Gothikana – Eine Liebe, die alle Regeln bricht - RuNyx - E-Book

Gothikana – Eine Liebe, die alle Regeln bricht E-Book

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Beschreibung

Ein Schloss auf einem Hügel, neblige Wälder, dunkle Seen und eine Liebe, die nicht sein darf Für die Außenseiterin Corvina ist die Zulassung von der mysteriösen University of Verenmore die Chance auf einen Neuanfang. Zum ersten Mal in ihrem Leben schließt Corvina Freundschaften, doch das abgelegene Schloss in den Bergen birgt auch Geheimnisse: In regelmäßigen Abständen verschwindet jemand auf rätselhafte Weise. Corvina beschließt, endlich die Wahrheit hinter den Vorfällen aufzudecken. Sie hat jedoch nicht mit ihrem Professor, dem geheimnisvollen und unfassbar attraktiven Vad Deverell gerechnet, der sie ständig im Auge behält und mehr zu wissen scheint, als er zugibt … Mit exklusiven Bonuskapiteln!  »RuNyx' Bücher sind einzigartig und machen süchtig – sie sind wirklich einmalig.« Hannah Grace  »Originell, ungewöhnlich und anders als alles, was ich bisher gelesen habe.« L. J. Shen  »Diese mitreißende Liebesgeschichte ist der Hammer!« Publishers Weekly 

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Impressum ePUB

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Aus dem amerikanischen Englisch von Michaela Link

© RuNyx 2021

Titel der amerikanischen Originalausgabe: »Gothikana«, erstmals erschienen im Selfpublishing.

© everlove, ein Imprint der Piper Verlag GmbH, München 2024

Die Genehmigung zur Reproduktion des Umschlagdesigns wurde von Rebellion Publishing Ltd. erteilt.

Illustrationen: Designed by Freepik

Redaktion: Michelle Stöger

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

Covergestaltung: FAVORITBUERO, München, nach einem Entwurf von Stephanie Hess

Covermotiv: Stephanie Hess

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Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Widmung

Zitate

Anmerkung der Autorin

Verenmore-Karte

Wappen

Wo alles begann

Vad

Einige Jahre später

Corvina

Kapitel 1

Corvina

Kapitel 2

Corvina

Kapitel 3

Corvina

Kapitel 4

Corvina

Kapitel 5

Corvina

Kapitel 6

Corvina

Kapitel 7

Corvina

Kapitel 8

Unbekannt

Kapitel 9

Corvina

Kapitel 10

Corvina

Kapitel 11

Corvina

Kapitel 12

Vad

Kapitel 13

Corvina

Kapitel 14

Corvina

Kapitel 15

Corvina

Kapitel 16

Corvina

Kapitel 17

Corvina

Kapitel 18

Corvina

Kapitel 19

Corvina

Kapitel 20

Corvina

Kapitel 21

Corvina

Kapitel 22

Corvina

Kapitel 23

Corvina

Kapitel 24

Corvina

Kapitel 25

Corvina

Kapitel 26

Corvina

Kapitel 27

Corvina

Kapitel 28

Corvina

Kapitel 29

Vad

Wie es endete …

Vad

… oder doch nicht?

Corvina

Bonusszene vom Schwarzen Ball

Der Tunnel

Vad

Bonusszene 2

Erste Begegnung mit Corvina

Vad

Bonusszene 3

Die Verwarnung des Dr. Kari

Vad

Bonusszene 4

Die Hochzeit

Corvina

Bonusszene 5

Während der Leichenfunde

Vad

Playlist

Danksagung

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Widmung

Für all diejenigen, die das Gefühl hatten, niemals dazuzugehören, und auf die harte Tour lernen mussten, dass das auch gar nicht nötig ist. Anders zu sein, ist dein zweischneidiges Schwert. Eines Tages wirst du den passenden Schild finden.

Zitate

Here I opened wide the door;

Darkness there, and nothing more.

Edgar Allan Poe

I will not let you go into the unknown alone.

Bram Stoker

Anmerkung der Autorin

Liebe Leserin, lieber Leser,

bevor du dich nach Verenmore und in die Welt von Gothikana begibst, möchte ich dich vor einigen Dingen warnen, die im Buch erwähnt werden. Wenn diese deine mentale Gesundheit beeinträchtigen könnten, bitte ich dich, die Lektüre des Buches zu überdenken.

Dieses Buch enthält explizite sexuelle Inhalte, Szenen von Selbstmord, Mord und Tod. Psychische Krankheiten und Vernachlässigung durch die Eltern, sexuelle Übergriffe und Menschenopfer werden erwähnt. Es gibt auch einen mysteriösen, moralisch fragwürdigen Protagonisten, der dich ohne Ende frustrieren wird, weil seine Sicht der Dinge nur wenig beleuchtet wird. Ich möchte, dass du dich ihm gegenüber genauso fühlst wie die Hauptfigur Corvina – verwirrt, frustriert, misstrauisch und angezogen.

Gothikana ist ganz anders als alles, was ich bisher geschrieben habe, aber es ist auch die Geschichte, die mir am meisten am Herzen liegt. Verenmore ist für mich etwas ganz Besonderes: Die Charaktere, die Ereignisse und die Schauplätze sind alle von wahren Begebenheiten aus meinem eigenen Leben inspiriert. Wenn du dich entscheidest, mit mir auf diese Reise zu gehen, hoffe ich, dass sie dir gefallen wird.

Ich danke dir.

Verenmore-Karte

Wappen

Wo alles begann

Vad

Nichts ist wohl furchteinflößender als eine blinde alte Frau mit völlig weißen Augen, die plötzlich in einer Vollmondnacht deinen Arm packt.

Früher einmal war die alte Zelda die Leiterin des Heims gewesen, in dem der kleine Vad jetzt zusammen mit anderen Jungen lebte. Nach ihrer Erblindung hatten die Leute von der Verwaltung ihr erlaubt zu bleiben, was Vads Meinung nach ein Fehler war. Denn sie wusste Dinge, die sie nicht wissen sollte, Dinge über Jungen, die sie nicht einmal sehen konnte. Sie hatte gewusst, dass Reed im Teich ertrinken würde – eine Woche vor seinem Tod. Sie wusste über Tor Bescheid, wusste, dass seine Haut von innen nach außen verbrannte. Dabei hatte der Junge niemals jemandem davon erzählt. Sie prophezeite auch, sein bester Freund werde eines Tages »Flammen essen«, was auch immer das bedeuten sollte. Schließlich hatte Fury Angst vor Feuer.

Die alte Zelda war verdammt unheimlich. Und Vad ging ihr so weit wie möglich aus dem Weg.

Im Beisein der anderen am Abend des Geburtstags eines der Jungen im Garten in ihre Fänge zu geraten, war also so ziemlich das Letzte, was er gewollt hatte.

Ihre zerbrechliche und runzlige Hand umklammerte seinen dünnen Arm mit überraschender Kraft.

»In eine Burg, zu der niemand geht«, sagte sie mit zittriger Stimme. Ihr Gesicht war von tiefen Falten durchzogen, und das Weiß ihrer Augen richtete sich in beängstigender Weise auf Vad. »Dort wirst du hingehen, Junge.«

Fury kicherte neben ihm. »Warum sollte er zu einer Burg gehen, Zelda? Wo soll er denn überhaupt eine Burg finden?« Sie alle waren bettelarm, ausnahmslos.

»Er wird vieles finden«, übertönte die alte Zelda seinen Freund mit lauter Stimme. »Violette Augen. Du wirst violette Augen finden.«

Ajax, ein weiterer Junge, der im selben Alter wie Vad war, bog sich vor Lachen. »Violette Augen? Kein Mensch hat violette Augen, Zelda. Allenfalls ein Freak hat violette Augen.«

»Vielleicht findet er ja einen dreibeinigen Mann«, rief ein anderer Junge unter mädchenhaftem Gekicher.

»Oder ein Mädchen mit zwei Hörnern«, warf ein weiterer ein.

Vad lief dunkelrot an. Mit seinen sieben Jahren schäumte er vor Wut auf die alte Zelda, weil sie ihn derart in die Enge trieb und seltsame Sachen über ihn sagte, mit denen seine Freunde ihn verspotten konnten.

Während sie sich noch auf seine Kosten amüsierten, wurde Zeldas Griff um seinen Arm fester. »Vergiss es nicht, Junge. Viele Menschen werden sterben, wenn es so weit ist.«

Einige Jahre später

Corvina

Schwarz.

Das war die Abwesenheit von Farbe, der Hüter der Dunkelheit, der Abgrund unbekannter Dinge.

Schwarz fand sich in ihrem Haar, in den Kleidern ihrer Mama, in dem gewaltigen Himmel überall um sie herum.

Sie liebte Schwarz.

Die Kinder in der Stadt fürchteten es, angefangen bei den Schatten unter ihren Betten bis hin zu der endlosen Nacht, die sie stundenlang umfing. Ihre Eltern brachten ihnen bei, ein bisschen Angst davor zu haben. Sie brachten ihnen auch bei, sich vor Corvinas Mutter zu fürchten – dieser seltsamen Dame mit den seltsamen Augen, die außerhalb der Stadt am Waldrand lebte. Einige tuschelten, sie sei eine Hexe, die dunkle Magie praktiziere. Andere sagten, sie sei ein Freak.

Die kleine Corvina hatte alle Gerüchte gehört, aber sie wusste, dass keines davon zutraf. Ihre Mutter war weder eine Hexe noch ein Freak. Ihre Mutter war ihre Mutter. Sie mochte Menschen eben nicht. Corvina mochte auch keine Menschen, und an den meisten Bewohnern der Stadt gab es tatsächlich auch herzlich wenig, was man mögen konnte.

Erst am Tag zuvor hatte sie gesehen, wie ein Mädchen in ihrem Alter Kieselsteine nach einer Krähe warf, als diese auf dem Boden einige Zweige für ihr Nest zusammensuchte. Corvina wusste das, weil sie die Krähe kannte. Viele von ihnen gab es nicht hier in den Wäldern, aber die Krähen, die geblieben waren, kannten sie und ihre Mama auch. Mit irgendwelchen Hexereien hatte das nichts zu tun.

Schon so lange sie denken konnte, hatte ihre Mutter sie jeden Morgen zu der Lichtung mitgenommen, die nur einige Minuten von ihrer kleinen Hütte entfernt lag, um die Krähen zu füttern. An einem von Mamas guten Tagen, an denen sie sprach, hatte sie ihr erzählt, dass die Vögel intelligente, loyale Wesen seien, im Geiste ihrer Vorfahren, dass sie tagsüber vom Himmel aus über sie wachten, genau wie die Sterne es bei Nacht taten.

Und Beschützer brauchten sie, alle beide.

Ihre Mama redete nicht viel, aber sie hörte Stimmen. Stimmen, die ihr Dinge sagten. Sie sagten ihr, sie solle nicht mit Menschen reden, sie solle Corvina nach diesem Zwischenfall in der Schule zu Hause unterrichten, um sie von allem fernzuhalten. Ihre Mama sagte ihr, sie dürfe nicht einfach in der Gegend herumlaufen, oder sie würden sie fortholen. Sie müsse in der Stadt immer an ihrer Seite bleiben, oder sie würden sie fortholen. Sie dürfe mit niemandem reden, oder sie würden sie fortholen.

Corvina wollte nicht weg.

Sie liebte ihre Mama. Ihre Mama, die nach Salbei roch und nach frischem Gras und Weihrauch. Ihre Mama, die ihr eigenes Gemüse anbaute und köstliches Essen für sie kochte. Ihre Mama, die mit ihr einmal im Monat in die Stadt ging, obwohl sie es hasste, nur um ihr alle Bücher, die sie wollte, aus der Bibliothek zu holen. An den meisten Tagen blieb ihre Mama stumm, es sei denn, sie unterrichtete Corvina oder tuschelte mit den Stimmen. Auch Corvina sprach wenig. Aber sie wusste, dass sie geliebt wurde. Ihre Mama war nun einmal so, wie sie war.

Sie lächelte, als sie auf ihren kleinen Füßen neben ihr zur Lichtung ging. Am Himmel stand ein seltener Tintenmond, den es nur einmal alle fünf Jahre gab, ein Tintenmond, unter dem sie geboren worden war. Ihre Mama war nach langer Zeit wieder glücklich, und das machte auch sie glücklich. Umgeben von Kerzen und Weihrauchstäbchen, die ihre Mutter angefertigt hatte, den Tarotkarten, deren Bedeutung ihre Mutter ihr beibrachte, und den Kristallen, die sie wieder mit Energie aufladen würden, wanderte der Blick der zehnjährigen Corvina in der Dunkelheit umher. Sie fühlte sich zu Hause.

Wenn ihre Mutter ein Freak war, dann war sie das vielleicht auch.

Denn auch sie hörte manchmal die Stimmen.

Kapitel 1

Corvina

Von der Universität Verenmore hatte Corvina noch nie gehört. Allerdings hatte sie von den meisten normalen Dingen noch nie etwas mitbekommen, so, wie sie aufgewachsen war. Doch auch sonst hatte niemand je von dieser Universität gehört.

Sie hielt den Brief in Händen, den sie vor Wochen erhalten hatte – einen Brief, geschrieben mit Tinte auf bräunlich verfärbtem, dickem Papier, das nach alten und innig geliebten Büchern roch –, und studierte noch einmal dessen Inhalt.

Liebe Miss Clemm,

zu unserer Freude kann die Universität Verenmore ihre Aufnahmefrist verlängern. Schon seit mehr als einem Jahrhundert schreiben wir Studenten an, die eine besondere Vorgeschichte haben, um ihnen die Möglichkeit zu geben, unsere angesehene Institution zu besuchen. Das Morning Star Psychiatric Institute hat uns Ihren Namen übermittelt.

Wir würden Ihnen gern ein Vollstipendium für das zweijährige Grundstudium in Verenmore anbieten. Der Abschluss wird Ihnen den Zugang zu exklusiven Kreisen ermöglichen und Ihnen weltweit viele Türen öffnen. Wir glauben, dass Sie mit Ihrer schulischen Vorbildung und Ihrer persönlichen Geschichte gut zu unserer Einrichtung passen würden.

Uns ist bewusst, dass Sie sich in einer schwierigen Phase befinden, und dennoch muss eine Entscheidung getroffen werden. Für weitere Informationen wenden Sie sich bitte an die dem Brief beigefügte Adresse. Sofern wir innerhalb von sechzig Tagen keine Antwort erhalten, müssen wir das Angebot bedauerlicherweise zurückziehen.

Wir hoffen, von Ihnen zu hören.

Mit freundlichen Grüßen

Kaylin Cross

Immatrikulationsbeauftragte

Universität Verenmore

Corvina hatte noch nie einen Brief erhalten, erst recht keinen so seltsamen wie diesen.

Und seltsam war er wirklich.

Sie war einundzwanzig Jahre alt, ein Mädchen, das zu Hause unterrichtet und ein Leben lang durch ihre Mutter von allem abgeschirmt worden war. Warum sollte eine Universität eine Studentin im Grundstudium wollen, die das Alter hierfür längst überschritten hatte, eine Studentin, die nichts vorweisen konnte, was einer gewöhnlichen Schulausbildung auch nur annähernd entsprach? Und überhaupt: Wer schickte heutzutage noch handgeschriebene Briefe?

Merkwürdig war, dass offenbar niemand etwas über die Universität wusste. Sie hatte versucht, an Informationen zu gelangen. Den Oberarzt in der Klinik hatte sie danach gefragt, den Computer ihrer städtischen Bibliothek benutzt, aber nichts und niemand hatte auch nur den leisesten Schimmer. Verenmore existierte nicht. Es war nur ein winziger Punkt auf einer Karte, eine kleine Stadt unterhalb des Mount Verenmore, die eben diesen Namen trug.

Die Universität lag irgendwo auf dem Berg, zu dem die Stadtbevölkerung gewöhnlich keinen Zutritt hatte. Sie wusste das, weil ihr Taxifahrer, ein ausgesprochen freundlicher Mann namens Larry, es ihr gerade erzählt hatte, während er sie den Berg hinauffuhr.

»Hier in der Gegend gibt es heutzutage nicht mehr viele Leute, die zu der Burg hinaufgehen.« Larrys höchst informativer Redeschwall brach nicht ab, während sie sich in dem kleinen schwarzen Privatwagen die leicht ansteigende Straße hinaufschlängelten. Corvina hatte ihn nach ihrer Ankunft vor dem Bahnhof angetroffen. Zwei Züge hatte sie nehmen müssen, einen von Ashburn und den nächsten von Tenebrae. So hatte es zwölf Stunden gedauert, um nach Verenmore zu gelangen. Larry hatte überrascht reagiert, als sie ihm ihr Ziel auf dem Berg nannte. Er hatte sogar gebetet, bevor er den Wagen angelassen hatte.

»Und woran liegt das?«, fragte Corvina und beobachtete, wie die kleine Stadt in der Ferne immer winziger wurde, bis das üppige Grün ihr die Sicht versperrte. Sie war nicht daran gewöhnt, sich zu unterhalten, musste aber so viel wie möglich über die Universität herausfinden, für die sie sich nun eingeschrieben hatte. Es war ja nicht so, dass sie etwas Besseres zu tun gehabt hätte.

Als sie in dem winzigen Cottage lebte, in dem sie aufgewachsen war, Schmuck und Kerzen herstellte und Lesungen veranstaltete, um Geld zu verdienen, war all das monoton gewesen – vor allem, da jeder in der Stadt außer der alten Bibliothekarin sie mit Argwohn betrachtete. Das Aufnahmeschreiben war wie ein Zeichen des Universums gewesen, und ihre Mama hatte ihr immer eingeschärft, solche Zeichen niemals zu ignorieren. Corvina hatte sich zeitlebens gewünscht, eine Schule zu besuchen, um gesellschaftliche Konventionen kennenzulernen, zusammen mit anderen zu lernen und mehr über Menschen zu erfahren, die nichts über sie wussten. Ein unbeschriebenes Blatt, das sie füllen konnte, womit auch immer sie wollte, wie auch immer sie es wollte. Dies wirkte zunächst widersprüchlich, da sie an sich eine Einzelgängerin war. Gleichzeitig war sie aber auch eine gute Beobachterin. Sie liebte es, andere Menschen auf diese Weise zu studieren, wenn sie die Gelegenheit dazu bekam.

»Keine Ahnung.« Der Fahrer zuckte mit seinen schmalen Schultern unter der dünnen, beigefarbenen Jacke. »Ich schätze, es liegt am Gerede über die Burg. Angeblich soll es dort spuken.«

Corvina schnaubte. Das bezweifelte sie stark. Sie hatte die Erfahrung gemacht, dass alte Gebäude und Dinge im Laufe der Zeit häufig mit Spukgeschichten in Verbindung gebracht wurden. Aber sie wollte dem gegenüber offen bleiben.

»Und ist das so? Ich meine, spukt es dort?«, fragte sie, denn sie brannte immer noch darauf, mehr über die mysteriöse Universität herauszufinden.

Der Fahrer warf ihr einen Blick im Rückspiegel zu, bevor er sich wieder auf die Straße konzentrierte. »Werden Sie in der Burg wohnen oder besuchen Sie sie nur, Miss?«

»Ich werde dort wohnen.« Sie schaute auf den Brief in ihrer Hand. Dann stopfte sie ihn zurück in die braune Ledertasche, die ihrer Großmutter gehört hatte. Es war das Einzige, das sie von einer anderen Person als ihrer Mutter je bekommen hatte.

»Ich würde sagen, dass Sie auf der Hut sein sollten. Keine Ahnung, ob’s da spukt, aber irgendwas stimmt nicht mit der Burg.«

Danach herrschte einige Minuten Stille im Wagen. Corvina kurbelte das Fenster ein Stück herunter und nahm die atemberaubende natürliche Schönheit des Berges in sich auf. Die Aussicht war anders als alles, was sie je zuvor gesehen hatte. Da, wo sie herkam, waren die Wälder eher gelb, und die Luft war feucht.

Der kalte, trockene Wind wehte ihr die dunklen Strähnen, die sich aus ihrem Fischgrätenzopf gelöst hatten, ins Gesicht, und Corvina nahm sich die Zeit, die unzähligen kräftigen Grüntöne in sich aufzusaugen, in denen sich der Berg zeigte. Die kleine Stadt lag auf einer winzigen Lichtung inmitten dieses Dickichts von Grün. Der Duft fremdartiger Pflanzen drang durch das offene Fenster, und der Himmel erschien ihr wie eine bewölkte, bleiche Imitation seiner selbst.

Während der Fahrt lief leise Musik, die durch Knistergeräusche gestört wurde, sobald sie höhere Lagen erreichten. Corvina schaute auf das Armaturenbrett, und der Fahrer seufzte. »Passiert jedes Mal«, erklärte er ihr. »Hier oben wird der Empfang immer schlechter.«

Corvina runzelte die Stirn. »Wie kommuniziert die Universität dann?«

Der Fahrer zuckte mit den Achseln. »Sie haben nen Jungen, den sie in die Stadt hinunterschicken, um Briefe zu versenden, das Internet zu benutzen und so was.«

»Und das hier ist die einzige Straße, die den Berg hinauf- und hinunterführt?« Normalerweise war sie stiller, obwohl sie nicht wusste, ob das ihrem Charakter entsprach oder schlicht dem Mangel an Personen geschuldet war, mit denen sie hätte reden können. Da sie allein am Rand der kleinen Stadt Skarsdale gelebt hatte und noch dazu als eine Art Ausgestoßene, waren manchmal Tage vergangen, ohne dass sie auch nur den Klang ihrer eigenen Stimme gehört hatte.

»Ja.« Der Fahrer nickte und lenkte den Wagen durch eine Kurve. Corvina hielt sich am Türgriff fest, um nicht zur Seite zu kippen. Als sie das erste Mal in ein Auto gestiegen war, hatte sie einen Anfall von Klaustrophobie erlitten. Mit ihrer Mutter war sie immer zu Fuß in die Stadt gegangen. Zwar hatte sie Autos gesehen, aber mitgefahren war sie nie, nicht bis zu dem Tag, als sie sie abgeholt und in einen Wagen gesetzt hatten. Zum Glück hatte sie herausgefunden, dass sie die Klaustrophobie in den Griff bekommen konnte, solange sie dafür sorgte, dass im Wagen frische Luft zirkulierte.

»Gibt es sonst noch etwas, was ich über die Burg wissen sollte?«, fragte sie, sobald sie die Kurve hinter sich hatten. Der Nebel vor der Windschutzscheibe wurde dichter, die Luft frischer und dünner, je höher sie kamen.

Der Fahrer zögerte, und sein flackernder Blick traf ihre seltsam violetten Augen im Rückspiegel, Augen, die sie von ihrer Mama geerbt hatte. »Es gibt Gerüchte, Miss. Keine Ahnung, wie viel Wahrheit die enthalten.«

Und noch eine Kurve.

Corvina schaute aus dem Fenster, atmete die frische, kühle Luft ein und stellte fest, dass die Aussicht, die sie noch vor wenigen Sekunden bewundert hatte, unter einer dichten, weißen Nebelschicht verschwunden war. Dem ein oder anderen hätte das vielleicht eine Gänsehaut verursacht, aber Corvina hatte immer in derart merkwürdigen Dingen Trost gefunden.

Mit einem leisen Lächeln auf den Lippen wartete sie, bis der Fahrer die Kurve sicher hinter sich gebracht hatte, bevor sie weiterbohrte. »Was für Gerüchte?«

»Seltsame Dinge«, antwortete der Fahrer und verfiel in ein leichtes Nuscheln. »Leute, die sich umbringen, einfach verschwinden, so was halt. Keine Ahnung, was da dran ist. Die Städter machen höchstens mal nen Aushilfsjob in der Burg, putzen oder gehen rauf, wenn was geliefert werden muss. Weiß ich alles nur von meiner Ma und die von ihrer Ma. Manche Leute in der Burg werden verrückt.«

Für ein Gerücht war das schon fast ein bisschen zu konkret. Dabei wusste sie nicht einmal, ob überhaupt ein Körnchen Wahrheit hinter alldem steckte. Vielleicht hatten sich die Stadtbewohner einfach einen Spaß daraus gemacht, diese Geschichten zu erfinden, und einen Vorwand gesucht, sich von dem seltsamen Ort fernhalten zu können. Vielleicht war es auch einfach Altweibertratsch. Oder auch nicht. Sie würde es unvoreingenommen angehen. Immerhin wusste sie besser als die meisten Menschen, wie sich falsche Gerüchte auf ein Leben auswirken konnten. Bevor Corvina gänzlich in Erinnerungen versank, fuhren sie um eine weitere Kurve, und plötzlich wurde der Nebel von der hoch aufragenden Silhouette eines gewaltigen Eisentores durchbrochen.

Corvinas Herz pochte wie wild, als sie sich nach vorn beugte, die Augen leicht zusammenkniff und versuchte, die Umrisse deutlicher zu erkennen.

Wahnsinnig hoch.

Die Tore waren wahnsinnig hoch. Auf einer Seite wurden sie durch den Hang begrenzt, während es auf der anderen Seite steil ins Tal hinunterging. Dort konnte ganz sicher niemand einbrechen, nicht ohne in den Tod zu stürzen. Bei diesen massiven Sicherheitsvorkehrungen lief es ihr eiskalt den Rücken herunter. Vielleicht lag es aber auch nur an der Kühle des grauen Himmels.

Der Fahrer bremste und kurbelte sein Fenster nach unten, als ein Wachposten in brauner Uniform und mit einem Klemmbrett in der Hand aus dem seitlich gelegenen Wachraum auf sie zukam.

»Ihr Name?«, fragte er Corvina in einem sachlich-nüchternen Ton.

»Corvina Clemm«, antwortete sie leise und musterte den Mann. Er hatte helles Haar und einen unheimlich wirkenden Schnurrbart, der an den Enden gezwirbelt war, dazu überraschend freundliche braune Augen, ganz anders, als sein harscher Ton vermuten ließ. Er sah tough aus, aber sie spürte, dass er im Herzen ein guter Mensch war. Keine Ahnung, wieso sie so etwas immer erkannte, wenn sie Menschen begegnete – ausgeprägte Instinkte, hatte ihre Mutter das genannt –, aber die Tatsache, dass die erste Person, mit der sie an der Universität in Berührung kam, zu den Guten gehörte, beruhigte sie.

Sie schaute zu, während er die Liste durchging und schließlich innehielt. »Und mit wem haben Sie einen Termin, Miss Clemm?«

»Mit Kaylin Cross von der Verwaltung«, erwiderte Corvina. Nachdem sie in einem Antwortschreiben ihr Interesse bekundet hatte, hatte sie von Kaylin Cross Informationen für die Anreise erhalten, außerdem hatte diese ihr mitgeteilt, was sie alles mitbringen müsse. Corvina wusste, dass sie sich ein Zimmer mit einem anderen Mädchen aus ihrem Studienjahr teilen würde, sie wusste, dass all ihre Bücher bis zum Ende der Woche geliefert werden würden, und sie wusste, dass dies ein Neuanfang war, an einem Ort, an dem niemand sie und ihre Vergangenheit kannte. Es war eine Chance, etwas Besseres aus ihrem Leben zu machen. Vielleicht fand sie auch eine gute Freundin und möglicherweise, wenn das Universum ihr wohlgesonnen war, lernte sie sogar einen Jungen kennen, so einen, wie sie ihn aus Romanen kannte.

Der schnurrbärtige Wachposten nickte und riss sie aus ihren Gedanken, als er mit erhobener Hand der Person auf der anderen Seite des Wachraums ein Zeichen gab. Die riesigen Tore öffneten sich langsam. Es klang, als würde ein Monster ächzend und stöhnend aus dem Schlaf erwachen.

»Willkommen in Verenmore, Miss Clemm«, sagte der Wachposten, bevor er sich dem Fahrer zuwandte. »Fünf Minuten, Larry.«

»Alles klar, Oak.« Der Fahrer nickte, bevor er den Motor wieder startete.

Corvina schaute zu den hohen schmiedeeisernen Toren empor, als sie hindurchfuhren und offiziell das Gelände der Universität erreichten. Das Kribbeln in ihrem Bauch wurde zu einem wilden Rumoren, als sie den Kopf zum Fenster hinausstreckte, um nach oben zu spähen. Endlich sah sie die Burg, die auf dem Gipfel des Berges thronte. Je näher sie kamen, desto größer wurde sie. Die Bezeichnung »Burg« war noch eine Untertreibung. Es war ein Monstrum, ein wunderschönes, wuchtiges Monstrum.

Der Wagen kam vor hohen Holztüren zum Stehen, und Larry stieg aus, um ihr mit dem Gepäck zu helfen. Corvina nahm ihre Tasche und stieg ebenfalls hastig aus, dann kramte sie nach etwas Bargeld für Larry, während der freundliche Mann ihren Koffer und ihre Reisetasche auf das Kopfsteinpflaster der Einfahrt stellte.

»Weiter darf ich nicht fahren, Miss«, erklärte Larry und steckte das Geld ein, das sie ihm gegeben hatte.

»Ich danke Ihnen.« Sie nickte, und er schenkte ihr ein kleines Lächeln, stieg schnell wieder in den Wagen und legte den Rückwärtsgang ein. Corvina beobachtete, wie der Mann kurz darauf um die Kurve verschwand, die ihn zu den Haupttoren führen würde.

»Sie denken, wir würden sie fressen oder so was.« Die trockene, weibliche Stimme hinter ihr veranlasste Corvina dazu, sich umzudrehen. Ein wunderschönes Mädchen mit grünen Augen und ultrakurzem weißen Haar stand grinsend vor ihr, neben sich einen leuchtend pinkfarbenen Koffer.

»Wow, deine Augen sind unheimlich.« Das Mädchen stieß einen Pfiff aus, und Corvinas Blick fiel auf ein Piercing in einer ihrer Augenbrauen. »Und das sollte keine Beleidigung sein. Sorry. Hi, ich bin Jade.«

Corvina mochte sie auf Anhieb.

»Corvina«, stellte sie sich vor, und es klang rau im Gegensatz zu dem weiblichen, melodischen Klang von Jades Stimme.

»Cooler Name. Erstes Jahr?«, fragte Jade und ließ sich auf ihren Koffer fallen. Ihre recht kurzen, hellen Beine steckten in Jeansshorts. Corvina fragte sich, ob sie denn gar nicht fror.

»Ja. Und du?«, erkundigte sie sich und spielte dabei mit ihrem Armband, das sie niemals ablegte. Sie wusste, welchen Anblick sie dem anderen Mädchen bot. Ein eher kleines, schlankes Mädchen zweifelhafter Herkunft mit violetten, schräg stehenden Augen, sonnengebräunter Haut, obwohl sie sie sich kaum noch in der Sonne aufhielt, einem Nasenring, langem, schwarzem Haar in einem Fischgrätenzopf, der bis zur Taille reichte. Sie trug eine lose sitzende, schwarze Hose und einen dünnen, lilafarbenen Pullover.

Jade kicherte. »Kann schon sein. Besser gesagt, ich war im letzten Jahr schon ein Erstsemester und bin weggelaufen, aber dann hat man mir ein wenig Vernunft eingetrichtert, und jetzt bin ich wieder hier. Ich werde das Jahr allerdings wohl wiederholen müssen. Die Leute hier haben nicht viele Regeln, aber die, die sie haben? Das Wörtchen ›streng‹ ist die Untertreibung des Jahrhunderts.«

Corvina spürte ein leichtes Lächeln in ihrem Gesicht. Das Mädchen redete in einer Minute mehr als Corvina in einem ganzen Jahr.

»Diese Burg ist so verrückt. Ich glaube nicht, dass ich mich jemals daran gewöhnen werde. Du solltest sie von innen sehen, da ist sie noch größer, als sie von hier aus wirkt. Du redest nicht viel, oder?«, fragte Jade und zwinkerte Corvina zu.

Corvina schüttelte den Kopf und genoss das Geplapper des anderen, definitiv jüngeren Mädchens. Sie bezweifelte ohnehin, dass es ihr gelungen wäre, überhaupt zu Wort zu kommen.

»Cool.« Jade nickte. »Willst du dir ein Zimmer mit mir teilen? Ich bin zwar ein bisschen neugierig, aber sonst ganz nett. Und ich kann dich mit allen spannenden und pikanten Informationen hier versorgen.«

O Gott, dieses Mädchen war unglaublich. Corvina war noch nie einem Menschen begegnet, der sie so … normal behandelte. Sie lächelte. »Klingt gut.«

»Krass, du hast ein Killer-Lächeln, Corvina.« Jade grinste. »Darf ich dich Cor nennen? Das macht dir doch nichts aus, oder?«

Corvina zuckte mit den Achseln. Sie wusste nicht, was sie davon halten sollte. Bisher war sie für andere immer Corvina gewesen. Aber das hier war ein neues Kapitel. Vielleicht konnte sie auch eine ganz andere Person sein, sorgloser und cooler. »Ich habe nichts dagegen.«

Im selben Moment wurden die Türen geöffnet, und eine Frau mit kurzem, rotem Haar, etwa im Alter von Corvinas Mutter, kam auf sie beide zu. Sie war hübsch und formell in beige gekleidet.

»Ah, Jade.« Sie begrüßte Corvinas neue Freundin. »Schön, dass Sie hier sind. Corvina« – sie drehte sich ansatzlos um – »ich bin Kaylin Cross.« Sie kam einen Schritt auf Corvina zu und reichte ihr die Hand. Corvina erwiderte den Gruß mit einem Händedruck, und bei der Berührung der Frau durchfuhr ein unangenehmes Kribbeln ihre Finger.

Kaylin zog die Hand zurück und sprach nahtlos weiter: »Nennen Sie mich bitte Kaylin. Ich bin die Immatrikulationsbeauftragte hier in Verenmore und außerdem Ihre Ansprechpartnerin für alles Weitere. Wenn Sie irgendwelche Probleme haben, mein Büro ist im Verwaltungstrakt.« Sie deutete auf das riesige Gebäude, aus dem sie gerade herausgekommen war. »Sie treffen mich dort täglich von neun bis fünfzehn Uhr an. Jade« – sie warf dem anderen Mädchen einen ernsten Blick zu – »laufen Sie dieses Mal nicht davon. Sie beide teilen sich ein Zimmer. Schnappen Sie sich Ihr Gepäck. Wir können uns auf dem Weg weiter unterhalten.«

Kaylin war schnell. Ihre Worte überschlugen sich regelrecht, und ihre raschen Schritte ließen Corvina gerade einmal genug Zeit, um den Griff ihres Trolleys zu packen. Sie sah, dass Jade es ihr gleichtat, und sie folgten der älteren Frau auf den Campus. Jade hatte recht. Er war gewaltig.

Liebevoll gepflegte Gärten lagen verstreut in den kleinen Bereichen zwischen den verschiedenen Trakten der Burg, in einigen flanierten Menschen umher. Hohe Rondelle zierten verschiedene Türme in Corvinas Blickfeld. Die steinernen Mauern wurden in regelmäßigen Abständen von Bogenfenstern durchbrochen, und Kletterpflanzen rankten sich an den Fassaden empor. In den unteren Bereichen blühten Rosen. Wasserspeier thronten hoch oben auf den Mauern und verdeckten auf groteske Weise die Wasserabläufe. Auf jeder Turmspitze befand sich eine Art dunkelblaues Gestein, das einen starken Kontrast zu dem Hellbraun der übrigen Gebäude bildete.

Der Anblick war atemberaubend.

Corvina hatte in ihrem ganzen Leben noch nie etwas Derartiges gesehen. Die Bücher, die sie gelesen hatte und in denen Burgen eine Rolle gespielt hatten, waren größtenteils historische Liebesromane gewesen. Keiner davon war bebildert. Sie war auf ihre Fantasie angewiesen gewesen, und die Realität schlug ihre Fantasie um Längen.

»Wir sind eine ziemlich kleine Universität«, erläuterte Kaylin und führte sie an der rechten Gebäudeseite entlang, während Jade und Corvina auf dem gepflasterten Weg ihr Gepäck hinter sich her zerrten. Die Räder der Koffer klapperten laut auf dem Kopfsteinpflaster.

Eine Gruppe Jungen kam in Sichtweite. Sie saßen auf den Stufen vor einem Turm zur Linken, und ihr Gespräch verstummte, als sie die drei Frauen bemerkten.

Corvina stieg die Hitze ins Gesicht bei all den Männerblicken, die auf ihr ruhten.

Ihre natürliche Schüchternheit überwältigte sie.

Sie hatte nie richtig mit Männern Kontakt gehabt – Ärzte mal ausgenommen –, obwohl sie schrecklich gern Bücher über sie las. Schon vor Jahren hatte sie damit begonnen, heimlich Liebesromane aus der Bibliothek mitzunehmen, um sie nachts zu lesen, wenn ihre Mutter bereits zu Bett gegangen war. Ihre Mutter hatte, selbst wenn sie wach war, kaum mit Corvina gesprochen, nur dann, wenn sie sie unterrichtete. Bücher waren zu Corvinas Zuflucht geworden, insbesondere Bücher über Männer – ob nun Menschen, Gestaltwandler oder Aliens –, die sich heftig verliebten und ihre Frauen mit Leib und Seele vereinnahmten. Das waren ihre Lieblingsromane.

Und genau das war es, was Corvina wollte. Sie wollte sich mit jemandem verbunden fühlen, wollte geliebt werden, wollte, dass ein Mann sie anbetete, bedingungslos und ihrer Vergangenheit zum Trotz. Im tiefsten Innern spürte sie eine so starke Sehnsucht danach, dass sie an manchen Tagen das Gefühl hatte, sie müsse tot umfallen vor schierem Verlangen. Ein bohrender Schmerz fraß sich in ihre Seele, und sie sehnte sich mit jeder Faser ihres Herzens nach Liebe. Aber sie wusste, dass die Bücher, die sie las, reine Fiktion waren und dass ausgerechnet ihre Chancen, etwas annähernd Ähnliches zu erleben, gering waren.

Was sollte es. Sie presste die Lippen zusammen, vertrieb die Gedanken und schenkte den Jungen, die sie musterten, den Hauch eines Lächelns.

Neue Anfänge, neues Ich.

»Verenmore hat ungefähr zweitausend Studenten, plus/minus ein paar Hundert«, informierte Kaylin die beiden und lenkte deren Aufmerksamkeit damit zurück auf sich. Sie tat dies mit einer Stimme, die Corvina sagte, dass sie genau diesen Vortrag schon zigmal gehalten hatte.

»Unsere Einrichtung besteht seit über einhundertfünfzig Jahren. Die Universität wurde gegründet, um vielversprechende Studenten zu unterrichten und ihnen Aufstiegsmöglichkeiten zu bieten, Studenten, die sich aus diversen Gründen keine konventionelle Collegeausbildung leisten könnten. Jeder Student hier stammt aus ungewöhnlichen Verhältnissen. Wir finanzieren so vielen dieser Menschen das Studium wie möglich. Glücklicherweise sitzen im Vorstand einige der einflussreichsten Mitglieder der Gesellschaft, daher ist unser Finanzbedarf immer gedeckt. Einige sind selbst Ehemalige. Ein paar wollen etwas zurückgeben, indem sie hier als Professoren arbeiten. Wir sind nicht elitär, aber wir sind ausgesprochen exklusiv. Sie sind jetzt ein Teil dieser exklusiven Gesellschaft.«

Während Kaylin redete, zählte Corvina im Vorbeigehen vier hohe Türme. Vor dem fünften Turm, einem im hinteren Bereich, blieben sie jetzt stehen, und Kaylin drehte sich zu ihnen um. »Da Jade das Zimmer bereits kennt, werde ich es ihr überlassen, Ihnen den Weg zu zeigen. Sie finden dort ein Willkommenspaket mit einem Lageplan, Ihrem Stundenplan und einer Übersicht der Professoren, die Sie in diesem Semester unterrichten werden. Für alles Weitere kommen Sie gern zu mir. Willkommen in Verenmore.«

Mit diesen Worten wandte sie sich ab und ging in die Richtung zurück, aus der sie gekommen waren.

»Siehst gut aus, Jade«, rief ein blonder, blauäugiger und sehr attraktiver Junge, der mit den anderen auf den Stufen des Turms saß. »Hätte nicht gedacht, dich hier nach deinem Abgang noch mal wiederzusehen.«

Corvina sah, dass Jade mit den Zähnen knirschte und dem Jungen mit leuchtend pinkfarbenem Nagellack den Mittelfinger zeigte.

»Arschloch«, murmelte Jade. »Lass uns einfach weitergehen, okay?«

Corvina nickte. Sie wusste nicht, warum Jade von hier weggelaufen war. Aber bisher war das Mädchen nett zu ihr gewesen und zu ihrer ersten Freundin geworden. Es gefiel Corvina nicht, dass Jade sich unwohl fühlte.

»Hey, Purple«, rief derselbe Junge, gerade als Corvina losging, und es war offensichtlich, dass er sich damit entweder auf ihre ziemlich auffälligen Augen oder auf die Farbe ihres Pullovers bezog. Sie zögerte auf der Schwelle des Turms und fragte sich, ob sie sich umdrehen sollte, vor allem, da sonst weit und breit nichts anderes auch nur annähernd Violettes zu sehen war.

Ist wohl keine gute Idee, gleich am ersten Tag Leute zu ignorieren, Corvina.

Sie seufzte und wandte den Kopf um, nur um festzustellen, dass der Junge sie angrinste. »Sei vorsichtig mit der da.« Er zeigte auf Jade.

Corvina zog die Augenbrauen hoch, sie wusste ja nicht, worum es hier ging. Sie wollte gerade hineingehen, als sie erneut die Stimme des Jungen vernahm. Seine Worte durchschnitten die trockene Luft und ließen Corvina innehalten.

»Ihre letzte Mitbewohnerin hat sich vom Dach des Turms gestürzt. Pass bloß gut auf dich auf.«

Kapitel 2

Corvina

 

Corvina war anscheinend nicht die Einzige, die Geheimnisse hatte.

Während sie auspackten und sich im Zimmer einrichteten, brach draußen schnell die Abenddämmerung herein. Corvina beschloss, ihre einzige Freundin, die sie hier auf Anhieb gefunden hatte, direkt auf das Thema anzusprechen, das diese hatte verstummen lassen.

»Stimmt das, was der Junge auf der Treppe gesagt hat?«, fragte sie Jade und beobachtete, wie deren blasse Hand leicht zitterte, als sie weiter auspackte.

»Ja.« Jade seufzte, warf sich – alle viere von sich gestreckt – auf ihr Bett und starrte die hohe Decke an.

Ihr Zimmer war überraschend schön.

Es war geräumig und viel größer als ihr Schlafzimmer in der Hütte. Zwei Doppelbetten waren einander gegenüber platziert und wurden jeweils von einem Nachttisch flankiert. In den Ecken standen riesige Kleiderschränke aus Holz. Direkt gegenüber der Eingangstür war ein großes, atemberaubendes Bogenfenster. Es gab den Blick frei auf die Burgumfriedung inmitten des üppigen, grünen Waldes und weiter den Hang hinunter. Die Zimmerdecke war hoch und wurde von Holzbalken getragen. Sie wusste, dass dies ein typisches Merkmal gotischer Architektur war, auch wenn ihr der Name dafür beim besten Willen nicht mehr einfallen wollte. Schwere, dunkelgrüne Vorhänge hingen links und rechts des Fensters und wurden jeweils von einem glänzenden Seil zusammengehalten. Es war wunderschön und luxuriöser als alles, was sie je kennengelernt hatte.

Und verdammt zugig würde es bei windigem Wetter werden, da es im Turm keine Heizung gab. Zumindest war die Witterung momentan noch erträglich.

Corvina beschloss, sich auf ihr Bett zu setzen, direkt gegenüber dem von Jade.

»Was ist passiert?«, fragte sie zaghaft und immer noch unsicher, ob sie überhaupt wissen wollte, was mit dem Mädchen geschehen war, das vor ihr in diesem Zimmer gelebt hatte.

»Ich weiß es nicht. Alissa war hier glücklich«, begann Jade, den Blick immer noch auf die Zimmerdecke geheftet. »Sie kam genau wie ich aus einer Pflegefamilie, und wir haben uns ziemlich schnell angefreundet. Sie hat das Studium hier geliebt, sie hat die Uni geliebt. Sie war eine gute Studentin, ein guter Mensch. Ihr einziger Regelverstoß bestand in einer Affäre mit einem Professor.«

»Das ist nicht erlaubt?«, hakte Corvina neugierig nach.

Jade schüttelte den Kopf. »Auf keinen Fall. Es ist eine der striktesten Regeln hier. Studenten und Dozenten führen jeweils ein eigenes Leben. Aber Mr Deverell … Nun ja, er ist anders. Im Prinzip ist er immer noch ein Student oder zumindest war er das zu der Zeit, weil er mit seiner Doktorarbeit beschäftigt war.«

»Moment mal.« Corvina runzelte verwirrt die Stirn. »Wieso war er dann eine Lehrkraft?«

»Anscheinend hat der Professor, der vor ihm hier war, einen besseren Job gefunden, und der Vorstand konnte nicht rechtzeitig Ersatz organisieren. Also hat Dr. Greene – sie ist die Leiterin in diesem Bereich – Mr Deverell erlaubt, die neuen Studenten zu unterrichten, während er an seiner Doktorarbeit geschrieben hat, und sie selbst hat die höheren Jahrgänge übernommen. So etwas hatte es noch nie gegeben, daher gehörte er nicht richtig dazu.«

Wirklich seltsam.

Corvina stand auf und hängte den Rest ihrer Sachen auf Kleiderbügel, während Jade weitersprach: »Aber ich mache Alissa auch keinen Vorwurf daraus, dass sie sich mit ihm eingelassen hat. Sie hätte es nicht tun sollen, aber Mr Deverell – er hat irgendetwas an sich. Er ist heiß und gleichzeitig eiskalt. Niemand weiß auch nur das Geringste über ihn, wo er herkommt, irgendetwas. Silberäugiger Teufel, den Spitznamen haben wir ihm verpasst. Und er hat diese graue Haarsträhne, für die er eigentlich noch viel zu jung ist und die eine besondere Wirkung bei ihm hat, wenn du verstehst.«

Nein, sie verstand es nicht. Aber sie glaubte Jade gerne und lenkte das Gespräch wieder auf das eigentliche Thema. »Also, Alissa hat sich mit ihm eingelassen?«

»Yup, aber ich war die Einzige, die davon wusste. Sie haben das ja nicht öffentlich bekannt gegeben oder so. Tatsächlich haben sie die ganze Sache ziemlich geheim gehalten. Keine Ahnung, was passiert ist. Manchmal denke ich, es ist seine Schuld. Warum um alles in der Welt hätte sie sonst aufs Dach gehen sollen? Aber ich weiß es nicht.«

Jade presste ihre Handballen gegen die Augen, und Corvina litt mit ihrer Freundin angesichts des Schmerzes, den diese ausstrahlte. Sie machte Anstalten aufzustehen, um sie zu trösten, setzte sich aber gleich wieder hin, weil sie nicht sicher war, was sie tun konnte. Sie knetete den Pulloverstoff zwischen ihren Fingern. Jade richtete ihre grünen Augen wieder auf sie. »Ich war in den Gärten, zusammen mit Troy, dem blonden Arschloch, das wir eben unten getroffen haben, und mit seiner Gruppe, als ich sie auf dem Dach entdeckt habe. Ich hoffe, man hat es inzwischen abgesperrt. Wir haben immer wieder versucht, mit Worten zu ihr durchzudringen, sie zum Zuhören zu bringen. Sie hat nicht einmal einen Blick nach unten geworfen. Kein Zögern. Kein Zurückschrecken. Sie ist einfach vom Dach gelaufen, als könne sie auf der Luft weitergehen.«

Die untergehende Sonne warf ein unheimliches Licht in den Raum, während Jade sprach. Corvina schauderte und hörte zu, als ihre Freundin weiterredete.

Aus dem Augenwinkel nahm sie eine Bewegung wahr. Ihr Blick schoss in eine Ecke des Raums, in der ein Licht flackerte. Corvina schaute angestrengt und versuchte herauszufinden, ob sie etwas gesehen hatte, aber da schien nichts zu sein.

Mit hämmerndem Herzen stand sie auf und ging zu ihrem Schrank, um weiter einzuräumen, während sie sich weiter auf das Gespräch konzentrierte.

»Sie ist direkt vor mir auf den Boden geknallt, ihr Schädel ist bei dem Aufprall auseinandergebrochen«, erklärte Jade mit zitternder Stimme. »Ich bin damit einfach nicht klargekommen. Also bin ich weggelaufen.«

Corvina verarbeitete das Gehörte, dann wanderte ihr Blick zum Fenster und zu dem Anblick, der sich ihr bot. Ein grotesker Wasserspeier mit weit geöffnetem Maul hockte draußen auf der rechten oberen Ecke der Mauer. Sie wusste, dass es nur ein Regenrohr war, aber das Ding sah furchteinflößend aus. Sie konnte sich nicht einmal annähernd vorstellen, wie gruselig das bei Nacht aussehen würde.

»Gab es denn keine Ermittlungen dazu?«, fragte sie ihre neue Mitbewohnerin, während sie eine Schublade für ihre Unterwäsche öffnete. Nicht dass sie die gerne trug. BHs und Corvina, das passte einfach nicht zusammen. So wie sie aufgewachsen war, ganz allein, nur in Gesellschaft ihrer Mutter, gab es selten einen Grund, einen BH zu tragen. Einen Slip hatte sie jeden Tag an, außer wenn sie es einfach nicht wollte.

»Niemand hat die Polizei gerufen«, antwortete Jade und lenkte Corvinas Aufmerksamkeit zurück auf das Thema. »Es hieß, der Schulvorstand würde sich darum kümmern, da es sich eindeutig um einen Selbstmord gehandelt habe. Vielleicht hätten sie es der Polizei melden müssen. Ich weiß es nicht.«

Das Ganze war auf jeden Fall höchst sonderbar. Und keineswegs das, was Corvina am ersten Tag an diesem neuen Ort erwartet hatte. Sie war zwar wegen der neuen Schule und der neuen Menschen dort etwas nervös gewesen – das eine wie das andere war ihr nicht vertraut –, aber so etwas hatte sie sich dann doch nicht ausgemalt. Sie wusste nicht, wie sie mit der Situation umgehen sollte. Also entschied sie sich dafür, weiter schweigend ihre Sachen auszupacken.

»Kannst du mich mal in den Arm nehmen?« Die Stimme hinter ihr veranlasste Corvina dazu, sich umzudrehen. Jade stand ihr gegenüber. Sie waren fast gleich groß. »Meine Pflegefamilie hat immer gesagt, ich soll nach einer Umarmung fragen, wenn ich traurig bin.«

Corvina blinzelte, ein wenig aus dem Konzept gebracht. Ihre letzte menschliche Berührung lag Jahre zurück, als sie die Hand ihrer Mutter gehalten hatte, bevor sie sie hatte loslassen müssen. Sie schluckte, ging einen Schritt auf Jade zu und schlang die Arme um das Mädchen, während sie gleichzeitig gegen die plötzlich aufsteigenden Tränen ankämpfte. Jade war liebenswert. Als sie Corvina umarmte, verströmte sie den Duft von Erdbeeren und Glück und von etwas, was ein wenig dunkel war. Sie seufzten beide tief, als sei ihnen die Last der ganzen Welt von den Schultern genommen worden.

»Ich kann spüren, dass du ebenfalls traurig bist«, begann Jade. »Aber du bist ein guter Mensch. Und wenn ich aus der Sache mit Alissa irgendetwas gelernt habe, dann, dass man über die schrecklichen Dinge, Dinge, die wehtun, reden muss. Ich möchte einfach, dass du weißt, dass ich für dich da bin. Ich höre mir alles an, worüber du reden willst. Ohne darüber zu urteilen.«

Corvinas Augen brannten. Ihre Nase zuckte, wie immer, wenn sie den Tränen nahe war, und sie nickte. »Danke. Und ich bin genauso für dich da.«

Jade löste sich aus der Umarmung. Dann ging sie zu ihrem Koffer, wühlte in einem der Fächer und schleuderte Klamotten hinaus. »Okay, ich brauche einen Themenwechsel. Jungs. Ja, lass uns über Jungs reden. Du magst doch Jungs, oder? Völlig in Ordnung, wenn nicht. Ich will es nur wissen, damit ich die passenden Infos für dich habe.«

Corvina kicherte und packte weiter ihren Koffer aus. »Ich mag Jungs. Sehr sogar. Aber ich habe nicht gerade viel Erfahrung mit ihnen. Soll heißen, überhaupt keine.«

Jade grinste sie an. »Oh, Verenmore ist ein großartiger Ort, um Erfahrungen zu sammeln. Stell dir nur vor, wo sonst würdest du eine solche Auswahl düsterster Bad Boys vorfinden, die sogar noch was im Kopf haben? Hier gibt es sie. Die meisten dieser Typen sind wirklich nett, klar, das gilt nicht für alle, aber für die meisten. Falls du allerdings auf sexuelle Erfahrungen aus bist, solltest du einen Bogen um die Erstsemester machen. Sie sind eher damit beschäftigt, sich einzugewöhnen, und ihnen ist ihr eigenes Vergnügen wichtiger als das ihrer Partnerin, wenn du verstehst, was ich meine. Moment mal, wie alt bist du eigentlich?«

Corvina war fasziniert von Jades Fähigkeit zu reden, ohne Luft zu holen. »Einundzwanzig. Und du?«, antwortete sie, während sie die letzten schwarzen Röcke aus dem Koffer nahm und faltete. Sie liebte Röcke, liebte es, wie feminin sie sich darin fühlte, liebte das Gefühl von Luft um ihre Beine herum, liebte einfach alles an ihnen. Lange Röcke gehörten zu ihrer Grundausstattung.

»Na, du bist verdammt spät dran. Ich bin neunzehn. Egal, ich empfehle dir die Jungs aus dem Abschlussjahr. Sie sind in der Regel zwanzig oder älter und haben mehr Erfahrung«, fuhr Jade fort und schaltete das Licht an. Der gedämpfte gelbe Schein hatte etwas Tröstliches. »Nur nicht Troy, das Arschloch. Ich habe letztes Jahr etwas mit ihm angefangen, und er ist sauer, weil ich weggelaufen bin. Aber wir werden das schon wieder auf die Reihe kriegen.«

Corvina bewunderte ihr Selbstbewusstsein. Sie hoffte, dass sie es eines Tages schaffen würde, mit einem Jungen zu reden, ohne ein Gefühl totaler Beklemmung zu spüren.

Wieder flackerte etwas in der Ecke und zog Corvinas Blick magisch auf sich.

»Räum dein Zimmer auf, Vivi.«

Die männliche Stimme schlich sich in ihre Gedanken.

Sie war nicht überrascht, sie zu hören. Schon ihr Leben lang begleitete sie diese Stimme. Es war eine Stimme des Trostes, die einen süßen Duft von Sandelholz in ihrem Kopf hinterließ. Als sie ihn das erste Mal gehört hatte, hatte sie ihm den Namen Mo gegeben. Mo war immer an ihrer Seite gewesen und hatte ihr den Weg gewiesen, und sie war klug genug, seinen Rat zu beherzigen. Ein einziges Mal hatte sie nicht auf ihn gehört, als er sie bat, nach ihrer Mutter zu sehen. Sie hatte es nicht getan. Am nächsten Morgen hatte sie ihre Mama vorgefunden, wie sie ins Leere starrte. Es hatte Tage gedauert, sie zurückzuholen.

Mit einem tiefen Atemzug schloss sie die Augen, schob ihren Koffer unter das Bett und holte die kleinere Reisetasche hervor, um den Inhalt auszukippen.

»Hast du etwas dagegen, wenn ich ein paar Räucherstäbchen anzünde?«, fragte Corvina ihre Mitbewohnerin.

Jades Blick wanderte zu den Sachen auf dem Bett, und ihre Augen begannen vor Aufregung zu glänzen, als sie die Karten bemerkte. »Irre, du kannst Tarotkarten legen?«

Corvina zögerte, dann nickte sie andeutungsweise. »Ja.«

»Das ist so cool!«, rief Jade. Das war nun alles andere als die übliche Reaktion, die Corvina erhielt, wenn sie jemandem davon erzählte. »Legst du mir auch irgendwann mal die Karten?«

Corvina lächelte zaghaft. »Sehr gern. Ich kann das gut.«

»Daran habe ich keinen Zweifel. Du hast so eine besondere Aura«, bemerkte Jade und wedelte mit der Hand durch die Luft. »Sei einfach du selbst. Mach’s dir bequem. Ich bin da ganz gechillt.«

Das Universum hatte ihr mit diesem Mädchen einen sicheren Fels an die Seite gestellt. Lächelnd holte sie die Räucherstäbchen hervor, die sie vor ihrer Reise aus zerdrückten Blumen, Salbei und Basilikumblättern gemacht hatte. Der Duft erinnerte sie an zu Hause, weckte schöne und warme Gedanken an Liebe und Zuneigung, bevor es damit vorbei gewesen war. Sie sog den Duft ein, zündete zwei der Stäbchen an und schob sie in die Halterung aus Holz. Dann stellte sie diese in die Ecke, in der sie zweimal das flackernde Licht gesehen hatte, und kramte zwei duftfreie, selbst gemachte Kerzen heraus. Nachdem sie sie angezündet hatte, stellte sie sie neben die Räucherstäbchen und schloss die Augen.

Schnell murmelte sie das Gebet, das sie jeden Abend sprach, so lange sie denken konnte, faltete die Hände und senkte den Kopf. Sie spürte die Liebe, die ihr Herz erfüllte, wie immer, wenn sie ihr kleines Ritual vollzog, ein Anker an einem neuen Ort, eine Möglichkeit, sich ihrer Mama näher zu fühlen.

»Glaubst du an Geister?«, fragte ihre Mitbewohnerin sie nach einigen Minuten, als sie fertig war. Corvina zuckte mit den Achseln. »Warum?«

»Bin nur neugierig.«

»Ich glaube eher an Energien«, antwortete Corvina.

»Ja, das kann ich nachvollziehen. Mein Pflegevater …«

Corvina ließ Jade über ihre Pflegefamilie reden, während sie wieder zum Bett ging und es freiräumte, nur um plötzlich innezuhalten. Eine einzelne Karte ihres Kartensets lag umgedreht auf dem Laken. Sie konnte sich nicht daran erinnern, diese Karte herausgezogen zu haben, konnte sich nicht einmal daran erinnern, sie berührt zu haben.

Der Tod.

 

Die Burg stöhnte und ächzte in der Nacht. Es war unheimlich.

Obwohl sie vom Abendessen vollkommen erschöpft zurückgekehrt war, gelang es Corvina nicht, einzuschlafen. Sie wusste nicht, ob es an dem neuen Bett lag oder daran, dass sie ihr Zimmer mit jemandem teilte, oder einfach nur an den Geräuschen des Windes, der ums Fenster pfiff und den Turm, in dem langsam Ruhe einkehrte. Aber das alles oder irgendetwas davon hielt sie wach.

Jade war sofort, nachdem sie vom Abendessen zurückgekommen waren, ins Bett gefallen. Jetzt schnarchte sie vor sich hin, während Corvina zu den Holzbalken an der Decke hinaufstarrte, auf denen sich ein schaurig-schöner Schattentanz vollzog.

Sie beobachtete das Spiel der Schatten, als sich plötzlich ein anderes Geräusch unter das Rumoren des Windes und der Burg mischte.

Eine sehnsuchtsvoll schöne Melodie.

Corvina blinzelte und sah sich in dem noch unbekannten Zimmer um. Sie nahm sich einen Moment Zeit, um zu begreifen, wie sehr es sich von ihrer alten Hütte unterschied, während sie die Dunkelheit, die sie umgab, in sich aufsog. Schließlich schaltete sie ihre Nachttischlampe an, und ihr Blick wanderte zu ihrer Mitbewohnerin. Jade schlief tief und fest. Sie hatte sich in die Decke eingerollt, die die Universität ihnen zur Verfügung stellte. Die Uhr auf dem Nachttisch zeigte Corvina an, dass es zwei Stunden nach Mitternacht war.

Die Melodie verstummte nicht. Sie war eindringlich. Unheimlich. Ätherisch.

Corvina schaltete das Licht aus und versuchte einzuschlafen. Am Ende des Abends war sie todmüde gewesen, so sehr, dass sie es kaum geschafft hatte, in ihr Nachthemd zu schlüpfen, bevor sie ins Bett gefallen war.

Aber irgendetwas hielt sie wach. Sie wusste nicht, was es war, aber es zerriss ihr das Herz und zog sie hin zu der Musik. Der Drang war so stark, dass er ihr den Atem raubte. Hatten sich so die Seeleute vergangener Zeitalter gefühlt, wenn die Sirenen sie gelockt hatten?

Mit zusammengebissenen Zähnen legte sie sich hin, um sich augenblicklich wieder aufzurichten. Es war ihr bestimmt, dieser Musik zu lauschen. Es gab einen Grund dafür. Das letzte Mal hatte sie diesen den Atem raubenden Sog verspürt, kurz bevor man ihre Mama fortgeholt hatte. Es war eine tief in ihrem Herzen verwurzelte Sehnsucht. Das hier war aus irgendeinem Grund wichtig, und sie durfte es nicht ignorieren.

Die Melodie umgab sie weiterhin, als sie in ihre flachen Schuhe schlüpfte. Da sie keine Taschenlampe hatte, die sie hätte mitnehmen können, ging sie zu der Kommode, die sie sich mit Jade teilte, und schob eine Kerze in den Kerzenständer, den sie dort hingestellt hatte. Sie zündete die Kerze an, blies das Streichholz aus und ging zur Tür.

Jade hatte ihr gesagt, es gebe nachts an sich keinerlei Einschränkungen, dass aber normalerweise niemand sein Zimmer verlasse. Sie hatte eine Grimasse geschnitten, als sie das sagte, aber Corvina war zu erschöpft gewesen für weitere Gespräche. Wäre da nicht diese Melodie gewesen, wäre sie auch gar nicht aus dem Zimmer gegangen. Nicht weil sie Angst vor der Dunkelheit gehabt hätte oder vor irgendetwas, was im Dunklen lauerte – sondern einfach, weil sie fix und fertig war.

Nachdem sie die Tür einen Spaltbreit geöffnet hatte, schaute sie in den dunklen Korridor. Ihr Zimmer befand sich im zweiten Stock, zusammen mit acht anderen Räumen, aus denen kein Laut drang. Eine Lampe hing einsam neben der Treppe, sodass der Rest des Flurs im Dunkeln lag.

Corvina schaute an sich herab auf ihr weißes, kurzärmliges Nachthemd und fragte sich, ob sie sich umziehen sollte. Sie hatte immer zum Schlafen Nachthemden angezogen und tagsüber Röcke und Kleider getragen. Die locker geschnittene Hose war eine neue Ergänzung ihrer Garderobe und ausschließlich als Reisekleidung gedacht.

Scheiß drauf.

Sie holte tief Luft, ging in den Flur und schloss die Tür hinter sich. Ein kalter Hauch erfasste ihr offenes, langes Haar, das sich um sie wickelte, und die Musik wurde lauter. Corvina folgte dem Klang der Melodie auf Zehenspitzen, und als sie im Lichtkegel an der Treppe stand, wurde ihr klar, dass das Geräusch von oben kam.

Sie raffte mit ihrer freien Hand ihr Nachthemd und ging langsam die Treppe hinauf. Mit jedem weiteren Stockwerk, das sie erreichte, schwoll die Lautstärke der Musik an, und ihr Atem ging während des Aufstiegs zunehmend schwerer. Warum wurde außer ihr niemand von der Musik wach? Waren sie so sehr daran gewöhnt? Oder konnten sie sie überhaupt nicht hören? Spielte sich das nur in ihrem Kopf ab?

Eins.

Zwei.

Drei.

Vier.

Fünf.

Das steinerne Treppenhaus endete, alles versank in der Dunkelheit, die im Innern der Burg lauerte, und weiter ging es über eine Wendeltreppe aus Metall. Sie setzte den Fuß auf die erste Stufe.

Sechs Etagen.

Sie zählte mit, während sie immer höher und höher stieg, bis sie den obersten Stock des Turms erreichte. Das kleine Fenster am Treppenaufgang gab den Blick frei auf den winzigen Halbmond draußen am Himmel und die endlose Dunkelheit unterhalb der Burg. Die Musik drang durch die schwere Holztür vor ihr. Es handelte sich um eine Art Dachboden, hoch oben im Turm. Die Tür war nicht vollständig geschlossen.

Auf den letzten Stufen zögerte sie, denn sie wollte nicht, dass die Person auf der anderen Seite, egal, wer sie sein mochte, ihre Anwesenheit bemerkte und das Spiel abbrach. Also biss sie sich auf die Lippe, schlich lautlos auf Zehenspitzen zum offenen Türspalt und spähte hindurch.

Ein Junge, nein, ein Mann saß an einem großen, dunklen Flügel, sie sah ihn nur im Profil. Während sie ihn im Mondschein von der Seite beobachtete, hielt sie die Kerze so hinter die Tür, dass sie selbst mit dem Schatten verschmolz.

Er saß leicht vorgebeugt im Halbdunkel, ganz in Schwarz gekleidet, die Ärmel seines Pullovers ein Stück hochgeschoben, die Augen geschlossen. Die markanten Konturen seines Kiefers traten unter einem dunklen Bartschatten hervor, eine Strähne dunkler Locken fiel ihm ins Gesicht.

Er war … umwerfend.

Schön wie ein süßer Schmerz, denn diese Art von Schönheit zerriss einem die Brust, versetzte das Innerste in Aufruhr und brachte das Blut in den Adern zum Kochen. Sie war verzaubernd in einer Art, wie sie sich dunkle Magie vorstellte, denn sie brachte die Luft in Wallung, vernebelte den Verstand und überwältigte die Sinne. So eindringlich und sehnsuchtsvoll, wie nur wenige lebendige Dinge es sein konnten, denn sie jagte einem Schauder über den Rücken, hüllte sich in die Dunkelheit und nährte sich von der Energie um sie herum.

Corvina beobachtete gebannt, wie seine Finger über die Tasten flogen, ohne dass er auch nur ein einziges Mal die Augen öffnete. Eine betörende Melodie voller Seelenqual erfüllte den Raum. Sie war wie eine unsichtbare Schnur zwischen ihnen und verband sie in ihrem Leid.

Er war in seiner eigenen Welt, wenn er spielte, und in diesem Moment wollte sie ein Teil dieser Welt sein, wollte sehen, was er sah, hören, was er hörte, fühlen, was er fühlte. Etwas in ihr zog sich zusammen, erfüllte sie und zog sich abermals zusammen, während sie ihn beobachtete. Das Verlangen, ihn zu berühren und festzustellen, ob er wirklich da war, löste ein Kribbeln in ihren Handflächen aus. Er musste es einfach sein. Sie konnte ihn sich nicht nur einbilden. Oder doch?

Die Musik brach abrupt ab, und er riss die Augen auf.

Corvina schob sich schnell hinter die Tür, ihr Herz hämmerte.

Shit. Shit. Shit.