Gott ist Feministin - Mira Ungewitter - E-Book

Gott ist Feministin E-Book

Mira Ungewitter

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Beschreibung

Sex, Lust und selbstbewusste Frauen – dafür ist in der Bibel und in der Kirche kein Platz! Oder doch? Die Pastorin und Feministin Mira Ungewitter erzählt, wie sie aufgebrochen ist, um alte Tabus, Rollenbilder und Schamgefühle zu hinterfragen. Ihre Role Models sind dabei nicht nur Eva und Maria Magdalena, sondern auch Hildegard von Bingen, ihre Mutter und Lady Gaga. Persönlich, provokant, mal witzig und selbstironisch, mal wütend und ernst, schreibt sie über das Warten auf die erste Menstruation, Dating-Apps, Sexismus im Job, Schwangerschaftsabbrüche, Solidarität und Mutterschaft. Ein Buch, das Schluss mit alten Klischees macht und zu einem selbstbestimmten, unverschämten Leben in Freiheit inspiriert.

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Seitenzahl: 257

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Mira Ungewitter

Gott ist Feministin

Mein Leben mit Eva, Maria und Lady Gaga

Dieses Buch basiert auf einem gleichnamigen Audible Original aus dem Jahr 2023.

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2023

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Folgende Bibelübersetzungen wurden verwendet:

Die Bibel nach Martin Luthers Übersetzung, revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart. (LUT)

Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift © 2016 Katholische Bibelanstalt GmbH, Stuttgart. Alle Rechte vorbehalten. (EÜ)

Hoffnung für alle TMCopyright © 1983, 1996, 2002, 2015 by Biblica, Inc.Used with permission. All rights reserved worldwide. (HfA)

Bibelverse, die nicht gekennzeichnet sind, wurden von der Autorin selbst übersetzt.

Abbildungen:

S. 48: Foto: privat

S. 57: Niclaus Gerhaert von Leyden († 1473): Madonna mit dem Kind (Dangolsheimer Muttergottes), Straßburg um 1460/1465, Nußbaumholz, Reste ursprünglicher Fassung; 102 cm hoch; vermutlich aus der Kartäuserkirche Straßburg. Skulpturensammlung (Inv. 7055, erworben 1913), Bode-Museum Berlin, Foto: Andreas Praefcke (https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Dangolsheimer_Muttergottes.jpg)

Umschlaggestaltung und -motiv: Pia Salzer for studio_upstruct, Berlin

E-Book-Konvertierung: Daniel Förster

ISBN Print 978-3-451-39035-7

ISBN E-Book (EPUB) 978-3-451-83052-5

Inhalt

Kapitel 1Die erste Frau der Welt

Kapitel 2Schlampen wie wir

Kapitel 3Maria, Mutter Gottes, und das Abenteuer

Kapitel 4Die Pastorin und das LVSTPRINZIP

Kapitel 5Pille, Blut und Bibel

Kapitel 6Pro Choice und die Jungfrau

Kapitel 7Die Heilige Lady Gaga

Kapitel 8Gott ist Feministin

Anmerkungen

Über die Autorin

Meiner Mutter

Kapitel 1

Die erste Frau der Welt

»Sie waren nackt und schämten sich nicht.«

Mein Blutdruck steigt, als die ersten Klänge der Musik aus den Boxen ertönen. Wonderwall von Oasis durchbricht die Stille und erfüllt den Garten. Aber entgegen aller Hörgewohnheit in einer getragenen Moll-Version. Oasis nicht beim Feiern, sondern in feierlich. Genauer gesagt hochzeitsfeierlich. Zugegeben eine Coverversion in Moll. Die Junisonne scheint mir ins Gesicht. Den schlechten Wettervorhersagen zum Trotz leuchtet der Himmel über den Weinbergen eine Autostunde nördlich von Lissabon in einem strahlenden Blau. Habe ich es doch gewusst! Wettervorhersagen eines Besseren zu belehren ist, wie ich finde, eine recht erhabene Form der Besserwisserei. Die Schäfchenwolken geben mir recht.

Die Anfahrt war schon traumhaft. Hinweg über kleine Landstraßen. Vorbei an Feldern. Weiß getünchte Häuschen mit rotbraunen Ziegeldächern. Goldene Hügel übersät mit Zypressen, Olivenhainen und Weinstöcken. Weinreben, die wohl schönste aller Pflanzen, soweit das Auge reicht. Das ergibt viele Flaschen Bibelsaft. Weiter geht die Fahrt, vorbei an einem Fluss und durch ein kleines Dorf. Die Straßen werden enger. So eng, dass ich befürchtete, dass der Shuttlebus, der mich, die Pastorin, und die sechs groomsmen, also die Begleiter des Bräutigams, transportiert, es nicht ganz bis zum Ziel schaffen werden.

Nach einer haarscharfen Kurve liegt Solar de Pancas, ein fünfhundert Jahre altes Anwesen am Rande der Kleinstadt Alenquer, vor uns: ein riesiges sandsteinfarbenes Haus. Doppelstöckig mit weißen Fensterrahmen. Die eine Hälfte ist komplett mit tiefgrünem Efeu überwachsen. Die andere Seite bildet dazu mit ihrem sanften Beige einen starken Kontrast. Aber auch hier wachsen einige zarte hellgrüne Ranken empor. Als ob sich die Natur den Ort zu eigen machen würde. In jedem Fall lässt der Kontrast diesen surrealen Ort lebendiger wirken. Zur Krönung des ersten Eindrucks lugt über dem Dach die Krone einer riesigen Palme hervor. Es ist so schön, dass es schon fast wie eine Kulisse wirkt. Aber keine, in der man nicht sein will. Im Gegenteil. Heute ist so ein Tag, der sagt: Ja. Einmal alles, bitte. Nicht kleckern, sondern protzen. Im besten Sinne des Wortes. Mehr Sonne. Mehr Sommer. Mehr Liebe. Und später dann noch mehr Wein.

Es ist der fünfte Juni 2018, und ich leite die freie Trauung von Adrienne und Mario im Garten dieser wunderschönen Location in Portugal. Ich konzertiere mich auf einen festen Stand, gar nicht so leicht in den roségoldenen Riemchensandaletten mit zehn Zentimetern Absatz auf dem leicht sandigen Boden. Von meiner Schulter hängen breite hellrosa Bänder herab, die dem sonst eher schlichten blauweißen Sommerkleid das gewisse hochzeitstaugliche Etwas geben. In meinen Händen halte ich die »gute« Predigtmappe aus taubenblauer Pappe.

Hinter mir und meinem Rücken erstreckt sich eine Doppeltreppe, dekoriert mit Orchideen und Palmblättern. Die Treppe führt mit zwei Abgängen in den Garten, in dem die Trauung in wenigen Momenten beginnen wird. Der Garten liegt etwas unterhalb des Hauses und wird nach hinten hin von einer Mauer in guter Sitzhöhe abgeschlossen. Vor dem Mäuerchen wachsen üppige lila Lavendelsträucher in akkuraten Abständen. Von dort aus schaut man ins Landesinnere, erneut auf Hügel und Senken. Die Seiten des Gartens sind durch meterhohe Bambushecken begrenzt. Die Rasenflächen wurden in symmetrischen Feldern angelegt und frisch gemäht. Überhaupt folgt alles einem symmetrischen Muster, einer bestimmten Harmonie. Im Zentrum des Gartens stehen zwei riesige Bäume, deren Laubkronen fast ein Dach bilden. Versetzt dazu ragen zwei riesige Palmen wie Säulen über den Garten und das Anwesen hinaus.

Unter den zwei riesigen Laubbäumen sitzen jetzt auf weißen Holzstühlen die Familien und Freunde aus aller Welt und aus allen Himmelsrichtungen. Die Braut ist die Tochter philippinischer Eltern, die in die USA ausgewandert sind. Der Bräutigam vereint Köln und Kroatien in sich. Mario ist einer der besten Freunde meines Ex-Freundes, der ebenfalls zugegen ist.

Ich war durchaus erstaunt, als rund ein Jahr zuvor mein Handy klingelte und eine amerikanische Nummer angezeigt wurde. Mario rief mich aus den USA an, wo er seit einigen Jahren in New York zusammen mit Adrienne lebte, und er berichtete von seiner Verlobung. Sie hätten zwar beide nicht wirklich was mit »Kirche« zu tun, aber sie würden es sehr schön finden, wenn ich diesen besonderen Moment begleiten würde. Adrienne sei zudem auch Feministin.

Die Braut kannte ich bis dato in erster Linie über Social Media. Auf ihrem Facebook-Account waren zahlreiche Fotos aus dem Vorjahr von ihr beim Women’s March 2017 in Washington zu finden. Mit dicken Winterjacken, Protestschildern und pinken Wollmützen »bewaffnet« lächeln mich Adrienne und ihre Freundinnen von den Bildern aus an. Die Demonstration fand damals nach der Amtseinführung Donald Trumps statt und war eine der größten Protestaktionen in der Geschichte der Vereinigten Staaten. Zehntausende Menschen demonstrierten friedlich gegen Sexismus und für Menschenrechte – Menschenrechte, das heißt auch Frauenrechte, was es ja leider immer noch zu betonen gilt. Sie demonstrierten auch für LGBTIQ+-Rechte; für Gesundheits- und Migrationsreformen; für Gleichheit und Religionsfreiheit. Die pinken Strickmützen der sogenannten Pussyhat-Movement waren dabei Symbol dafür, dass man auch nur mit Häkelzeug bewaffnet ein Zeichen gegen Ungerechtigkeit setzten kann.

Auf den Fotos aus Washington sind auch einige der Freundinnen zu sehen, die jetzt zusammen mit den Begleitern des Bräutigams als Braujungfern im Spalier stehen. Sie sind abwechselnd in violette und mintgrüne Kleider gehüllt, die Begleiter des Bräutigams in marineblaue Anzüge. Jeweils sechs Personen auf jeder Seite. Ich komme mir vor wie in einem amerikanischen Spielfilm, was bei der ganzen Szenerie kein Wunder ist. Allerdings bin ich nicht die Braut, sondern die Pastorin. Was mir irgendwie noch mehr gefällt.

Ich schlage die Mappe auf und nicke dem Übersetzer zu. Ich atme ein. Adrenalin arbeitet sich durch meinen Körper. Ich atme aus. Reden halten ist und bleibt spannend. Die Aufregung steigt. Allerdings nicht auf die hektische Art, sondern diese tief konzentrierte Weise, die mich meinen eigenen Herzschlag hören lässt. Gefühlt bin ich, abgesehen vom Brautpaar, immer die nervöseste Person. Blöd ist nur, dass ich als trauungsleitende Pastorin souverän rüberkommen muss. Auch der Bräutigam kämpft heute sichtlich um Souveränität.

Es kann nicht mehr lange dauern. Ein letzter Blick in die Runde und in all die erwartungsvollen Gesichter. Alle werden ganz still. Am Ende des Mittelganges steht bereits die schneeweiße Hochzeitstorte mit glatter Glasur. Die drei zuckrigen Stockwerke mit gold-grüner Krönung sollen direkt nach der Trauung angeschnitten werden. Aus Ja und Amen wird Ja und Kuchen.

Es riecht nach Sommer. Nach Sonne. Nach frisch gemähtem Gras und nach Vorfreude, nach Liebe und Rosé. Sehr besonders und doch maximal lässig. Ein bisschen wie im Paradies. Dazu aus den Boxen die berühmten Gitarrenakkorde: Because maybe …

Alle Blicke richten sich nach oben: Adrienne erscheint oberhalb der Treppe. Als sie nun die Stufen hinunterschreitet, sieht sie wirklich aus wie ein »Wunderwesen«, wundervoll, wallend und wunderschön. Ihr leicht gewelltes, tiefschwarzes Haar fällt ihr über die rechte Schulter. Das Kleid aus weißer Spitze ist schlicht und elegant. Der Rock liegt leicht auf dem Boden auf. In der Hand hält sie einen Brautstrauß, bestehend aus einer einzigen großen weißen Blumenblüte, umgeben von einem großen dunkelgrünen Blatt.

Während sie in langsamen Schritten passend zum Takt der Musik immer näherkommt, wirkt sie fast wie eine Elfe. Mario, den ich sonst nur sehr tough und, sagen wir, etwas vorlaut kenne, wischt sich die Tränen aus den Augen. Adrienne lächelt. Sie ist Marios Wonderwall.

Die Musik verstummt. Jetzt stehen beide vor mir. Die Trauung kann beginnen.

»Liebes Brautpaar. Liebe Familie. Liebe Freunde des Brautpaares.

Jetzt ist er da, der große Tag! Ich möchte mich als erstes für eure Liebe und eure Großzügigkeit bedanken, die Menschen aus der ganzen Welt in dieses wunderschöne Land, in diese spannende Stadt und letztlich an diesen wunderbaren Ort gebracht haben.«

Ich hatte noch bis zum Abend davor an der Rede gearbeitet. Bei Hochzeiten, egal ob kirchlichen Hochzeiten oder freien Trauungen (also Trauungen ohne einen dezidiert religiösen Hintergrund), versuche ich so intensiv wie möglich auf das Paar einzugehen. Etwas über die beiden als Paar, aber auch als Individuen zu erfahren. Gibt es wie in diesem Fall einen oder mehrere Songs, die die beiden mögen oder zu denen sie eine besondere Beziehung haben? Gibt es gemeinsame oder besondere Hobbies, berufliche Parallelen? Verbindet die beiden ein gemeinsames Motto oder eine Lebensphilosophie? Teilen sie einen Glauben oder eine Spiritualität, Überzeugungen oder Passionen? Sind es vielleicht auch bemerkenswerte Kontraste, die sie am Gegenüber schätzen? Und natürlich: Wie haben sich die beiden kennengelernt?

Gerade wenn ich nach Letzterem frage, fällt die Antwort immer besonders schön und aufschlussreich aus. In den meisten Fällen liegt der Zeitpunkt schon einige Jahre zurück. Die Gespräche sind dann nochmal wie eine Zeitreise in die Vergangenheit. Eine Reise zu den ersten Schmetterlingen im Bauch.

Die großen und kleinen Besonderheiten zweier Lebenswege flackern erneut auf. Einige Geschichten sind lustig. Oft sind es die ersten eher tollpatschigen und aufgeregten Annäherungsversuche. Das erste schüchterne »Hallo« im Fahrstuhl, im Büro, oder die sturzbetrunkene Anmache in der Bar. Einige Momente werden in dieser Rückschau sicherlich etwas verklärt. Andere Liebesgeschichten wiederum bleiben: Quadratisch. Praktisch. Gut. Aber auch die in Sachen Romantik eher inselbegabten Gemüter werden hier durchaus recht rührselig. Und kaum ein Paar kann der Versuchung widerstehen, in ihrer gemeinsamen Geschichte nicht doch einen Hauch von Fügung zu verorten: »Eigentlich wollte ich an dem Abend ganz woanders hin, aber dann kam alles anders.«

Manche dieser Gespräche können auch traurig sein, gerade wenn an so einem Tag Menschen fehlen, deren Abwesenheit oder Verlust jetzt nochmal besonders schmerzlich hervortritt und einfach wehtut. All diese Erinnerungen; Erzählungen; Anekdoten, all die Lieder, Hoffnungen und Lebensweisheiten versuche ich in ihrer Essenz zu erfassen und dann in der Rede zu bündeln. In der Hoffnung, dass das Paar, die Freunde und Familien in der Rückschau nochmal ein Stück der Liebesgeschichte der beiden mitgehen können.

In diesem Fall kannte sich das Paar bereits seit dreizehn Jahren: Adrienne und Mario hatten sich mit Anfang, Mitte zwanzig auf einer Party in Beijing kennengelernt. Nach einer »guten gemeinsamen Zeit«, wie sie es nannten, haben sie sich entschlossen, erstmal nur Freunde zu bleiben. Denn beide zog es in die Welt. Unterschiedliche Studienorte. Abenteuerlust und das Gefühl, dass es einfach zu früh ist, ließ sie einander erstmal loslassen. Sechs Jahre später erreichte Mario eine Nachricht per Facebook von einem Erdbeben in einer Region, in der Adrienne sich zu diesem Zeitpunkt aufhielt. Ein nächtliches »Alles okay bei dir?«-Skype-Gespräch quer über den Globus führte dazu, dass der Kontakt wieder aufgenommen wurde. Aus dem Gespräch wurde eine Verabredung für einige Monate später zum Münchener Oktoberfest. Dating in Zeiten der Globalisierung. Aber ganz im Ernst: Wo könnte alte Liebe auch besser neu entflammen als zwischen Maßkrügen und Weißwürsten? Und da sag mal jemand, die Romantik sei tot. Auf Beijing und München folgte eine Fernbeziehung zwischen Frankfurt, Bologna, New York und Washington. Je nachdem, wo einer der beiden gerade lebte. Eine moderne Liebesgeschichte über viele Grenzen hinweg.

Genau das möchte ich an diesem Tag mit den anderen Anwesenden teilen, aber nicht nur als schlichte Erzählung der Liebesgeschichte zwischen Mario und Adrienne, denn auch bei einer freien Trauung bleibe ich natürlich Pastorin. Dabei ist es mir wichtig, niemandem etwas Religiöses überzustülpen und gleichzeitig auch in meinem Glauben authentisch zu bleiben. Ich würde den Menschen niemals ein Versprechen, einen Schwur oder eine religiöse Handlung aufzwingen, die sie nicht wollen oder an die sie nicht glauben. Aber ich glaube daran, dass man auch Worte verschenken kann. Auch biblische Worte.

Als Theologin begreife ich die Bibel nicht nur, aber auch als einen Schatz, der Menschen weltweit durch Jahrtausende hindurch verbindet. Dabei ist das Buch der Bücher vielmehr eine ganze Bibliothek, gefüllt mit ganz vielen Büchern und Texten. Gebeten und Liedern. Mit Geschichten von Menschen, von denen ein Teil ihrer Lebensgeschichte, ähnlich wie bei Paaren in einer Traurede, niedergeschrieben wurde. Mich fasziniert, dass diese Texte so lange Zeiten überdauert haben. Auch welchen Einfluss sie auf die Geschichte haben und hatten. Sowohl im positiven als auch im negativen Sinne. Und als Theologin ist es manchmal wie bei einer Schatzsuche, wenn man so einen Text analysiert. So als ob man ein paar Staubschichten entfernen wollen würde. Und durch Übersetzungsarbeit und historische Zusammenhänge auf einmal einen Wort-Schatz findet. Und so einen Schatz gilt es dann zu teilen. Daher versuche ich jedem Paar einen passenden Vers, ein passendes Wort oder Bild, das sich mit den Wünschen, der gemeinsamen Geschichte, der Musik und der Geschichte der beiden verbindet, mitzugeben. Ein biblisches Wort-Geschenk.

In der Vorbereitung für die Rede für Mario und Adrienne habe ich lange über die Zeilen des von ihnen gewählten Lieds Wonderwall nachgedacht. Darin heißt es, dass das geliebte Gegenüber das Wunderwesen sei, das auch Rettung bedeutet. »Wunderwesen«. Der Mensch, der mich »rettet«.

»Als Pastorin, das liegt in der Natur der Sache, höre ich Texte auch häufig mit einer Art biblischem Ohr«, sage ich an diesem Tag in meiner Rede. »Und dieser Satz ›Du bist der- oder diejenige, die mich rettet‹, ist zutiefst biblisch.« Er erinnert mich an einen biblischen Text, den ich nun ebenfalls mit etwas übertrieben ernster Stimme zitiere. Er ist quasi mein 2500 Jahre altes Wortgeschenk aus dem zweiten Kapitel des Buches Genesis, 18. Vers: »Und Gott der Herr sprach: Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei; ich will ihm eine Hilfe machen, die ihm entspricht.« (LUT)

Jetzt bin ich nicht nur Pastorin, sondern auch Feministin, und ich weiß, dass das nicht gerade ein Satz für ein Demonstrationsschild beim Frauenmarsch ist. Der Satz hört sich auch nicht wie ein wünschenswertes Rollenmodell für eine Ehe im 21. Jahrhundert an. Schwingt doch hier beim ersten Hören und nach 2500 Jahren Rezeptionsgeschichte mehr als nur ein unguter Beigeschmack mit, wenn wir an Adam und Eva denken. Eva als Hilfe des Mannes? Eine Art ewige Putzhilfe?

Ist das nicht das Bild, das hier vermittelt wird? Die Frau als Helferin. Die Frau als eine Nebendarstellerin. Eine Fußnote in der Geschichte des Mannes? Kann das der Sinn des Textes oder gar Gottes Wille sein? Eine wichtige Frage vor dem Hintergrund der Tatsache, dass diese biblischen Geschichten nicht nur das religiöse Denken, sondern auch das gesamtgesellschaftliche Bild von Frauen mitgeprägt haben und immer noch weltweit prägen. Nicht zuletzt haben mächtige Kirchenmänner mit dieser Zeile über die Jahrhunderte hinweg u. a. für die Unterdrückung der Frau argumentiert.

Wie also passt die Hochzeit eines feministischen Paares mit Adam und Eva und einem Oasis-Song zusammen? Vor allem unter der großen Überschrift und Behauptung dieses Buchs, dass Gott Feministin ist?

***

An dieser Stelle möchte ich gerne in eine kurze biblische Geschichte oder, besser gesagt, in den Garten Eden hineinspringen. So ein bisschen wie in der Szene bei Mary Poppins, wenn sie in die Kreidebilder springen. Einfach kurz in den Text auf den ersten Seiten der Bibel eintauchen. Kann man im Rahmen des Feminismus etwas mit Adam und Eva anfangen? Auf jeden Fall!

Wenn wir also jetzt eine Bibel aufschlagen würden, befände sich die Geschichte von Adam und Eva im Paradies wahrscheinlich auf der zweiten Seite im Buch Genesis. Das Wort genesis ist übrigens altgriechisch und hat, wie viele biblische Begriffe, ein breites Bedeutungsspektrum. Genesis kann heißen: Entstehung. Geburt. Oder Schöpfung. Etwas Elementares, das im Werden ist. Wir würden es heute vielleicht mit »Entstehungsprozess« übersetzen. Der eigentliche Urtext ist hebräisch, hier heißt das Buch bereschit und bedeutet »im Anfang«.

Die Schöpfungsgeschichte, also die Genesisgeschichte, ist kein Polizeiprotokoll, das einen genauen historischen Ereignisablauf wiedergibt. Es geht hierbei nicht um eine naturwissenschaftliche Korrektheit aus heutiger Sicht. Die Texte sind vielmehr eine Annäherung an die Vorstellung von den geheimnisvollen Ursprüngen dieser Welt. Sie malen Bilder durch Sprache. Dabei ist die Sprache, in der die Texte verfasst sind, das Althebräische, ohnehin schon eine Sprache voller Bilder. Eine sinnliche und metaphernreiche Sprache. Die Worte malen, was sie ausdrücken wollen. Ein Vogel ist beispielsweise ein Flügeltier. Desweiteren stehen da am Anfang auch zwei verschiedene Schöpfungstexte neben- bzw. nacheinander.

Der erste Schöpfungstext ist der mit den berühmten sieben Tagen ganz am Anfang der Bibel in Kapitel 1. Darauf folgt im zweiten Kapitel eine weitere Überlieferung rund um die Vorstellung vom Paradies. Im ersten Text, der mehr Gedicht als Bericht zu sein scheint, wird beschrieben, wie Gott, so die Vorstellung, die Welt vollkommen mystisch durch einen einzelnen Satz beginnt: »Es werde Licht! Und es wurde Licht.« (Genesis 1,3, LUT) Auf das Licht folgen dann Tag und Nacht. Himmel und Firmament. Meer und die Erde, mit all ihren Pflanzen. Sonne, Mond und Sterne. Alle Tiere zu Wasser und Land.

Am sechsten Tag schuf Gott zuletzt den Menschen. Nicht den Mann schuf Gott »zu seinem Ebenbilde«, wie es früher so schön hieß. »Männlich und weiblich erschuf er sie« (Genesis 1,27, EÜ), (also die Menschen oder die Menschheit), was eine bessere Übersetzung ist als »Mann und Frau«. Beides ist in Gottes Wesen verankert. Als die zwei Außenpole eines Wesens, in dem sich Geschlechtlichkeit insgesamt in vielen Facetten spiegelt. Ein Gedanke, der mich sehr fasziniert. Dazu ganz am Ende des Buches nochmal mehr.

Im Übrigen haben sich alle Kulturen zu allen Zeiten mit diesen ewigen Fragen »Woher kommen wir?« und »Wohin gehen wir?« beschäftigt. In den aus diesen Fragen resultierenden Weltsichten, Religionen, Kulten oder Riten banden sie die ihnen bekannten Naturkräfte, denen sie manchmal unmittelbar ausgesetzt waren, ein. Jahreszeiten. Wärme und Kälte. Rhythmen wie Tag und Nacht. Sonne und Mond. Dunkelheit und Licht. Lebensraum. Meere. Flüsse. Berge. Wüsten. Pflanzen und Tiere. Das Gleiche gilt aber auch für Energien und Lebensphänomene wie Sexualität, Geburt und Sterben. Und die Beobachtung von Körpern, die nach ihrem Tod wieder in die Erde eingehen und wieder zu Staub, zu Erde werden. Dabei lag für die Menschen die Vorstellung nahe, dass etwas in diesen Elementen, wie Erde und Wasser, auch mit unserem Ursprung zu tun haben könnte.

All diese Beobachtungen. Alles damals vorhandene Wissen. Alle Vermutungen. All die damit verbundenen Ängste, aber auch die endlose Faszination und auch die Vorstellungen von Gott flossen in die Entstehung dieser ersten mündlichen, später verschriftlichten Erzählungen der ersten Schöpfungsgeschichte in die Genesis mit ein.

Das gilt aber auch für die zweite Schöpfungserzählung vom Paradies, die sich direkt an die Sieben-Tage-Story anschließt. Auch dieser Text hat einen archetypischen Charakter. Es ist so, als ob dieser zweite Text es nochmal ganz genau wissen will. Nochmal hineinzoomt in das Geschehen rund um die Menschheit. Dabei zielen die Paradiesbeschreibungen auf einen Idealzustand ab. – Willkommen im Paradies. Willkommen im Garten Eden. Im Garten der Wonne oder Seligkeit. Das althebräische Wort eden kann beides bedeuten.

Dem Wonne-Garten liegt tiefroter Erdboden zu Grunde, auf den es sanft regnet. Die Erde und das Wasser bilden hierbei so etwas wie eine Art kreatürliche Urmasse, die jetzt weitere Verwendung findet, denn: »Da formte Gott, der Ewige, den Menschen aus Erde.« (Genesis 2,7) – Die Erzähler:innen scheinen sich Gott in dieser Erzählung also nicht wie eine kosmische Stimme, sondern wie einen Kunsthandwerker vorzustellen, der aus den Grundelementen Erde und Wasser den ersten Menschen entstehen lässt. Das ist eigentlich eine sehr schöne Vorstellung. Der Mensch als Ergebnis eines künstlerischen Aktes. Da wird ein Wesen namens Mensch mit Liebe zum Detail gestaltet. Die Szene erinnert mich allerdings auch ein bisschen an Meister Geppetto, der in seiner Holzwerkstatt sitzt und liebevoll und kunstfertig seinen Holzpuppen-Sohn Pinocchio ins Dasein modelliert. In dieser Geschichte, genau wie in der Bibel, braucht es einen weiteren übernatürlichen Akt, der aus dem leblosen Körper einen lebendigen Menschen werden lässt. Nämlich Atem:

»Dann blies er dem Wesen seinen göttlichen Odem ein.« (Genesis 2,7)

Erde. Wasser. Luft. Fertig ist der lebendige Mensch. Fertig ist Adam. Adam, der mittlerweile zum Eigennamen geworden ist oder als archetypischer erster Mann verstanden wird. Bedeutet in erster Linie aber einfach nur »Mensch«. Adam, »der Mensch«. Adama, »die Menschheit«. Von einer geschlechtlichen Definition wie »männlich« ist hier erstmal gar nicht die Rede.

Die ewige Gottheit kommt jetzt erst so richtig in Fahrt. Wohin mit dem Menschen? Ein Garten soll es sein. Und was für einer!

Der Garten Eden entsteht nun ein wenig wie durch Zauberei. So heißt es: »Gott ließ aus dem Ackerboden allerlei Bäume und Pflanzen wachsen.« (Genesis 2,9) Ich bin sicher, auch Zypressen. Olivenbäume; Lavendel; Orchideen und Weinreben; hoffentlich auch noch Kakao- und Kaffeebäume; Gänseblümchen; Mango- und Avocadobäume; Himbeersträucher und Erdbeeren – eben allerlei Bäume und Pflanzen mit köstlichen Früchten, verlockend anzusehen. Auch in Eden stehen wie in dem Garten in Portugal in der Mitte zwei große Bäume. Der Baum des Lebens und der Baum der Erkenntnis des Guten und des Schlechten. Des Weiteren ist das Paradies durchzogen von Flüssen, an denen Gold und rote Edelsteine zu finden sind. Die Flüsse wirken, als würden sie dem Garten seine Symmetrie verleihen. Ich stelle mir an der Stelle den Garten Eden immer vor wie das Bruchtal in »Der Herr der Ringe«: ein riesiges und fantastisches Areal. Durch und durch grün und durchzogen von Wasserfällen.

In all diese Pracht. In all diesen Überfluss, in all diese Schönheit wird nun der Mensch gesetzt, damit er den Garten, die Schöpfung bebaue und behüte. Behüten wohlgemerkt, und nicht beherrschen.

Nachdem die Pflanzen und Flüsse fertig sind, kommen nun die Tiere dazu. Von der Hummel bis zum Löwen ist alles dabei. Der Text fasst sich da kurz: Es handelt sich einfach um alle Tiere. Auch das unterstreicht den Symbolcharakter der Erzählung. Der Mensch soll ihnen passende Namen geben. Die Benennung ist im biblischen Kontext auch ein Sinnbild der Fürsorge für die Tiere, von deren Verzehr hier nicht die Rede ist. Eden ist vegetarisch.

Jetzt sitzt Mensch im Paradies. Ein bisschen wie Robinson Crusoe. Die Umgebung ist wunderschön. Aber der Mensch ist einsam. Niemand Ebenbürtiges ist zugegen. Im wahrsten Sinne des Wortes ist Adam mutterseelenallein. Nicht im Sinne dieses schönen selbstgewählten Alleinseins, das jeder Mensch einmal braucht. Es ist vielmehr eine Einsamkeit, die der völligen Isolation gleicht. Da ist niemand, der ihn wirklich versteht. Niemand, mit dem er reden kann. Niemand, der ihn berührt. Es ist einfach keine andere Menschenseele da. Ein Gefühl, das durch Corona vielleicht für viele von uns das erste Mal so richtig spürbar wurde.

Einsamkeit, die wir spüren, wenn wir das Gefühl haben, dass uns niemand so richtig versteht. Dahinter steckt die Erkenntnis, dass wir als Menschen einander brauchen. Nicht jede jeden und sicherlich nicht immer. Und es geht nicht in erster Linie um Paarbeziehungen welcher Orientierung auch immer. Es geht auch nicht um ungesunde oder systemische Abhängigkeitsmuster. Es geht im Kern um jegliche Form der Nächstenliebe und Mit-Menschlichkeit, im wahrsten Sinne des Wortes. Gott, die Künstlerin, beschließt somit:

»Es ist nicht gut, dass der Mensch alleine ist. Ich will ihm eine Rettung schicken.« (Genesis 2,21) Das Wort, das die meisten deutsche Bibeln mit »Hilfe« oder »Gehilfin« übersetzten, wird dem althebräischen Urtext einfach nicht gerecht. Das hat auch nichts mit willkürlicher Auslegung, sondern mit einer genauen Sprachanalyse zu tun. Die korrekte Übersetzung des hebräischen Worts ezer lautet »Rettung«, nicht »Hilfe« im Sinne von »Gehilfin«. Ezer ist außerdem ein Wort, das sonst nur im Zusammenhang mit Gott benutzt wird. Es ist sozusagen ein göttliches Prädikat. Gott »ezert«. Gott rettet. Es ist wie eine Art Superheldinnenkraft. Es geht für Adam also um die Rettung aus der todbringenden Isolation durch ein Wesen, das ihm ebenbürtig gegenübersteht. Dem scheint die Erkenntnis zugrunde zu liegen, dass wir, egal welches Geschlecht oder welche Neigungen wir haben, ohne Liebe in ihren vielen Formen nicht leben können. Ezer bedeutet Lebensrettung.

Und nun lässt Gott den einsamen Adam, den einsamen Menschen, in einen Tiefschlaf fallen. In meiner Vorstellung summt Gott dabei in der Sekunde das Oasis-Gitarrenriff leise mit: Because maybe …

Und die ewige Gottheit entnimmt etwas aus der »Seite« des Menschen. Der schlafende Mensch bekommt von der göttlichen Operation nichts mit.

Der Begriff »Rippe«, die ihm entnommen wird, ist hierbei eine mögliche Übersetzung, dabei ist sie kein Zeichen der Hierarchie. Es ist ein weiteres Bild der Verbundenheit und Ebenbürtigkeit der Menschen im Paradies. Eine Art »Dann-Abgleich«, der sagt: Wir sind vom selben Schlag. Gleiches Blut fließt durch unsere Adern. Wir sind aus demselben Holz geschnitzt. Beziehungswiese aus denselben Elementen, aus derselben Erde geformt. Wir sind alle Kunstwerke der Familie Mensch.

»Und Gott formte die Frau.« (Genesis 2,22) – Wie immer, wenn es hoch und heilig zugeht, hüllt sich die Bibel in Stillschweigen über die Details. Die Genesis. Die Entstehung der Frau als finale Krone der Schöpfung. Und da ist die Rettung. Da ist das wundersame Wesen, ausgezeichnet mit dem göttlichen Prädikat »Retterin«! »Eva« wird sie einige Zeilen später genannt. Hava im Althebräischen, was so viel bedeutet wie »Leben«. »Lebendigkeit« oder »Mutter allen Lebens«. Eva! You´re gonna be the one that saves me.

Ich stelle mir diese wunderschöne, sinnliche Szene vor: Eva, deren dunkles Haar leicht gewellt über ihrer braunen Schulter liegt, schreitet langsam durch den Garten, in dem es vermutlich keine Doppeltreppe gab. Bis sie Adam das erste Mal erblickt, auf ihn zugeht. Lächelt und in vollem Bewusstsein ihrer Kraft und Stärke geradeaus in die Augen schaut. Adam ist fertig mit der Welt.

Das mit der Souveränität ist auch bei ihm vorbei: Er ist vollkommen außer sich. Vielleicht wischt er sich auch eine Träne aus dem Auge und spricht nun das erste Mal mit seiner Partnerin: Endlich. Endlich ist da »Bein von meinem Bein und Fleisch von meinem Fleisch«. (Genesis 2, 23, LUT) Oder eben: And after all you´re my wonderwall.

So steht sie da erhobenen Hauptes. Die erste Frau der Welt. Die Retterin. Hava, oder Eva, ist nämlich weiblich. Mit der Entstehung der Weiblichkeit wird der neutrale Mensch im Gegenüber auch männlich. Und Eva ist mindestens ebenbürtig und erhaben. Die Lebendige und Mutter allen Lebens. So stellen sich die Erzähler:innen der Bibel das Paradies vor: als einen symbolischen Ort der Freiheit, Gleichheit und Würde. Diese Symbolik kann nicht oft genug betont werden.

Aber ein Satz fehlt noch zur Krone der Schöpfung. Der letzte Satz der Paradieserzählung lautet: »Beide waren nackt und sie schämten sich nicht«. (Genesis 2,25) In der Mitte des Gartens Eden. Umgeben von der gesamten Fülle der Schönheit der Natur. Nacktheit in seiner Ganzheit sowohl psychisch als auch physisch ohne Scham gehört hier zum biblischen Ideal. Was für eine göttliche Vorstellung! Keine Scham für den eigenen Körper. Keine Scham für die Tiefen der Seele. Barfuß. Frei und glücklich.

In meiner damaligen Hochzeitsrede fasse ich mich bedeutend kürzer und wünsche dem Ehepaar, dass sie sich im Leben gegenseitig und auf Augenhöhe helfen und retten können, wenn es denn mal sein muss. Nach der Trauung setze ich mich allein etwas abseits des Trubels auf das Mäuerchen. Die Aufregung fällt langsam ab. Ich bin gespannt, was die amerikanische Gartenhochzeit noch zu bieten hat.

In der Hand halte ich ein Glas Rosé-Sekt und proste innerlich Eva, der ersten Frau der Welt, zu.

Kapitel 2

Schlampen wie wir

»Willst du damit sagen, mit dem Thema geht man dann lieber zu der Schlampe?«

Der Satz von einem Kollegen trifft mich wie eine Ohrfeige. Ich zucke zusammen. Auf einmal sitze ich wieder kerzengrade auf dem unbequemen Stuhl. Ein Modell im Achtzigerjahre-Schick. Der Stuhlrahmen aus hellem Pinienholz und die Rückenlehne hat asymmetrische lila-grüne Polstermuster. So ein bisschen wie mein Winteranorak, den ich trug, als ich vielleicht vier Jahre alt war. Auf der blaugrauen Auslegware befinden sich vereinzelte Kaffeeflecken aus der Kategorie Filterkaffee mit Kaffeesahne von der Eigenmarke des örtlichen Supermarktes irgendwo in der Mitte Deutschlands. Neben der Tür steht eine große Regalwand gefüllt mit Bibeln, Bastelkram und einem Korb mit Kieselsteinen – letztere werden immer gerne für sogenannte »Loslass-Übungen« verwendet.

Rund dreißig quietschbunte Buchrücken aus der »Feiert Jesus«-Liederbuchserie reihen sich neben einem Plastikglobus auf. Davor steht eine Pappbox mit Taschentüchern zum Rausziehen. An der Wand gegenüber hängt ein gerahmtes Poster mit einer sonnenverblassten Schafsherde auf einer grünen Wiese, inklusive Regenbogen und Hirte mit Hut und Bart. In direkter Nachbarschaft hängt eine Wanduhr, auf der weiß auf schwarz steht: »Ich habe Zeit für dich – Gott.«

Die Uhr ist kaputt. »Gott hat Humor und sie liebt uns«, denke ich mir jedes Mal im Stillen, wenn ich den Raum betrete. Darunter eine Flipchart mit grün-rot-blauem Notizgekrakel.

Auch darüber hinaus weist der Seminarraum, genauso wie der Rest des Selbstversorger-Tagungshauses, eher einen pragmatischen Charme auf. Die Immobilien gewordene Früchtetee- und Waffelgebäckmischung. Kein ästhetisches Feuerwerk. Dafür grundsolide. Modultischteile, die sich in Hufeisenform oder Kleingruppenformation stellen lassen, stehen gestapelt vor dem Fenster. Selbst der Blick nach draußen wirkt wenig tröstlich: Der Himmel bietet heute eine erstaunlich breite Palette an Grautönen. Nieselregen liegt wie ein Schleier über den Tannen und den kahlen Laubbäumen. Vorsichtig geschätzte Außentemperatur: zwei Grad über Null. Wenn man den Monat Februar screenshotten könnte, wäre es dieses Bild. Die konstante Dunkelheit des Tages wird durch das hartweiße Deckenlicht zwar heller, aber nicht unbedingt schöner. Lichtdesign made by H&M-Umkleidekabine.

Es ist der dritte Tag des Fortbildungsseminars. Auf dem Programm stehen die praktischen theologischen Disziplinen: Seelsorge und Predigt kombiniert mit Psychologie und Körperspracheübungen.

Am liebsten würde ich immer noch im Bett liegen und weiter irgendeine Serie schauen. Für so einen Tag hat der liebe Gott Videostreaming schließlich erfunden.

Anstatt mit Film und Kaffee im Bett begann der Tag allerdings eher förmlich: Morgenandacht mit der ganzen altersgemischten Fortbildungsgruppe. Achtzehn Personen zwischen 28 und 56 Jahren im Stuhlkreis. Fünf Frauen. Zehn Männer. Alle haben beruflich etwas mit Kirche zu tun. Die meisten sind Pastor:innen, aber auch Diakon:innen oder ehrenamtliche Mitarbeiter:innen sind dabei. Evangelisch. Katholisch. Freikirchlich. Zumindest die Konfessionen sind bunt gemischt.

Nach den ersten zwei Tagen Gruppendynamik kennen wir mittlerweile alle unsere Namen. Diverse Übungen zum Thema Selbst- und Fremdwahrnehmung wurden absolviert. Jeder malte einen »Lebensbaum«, mit dessen Hilfe man der Gruppe die eigene Biografie näher erläuterte. Es wurde »Danke für diesen guten Morgen« und mindestens ein Lied im Kanon gesungen. Bei Reissalat und Hirsetalern mit Joghurtsoße tauschte man sich über Mitgliederzahlen der einzelnen Kirchengemeinden und moderne Gottesdienstgestaltungsmöglichkeiten aus. Vereinzelnd werden sogar Hausschuhe getragen. Kirchliche Klischees auf einer Skala von 1 bis 10?! 12 von 10 möglichen Punkten.