen nicht, sie bis an Land zu lassen, und hoffte noch immer genug von seiner Autorität über die Leute, sie vorher zurück und aus dem Boote zu holen.

Rasch sank die schon bereitgehaltene Jolle auf's Wasser nieder, und mit seinen beiden Steuerleuten, wie dem Zimmermann und Koch, setzte er den Flüchtigen nach, die er auch bald eingeholt hatte. Das viereckige kastenartige Fahrzeug war gerade vor dem Bug der Leontine vorübergefahren, und zwar so dicht, daß das eine Ruder die angespannte Ankerkette streifte, als die leichtgebaute Jolle heranschoß und der Capitain seine Leute barsch herüber und zu sich an Bord beorderte. Sein Empfang dort lautete aber nicht ermunternd.

„Komm herüber und hol' uns, mein Schatz!" riefen ihm die Matrosen höhnend zu, während die Passagiere ihren bisherigen Schiffsführer mit Schmähungen überhäuften. Alle nur erdenklichen Schimpfwörter wurden gegen ihn geschleudert und selbst dabei blieb es nicht, denn Stücken Zwieback flogen gegen ihn an, und mit den Blechbechern schöpften Einige Wasser und gossen es nach ihm.

Mit Gewalt war da nichts auszurichten, so viel sah Capitain Meier endlich ein, und den Bug seines Bootes herumwerfend, hielt er, so rasch er konnte, der nächsten Landung zu, wahrscheinlich um gerichtliche Hülfe in Anspruch zu nehmen. War das übrigens seine Absicht gewesen, so kam er damit zu spät, denn das Lichterboot gelangte bald darauf an eine Stelle, wo es die Matrosen bequem an Land setzen konnte. Diese schulterten dort ihre Säcke, zahlten ihr Ueberfahrtsgeld und waren im nächsten Augenblick in dem Gewühl am Ufer verschwunden, wahrend das Boot jetzt langsam dem gewöhnlichen Landungsplatz entgegenruderte. /34/

Der Capitain der Leontine schien einmal nicht übel Lust zu haben, seinem Kollegen zu Hülfe zu eilen, besann sich aber doch wieder eines Besseren und mischte sich nicht in fremde Händel, deren günstiges Resultat immer nur höchst zweifelhaft geblieben wäre.

Die Passagiere und besonders die Matrosen hatten übrigens dieser Scene mit außerordentlichem Interesse zugeschaut, und wie auf gemeinschaftliche Verabredung stockten, so lange sie dauerte, alle Arbeiten. Der Capitain selbst vergaß ganz, daß sich die eigenen Leute doch am Ende ein Beispiel daran nehmen könnten, und nur erst als die Deserteure an Land und jubelnd den Abhang hinaufsprangen, rief er seine Mannschaft mit lauter und barscher Stimme an ihre Arbeit zurück. Dadurch wurden die Passagiere aber ebenfalls gemahnt, daß sie hier ihre Zeit nutzlos vergeudeten. Dort drüben lag Kalifornien, und Alles drängte und schrie durcheinander nach einem Boot, das Schiff so rasch als möglich zu verlassen.

So sehr sich nun die Auswanderer bei ihrer Landung in Nordamerika oder Australien scheuen, das Schiff gleich die ersten Tage zu verlassen, weil sie doch gern erst einmal recognosciren und den Boden kennen lernen wollen, auf dem sie ihre neue Heimath gründen sollen; so rücksichtslos suchte jetzt hier Alles nur Land - nur Boden zu gewinnen, dem man eben mit Spaten und Spitzhacke beikommen konnte. - Daß dort Gold lag, verstand sich von selbst. In diesem nach Außendrängen der Masse konnte sich aber der Einzelne natürlich nicht um den Einzelnen bekümmern. So geschah es denn auch, daß die Frau Siebert, der man bis dahin jede Freundlichkeit erwiesen, unbeachtet und allein mit ihren drei Kindern an Deck stand, und mit klopfendem Herzen über die Bai hinausschaute, auf der sie jeden Augenblick das nahende Boot ihres Gatten erwartete. Das geankerte Schiff zeigte schon lange die Hamburger Flagge; - er wußte, daß sie mit einem solchen in dieser Zeit eintreffen mußte, und hatte gewiß schon Wochen lang auf sie und die Kinder gehofft - ja ohnedies auch in seinem Briefe fest versprochen, sie gleich von Bord abzuholen, - und doch kam er nicht.

Nur der alte Assessor Möhler war bei ihr geblieben. Ein/35/mal fürchtete er, daß das Jüngste, bei der Aufregung der Mutter und in der allgemeinen Verwirrung, vielleicht doch am Ende zu Schaden kommen könne, und dann sagte ihm auch wohl ein unbestimmtes, eben nicht ermuthigendes Gefühl, daß er immer noch früh genug jenes fabelhafte Land betreten würde. So, indem er Schutz gab, suchte er auch wieder zugleich Schutz unter den Fittigen der Frau, und glaubte die Bekanntschaft des reichen Californiers unter keinen besseren Umständen machen zu können, als wenn er ihm die gewiß sehnlichst erwartete Familie gesund und wohl überliefere.

Eine Menge kleiner Boote kreuzten herüber und hinüber zwischen den verschiedenen Schiffen und dem Land - oft dicht an ihrem eigenen Fahrzeug vorüber. Angerufen aber schüttelten die Rudernden stets mit dem Kopfe, oder antworteten auch gar nicht - sie hatten irgend ein anderes Ziel - was kümmerten sie die Neuankommenden, denen Schiff auf Schiff folgte. Nur ein paar leere Boote, von einzelnen Männern gerudert, legten langseit, Passagiere mit hinüber zu nehmen. Es waren Amerikaner, die mit ihren eigenen Booten auf solche Art ihren Lebensunterhalt verdienten, und die Passagiere wunderten sich darüber, solche Leute hier noch zu finden. Warum waren die nicht oben in den Minen und gruben Gold?

Mr. Hetson, der, seit sie die Einfahrt des goldenen Thores passirt, das Deck noch keinen Augenblick verlassen hatte, rief eins dieser Boote an, und miethete es zu einem enormen Preis für sich und seine Frau und sein Gepäck. Andere wurden von den übrigen Kajüten-Passagieren in Beschlag genommen, und mehrere Stunden mochten vergangen sein, ehe dasselbe viereckige und kastenähnliche Fahrzeug, das früher von der Bremer Barke den Matrosen zur Flucht verholfen, wieder zwischen den Schiffen sichtbar wurde und auf sie zuhielt.