Gott gehört der Osten und der Westen - Abdullah Takim - E-Book

Gott gehört der Osten und der Westen E-Book

Takim Abdullah

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Beschreibung

Gott gehört der Osten und der Westen – dieses von Goethe aufgegriffene Wort des Korans steht als Motto über dem theologisch-philosophischen Dialog, zu dem sich hier zwei Geistesverwandte gefunden haben. Sie entdecken Verbindendes zwischen dem Islam und der abendländischen Tradition, beleuchten Themen wie Glaube und Vernunft, fragen nach Religion und Menschenrechten und plädieren für ein beherztes Miteinander unter dem Dach gemeinsamer Werte. „Dieser Dialog ist ein wichtiges Dokument, das uns auf dem Weg hin zu einer zukunftsweisenden Synthese von Orient und Okzident begleiten kann und zeigt, wie aus einer auf das Gemeinsame ausgerichteten Begegnung etwas Neues, Bereicherndes, Entwicklung Unterstützendes erwachsen kann.“ Helmy Abouleish „Ein islamischer Mystiker wurde gefragt: Was ist das schönste Geschenk für Gott? Darauf hat er geantwortet: Das schönste Geschenk für Gott ist das reine Herz. Denn darin kann sich Gott abbilden … “ „ .... weil in einem reinen Herzen nichts mehr zwischen dem Menschen und Gott steht. Es ist faszinierend, in welche Tiefe man gelangt, wenn man die Würde des Menschen von religiösen Quellen aus angeht.“

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Seitenzahl: 152

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Abdullah Takim Jens Heisterkamp

GottgehörtderOstenundderWesten

Islamisches Denken im Dialog

Mit einem Geleitwort von Helmy Abouleish

Impressum

ISBN epub: ISBN 978-3-95779-113-9

ISBN print: ISBN 978-3-95779-107-8

Diesem E-Book liegt die erste Auflage 2019 der Printausgabe zugrunde.

Alle Rechte vorbehalten, © 2019 by Info3Verlag, Frankfurt am Main

www.info3.de

E-Book-Konvertierung: CPI books GmbH, Leck

Cover: Frank Schubert, Frankfurt am Main

Über dieses Buch

Gott gehört der Osten und der Westen – dieses von Goethe aufgegriffene Wort des Korans steht als Motto über dem theologisch-philosophischen Dialog, zu dem sich hier zwei Geistesverwandte zusammengefunden haben. Sie entdecken Verbindendes zwischen dem Islam und der abendländischen Tradition, beleuchten Themen wie Glaube und Vernunft, fragen nach Religion und Menschenrechten und plädieren für ein beherztes Miteinander unter dem Dach gemeinsamer Werte.

Dieser Dialog ist ein wichtiges Dokument, das uns auf dem Weg hin zu einer zukunftsweisenden Synthese von Orient und Okzident begleiten kann und zeigt, wie aus einer auf das Gemeinsame ausgerichteten Begegnung etwas Neues, Bereicherndes, Entwicklung Unterstützendes erwachsen kann.

Helmy Abouleish

Inhalt

Geleitwort von Helmy Abouleish

Dialoge

Erster TeilWie Gott zum Menschen spricht

Zweiter TeilFreiheit, Verantwortung, Gerechtigkeit

Dritter TeilDie höheren Welten im Islam

Vierter TeilVon der Integration zum Miteinander

Essays

Abdullah TakimDas Konzept der Person in der Islamischen TheologieEine Grundlage für ein Leben in Würde, Freiheit und Verantwortung

Jens HeisterkampIndividualität und UnsterblichkeitDas Rätsel der Seele von Aristoteles über Averroes und Thomas von Aquin zu Goethe

Die Dialogpartner

Ibrahim Abouleish (1937 – 2017)gewidmet

Zum Geleit

Von Helmy Abouleish

Dass der Dialog zwischen Abdullah Takim und Jens Heisterkamp meinem Vater Ibrahim Abouleish, dem die Niederschrift gewidmet wurde, große Freude bereitet hätte, dessen bin ich gewiss. Der Austausch eines islamischen Theologen mit einem Philosophen sowie Historiker und Anthroposophen über Gemeinsamkeiten im islamischen und christlichen Gedankengut ist aus meiner Sicht genau das, was die Welt momentan braucht – und woran mein Vater Zeit seines Lebens gearbeitet hat. Die Sekem-Initiative ist aus einem solchen Dialog zwischen Ost und West, zwischen Orient und Okzident, Islam und Christentum entstanden. In diesem Austausch liegen die geistigen Inspirationsquellen der Sekem-Vision – eine Vision, in der Menschen unterschiedlicher Kulturen und Religionen in sozialen Formen lebendig miteinander leben, arbeiten, lernen und sich zu einer „Welt-Gemeinschaft“ entwickeln, wie es Jens Heisterkamp im vierten Teil „Von der Integration zum Miteinander“ nennt.

Die unterschiedlichen Perspektiven, die Abdullah Takim und Jens Heisterkamp mitbringen und mit denen sie sich über philosophische, mystisch-islamische oder anthroposophische Ansichten zu Themen wie Freiheit, Verantwortung, Miteinander, Vernunft oder die Sprache Gottes austauschen, hatte mein Vater in sich vereint. Er war Muslim und Anthroposoph, ein Glaubender und Wissenschaftler, Ägypter und Weltenbürger zugleich. Wie ist es ihm gelungen die „Gegensätzlichkeit aufzulösen und zu einem Neuen, Dritten zu verschmelzen, sodass ich weder ganz das eine noch das andere war“, wie er in seinem Buch Die Sekem Symphonie schreibt? Sicherlich hat ein solcher Dialog, wie ihn Abdullah Takim und Jens Heisterkamp mit uns teilen, und den mein Vater sein Leben lang geführt hat, stark dazu beigetragen. Ein Dialog, in dem es nicht nur um eine spirituell-religiöse Sichtweise geht und die Konzentration auf das Anderssein des Gegenübers gerichtet ist, sondern in dem die Übereinstimmungen zentral sind, sich Glaube und Verstand nicht gegenseitig ausschließen und unterschiedliche Ansätze als Erweiterung des eigenen Horizontes und der eigenen Entwicklung eingeschlossen werden. Diese Entwicklung des Bewusstseins, des Individuums, darüber sind sich die beiden Gesprächspartner einig, ist wiederum eine Erkenntnis, die sowohl im Islam als auch im Christentum von zentraler Bedeutung ist.

Der Dialog zwischen Abdullah Takim und Jens Heisterkamp ist ein wichtiges Dokument, das uns auf dem Weg hin zu einer zukunftsweisenden Synthese von Orient und Okzident begleiten kann und zeigt, wie aus einer auf das Gemeinsame ausgerichteten Begegnung etwas Neues, Bereicherndes, Entwicklung Unterstützendes erwachsen kann.

Und ganz besonders große Freude hätte mein Vater sicherlich an der Einbeziehung Goethes in das Gespräch gehabt, denn Goethes Werk war es, das ihn im Alter von 20Jahren aus Ägypten nach Europa zog und mit dem sein Erkennen des Selbst, des Anderen und des Nicht-mehr-trennen-könnens von Orient und Okzident begann.

Helmy Abouleish

Erster Teil

Wie Gott zum Menschen spricht

Jens Heisterkamp: Als Einstieg in unser Gespräch möchte ich eine Idee von Walter Benjamin wählen. Benjamin hat im Jahr 1916 einen bemerkenswerten Entwurf zum Thema Sprache vorgelegt: Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen heißt seine kleine Schrift. Darin kommt ein Sprachverständnis zum Ausdruck, das sich von dem Allermeisten abhebt, was in der Moderne zum Thema Sprache gedacht worden ist. Benjamin geht nämlich davon aus, dass die menschliche Sprache nur ein Sonderfall der grundlegenden Ausdrucksförmigkeit der Welt ist; alle Dinge sind für Benjamin Ausdruck eines geistigen Gehalts und dieser Ausdruck geistigen Gehalts macht Sprachlichkeit aus. „Es gibt kein Geschehen oder Ding weder in der belebten noch in der unbelebten Natur, das nicht in gewisser Weise an der Sprache teilhätte, denn es ist jedem wesentlich, seinen Inhalt mitzuteilen“, schreibt er. Also ist alles Ausdruck. Die menschliche Sprache, so sagt Benjamin, sei nur ein besonderer Fall dieser Sprachlichkeit, und weil wir Menschen selbst Teil der von Sprache durchdrungenen Welt sind, können wir im Sprechen das Innere der Dinge erfassen. In seiner Schrift erinnert Benjamin an die in der Genesis betonte Fähigkeit des Menschen, den Dingen Namen zu geben. Diese Gedanken sind vielleicht auch von seinem besten Freund, dem später weltbekannten Kabbalah-Forscher Gershom Scholem, geteilt worden. Gershom wusste über die im esoterischen Judentum verbreiteten Gedanken, dass die ganze Welt aus dem Wort Gottes hervorgegangen ist: Gott sprach, es werde Licht, und es ward Licht, heißt es ja. Hat sich dieses monotheistische Verständnis von der wort-geschaffenen Welt auch im Islam erhalten?

Abdullah Takim: Sicher, denn der Koran ist ja ein intertextuelles Werk, das sich auch auf andere heilige Schriften bezieht. Und in Bezug auf das Sprechen Gottes gibt es beispielsweise eine Stelle, wo es heißt, das Schaffen Gottes geschehe so, dass Er sagt „sei“ und es wird (Koran 2:117). Also nicht: Sei und es wurde, sondern: Sei und es wird. Dieses Schaffen Gottes hat auch nicht aufgehört. Es gibt neben der creatio ex nihilo, der Schöpfung aus dem Nichts, auch die creatio continua. Das heißt, Gott schafft noch immer, in jedem Moment. Der Koran sagt: Gott schafft Dinge, die der Mensch kennt, aber auch Dinge, die der Mensch nicht kennt (Koran 16:8). Darin kommt die Größe Gottes zum Ausdruck, dass er die Dinge in jedem Augenblick ganz neu entwirft: kein Blatt gleicht dem anderen, keine Schneeflocke gleicht der anderen.

JH Könnte man diese Substanz des Geschaffenen, die sich in den Dingen ausdrückt, philosophisch gesprochen auch die Idee nennen?

AT Das ist möglich, wir müssen aber verschiedene Seinsstufen unterscheiden. Es gibt eine Welt des Lichts, und unsere erschaffene Welt ist nur ein Abbild dieser Welt. Denken wir an die Vorstellung Platos, wonach Wissen Wieder-Erinnerung ist. Diese Vorstellung hat auch der Koran in der Hinsicht, dass er sagt: Alle Dinge gehören Gott und zu ihm werden wir zurückkehren. Rückkehr hat aber nur einen Sinn, wenn man zum Ursprungsort zurückgeht. Dies steckt ja auch im Begriff Universum, in dem die plotinische Zuwendung zum Einen zum Ausdruck kommt. Meister Eckhart drückt dies folgendermaßen aus: „Alle Kreaturen sind ein Sprechen Gottes. Alle Kreaturen möchten Gott nachsprechen in all ihren Werken. Sie haben alle ein Rufen, wieder dahinein zu kommen, daraus sie geflossen sind.“1 Aus islamischer Sicht würden wir also weniger von einer Idee sprechen, sondern der Argumentationslinie von Meister Eckhart folgend sagen: Hinter jeder Kreatur steht ein Name Gottes. Gott ist der Ernährende; Gott ist der Schöne.

JH Die berühmten 99Namen Gottes?

AT Das ist natürlich symbolisch zu verstehen, denn Gott hat noch mehr als 99Namen. Und diese Namen drücken sich eben auch in der Natur aus. Die Naturdinge sind die Zeichen Gottes. Die Namen aber hat Gott Adam gelehrt, das heißt, der Mensch kann die Dinge bezeichnen und auch deuten. Es gibt aber auch eine Welt, in der diese Dinge der Idee nach existieren müssen, damit sie dann geschaffen werden können.

JH Es muss eine Daseinsform geben, in der die Ideen existieren, denn nur so ist ein Zusammenhang und der Übergang zwischen der rein geistigen Welt und der geschaffenen Welt möglich. So würde erst verständlich, dass die Welt aus dem göttlichen Wort geschaffen ist und immer weiter geschaffen wird und dass das Göttliche in ihr jederzeit wirkt. Die Welt ist eben nicht einmal erschaffen und dann zieht sich Gott zurück, sondern Gott ist auch der Erhalter der Dinge. Der Baum hier vor uns wächst, er verändert sich mit den Jahreszeiten, er ist in jedem Moment von Leben durchströmt. Und nun würde ich gern einen Schritt weitergehen und sagen: Aber das alles ist nicht denkbar im Rahmen des wissenschaftlichen Naturalismus.

AT Die Naturwissenschaften sind ausgezeichnet in der Analyse, aber in der Synthese kommen sie nicht weit. Ein Biologe kann diesen Baum hier vor uns analysieren, aber eine Gesamtinterpretation kann er nicht liefern. In diesem Sinne denkt die Natur-Wissenschaft nicht, wie Heidegger es formulieren würde. Hier haben Philosophie, Theologie und Religion ihre Aufgabe. Von Dilthey stammt die Unterscheidung zwischen Erklären und Verstehen: Die Naturwissenschaften können erklären, aber nicht verstehen. Im Sinne Poppers liefern die Wissenschaften immer bessere Annäherungen an die Wahrheit, indem sie Thesen aufstellen, die falsifiziert werden können; Wissenschaft erhebt keinen Absolutheitsanspruch.

JH Philosophie, Theologie und Religion jedoch gehen – mit Recht – auf das Ganze.

AT Das sich immer in Vielfalt zeigt. Gott hat die Welt deutungsoffen geschaffen und auch vielschichtig. Von jeder Perspektive aus – denken wir an einen Diamanten – ergibt sich ein etwas anderes Bild.

JH Dabei kann jede dieser Perspektiven für sich gültig sein, weil sie einen Teil der Wirklichkeit und der Wahrheit erfasst. Man glaubt oft, die Tatsache, dass sich die Dinge immer aus verschiedenen Blickwinkeln zeigen, wäre ein Argument für völligen Relativismus nach dem Motto: alles ist ohnehin nur von der subjektiven Position abhängig. Aber jede relative Perspektive bezieht sich ja auf das Ganze der Wirklichkeit oder eines Ausschnitt daraus. Deshalb ist Perspektivität kein Makel, sondern ein Gewinn.

AT Und doch sollte niemand seine jeweilige Position verabsolutieren. Ich verstehe das so wie in einem Garten, wo wir Rosen, Sonnenblumen und Früchte haben – die Wissenschaften helfen uns, diese Pluralität und Vielfalt wahrzunehmen. Es wäre aber vermessen, wenn die Wissenschaften sich erheben würden zu dem Urteil: Das alles besteht nur aus materiellen Ursachen heraus. Denn in Wirklichkeit ist dahinter Geist.

JH Die Biologie hilft uns, Pflanzen, Bäume und Tiere besser zu verstehen. Aber die Biologie kann nicht erklären, was Leben eigentlich ist und wie es entsteht. Das bleibt geheimnisvoll.

Gott der Schöpfer und Erhalter

AT Umso besser. Denn so bleibt Raum für eine Dynamik. Gott zeigt sich anders im Winter, anders im Herbst und anders im Frühling. Der Koran würde sagen: Wohin ihr euch auch wendet, dort ist das Angesicht Gottes (Koran 2:115). Deshalb ergibt es auch keinen Sinn, wenn sich die Religionen streiten, denn Gott hat sich anders gezeigt im Judentum, anders im Christentum und anders im Islam. Es ist eine Frage der Offenbarung, wie er sich zeigt. Denn die Menschheit entwickelt sich und zu verschiedenen Zeiten ist eine verschiedene Art der Offenbarung angezeigt, weil dadurch verschiedene Aspekte oder Namen Gottes zum Ausdruck kommen, die auf die Unendlichkeit Gottes hinweisen.

JH Wollen wir noch einmal einen Schritt zurückgehen und noch etwas über die beiden Weisen der Schöpfung nachdenken, die creatio ex nihilo und die creatio continua? Die Idee einer Schöpfung aus dem Nichts teilen ja die abrahamitischen Religionen ebenso wie sie die Vorstellung teilen, dass Gott auch der permanente Erhalter der Welt ist. In der Bibel heißt es etwa bei Salomo: Sein Geist erfüllt den Erdkreis. Er, der das All umfasst, kennt jegliche Rede. Das ganze Weltgefüge wird von Gott gehalten durch die Kraft seines Geistes. Dass das Gefüge der Welt in jedem Moment besteht, ist Ausdruck der Immanenz Gottes. Sind damit nicht auch die Naturgesetze als bewirkende Kräfte in der Natur gemeint? Wenn im Frühling die Pflanzen wieder zu wachsen beginnen, wenn sich die Blätter nach dem Licht ausrichten, ist da Gott nicht im Leben der Natur anwesend? Leben ist ja mehr als die Interaktion biologischer und chemischer Substanzen.

AT In islamischer Sicht ist Gott insofern der Erhalter, als man sagt, Gott hat sich als Schöpfer von der Welt nicht zurückgezogen, sondern er kümmert sich permanent weiter um sie, so wie sich auch Eltern immer weiter um ihre Kinder kümmern. Er meldet sich permanent zu Wort, er spricht durch seine Schöpfung, was ja unser Ausgangspunkt war.

Alles ist ein Text

Wenn hier vor uns ein Baum wächst, dann spricht Gott dadurch mit uns. Er will etwas sagen, und wenn wir genau zuhören, können wir auch die genaue Botschaft verstehen. Alles ist ein Zeichen, und ein Zeichen weist über sich hinaus. Die Welt ist ein Text, wie auch die Offenbarungsschriften Texte sind. Der neuzeitliche Philosoph Muhammad Abduh hat gesagt: Die Natur ist das erschaffene Buch und der Koran ist das geoffenbarte Buch. Beides ist gleich worthaft. Daher die Zeichenhaftigkeit der Naturdinge.

Auch schon vor Abduh, der Anfang des 20.Jahrhunderts starb, gab es Denker wie al-Ghazali (gest. 1111) oder Ibn Arabi (gest. 1240), die den gleichen Gedanken verbreitet haben. Alles ist ein Text. Wenn Gott den Baum schafft, ist dies ein Text und es geht darum, seine Zeichen zu interpretieren. Das ganze Universum ist wie ein ausgebreitetes Pergament, auf dem man die existierenden Dinge verorten kann. Sie sind wie Buchstaben, die es in der richtigen Weise zusammenzulegen und zu deuten gilt. Menschen, die diesen Zeichenreichtum nicht wahrnehmen und daraus Lehren ziehen können, werden vom Koran mit den folgenden Worten kritisiert: Wie viele Zeichen gibt es in den Himmeln und auf der Erde, an denen sie vorbeigehen, indem sie sich von ihnen abwenden? (Koran 12:105)

JH Können wir uns diese Deutung in Richtung eines wissenschaftlichen Verstehens vorstellen oder mehr in Richtung einer poetischen Bedeutungsentfaltung?

AT Beide Richtungen sind möglich, weil ein Zeichen über sich selbst hinausweist. Wir alle kennen das Beispiel mit dem Zeigefinger, der auf etwas zeigt: Aber ein Hund schaut nur auf den Finger, er versteht nicht, dass der Finger nur auf etwas anderes verweisen will. Ein Mensch versteht, wenn der Zeigefinger auf den Mond weist, dass der Mond gemeint ist. Wir können aber auch den Zeigefinger selbst als Zeichen Gottes sehen, so wie wir alles Geschaffene als Zeichen Gottes ergründen können, einen Schneekristall etwa oder eine Zelle.

JH Ich denke hier auch an Goethe und seinen naturwissenschaftlichen Ansatz. Er hat ja die Metamorphose der Pflanzen entdeckt, wonach sich ein gleichbleibendes Prinzip durch alle Erscheinungsformen einer Pflanze hindurchzieht. Man kann das beispielsweise durch Blattfolgen sichtbar machen, wenn man mit dem Aufkeimen eines Samens beginnt, worauf als nächstes eine erste, doppelte Blattbildung folgt, die dann, je nach der spezifischen Pflanze, immer differenzierter wird, wenn sich die Laubblätter dann in Blütenblätter verwandeln – alles an der Pflanze ist Blatt, sagt Goethe. Wenn man diese Entwicklungsfolge vor sich hat, indem man etwa die Entfaltungsstufen zeichnet oder sie auch photographisch festhält, vor allem aber indem man sie innerlich nachschafft, dann vollzieht man als Betrachter innerlich eine Kraft mit, die in der Entwicklung der Pflanze durch all diese Formen verwandelnd sich durchzieht. Hier ist Geist am Werk, oder auch das Wort. Und wir Menschen vollziehen im Erkennen dieses Schöpferisch-Worthafte der Dinge mit.

Erhabenheit in der Natur

AT Die islamischen Mystiker würden dies vielleicht so ausdrücken: Alle Dinge der Natur sind Namen Gottes. Und im Menschen sind alle diese Namen potenziell enthalten. Wenn wir einen Baum betrachten, wird ein Name Gottes in uns reaktiviert. Dadurch ist es möglich, die Natur zu analysieren und zu verstehen. Wir schauen beispielsweise einen Berg an und erleben ihn als Zeichen für die Erhabenheit Gottes. Je nachdem, wie die Form der Vertiefung aussieht: wissenschaftlich, gedanklich oder meditativ – können wir dieses Potenzial in uns reaktivieren.

JH Damit haben wir verschiedene Formen des inneren Mitvollziehens angedeutet. Ich möchte hier zum Wissenschaftlichen und Meditativen gerne noch die Form des Künstlerischen ergänzen. Für den Maler Caspar David Friedrich zum Beispiel war das Motiv des Erhabenen in der Natur ein zentrales Thema. Kant, Schiller oder Schleiermacher hatten das Erhabene als eine Form der Wahrnehmung des Göttlichen in der Welt beschrieben. Und wenn Friedrich Berge in der Ferne malte, zumal wenn er sie mit einem Dunstschleier versehen darstellte, bedeutete dies für ihn die Anwesenheit des Geistigen zum Erlebnis zu bringen, des Unendlichen und Erhabenen in der Natur. Ich denke hier vor allem an sein Bild Der Wanderer über dem Nebelmeer, wo das endliche Physische so dargestellt wird, dass es in eine unendliche Weite übergeht. So entsteht die Stimmung des Erhabenen, indem das Physische über das rein Materielle erhoben wird.

AT Kant hatte diesen Gedanken der Erhabenheit in seiner Kritik der Urteilskraft ausgearbeitet, aber die Romantiker wollten diesen Gedanken nicht nur rational fassen, sondern auch ins Gefühl bringen. Denn das gehört zentral zum Menschsein hinzu, das sich ja nicht in der Rationalität erschöpft. Wir können hier auch an Novalis erinnern, der zu Beginn seines Romanfragments Die Lehrlinge zu Sais die Natur als „große Chiffrenschrift“ verstanden hat und sie vielfach in seinen Aphorismen deutete, denen er den Namen Blüthenstaub gab. In einer seiner Notizen sagt Novalis: „Der Mensch spricht nicht allein – auch das Universum spricht – alles spricht – unendliche Sprachen.“2 Die Romantiker und die islamischen Mystiker sind sich da ganz nah, was die Deutung der Natur angeht. Und gerade in Bezug auf unsere Zeit, im Blick auf die Probleme des Umweltschutzes und die bedrohte Natur, wäre es so wichtig besser zu verstehen, dass die Natur lebt, dass wir mit ihr ein Ganzes bilden, dass wir sie nicht als Objekt betrachten können, das zur Ausbeutung zur Verfügung steht, sondern dass wir selbst als ihre Bestandteile in die Natur hineingeboren sind und dass wir eine Verantwortung für sie haben. Wir unterschätzen die Natur immer noch als eine seelenlose Objektwelt. Aber der Autor Peter Wohlleben beispielsweise hat in seinem Buch Das geheime Leben der Bäume: Was sie fühlen, wie sie kommunizieren beschrieben, wie ein Wald über die Wurzeln und über die Pilze unterirdisch kommunizieren kann. Er hat sogar von einem „Wood-Wide-Web“ gesprochen, über das im Wald Informationen weitergegeben werden. In den Bäumen ist also durchaus Geist enthalten.

JH