Goldküste - Karin Lüppen - E-Book

Goldküste E-Book

Karin Lüppen

4,4

Beschreibung

Kummeroog ist eine verschlafene Nordseeinsel. Doch Mitte der 90er Jahre ändert sich das plötzlich. Es scheint, als ob rätselhafte Geschäfte, die Reedereivorstand Edmund Kuper mit dem Bürgermeister von Kummeroog, dem Kurdirektor und dem Sprecher der Vermieter verabredet, dazu führen, dass die Insel zu einem blühenden Ferienparadies wird. Aber geht dabei alles mit rechten Dingen zu? Nicht nur Kupers Sekretärin Erika Halwasser kommt das merkwürdig vor. Lokalredakteur Manfred Heidemeyer recherchiert die Hintergründe und vermutet bald, einer großen Sache auf der Spur zu sein, in die sogar die Spitze der Kreisverwaltung verstrickt ist. Doch bevor er seine Enthüllungsstory schreiben kann, geschieht Unfassbares im Büro von Edmund Kuper. Die Geschichte in „Goldküste“ ist erfunden. Trotzdem hat Karin Lüppen sich nicht alles ausgedacht. Vieles hat sich so oder ähnlich tatsächlich zugetragen, wenn auch nicht zur selben Zeit und nicht am selben Ort.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 452

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
4,4 (18 Bewertungen)
10
5
3
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhaltsverzeichnis

Ein ödes Kaff, irgendwo an der niedersächsischen Nordseeküste, Mitte der 90er Jahre

Immer noch das öde Kaff, neun Monate später

Ein vormals armseliges Eiland, gut vier Kilometer nördlich des öden Kaffs, drei Jahre später

Eine graue Kreisstadt, 15 Kilometer südlich des öden Kaffs, nochmal ein Jahr später

Ein Ferienparadies in der Nordsee, zwei Tage später

Das öde Kaff, am nächsten Tag

Ein Ferienparadies in der Nordsee, 16 Stunden später

Das öde Kaff, 15 Stunden später

Immer noch das öde Kaff, 14 Stunden später

Die graue Kreisstadt, einen Tag später, etwa zur Mittagszeit

Ein Kaff an der spanischen Mittelmeerküste, fünf Monate später

Über die Autorin

Ein ödes Kaff, irgendwo an der niedersächsischen Nordseeküste, Mitte der 90er Jahre

Es ist ein alter Streit, ob die Geschichte das Ergebnis planvollen menschlichen Handelns ist oder doch nur die Folge einer Reihe von chaotischen Zufällen. Werden Reiche, Städte, Staaten von mächtigen Herrschern geschaffen oder sind sie das Werk von vielen, von denen jeder seine eigenen Pläne verfolgt? Es gibt sogar Wissenschaftler, die meinen, dass jede mögliche Welt, jeder mögliche Zustand zu jeder Zeit existiert, eingefangen in einer unendlich großen Zahl von Membranen. Alles würde zu jeder Zeit möglich sein, was hier richtig ist, könnte an anderer Stelle falsch sein. Wer in der einen Wirklichkeit ein König ist, kann in einer anderen Wirklichkeit ein Bettler sein.

Wieder andere glauben, dass der Flügelschlag eines Schmetterlings im tropischen Regenwald geeignet ist, auf der anderen Seite der Welt einen Wirbelsturm auszulösen, der die Ernte eines ganzen Landes verdirbt. Dürren können Weltreiche stürzen. Eine Flut kann das Werk eines grausamen Despoten beenden, aber ebenso gut reiche Kulturen zerstören.

Das alles zusammengenommen könnte bedeuten, dass es eine Möwe war, die das Leben auf der Insel Kummeroog und seiner gut 500 Bewohner, eines Redakteurs einer kleinen Tageszeitung und einer Sekretärin für immer veränderte. Eine Möwe, die an diesem Vormittag über den Fähranleger von Buttsiel flog und vor dem Bürofenster von Reedereivorstand Edmund Kuper einen schrillen Schrei ausstieß.

Er konnte Möwen nicht leiden. Sie erinnerten ihn zu sehr an eine bestimmte Sorte Menschen. Wie Möwen waren sie laut, aufdringlich und unersättlich. Beiden, den Leuten und den Vögeln, konnte Kuper nicht aus dem Weg gehen. Es bestand – so schien es ihm wenigstens – sogar eine eigenartige Beziehung zwischen beiden: Die Möwen lauerten den Leuten auf, die allen Warnungen zum Trotz die Reste ihrer Fischbrötchen an sie verfütterten. Wurden die Vögel zu gierig und warteten gar nicht, bis man ihnen das Brot hinwarf, sondern rissen es den Leuten im Sturzflug einfach aus der Hand, dann war das Geschrei bei den Leuten groß. Wie oft gab es Ärger wegen Möwenschiss auf Mänteln, Mützen und Köpfen! Unbelehrbar, diese Menschen. Doch was hätte Kuper machen können? Er lebte von den Leuten, die auf die Insel wollten, und von den Insulanern, die aufs Festland wollten. Alles könnte auch schön seine Ordnung haben, wenn die Menschen nur einfach mit dem zufrieden wären, was man ihnen anbot. Aber sie wollten immer mehr – mehr Platz an Bord für Fahrräder, mehr Ruhe bei der Überfahrt, mehr Toiletten, mehr Rabatt für Familien, mehr Plätze auf dem Oberdeck. Mehr, mehr, immer mehr.

Kuper sah vom Schrei der Möwe genervt von seinen Papieren auf und schaute aus dem Fenster. Der Himmel war voller Wolken, es war fast Herbst. Die Möwe war schon wieder verschwunden, aber in diesem Augenblick teilte ein blendend heller Sonnenstrahl die Wolken wie ein Schwert und tauchte den Fähranleger in goldenes Licht. Die Gebäude der Kummerooger Dampfschifffahrtsreederei AG lagen wie eine kleine Welt vor dem Deich: Ein Liegeplatz für die Fähre nach Kummeroog und einer für das Ausflugsschiff, dahinter gab es noch einen Kai mit einem Kran, an dem das Versorgungsschiff anlegte, das den Müll von der Insel zum Festland brachte.

Vor den Liegeplätzen stand das Hauptgebäude der Reederei, ein Haus aus blassrotem Ziegelstein, gebaut in den 50er Jahren, mit weißen Fensterrahmen und Gauben im Dach. Dort konnte man im Untergeschoss Fahrkarten kaufen oder Gepäck aufgeben. In der Etage darüber saßen alle Mitarbeiter der Reederei. Der Platz reichte eigentlich nicht für sie, die Büros waren klein, trotzdem standen immer mindestens zwei Schreibtische darin. Auf den Fluren stapelten sich Kartons, in denen Vordrucke, Prospekte, Aufkleber und anderes Werbematerial lagerten. Mehr als einmal war es passiert, dass Kartons im Untergeschoss stehengeblieben waren und von einer plötzlich höher aufgelaufenen Springtide durchnässt wurden, die von der betagten Metalleingangstür nicht aufgehalten werden konnte.

Verglichen mit seinen Mitarbeitern hatte Edmund Kuper, Vorstand der Kummerooger Dampfschifffahrtsreederei, es richtig komfortabel. In seinem langgezogenen Büro stand ein großer, altertümlicher Schreibtisch aus Mahagoni, an dem er in einem recht modernen Drehsessel saß, während er zuschaute, wie sich die Fähre „Germania“ an den Anleger schob. Noch einmal schrie die Möwe – sicher war es schon wieder eine andere –, als sich die Leute auf dem Schiff an der Reling drängelten. Die Gangway wurde von Land aus an Deck geschoben, und die Männer der Reederei hatten Mühe, die Leute zurückzuhalten, bis alles an seiner Stelle war und sie die Absperrkette zurücklegen konnten. Schon schoben sich die ersten Passagiere auf die Gangway, als könnten sie nicht schnell genug vom Schiff herunterkommen und endlich wieder festen Boden unter den Füßen haben.

Das Telefon auf Kupers Schreibtisch summte kurz, und er drückte den Knopf der Freisprechanlage.

„Denken Sie an den Termin mit den Herren aus Kummeroog?“, kam die Stimme seiner Sekretärin Erika Halwasser mit Rauschen aus dem Lautsprecher. In diesem Moment sah er die bullige Gestalt des Kummerooger Bürgermeisters, der sich auf die Gangway quetschte. Kuper zuckte zusammen. „Natürlich“, sagte er zu Frau Halwasser. „Äääh... wissen Sie eigentlich, was die von mir wollen?“, fragte er, bevor sie wieder auflegen konnte.

„Nein“, kam es knapp zurück. „Sie haben den Termin doch selbst mit Herrn Eilts abgemacht.“

Kuper seufzte tief und ließ sich in den Lederbezug des Sessels zurückfallen. Vor ein paar Tagen hatte Karl Eilts ihn angerufen und um ein Gespräch gebeten. Es sei sehr wichtig, hatte er gesagt, mehr aber nicht. Über die Ankündigung, Eilts werde noch Kurt Becker, den Sprecher der Kummerooger Vermieter-Vereinigung, und Wilfried Kröning, den Kurdirektor, mitbringen, war Kuper so verblüfft gewesen, dass er gar nicht nachgefragt hatte, was sie von ihm wollten. Keiner dieser Herren war auf einen der anderen gut zu sprechen, noch weniger aber auf ihn, Edmund Kuper, Vorstand der Kummerooger Dampfschifffahrtsreederei AG. Der Bürgermeister war ihm unangenehm, aber jetzt gab es kein Entkommen mehr. Kuper sah aus dem Fenster. Die Wolken hatten sich wieder geschlossen.

Erika Halwasser steckte den Kopf zur Tür herein. „Kaffee in den Konferenzraum?“, fragte sie. Kuper nickte. „Sagen Sie mir bitte Bescheid, wenn die Herren da sind.“

Frau Halwasser schloss die Tür. Eben hatte sie schon Karl Eilts' laute Stimme am Eingang gehört, wo er mit der Auszubildenden scherzte. „Moin“, dröhnte er, als er im nächsten Moment zur Tür hereinkam, hinter ihm, sehr viel stiller, die Herren Becker und Kröning. Eilts' Finger umschlossen Frau Halwassers Hand wie ein Schraubstock, und er machte Anstalten, Kupers Sekretärin an die breite Brust zu drücken. Dem konnte sie sich geschickt entziehen und leicht übertrieben freundlich den säuerlichen Vermieter-Sprecher Becker begrüßen. Kröning reichte ihr schüchtern die Hand, und Erika Halwasser bat die Männer, kurz Platz zu nehmen. Herr Kuper werde gleich Zeit für sie haben. Sie deutete auf ein paar Stühle an der Wand und verschanzte sich selbst hinter ihrem Schreibtisch, während die drei Männer sich artig hinsetzten.

Die Sekretärin begann, Papier auf dem Tisch zu sortieren. Es war besser, die Herren von der Insel noch ein bisschen zappeln zu lassen. Es galt, den richtigen Moment abzupassen. Erika Halwasser hatte darin großes Geschick: Das Problem bestand darin, dass sie zwar sehen konnte, wie der Besuch vor ihr immer ungeduldiger wurde, nicht aber, wie ihr Chef in seinem Büro in wachsender Nervosität an seinen Fingerringen schraubte. Eilts machte ein paar Bemerkungen über die Fahrt mit der „Germania“, und Frau Halwasser beobachtete, wie er dabei unruhig seine blaue Prinz-Heinrich-Mütze zwischen den Fingern kreisen ließ. Als Becker einen Werbe-Kugelschreiber zerbrach, fand sie, es sei genug. „Herr Kuper lässt jetzt bitten“, sagte sie geziert und stand auf.

Der Konferenzraum lag hinter Kupers Büro. Der Chef hatte von dort Zugang und so klopfte Erika Halwasser nur kurz an seine Tür, um ihm ein Zeichen zu geben. Dann schob sie die drei Insulaner in den großen Raum, in dem ein langer Eichentisch stand, umringt von Stühlen mit altmodischen Sitzpolstern in schmuddeligem Grün. Auf dem Tisch standen schon Kaffeetassen. Während sie in der kleinen Teeküche nebenan den Kaffee in Warmhaltekannen füllte, hörte sie, wie Kuper seinen Besuch begrüßte. Durch den Türspalt sah sie, wie der hünenhafte Bürgermeister ihrem Chef ehrfürchtig die Hand reichte, die blaue Mütze in der Linken hinter dem Rücken haltend. Die beiden anderen Herren sahen aus, als würden sie vor Kuper gleich einen Knicks machen, obwohl Becker wirkte, als würde er dem Reedereivorstand lieber ins Gesicht springen. Die Sekretärin trug den Kaffee ins Zimmer und wollte einschenken. Sie wurde aber von Kuper mit dem Satz „Danke, Frau Halwasser, wir bedienen uns schon selbst“ aus dem Raum gescheucht. Das Letzte, was sie sah, bevor sie die Tür zumachte, war Eilts' hochrotes Gesicht und seine klobigen Hände, die sich an die Kaffeetasse klammerten.

Frau Halwasser ging zurück an ihren Schreibtisch und nahm die monatliche Aufstellung der Einnahmen aus den Fahrkartenautomaten auf Kummeroog zur Hand. Aber sie konnte sich nicht auf die Zahlenreihen konzentrieren. So hatte sie Eilts noch nie erlebt. Gewöhnlich begrüßte der Kummerooger Bürgermeister Kuper, indem er ihm mit seiner Pranke so heftig auf die Schulter klopfte, dass der zierliche Reederei-Vorstand fast in die Knie ging. Karl Eilts hatte sein ganzes Leben auf Kummeroog verbracht. Er besaß eine Pension mit gut gehender Wirtschaft, die nicht nur von Urlaubern, sondern auch von den Kummeroogern häufig besucht wurde. Als Wirt war Eilts bei allen beliebt und hatte es deshalb geschafft, zum Bürgermeister gewählt zu werden, ohne jede sonstige Qualifikation für dieses Amt. Seinen auswärtigen Gästen stellte er sich gerne als alter Seebär und Fischer dar, obwohl er wie viele andere Kummerooger auch niemals andere Schiffsplanken unter den Füßen gehabt hatte, als die der Fährschiffe zwischen Kummeroog und Buttsiel. Aber einem vierschrötigen Kerl mit Vollbart, blauer Mütze, groben Händen, wollenem Seemannspullover und einem goldenen Ohrring kauften Urlauber diese Illusion gerne ab und lauschten entzückt seinen Geschichten von haushohen Nordseewellen und Begegnungen mit Walen.

„Warum ist er bloß so zahm heute?“, fragte Erika sich. Beim Fest der Reederei zum 100-jährigen Bestehen vor zwei Jahren hatte Eilts ein paar Mal mit ihr getanzt, war ihr dabei ständig auf die Füße getreten und hatte sie dann gar nicht mehr losgelassen, sondern sie an die Sektbar geschleift und ihr eindeutige Angebote gemacht. Erst Peter Schroll, der technische Inspektor, hatte sie befreit. Eilts' Verhalten hatte Erika Halwasser nicht besonders erschüttert, aber sie wunderte sich einfach, warum der Bürgermeister heute wie ein Schuljunge vor ihrem Chef stand.

„Und erst dieser Becker“, grübelte sie. Der würde doch lieber einen Teller Granatschalen mit Himbeersoße essen, als Kuper in dessen Haus ehrerbietig die Hand zu schütteln. Erika erinnerte sich an all die Briefe, die der Sprecher der Vermieter geschrieben hatte. In denen hatte er Kuper vorgeworfen, sich in räuberischer Weise an den Kummeroogern zu bereichern, die dem Monopolisten Kuper schutzlos ausgeliefert seien, weil sie selbst und noch viel mehr ihre Feriengäste auf die Fährschiffe und den Bus auf Kummeroog angewiesen waren. Fast immer drohte Becker mit einer Klage, die nie kam, wegen der haltlosen Zustände auf den Fährschiffen, wegen des unverschämten Umgangs der Reederei-Mitarbeiter mit ihm oder seinen Gästen, wegen der Preise, der Abfahrtzeiten und so weiter und so weiter. Erika Halwasser bemühte sich stets, Kuper diese Schreiben in einem geeigneten Moment vorzulegen. Trotzdem bekam er jedes Mal einen Wutanfall.

Weil Becker die Kur- und Gemeindeverwaltung ebenfalls mit Schreiben und Eingaben jeder Art bombardierte, war er auch auf Kummeroog nicht sonderlich beliebt. Selbst seine Vermieter-Kollegen waren verunsichert wegen der Art, mit der Becker vorging. Sie trauten sich aber nicht, ihn wieder abzuwählen, um nicht selbst zum Ziel seiner Feindseligkeiten zu werden. Nicht wenige waren außerdem derselben Meinung wie Becker, jedenfalls, was Kuper betraf.

Kröning, der Kurdirektor, war ein lieber Kerl. Er war vor Jahren aus dem Schwarzwald nach Kummeroog gekommen, fand, dass die Nordseeinsel genauso abgelegen war wie der Bergkurort, in dem er vorher beschäftigt gewesen war, und somit auch ähnliche Probleme hatte, mit denen er schon fertigwerden würde. Er hatte jedoch nicht bedacht, dass man in einem Bergdorf kein Schiff braucht, um dort hinzukommen. Kurz nach seiner Ankunft auf Kummeroog war Kröning eher unbeabsichtigt mit Kuper aneinandergeraten, als er ihm vorgeschlagen hatte, das Personal auf den Fähren folkloristische Kostüme tragen zu lassen. Kuper hatte das schroff abgelehnt, fühlte sich wohl von dem Auswärtigen auf den Arm genommen. Der Kurdirektor hatte Kuper das nie ganz verziehen. Schließlich hätte solche Kleidung die Gäste doch gleich richtig eingestimmt. Dass so etwas funktionierte, sah man doch an der Pension von Karl Eilts, wenngleich Kröning der Meinung war, dass anzügliche Witze und handfeste Flirts mit den Urlauberinnen vielleicht ein bisschen zu viel Folklore waren. Schon oft hatte der Kurdirektor sich Klagen von Gästen über Eilts anhören müssen – von den Frauen über die Zoten, von Ehemännern über die Zudringlichkeit des Wirtes.

Was diese drei Männer jetzt plötzlich von Kuper wollten, war Frau Halwasser schleierhaft. Das Telefon klingelte und riss sie aus ihrem Grübeln. Als sie aufgelegt hatte, verdrängte sie jeden Gedanken an das mysteriöse Treffen im Konferenzraum, und widmete sich voll und ganz der Aufstellung der monatlichen Einnahmen aus den Fahrkartenautomaten auf Kummeroog. Eine Aufgabe, auf deren prompter Erledigung Herr Kuper immer großen Wert legte.

Später an diesem Tag kam Edmund Kuper nach Hause. Es dämmerte schon, als er sich im Wohnzimmer in einen Ledersessel fallen ließ und die Krawatte lockerte. Bettina Kuper sah ihren Mann missbilligend an, bevor sie ihm Tee einschenkte. „Gibt es etwas Besonderes?“, fragte sie. Edmund hatte absolut keine Lust, seiner Frau irgendetwas über den seltsamen Besuch zu erzählen, den er drei Stunden lang in seinem Konferenzzimmer hatte. Sie hätte kein Wort verstanden. „Nein, nein, nichts Wichtiges“, sagte er und griff begierig nach der Tasse. Der Tee war lauwarm, schmeckte bitter und hatte den Kandis nicht im mindesten aufgelöst. Kuper, ein nicht sehr großer, schmaler Mann mit aschblondem Haar, sackte im Sessel zusammen. Eine heiße Dusche, dann ein weggedöster Abend auf dem Sofa... „Ich habe Frau Ernst zum Kochen geholt, sie soll einen Rinderbraten machen. Herr Brumund isst doch gerne so etwas Deftiges“, sagte Bettina.

Brumund. Er hatte Brumund vergessen. Es war Mittwoch. Brumund kam heute mit seiner Frau zum Essen. Kuper fühlte, wie die letzte Kraft aus ihm wich. Es musste doch nicht sein, dass er nach einem Nachmittag mit drei unausstehlichen Insulanern jetzt noch einen Fuhrunternehmer und seine übertriebene Herzlichkeit ertragen musste. Er rappelte sich aus dem Sessel hoch. „Ich brauche erstmal eine Dusche“, ließ er seine Frau wissen, die irritiert den Kopf schüttelte, als er sich auf den Weg ins Badezimmer machte.

Während ihm das warme Wasser über Kopf und Schultern lief, überlegte Kuper fieberhaft, ob ihn noch etwas vor Brumund retten könnte. Außer einem Herzinfarkt fiel ihm nichts ein, Kuper sah sich selbst in einem Krankenwagen, der mit Blaulicht zur Klinik donnerte und Brumund neben sich, der ihm aufmunternd die Wange rieb und „Das wird schon wieder, alter Freund“ rief.

Brumund besorgte den Frachtverkehr zum Fähranleger in Buttsiel. Vor ein paar Jahren hatte Kuper ihm lächelnd einen Vertrag aufgedrückt, der Brumund völlig abhängig von der Kummerooger Dampfschifffahrtsreederei und ihn praktisch zu seinem Leibeigenen machte. Seitdem hielt Brumund Kuper für seinen besten Freund. Eigenartigerweise glaubte Bettina das auch. Die Folge waren ständige Einladungen an die Brumunds, die dann bis in den späten Abend hinein in Kupers Wohnzimmer saßen, während Kuper sich zum Trost im Stillen immer wieder die Daten für den Frachtverkehr aus der letzten Bilanz vorsagte, um nicht den Mut zu verlieren.

Das heiße Wasser aus der Brause schwemmte Brumund aus Edmunds Gedanken. Das Badezimmer mit seinen schwarz-weißen Kacheln und den Armaturen mit den weißen Keramikknöpfen war für ihn schon immer der einzige angenehme Platz im ganzen Haus gewesen. Kuper hatte das Haus von seinem Vater geerbt, einen düsteren Bau aus doppelt gebranntem Klinker aus den 30er Jahren, durch den ständig ein eisiger Hauch zog.

Kuper dachte oft wehmütig an das heitere Jugendstilhaus, das sein Großvater draußen am Sieltief gebaut hatte, ein verspielter Bau mit hohen, luftigen Räumen voller Sonne. Edmunds Vater fand jedoch, dass es für einen Geschäftsmann nicht passend sei und baute den steifen Klinkerbau direkt vor das alte Sieltor, mitten in Buttsiel. In Großvaters Jugendstilhaus war ein Holländer eingezogen, von dem Geld, das er Kupers Vater gezahlt hatte, ließ der die „Germania“ bauen. Nicht die „Germania“, die heute nach Kummeroog fuhr, sondern deren Vorgängerin, die Kuper abwracken ließ, als er Ende der 70er Jahre die Reederei übernahm.

Das Schiff seines Vaters war er losgeworden, nicht aber das zugige Haus. Selbst zwischen den schmucklosen Backsteinhäusern der Fischer in Buttsiel machte es einen strengen Eindruck, und so, wie jeder im Ort vor Kupers Vater den Hut gezogen hatte, betrachteten sie auch das Haus mit Respekt. Kuper hatte immer schon darin gefroren, so lange er denken konnte. Einzig im Badezimmer, das erst nach dem Krieg eingebaut worden war und ein ehemaliges Dienstmädchenzimmer ersetzt hatte, fühlte er sich geborgen. Jetzt stand er eingeseift im warmen Brauseregen und ließ die Gedanken treiben.

Ob Brumund sich wohl noch hin und wieder mit Rosi Lücht traf? Sie war einmal Edmunds Geliebte gewesen, aber er hatte das Mädchen schnell über gehabt und so hatte er sie Brumund quasi geschenkt, indem er Rosi weismachte, dass Brumund ein ebenso wichtiger Geschäftsmann war wie er selbst und sehr großzügig sein würde. Brumund war voller Dankbarkeit gewesen, glaubte von da an fest an seine Freundschaft zu dem Reedereivorstand. Später hatte Rosi Edmund wieder Leid getan, aber das Verhältnis der beiden war schnell wieder vorbei gewesen. Edmund vermisste sie nicht, noch nicht einmal ihren anschmiegsamen Körper, der ihm so oft gegeben hatte, was Bettina seit Jahren verweigerte. Nach der Geburt ihres Sohnes hatte er sich mit seiner Frau noch eine Weile um eine Tochter bemüht, doch hatten sie beide diesen Plan nach einiger Zeit aufgegeben. Edmund war kein Mann mit starken körperlichen Bedürfnissen. Er hatte auch nie das Gefühl gehabt, dass er Rosi glücklich machen könnte. Die üppige Blondine hatte keine Nachfolgerin gehabt, und Edmund war zufrieden mit seiner selbstgewählten Askese. Was er suchte, war eine Befriedigung weit jenseits allen körperlichen Genusses.

Das Problem war nur, dass ihn Abende wie dieser daran hinderten, diese Befriedigung zu erlangen. Kuper saß frisch geduscht am großen Esstisch, links seine Frau, rechts Frau Brumund, gegenüber der Fuhrunternehmer, sein Leibeigener. Seit Minuten bearbeiteten seine Zähne den Rinderbraten von Frau Ernst, zäh, sehnig und geschmacksfrei wie Segeltuch. Kuper schmerzten schon die Kiefer. Brumund dagegen schaffte es, zwischen den Bissen noch Witze zu machen, über die beide Frauen wie Teenager kicherten. Nur für einen Augenblick schoss es Kuper durch den Sinn, dass er doch auch seine Frau an den Fuhrunternehmer verschenken könnte, vielleicht würde der Bettina nehmen, wenn er ihm bei den Preisen für Stückgut etwas entgegenkam. Der Gedanke war so schnell verschwunden, wie er gekommen war, und Kuper würde energisch bestreiten, so etwas auch nur im Traum zu denken.

Er schob die Reste des Bratens von sich weg. Ungläubig hörte er, wie Frau Brumund das Essen überschwänglich lobte. „Jaja.“ Bettina nickte. „Heute ist es schwer, eine gute Köchin zu finden.“ Kuper grübelte, ob dieser Satz wohl Ironie war, er hielt aber seine Frau zu so etwas nicht fähig.

Bettina kündigte Kaffee und Cognac im „Salon“ an, womit das Wohnzimmer gemeint war. Brumunds wirklicher Vorzug war, dass man in seiner Gegenwart selbst nicht einen Satz sagen musste. Brumund bestritt die ganze Konversation allein, untermalt von Frauengekicher. Kuper saß ins Sofa gekuschelt und rührte versonnen in seinem Kaffee. Brumund erzählte gerade einen zweideutigen Witz, der die Frauen vor Lachen puterrot werden ließ. Edmund musste daran denken, was Erika Halwasser gesagt hatte, als sie herausfand, dass Rosi Brumunds Geliebte geworden war. „Was für eine Vorstellung“, hatte die Sekretärin mit krauser Stirn bemerkt, „als würde man nackt auf einem seiner Dieselmotoren festgebunden werden.“ Damals war Edmund entsetzt gewesen, aber jetzt musste er darüber lachen. Er schickerte in sich hinein, merkte es und wurde deshalb so verlegen, dass er den Kaffeelöffel zuerst abschleckte und dann in die Tasse zurückstellte. Das machte ihn noch mehr verlegen, und er nahm hastig einen Schluck Kaffee. Er war lauwarm, schmeckte bitter, und der Zucker hatte sich nicht im mindesten aufgelöst. Kuper seufzte und dachte an Frau Halwasser und ihren Kaffee. Der Gedanke strömte heiß durch seine Adern.

„Ich muss nur kurz telefonieren“, sagte er und stand auf. Er ging in sein Arbeitszimmer, auf der anderen Seite des Flurs. Erika Halwasser meldete sich gleich, als das Telefon klingelte. Es war Viertel nach zehn.

„Haben Sie eigentlich an die Liste mit den Einnahmen aus den Fahrkartenautomaten gedacht?“, wisperte Kuper in den Hörer.

„Ja natürlich, schon heute Vormittag, Herr Kuper“, versicherte sie, kein bisschen erstaunt über den späten Anruf.

„Würden Sie die mir morgen gleich auf den Tisch legen?“, bat er.

„Ja, selbstverständlich. Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?“, fragte Frau Halwasser.

„Nein, aber das ließ mir gerade keine Ruhe.“ Kuper machte eine Pause. „Brumund ist hier, mit seiner Frau.“ Er kicherte.

„Oh“, hauchte Erika verständnisvoll.

„Ja, und er erzählt wieder so schrecklich viele Witze.“ „Achja. Soll ich Ihnen morgen früh gleich einen Kaffee hinstellen, Herr Kuper?“ „Och, das wäre ganz wundervoll. Wenn es Ihnen nicht zu viel Arbeit macht...“ „Nein, nein, das ist gar kein Problem. Vielleicht auch ein Brötchen dazu?“ Edmund war immer wieder erstaunt, wie gut Erika über seine Bedürfnisse Bescheid wusste. „Ich weiß gar nicht, wie ich ohne Sie auskommen sollte, Erika“, sagte Kuper ernsthaft.

„Macht nichts, tu ich doch gerne, wissen Sie doch“, versicherte sie.

„Schlafen Sie gut, Erika“, hauchte Edmund noch und legte dann auf. Für einen Moment wärmte er sich noch an dem Gedanken an seine Sekretärin, dann machte er das Licht aus und trat auf den Flur. Gerade kam Sascha, sein 16-jähriger Sohn nach Hause. „Na, Paps, wieder dringende Telefongespräche geführt?“, fragte er grinsend.

Kuper ignorierte das. „Warte ab, eines Tages wirst du das schon verstehen“, sagte er zu seinem Sohn. Er sah Sascha nach, wie er die Treppe hinaufging, und hoffte dabei inbrünstig, dass dies nie der Fall sein würde.

Am nächsten Morgen hockte Edmund Kuper reglos am Deich. Da, wo die Hafenausfahrt von Buttsiel ins Wattenmeer überging, starrte er im strömenden Regen in die Ferne, dorthin, wo bei klarem Wetter sogar die weißen Häuser am Weststrand von Kummeroog zu erkennen waren. Nun gab es dort nichts als grau.

Die Wolken am Himmel gingen nahtlos in das Wasser darunter über. Kuper stierte zum unsichtbaren Horizont, der nicht mehr war als eine Schattierung von grau, bis ihm die Augen tränten. Es war, als könnte er dort die Antwort lesen auf die Frage, die er zu entscheiden hatte. Seine Gedanken waren so trübe wie das Wetter, sein Verstand so verschleiert wie der Horizont. Der Regen durchnässte seine Kleider, während er auf einem Wellenbrecher aus Beton saß. Die bogenförmigen Klötze lagen in langen Reihen am Deichfuß, dazwischen waren Stränge von Blasentang hängengeblieben, aus denen die hohlen, verblichenen Körper von toten Krebsen hervorlugten. Seine Füße scharrten auf kaputten Schalen von Herzmuscheln, das Geräusch machte Kuper eine Gänsehaut. Den Regen spürte er gar nicht. Erst als vom Kragen seines Trenchcoats eine kleine Pfütze Wasser überlief und eiskalt zwischen seinen Schulterblättern herunterrann, schüttelte er sich und stand auf. „Na gut“, sagte er, „dann soll es so sein.“ Eine Lachmöwe schoss schräg über ihn hinweg über ihn hinweg in den Wind. Sie stieß einen keckernden Schrei aus. „Ja“, murmelte Kuper, „lacht nur, ihr Kummerooger, es wird euch schon noch vergehen.“ Er schlug den Mantelkragen hoch, wodurch er noch einen Schwall kaltes Wasser in den Nacken bekam, und stapfte den Deich hinunter auf seinen Mercedes zu. Ohne sich noch einmal umzudrehen, stieg er ein und warf den Motor an.

Erika Halwasser erschrak, als ihr Chef pitschnass ins Büro trat. „Mein Gott, Herr Kuper, wo sind Sie denn gewesen?“ Doch Kuper antwortete nicht darauf, drückte ihr den nassen Trench in die Hand und sagte: „Hinni Janßen soll zu mir kommen, sofort, egal, was er gerade macht. Und er soll alle Unterlagen über sämtliche Geschäfte mitbringen, die wir in den vergangenen zwei Jahren mit der Gemeinde Kummeroog abgeschlossen haben.“ Kuper ging in sein Büro und machte die Tür hinter sich zu. Erika stand da mit dem tropfenden Mantel in der Hand und war sprachlos.

Etwa zehn Minuten später trat sie vorsichtig in Kupers Büro, ein Tablett mit heißem Kaffee und einem belegten Brötchen in der Hand. Ihr Chef saß an seinem Schreibtisch, die Jacke hatte er ausgezogen, und die Sekretärin konnte sehen, dass sein Hemd auf dem Rücken durchnässt war. Er hatte den Kopf in die Hände gestützt und starrte ins Nichts. Der Duft des Kaffees machte ihn wieder munter. „Oh, Frau Halwasser, vielen Dank.“

Erika lächelte. Kuper wurde ein bisschen verlegen. „Gibt es hier irgendetwas Trockenes zum Anziehen?“, fragte er.

„Hm, nur den Beerdigungsanzug“, antwortete sie. Es war ein schlichter grauer Anzug samt dunkler Krawatte, den Kuper für den Fall im Schrank hatte, dass er plötzlich zu einem förmlichen Anlass etwas zum Anziehen brauchte. In den acht Jahren, in denen Erika für ihn arbeitete, hatte Kuper ihn nicht einmal getragen. Hoffentlich passt er noch, dachte Erika. Aber Kuper war und blieb schmächtig. „Ich könnte sonst rasch zu Ihnen nach Hause fahren und etwas holen“, bot sie an.

„Nein, Bettina ist nicht da, sie nimmt an so einem Kursus für Porzellanmalerei teil“, sagte Kuper. „Der Beerdigungsanzug ist für diesen Anlass auch genau richtig.“

„Herr Janßen sagt, er braucht noch einen Moment, um die Unterlagen zusammenzustellen“, sagte Erika, „Sie können in Ruhe Ihren Kaffee trinken, und ich bringe den Anzug.“

Kuper blickte dankbar zu ihr auf.

„Möchten Sie dann noch die Aufstellung der Einnahmen aus den Fahrkartenautomaten ansehen?“, fragte die Sekretärin.

„Nein, ich glaube, dafür fehlt mir heute völlig der Sinn“, seufzte Kuper. Erika zuckte mit den Schultern. „Ich kann sie Ihnen ja auch später noch bringen.“

Sie ließ Kuper allein, aber sie wunderte sich doch.

Kuper, allein in seinem Büro, griff begierig nach der Tasse. Der Kaffee, heiß und stark, verbrannte ihm die Zunge. Sein Blick fiel auf das Bild seines Vaters, das ernst von der Wand blickte. „Du hättest ohne zu zögern zugegriffen, wie?“, sagte Edmund zu dem Bild des grauhaarigen Herrn mit den strengen Falten in der Stirn und dem Schnäuzer. „Ich bin aber nicht so“, sagte Kuper. „Ich denke auch daran, was alles schiefgehen kann, und dann wäre ich geliefert, und deine schöne Reederei auch.“

„Ein Mann muss tun, was er zu tun hat“, hörte Edmund seinen Vater sagen. „Und Geschäft ist Geschäft.“

Edmund nahm einen großen Schluck Kaffee und biss in das Käsebrötchen. „Aber es wird nichts schiefgehen, man muss das nur richtig anfangen“, sagte er laut und grinste schief. Diese Kummerooger, missgünstige Insulaner, die ihm immer nur das Leben sauer gemacht hatten und glaubten, er müsse sich nach ihnen richten, und die ihm mit ihrem Genörgel auf die Nerven gingen, die auch mit dem besten Service nicht zufrieden sein wollten – jetzt würde er ihnen zeigen, dass sie ihn doch brauchten, ja, dass sie ohne ihn, Edmund Kuper, gar nicht existieren konnten. Er würde diese Insel in ein blühendes Urlaubsparadies verwandeln. Die Kummerooger würden ihn als ihren Helden verehren müssen. Er lehnte sich zurück und sah mit Genugtuung aus dem Fenster, als der Wind erste Löcher in das Einheitsgrau der Regenwolken riss.

Durch die Lücken würde bald das Blau leuchten, und die Sonne würde über den Wellen glitzern.

Als einen Moment später Erika Halwasser mit dem Beerdigungsanzug ins Zimmer trat, machte er sich ohne Scheu das Hemd auf und zog es vor ihren Augen aus. Er würde sich von jetzt an vor niemandem zu verstecken haben. Als er Anstalten machte, auch den Gürtel zu lösen, legte Erika den Anzug verschämt auf den Besucherstuhl vor Kupers Schreibtisch und huschte aus dem Büro. Vor der Tür stieß sie beinahe mit Hinni Janßen, dem Prokuristen, zusammen. Hinni schaffte es gerade noch, die Aktenstapel auf seinem Arm auszubalancieren, sonst wären sie Erika vor die Füße gefallen.

„Was will Chef mit dem Zeug?“, fragte Hinni.

„Ich habe nicht den leisesten Schimmer“, stieß Erika heraus. „Wenn ich nicht gegangen wäre, hätte er sich vor mir ausgezogen“, sagte sie mit weit aufgerissenen Augen. „Seit gestern ist er nicht mehr er selbst.“

Hinter ihnen ging die Tür auf. Kuper stand da, hielt Erika die feuchten Klamotten hin und fragte: „Was stehen Sie beide hier herum? Janßen, kommen Sie rein, wir haben viel Arbeit vor uns. Diese Plünnen geben Sie in die Reinigung oder bringen sie zu mir nach Hause oder werfen sie weg oder was.“ Er schüttelte ungeduldig das Bündel aus Hemd und Hose. Erika nahm es ihm ab und sagte nur: „Dann mache ich wohl noch mal Kaffee.“

„Gute Idee.“ Kuper lächelte sie an, als hätte er eben erst gemerkt, dass sie da war. Dann zog er die Tür zu seinem Büro wieder zu.

Jede Stunde brachte sie nun eine frische Kanne Kaffee in Kupers Büro, zum Mittag stellte sie noch einmal belegte Brötchen dazu. Als sie um fünf Uhr nachmittags Feierabend machen wollte, füllte sie die letzte Warmhaltekanne und stellte sie Kuper und Janßen auf den Tisch, der mit Rechnungen, Aktenordnern und handgeschriebenen Zahlenreihen und Notizen über und über bedeckt war. Die beiden Männer nahmen keine Notiz von Erika, sondern stachen mit ihren Kugelschreibern auf das Papier ein, kratzten sich am Kopf und schüttelten ihre Armbanduhren. „Nein, das geht so nicht“, sagte Hinni Janßen, und Kuper murmelte, „das Risiko muss bei denen bleiben“. Erika blieb ratlos neben dem Tisch stehen und wartete. Aber sie musste erst „Herr Kuper, ich gehe jetzt“ sagen, bevor ihr Chef sie ansah. Sein akkurater Seitenscheitel war nicht mehr vorhanden, seine Augen glänzten fiebrig und das Hemd, das acht Jahre lang mit dem Beerdigungsanzug im Schrank gehangen hatte, klebte ihm zerknautscht am Leib.

„Jaja, sicher, ist ja schon spät, ich meine, gehen Sie nur, ääh...“ Kupers Blick ging einfach durch sie hindurch.

„Bis morgen dann“, sagte Erika, etwas anderes fiel ihr nun nicht mehr ein. „Tschüß, Hinni“, fügte sie noch hinzu.

„Ja, tschüß, Erika, grüß zu Hause“, sagte Hinni zerstreut.

Auf dem Weg nach Hause hielt Erika bei Kupers Klinkerhaus an. Sie klingelte an der Haustür. Lange passierte nichts, dann riss Sascha Kuper die Tür auf. „Moin, Erika“, rief er. Der 16-Jährige mochte die Sekretärin seines Vaters. Wenn er als Kind – das war erst ein paar Jahre her – seinen Vater in der Reederei besuchte, hatte sie ihm immer Bonbons oder Kakao gegeben. Einmal war er vor dem Haus mit dem Fahrrad hingefallen und hatte geweint, weil er sich das Knie aufgeschlagen hatte. Erika hatte den Jungen auf den Schoß genommen und getröstet. Sie hatte Sascha in den Armen gewiegt und leise in sein Ohr gesummt, um ihn abzulenken. Von seiner Mutter kannte der Junge das nicht. Er wusste das nun nicht mehr, aber Erika mochte er immer noch.

„Hier sind ein paar Kleider von deinem Vater“, sagte Erika und hielt ihm eine Tragetasche hin. Sie war froh, die Tüte nicht Bettina Kuper in die Hand drücken zu müssen.

„Und was hat er jetzt an?“, fragte Sascha verblüfft.

„Den Beerdigungsanzug“, antwortete Erika trocken. Durch die offene Haustür konnte sie in einen schmalen, langen Flur schauen, etwa auf halber Länge führte eine dunkle Treppe mit einem geschnitzten Geländer nach oben. Außer dem Jungen war niemand zu sehen. „Es könnte noch etwas dauern, bevor er nach Hause kommt. Du kannst deiner Mutter aber sagen, sie braucht sich keine Sorgen zu machen, er sitzt nur mit Hinni Janßen im Büro.“

Sascha sah sie an, als sei sie nicht ganz bei Trost. „Kuck nicht so, Sascha“, sagte Erika, „ich verstehe das auch nicht.“

Sie winkte dem Jungen zu und schwang sich auf ihr Fahrrad, bevor vielleicht doch noch Kupers Frau auf der Bildfläche erschien. Während der Fahrt nach Hause dachte sie nur noch an das Abendessen. Danach dachte sie an die Berge von Bügelwäsche, die sie noch liegen hatte, aber sie entschied sich für RTL II und „Das Modell und der Schnüffler“ und danach dachte sie eine ganze Zeit nur an Bruce Willis. Beim Zähneputzen dachte sie an Sommerurlaub und daran, dass es niemanden gab, der mit ihr in die Sonne fahren würde. Beim Zubettgehen dachte Erika an gar nichts mehr.

Erst als sie tief und fest schlief, sah sie wieder Kuper vor sich, der mit Bürgermeister Eilts, Becker und Kröning in einem Ruderboot vor Kummeroog gegen haushohe Wellen ankämpfte und dabei schrill kicherte.

Als sie am Morgen aufwachte, erinnerte sich Erika nicht mehr daran.

Im Büro traf sie an diesem Morgen unerwartet auf die Putzfrau. „Das sieht ja aus da drinne“, beschwerte die sich. „Sie können dem Kuper sagen, wenn ich sein Büro sauber halten soll, dann soll er darin nicht so ein Schlachtfeld hinterlassen.“ Die Putzfrau packte ihren Besen und ihren Eimer und marschierte von dannen. Erika lugte durch die Tür von Kupers Büro, die die Putzfrau halb offen stehen gelassen hatte, und traute ihren Augen nicht. Da lagen noch immer die Papiere von gestern, doch die meisten auf dem Fußboden. Erika trat näher. Auf dem Tisch waren fünf DIN-A4-Seiten, auf denen Hinni Janßen ordentlich eine Art Finanzplan aufgestellt hatte. Die Beträge, die Erika bei flüchtigem Blick entziffern konnte, raubten ihr den Atem. Offenbar hatten die beiden Männer ein Millionengeschäft mit der Gemeinde Kummeroog vor. Sie mussten sich geradezu in einen Rausch gerechnet haben, denn auf Kupers Schreibtisch standen zwei Cognacschwenker, die Kaffeetassen und der gute Cognac, den Kuper für seine Besucher im Schrank stehen hatte. Die Flasche war so gut wie leer. Den Korken hatten sie auch nicht wieder hineingesteckt.

„Hier gab es wohl was zu feiern“, sagte Erika zu sich selbst.

Immer noch das öde Kaff, neun Monate später

„Hallo, Erika! Huhuu!“

Es dauerte einen Moment, bis Erika Rosi Lücht erkannte. Die blonden Haare waren jetzt feuerrot, statt des Pagenkopfes trug sie eine Lockenmähne. Ihre Augen sahen aus, als hätte sich Mr. Spock von Liz Taylor Lidstriche ziehen lassen. Die Brüste quollen aus einem samtenen Mieder heraus, und um ihre Beine wallte ein zipfeliger Rock.

„Wow“, staunte Erika, „du hast dich ja mächtig verändert, Rosi.“

„Ich heiße nicht mal mehr Rosi. Mein neuer Name ist Roxy Delight!“

„Was?“ Erika musste lachen. „Wozu brauchst du einen neuen Namen?“

„Ja, wo ich jetzt bald den Esoterik-Laden auf Kummeroog aufmache, kann ich doch nicht mehr als Rosi Lücht unterwegs sein. Oder würdest du dir von einer ostfriesischen Dorftrine aus der Hand lesen lassen?“

Erika verstand gar nichts mehr. Aus der Hand lesen? „Kannst du das denn?“, fragte sie.

„Ha, du würdest dich wundern, was man in acht Wochen in der Provence alles lernen kann!“, gab Rosi-Roxy an. „Ich kann dir aus Tarot-Karten die Zukunft vorhersagen, ich kann aus den Schattierungen deiner Iris ablesen, ob du bald schwanger wirst oder Heuschnupfen bekommst. Ich kenne jetzt zwölf Rezepte für Aphrodisiaka, zehn Tinkturen gegen nervösen Hautausschlag, fünf Mittel gegen Impotenz – wovon mindestens eines auch gegen Fußpilz hilft – und neun Mittel gegen Kopfweh, allesamt mit Lavendel als Hauptbestandteil. Ich kann dir Sprüche gegen Alpträume sagen und Beschwörungen, mit denen du einen Mann an dich binden kannst. Solltest du ihn wieder loswerden wollen – auch kein Problem. Alles mit der Macht der Kräuter und des Geistes. Ja, da kuckst du.“ Rosi grinste breit.

„Was, und damit machst du einen Laden auf Kummeroog auf?“

Die Augen unter dem grünen Lidschatten wurden rund. „Ja, weißt du das denn nicht? Das hat doch alles Edmund bezahlt, auch den Lehrgang in der Provence.“

Erika traf fast der Schlag. Edmund? Wieso bezahlte der Rosi einen Eso-Shop auf Kummeroog? „Bist du wieder mit ihm zusammen, oder was?“

„Gott bewahre! Vor einem halben Jahr oder so habe ich ihn getroffen... nein, er hat mich sogar angerufen und gefragt, ob ich nicht schon immer so was in mir gespürt hätte, dass ich Leuten was einreden kann und so. Und dann hat er mich bequasselt, dass es doch eine Superidee sei, das mit dem Laden, und dass er mir bald eine Toplage auf Kummeroog bieten kann, direkt an der Promenade, ich dürfte aber keinem Menschen was erzählen.“

Erika wollte jetzt mehr wissen. „Sag, Rosi, hast du nicht noch Zeit auf einen Kaffee? Wir gehen schnell zu Nanninga, und du erzählst mir alles.“

Zehn Minuten später saß sie mit Rosi auf einem Sofa in Nanningas Konditorei, in einem alten Haus mit geschwungenem Giebel und Fensterläden direkt am alten Siel, vor sich ein Stück Marzipantorte – Roxy hatte gefragt, ob es auch Hirsetörtchen mit Ahornsirup gibt, aber die Bedienung hatte nur irritiert den Kopf geschüttelt – und einem Milchkaffee und hörte staunend zu, was die neue Kräuterhexe zu erzählen hatte.

Kuper hatte Rosi tatsächlich eine achtwöchige Schamaninnen-Ausbildung in der Provence bezahlt. Mit ihrer Ausstrahlung und ihrer Wirkung auf andere sei sie doch genau die Richtige, hatte er zu ihr gesagt. „Ja, und soll ich vielleicht mein Leben lang verfetteten Hausfrauen sagen, dass Größe 38 doch ein bisschen knapp sitzt?“, fragte sie Erika. Also habe sie zugegriffen – zumal Edmund keinerlei Gegenleistung erwartete. „Der Kursus war die Härte, Erika. Da waren lauter Durchgeknallte, die haben das tatsächlich geglaubt, was die uns da erzählt haben, dass man mit der Kraft des Mondes Furunkel heilen kann und so Zeug.“ Roxy lachte schallend, und Erika lachte mit, erleichtert, dass diese Frau offenbar hinter der bunten Schale noch die alte war.

In vier Wochen sei es dann so weit, dann werde sie ihren Laden aufmachen. „Super Lage, Erika, direkt am Strand, nebenan eine Cocktailbar, da gehen bestimmt viele Betuchte hin, die keine Bodenhaftung mehr haben und glauben, dass ich ihnen aus meinen Karten sagen kann, ob ihre Aktien sich auch gut benehmen.“ Keine Frage, Roxy war eine Geschäftsfrau, das musste Kuper irgendwie gemerkt haben.

„Und weißt du, was total abgefahren ist? Drei Türen weiter macht Bettina Kuper so ein Kreativstudio auf, wo sie den Leuten beibringt, was sie selbst an der Volkshochschule gelernt hat!“ Roxy und Erika kamen aus dem Lachen kaum noch heraus, sie stellten sich Kupers frostige Gattin vor, wie sie alten Schachteln zeigte, wie sie Paisley-Muster auf Seidentücher batiken könnten.

„War das auch Edmunds Idee?“, wollte Erika wissen. „Nein“, gackerte Roxy, „ich glaube, sie hat darauf bestanden, und er war ziemlich angefressen deswegen. Na, immerhin ist er sie dann ja vier Tage in der Woche los, vielleicht tröstet ihn das. Oder zieht ihr mit eurem Büro etwa auch nach Kummeroog?“

„Nein“, sagte Erika verwundert, „nicht dass ich wüsste.“

„Och, ich dachte, denn Edmund muss ja ganz schön Geld in die Hand nehmen, so viel, wie er da vorhat“, sagte Roxy mit einem tiefen Blick über den Rand ihrer Kaffeetasse hinweg.

„Ja, klar“, bluffte Erika, die keine Ahnung hatte, wovon Roxy sprach. „Der Umzug auf die Insel muss da sicher erst noch warten.“

Die nächsten Minuten schlürften sie schweigend ihren Kaffee, bis Erika eine Frage nicht mehr zurückhalten konnte. „Wirst du dich jetzt wieder mit Edmund treffen?“

Roxy lachte noch lauter als vorher. „Nein, um Himmels willen, das ist doch ewig lange vorbei. Ich habe jetzt einen echt süßen Typen, Orfeo heißt er, ist 56, so ein Althippie, der beliefert die Esoterik-Läden. Den habe ich in Frankreich kennengelernt, und das ist echt gut, denn Edmund bezahlt mir nur den Kursus und die Ladenmiete für ein Jahr, dann muss ich selbst klarkommen, und alles was im Laden ist, muss ich ja auch selbst bezahlen.“

Erika staunte über Roxys Talente. „Ist der auch nett?“, fragte sie.

Ja, sagte Roxy, das sei ein echt interessanter Typ, der als junger Mann in Indien gewesen sei, und auch eine Zeitlang in Height Ashbury. Orfeo, der natürlich nicht wirklich so heiße, sondern Ralf, sei auch lange in Afghanistan gewesen, bis es dort nicht mehr auszuhalten gewesen sei, und dann nach Haiti gegangen, wo er bei einem echten Voodoo-Heiler gelernt hatte. „Aber das war ihm zu unheimlich“, sagte Roxy ernst. „Da ist er zurück nach Europa und hat sich mit dem Eso-Bedarf selbstständig gemacht. Ich glaube, er lebt ganz gut davon.“

„Und dein Orfeo, der kennt das wirklich, so mit Voodoo?“, frage Erika.

„Ja, aber er sagt, das war furchtbar. Orfeo hat da die dunkle Seite der Macht gesehen.“ Roxys grüne Augen wurden ganz groß.

„Ich dachte, du glaubst gar nicht an das Zeug“, sagte Erika.

„Natürlich ist Nadeln durch eine Wachspuppe piksen genauso wirkungslos wie meine Kräuterliebestränke“, antwortete Roxy. „Aber solche Leute glauben, dass sie Macht über andere haben. Und das macht sie gefährlich.“

So viel Erika auch mit Roxy gelacht hatte, anschließend ging sie doch nachdenklich nach Hause. Bisher hatte sie es nicht wahrhaben wollen, aber es geschah neuerdings eine Menge, von dem sie nicht die leiseste Ahnung hatte. Das seltsame Gespräch mit Eilts, Becker und Kröning lag ein dreiviertel Jahr zurück. Seit Wochen ging Hinni Janßen beim Chef ein und aus, und die beiden sprachen ausschließlich hinter verschlossener Tür miteinander. Kuper ließ sie kaum noch in sein Büro, und wenn, dann niemals lange genug, dass sie auf die vielen Skizzen und Pläne schauen konnte, die dort an der Wand hingen. Dass Kuper offenbar vorhatte, eine ganze Ladenzeile entlang der Strandpromenade von Kummeroog zu bauen, und diese dann auch noch mit handverlesenen Geschäftsleuten zu bestücken, hatte sie nicht einmal geahnt. Trotzdem war das offenbar fast abgeschlossen, denn Roxy sollte ja ihren Laden schon in wenigen Wochen eröffnen.

Neuerdings rief auch Karl Eilts ständig an, ebenso Wilfried Kröning. Die Gespräche dauerten meist eine Viertelstunde und länger, die Herren hatten offenbar mit Kuper eine Menge zu besprechen. Früher hatte ihr Chef nach Telefonaten mit Eilts immer einen roten Kopf gehabt, für seine Verhältnisse derbe geflucht und nach einem Kaffee verlangt. Nun war er nach den Anrufen stets bester Laune, wie er überhaupt immerzu in einer Stimmung war, die Erika von ihm gar nicht kannte. Er rief nicht mehr spätabends bei ihr zu Hause an, und die Aufstellung der Erlöse aus den Fahrkartenautomaten hatte er schon seit Wochen nicht mehr sehen wollen.

An diesem Abend hatte Erika keinen Appetit, und es dauerte lange, bis sie einschlief.

Nach einem unruhigen Wochenende war sie früh im Büro. Unschlüssig kramte Erika auf ihrem Schreibtisch herum, dann atmete sie tief durch, schritt zur Tür von Kupers Büro und drückte die Klinke herunter. Es war abgeschlossen. „Dachte ich es mir doch“, murmelte Erika. Sie angelte den Schlüssel vom Konferenzraum aus der Schublade, und ging von dort aus in Kupers Büro. Diese Tür war zum Glück niemals zu.

Drinnen schritt sie von einem Plan zum anderen. Erika kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Dort hingen Zeichnungen für die gesamte Promenadenzeile, inklusive Roxys Esoterik-Laden und Bettina Kupers Kreativstudio. Erika sah die Pläne für die äußerst elegante Cocktailbar neben Roxys Shop, ein Geschäft für teuerste Damenbekleidung, einen Souvenirshop und einen für teuren Elektronik-Schnickschnack. Exklusive Waren, die bisher auf Kummeroog nicht zu haben waren.

An der anderen Wand hing der Entwurf für ein nagelneues Hallenbad mit Sauna und Fitnessabteilung. Ein Architekt aus Hamburg hatte alles gegeben und eine Art „Fin-de-siecle“-Look für das 21. Jahrhundert skizziert. Daneben hing ein Zettel mit den geschätzten Kosten – mehrere Millionen – und dem handschriftlichen Hinweis von Janßen: „Eilts ist begeistert!“ Derselbe Architekt hatte auch noch einen Plan für ein Veranstaltungszentrum gezeichnet, doch dabei handelte es sich offenbar erst um grobe Ideen.

Erika war in die Zeichnungen so vertieft, dass sie nicht gehört hatte, wie Kuper in ihrem Büro nach ihr gerufen, dann auf der Suche nach ihr vom Flur aus die offene Tür vom Konferenzraum gesehen hatte und ihrem Weg gefolgt war. Sie erschrak bis ins Mark, als er plötzlich so dicht hinter ihr stand, dass sie seinen Atem im Nacken spürte. Sie fuhr herum, stand mit dem Rücken zur Wand.

„Na, Frau Halwasser, spionieren Sie in meinen Sachen?“

Erika wurde knallrot und murmelte eine Entschuldigung.

„Gehen Sie“, sagte Kuper barsch, „und vergessen Sie bloß alles, was Sie hier gesehen haben.“

Jetzt wurde Erika sauer. „Was sind das eigentlich für Heimlichtuereien neuerdings?“, schimpfte sie Kuper gerade ins Gesicht. „Ich glaube langsam, jeder im Haus hier weiß Bescheid, nur ich nicht. Die Putzfrau sieht dieses Zeug doch auch jeden Tag! Und ich, Ihre Sekretärin, darf das nicht sehen? Rosi heißt plötzlich Roxy und kriegt einen ganzen Laden von Ihnen spendiert, verlustiert sich auf Ihre Kosten in der Provence, während die doofe Erika weiter Kaffee kocht und Fahrkartenpreise eintippt.“ Erika stiegen die Tränen in die Augen, ob vor Wut oder vor plötzlich hochkochender Enttäuschung, wusste sie nicht. „Wenn ich für Sie nicht vertrauenswürdig bin, dann los, dann sagen Sie es mir doch!“

Kuper stand vor ihr, sichtlich bewegt von diesem Ausbruch. „Erika, verstehen Sie doch, ich kann Ihnen das alles nicht sagen, das ist doch geheim!“

„Ach ja? Aber Rosi weiß doch auch über alles Bescheid, und besonders geheimnisvoll hat sie nicht getan, als sie es mir vorgestern erzählt hat. Können Sie sich überhaupt vorstellen, wie doof ich mir vorgekommen bin?“

Sie hatte noch nie so mit Kuper gesprochen. Sie sah ihm wütend in die Augen, streckte das Kinn vor und ihr ganzer Körper bebte.

„Erika, bitte...“

„Ach, lassen Sie mich doch in Ruhe mit Ihren Geheimnissen“, fauchte Erika und wollte an ihm vorbei, doch plötzlich packte er sie hart bei den Armen, hielt sie fest und drückte sie wieder an die Wand. Sein Atem ging schneller, über der Stirn löste sich eine Haarsträhne. „Ich will Ihnen gar nichts verheimlichen, das müssen Sie mir glauben, Erika! Es ist besser, wenn Sie das alles nicht wissen. Ich will Sie nur schützen, Erika, wirklich! Es ist doch alles nicht ganz astrein, was wir hier machen.“

Erika riss die Augen auf und starrte Kuper an. „Was?“, fragte sie entsetzt. Edmund stand jetzt so dicht vor ihr, dass er sie fast berührte. Sein Gesicht glühte, die Pupillen seiner grünen Augen waren weit geöffnet, er keuchte. Erika bekam eine Gänsehaut. „Was ist hier los?“, fragte sie tonlos.

„Erika“, sagte er, „ich habe Kummeroog gekauft.“

Ein vormals armseliges Eiland, gut vier Kilometer nördlich des öden Kaffs, drei Jahre später

Der Fähranleger von Kummeroog wirkte so friedlich, dass man sein Bild in einem Film mit Flötenmusik untermalt hätte. Der Himmel dehnte sich in tiefem Azur über der Insel, keine Wolke, kein Dunstschleier trübte den Blick. Vom Oberdeck der „Germania“, wo Erika an der Reling stand, waren die Menschen mit ihren Koffern ganz klein und wuselten wie bunte Käfer umeinander. Vom Geräusch des Windes, dem Brummen des Schiffsmotors und Möwengeschrei übertönt, wehte die quäkende Lautsprecheransage verzerrt bis auf das Schiff. Peter Schroll, der technische Inspektor der Kummerooger Dampfschifffahrtsreederei, stand neben Erika und sah zur Insel hinüber. „Vor drei Jahren war hier nie so viel los, jedenfalls nicht zu Ostern“, sagte er. „Aber dieses Jahr wird das bis September an jedem Tag so aussehen.“

„Kuper hat Mord und Brand geschimpft, als wir am ersten Ferientag die Leute gar nicht alle auf einmal mitbekommen haben“, sagte Erika.

„Vielleicht müssen wir sogar ein neues Schiff anschaffen“, dachte Schroll laut. „Nur mit der ,Melodie des Meeres‛ als Reserve wird es bald nicht mehr gehen.“

„Das ist eben nur ein Ausflugsdampfer“, sagte Erika. „Die Leute rufen anschließend bei mir an und beschweren sich, dass sie ihr Gepäck und ihre Kinderwagen kaum mitkriegen konnten. Ein Glück, dass Becker keine Drohbriefe mehr schreibt.“

„Warte ab, das kommt wieder. Den Kummeroogern steigt ihr plötzlicher Reichtum schon zu Kopf, und sie fangen an zu vergessen, wem sie den verdanken. In letzter Zeit nimmt das Gemotze wieder zu“, seufzte Schroll. „Kennst du Eisberg, den vom ,Inselfriedenʻ?“

„Diesen Blonden, der jedes Jahr mit Kurt Becker zusammen Urlaub in Thailand macht?“

„Genau den“, sagte Schroll. „Der hat vor zwei Wochen Kapitän Peters Prügel angedroht und ihn angebrüllt, er hätte sein Patent wohl in einem Kinderschlauchboot gemacht.“

In diesem Moment riss es Erika und Peter Schroll fast von den Füßen, weil die „Germania“ unsanft an die Kaimauer prallte. „Kann man fast verstehen“, sagte Erika mit einem schiefen Grinsen, und Schroll verdrehte die Augen. „Der kann von Glück reden, dass die Wasserschutzpolizei bei uns nie Alkoholkontrollen macht.“

Erika griff nach ihrem Aktenkoffer und dem Bündel Prospekten. Schroll wollte ihr helfen, war aber nicht schnell genug. „Ja, Peter, bis dann“, sagte sie.

„Fährst du heute Abend wieder zurück?“, fragte er mit einem schüchternen Blick aus seinen blauen Augen.

Erika schüttelte den Kopf. „Heute Abend ist doch eine große Pool-Party zur Eröffnung des neuen Schwimmbades. Ich bin mit Roxy verabredet, wir wollen einen draufmachen.“

„Schade“, murmelte Schroll, „da kann ich nicht hin, wir müssen bis morgen früh die Unwucht in der Schiffsschraube in den Griff kriegen.“ Erika blickte jetzt auf Schrolls sommerblonden Scheitel, weil er den Blick ganz tief auf den Boden vor seinen Füßen gesenkt hatte. „Wir könnten doch vielleicht mal ein Eis zusammen essen...“, murmelte er kaum hörbar.

Erika lächelte gerührt und wollte schon mit der Hand nach seinem Oberarm greifen, aber da sah er ihr plötzlich wieder in die Augen, und sie zuckte zurück. „Klar“, sagte sie hastig, „das machen wir mal.“ Sie raffte ihre Sachen an sich und trippelte rasch die Treppe herunter.

Auf dem Anleger wurde Erika in dem Gedränge immer wieder geschubst und angestoßen, als sie sich ihren Weg durch die Menge suchte. Einmal wären ihr fast die Prospekte unter dem Arm weggerutscht. Kuper hatte ihr extra zur Eröffnung des Schwimmbades eine neue Dienstkleidung verpasst, blauen Blazer, blauen Rock, weiße Bluse. Dazu hatte sie sich selbst neue Schuhe gekauft, mit höheren Absätzen als sonst, auf denen sie nun nicht richtig vorwärts kam.

„Erika, hier bin ich!“, hörte sie Roxy rufen, und gleich darauf stand sie plötzlich vor ihr. Das rote Haar hatte Roxy mit Spangen und Nadeln hoch aufgetürmt, auf ihrer Jacke glitzerten Pailletten und kleine Spiegel. Sie umarmte Erika und hüllte sie in eine Wolke aus Lavendelduft. „Komm, ich hab' mit Erwin abgemacht, dass er uns mitnimmt“, sagte sie und zog Erika hinter sich her, die ihre Papiere an sich presste und innerlich über ihre Schuhe fluchte. „Wer ist Erwin?“

„Der Kutscher vom ,Inselfriedenʻ. Er holt die neuen Gäste in einem Pferdewagen ab, da können wir mitfahren. Der kommt direkt bei mir vorbei“, brüllte Roxy in Erikas Ohr.

„Aber meine Tasche...“ Erika zog wieder in die andere Richtung, zu den Gepäckcontainern.

„Ist doch alles geritzt, Baby, der süße Klaas bringt deine Sachen in meinen Laden.“

Erika stolperte über einen Dackel, dessen Besitzer sofort „Passen Sie doch auf, wo sie hintreten!“ keifte.

„Hey, alles easy, guter Mann“, rief Roxy in seine Richtung, „kommen Sie doch nachher mit dem Hund zu ,Sonne und Mondʻ. Ich kann auch das Karma Ihres Lieblings verbessern.“ Der Mann gaffte Roxy verblüfft an, die Hundeleine hing schlaff herunter. „Direkt an der Promenade“, rief Roxy ihm noch zu, dann zerrte sie Erika weiter auf einen Planwagen zu, vor den zwei magere Gäule eingespannt waren, die die Köpfe hängen ließen. Erwin, der Kutscher, war Ende 50, trug eine blaue Mütze und hatte Lücken zwischen seinen Schneidezähnen. „Ich kenne Sie doch“, sagte Erika, „haben Sie nicht sonst für Brumund gearbeitet?“

„Klor“, brummte der Mann, „do ik ook noch. Aber tüschenin fohr ik för Eisberg de Lü naa sein Hotel hen.“ Er kicherte heiser. „Dat mutt Brumund heel nee weeten.“

„Das ist unser Müllkutscher“, flüsterte Roxy Erika ins Ohr, als sie hinten auf den Planwagen kletterten. „Brumund weiß genau, was da läuft, aber er sagt nichts, denn so erfährt er immer, was im ,Inselfriedenʻ läuft. Neulich erst hat er sich den Transport vom Hotel zur Wäscherei in Emden und zurück unter den Nagel gerissen. Bei der vielen Wäsche, die im ,Inselfriedenʻ jetzt anfällt, kommt da gut was zusammen.“

Erika und Roxy hockten sich ganz am Ende des Wagens auf die niedrigen Bänke, so dass eine Urlauberfamilie – Mutter, Vater, Sohn und ein Sonnenschirm – an ihnen vorbei mussten. „Nu machen Se doch mal Platz hier“, nörgelte der Mann, „sehen Se denn nich, dat meine Frau sich plagen muss?“

„Ja, die hat es schwer, das sieht man schon“, sagte Roxy ganz ernsthaft. „Aber wir müssen doch vor Ihnen raus, wäre ja blöd, wenn wir dann über das Kind drüber weg müssten.“

Ganz plötzlich hatte sie ein kleines Blatt Papier in der Hand, auf dem Erika das Logo von „Sonne und Mond“, Roxys Geschäft, erkennen konnte, und das sie jetzt der Frau unauffällig in die Hand drückte. „Kommen Sie doch zu mir, ich kann Ihnen was zeigen, wie Sie Ihren Urlaub noch besser genießen können und völlig erholt nach Hause kommen, alles auf Naturbasis“, flüsterte Roxy der Frau zu, die sehr interessiert wirkte. „Ich habe auch was für Ihren Gatten, dass der ruhiger wird.“ Das schien geradezu Hoffnung in der Urlauberin zu wecken. Ihr Mann bekam von dem Gespräch gar nichts mit. Er war nämlich dabei, den Jungen zusammenzustauchen, er solle „getz ma aufpassen, mit dem Schirm, nä, sonst kannze wat erläben, dat sach ich dir“.

Roxy grinste Erika frech von der Seite zu. Wie man auf Kummeroog auf Kundenfang ging, das hatte sie in den vergangenen zwei Jahren gelernt. Der Pferdewagen setzte sich ruckelnd in Bewegung. Vom Kutschbock hörte man Erwin, wie er die Pferde anbölkte: „Nu loop doch to!“ Zwischen Roxy und der Urlauberfrau hindurch sah Erika den Anleger mit dem Schiff kleiner werden. Es folgte das Lager des Hafenamtes, mit gelben und roten Bojen und Tonnen, die auf dem Hof wie Riesenspielzeug herumlagen. Es kamen die Polderwiesen, auf denen ein paar Ponys im Sonnenschein grasten, dann eine Fischbude. Als der Wagen auf die Promenade, die eigentlich das Bollwerk gegen Sturmfluten war, einbog, geriet Kutscher Erwin mit ein paar Radfahrern aneinander, die seinen Weg geschnitten hatten, und stoppte kurz.

„Schau, der Wimpel da oben, das ist das Dach vom Hallenbad“, sagte Roxy und zeigte auf eine Art bunter Wetterfahne auf einem hohen, dunklen Dach. Erika erkannte sie sofort wieder, sie war schon auf den Zeichnungen zu sehen gewesen, die sie damals in Kupers Büro gesehen hatte. Es kam ihr vor, als sei das eine Ewigkeit her.

Die Fahrt ging weiter, der Planwagen schaukelte an dem niedrigen Gebäude für die Strandkörbe und den Liegestuhlverleih vorbei. „Wir ham nu Hochwasser, da ist das Wasser bis auf'm Strand“, radebrechte Erwin auf Hochdeutsch, um den Gästen hinter sich die Insel und