Gott ist kein Kaugummi - Wolfgang Sigler - E-Book

Gott ist kein Kaugummi E-Book

Wolfgang Sigler

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Beschreibung

"Irgendwann stellt sich die Frage, ob ich einem Gott vertraue, der nicht zu sehen und schon gar nicht zu fassen ist. Jedenfalls nicht so wie ein Päckchen Kaugummi im Supermarkt. Aber wer wollte sein Leben schon auf Kaugummi reduzieren?" Br. Wolfgang Sigler ist Mönch, doch er sieht sich mit den gleichen Fragen konfrontiert, die auch andere Menschen in seinem Umfeld beschäftigen: Kann ich es als moderner Mensch überhaupt vor mir selbst und anderen verantworten, an einen Gott zu glauben, der nicht zu beweisen und nicht greifbar ist? Wie kann ein solcher Glaube aussehen? Und wie gehe ich mit meinen Zweifeln um? Für Br. Wolfgang bilden Glauben und Zweifeln jedoch keine Gegensätze. Vielmehr wäre das eine ohne das andere nur die halbe Wahrheit. Wer wirklich glauben will, der darf auch zweifeln.

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Seitenzahl: 155

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Wolfgang Sigler

Gott ist kein Kaugummi

Warum Zweifeln und Glauben sich ergänzen

Vier-Türme-Verlag

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie. Detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Printausgabe

© Vier-Türme GmbH, Verlag, Münsterschwarzach 2021

ISBN 978-3-7365-0361-8

E-Book-Ausgabe

Inhalt
Long, long live the sparrow
Sich auf Unsicherheit einlassen
Gott ist kein Kaugummi
Gott im anderen finden: Martin Bubers »Ich und Du«
Offenheit durch Geschlossenheit
Ordnung und Offenheit
Spirituelles Fingerspitzengefühl
Der persönliche Weg mit Gott – Umgang mit religiösen Institutionen
Digital Platz machen für Gott
Vom Pendeln zwischen Glauben und Zweifeln
Verwendete Literatur

Long, long live the sparrow

Wenn es darum geht, wie man heute noch glauben kann, ist oft die Rede von »kirchlicher Sozialisation«. Gemeint ist damit ein Umfeld, das es mir ermöglicht, einen Glaubensweg zu gehen. Dazu gehören gute Gewohnheiten und christliche Bräuche im Familienbereich vom Adventskranz bis zu den gefärbten Ostereiern. Vorbilder, mit denen ich mich identifizieren kann, und für manche durchaus auch Institutionen, die mir etwas bedeuten und meinem Leben einen Rahmen geben, an dem ich mich festhalten kann. Vielleicht auch etwas, das mich auffängt, wenn kindliche Glaubensvorstellungen anfangen wegzubröckeln.

Gleich vorab: Vermutlich ist mein eigener Lebensweg genau das, was man »religiös sozialisiert« nennt. Er hat mich irgendwann – durchaus nach Brüchen mit dem, was Menschen um mich herum erwartet haben – als Mönch in die Abtei Münsterschwarzach geführt. Aus der Rückschau mag das dem einen oder der anderen darin angelegt erscheinen. Als Kind und Jugendlicher aber hat sich das erst einmal ganz anders angefühlt.

Schon bevor ich nach Münsterschwarzach kam, war ich in der Kirche engagiert. In dem Dorf bei Regensburg, in dem ich geboren wurde, steht ein ehemaliges Zisterzienserkloster, dessen mächtig-barocke Klosterkirche zur Himmelfahrt Mariens heute als Pfarrkirche dient. Außerdem gibt es dort ein Ecce-Homo-Bild, das man seit dem Dreißigjährigen Krieg verehrt. Bisweilen kommen daher bis aus München Busse mit Wallfahrern, die hier beten. Auch die Ratzinger-Brüder saßen in früheren Zeiten angeblich oft einmal davor. Ostern wird der Dorfbrunnen festlich geschmückt, und wegen der nahegelegenen Klostergaststätte und der schönen Lage im Naabtal finden in meiner Heimat den Sommer über viele Hochzeiten statt.

In dieser Kirche wurde ich getauft und ging an Omas Hand das erste Mal zum Gottesdienst. Damals schon war die Liedtafel wichtig, konnte man doch an der Zahl der verbleibenden Lieder halbwegs ablesen, wie lang es noch dauert. Ziemlich spät habe ich erst realisiert, dass das Hochaltarbild von der Himmelfahrt Mariens im Nazarener Stil so gar nicht zum Schwäbischen Barock der restlichen Kirche passt. Es war später nach einem Brand eingefügt worden. Irgendwie hat es dennoch gepasst, denn es leuchtete so marianisch wie die Frömmigkeit unserer Kindergärtnerin. Der Kindergarten stand und steht übrigens ganz bayerisch-katholisch unter dem Schutz von Bruder Konrad aus Altötting.

Irgendwann wurde ich Ministrant, schließlich Oberminis­trant, und dann begann ich, Orgel zu spielen. Da wurde der Herz-Jesu-Freitag mit dem Gottesdienst des Sühnemessbundes zu einer Gelegenheit, sich ein Taschengeld dazuzuverdienen. Den Ministrantendienst habe ich bis ins Studium hinein versehen, den Orgeldienst sogar bis zum Klostereintritt. Und das nicht nur dort, sondern auch in der Umgebung und ab und an in einer Stadtpfarrei. Dabei verschwammen Arbeit und Freiwilligkeit. Wenn mich aber die Mama fragte, ob ich denn schon mal wieder eine »Orgel-Rechnung« geschrieben hätte, kniff ich in der Regel eher schuldbewusst ein Auge zu. Die Abrechnung war eigentlich nur wichtig, um weitere Orgelnoten anschaffen zu können.

Offen gesagt, mit Gott hatte all das nicht so viel zu tun. Jedenfalls nicht im engeren Sinn. Und auch nicht, wenn man es mit dem Erleben vergleicht, das in geistlicher Literatur in Bezug auf Momente der Erfüllung und des unmittelbaren Erlebens einer transzendenten Wirklichkeit häufig beschrieben wird, als eine Gegenwart, die immer da war und jetzt endlich erkannt wird – man hatte sie zuvor nur nicht wahrgenommen oder für wahr genommen.

Ich bitte, mich nicht falsch zu verstehen: Vieles davon habe ich genossen. Gerade die Musik. Ich sang auch im Chor zu kirchlichen Anlässen. Einer meiner Chorleiter unterrichtete Orgelspiel. Die Stunden bei ihm waren wirklich ein Glücksfall für mein Fortkommen – musikalisch, vor allem aber menschlich. Die Liebe zum Gregorianischen Choral habe ich vom Regensburger Kirchenmusikdirektor, der darüber sogar promoviert hat. Außerdem gab es einige Jahre ein Projekt mit der Gesangsklasse einer befreundeten Russin aus St. Petersburg, bei der ich außerdem im Kammerchor sang. Immer wieder einmal hatten wir daher erstklassige Musik in unseren Dorfgottesdiensten. Ach, und die Vespern mit unserem kleinen, aber feinen A-cappella-Ensemble für Alte Musik! Und der College Choir während meines Erasmus-Aufenthalts in England, geleitet von einer Kanadierin. Bis heute ist Orgelmusik von den britischen Inseln ein fester Bestandteil meines Repertoires.

Die Pfarrer, die ich erlebt habe, waren nicht klerikal. Im Gegenteil, sie mühten sich sehr auf ihre je eigene Weise, für die Menschen da zu sein, und das sowohl aus ihrer Persönlichkeit heraus als auch in ihrer Rolle als Priester. Ihr Gott war für alle da und wartete auf jeden, der kommen wollte. Dennoch habe ich den Kontakt zum Göttlichen eher ihnen zugewiesen beziehungsweise für sie reserviert, genauso wie für besagte Kindergärtnerin, der ich ihre innige Beziehung zu Christus bis heute glaube. Für uns »normale« Menschen dagegen waren die höheren Erfahrungen vielleicht im Sakrament konserviert – aber irgendwie doch nicht vorgesehen.

Heute würde ich sagen, ein Teil davon stimmt immer noch: Die intensive Gotteserfahrung steht uns nicht zur Verfügung, jedenfalls nicht wie eine Packung Kaugummi im Supermarkt. Sie entzieht sich dem Zugriff. Vielleicht habe ich gerade deswegen gegenüber bestimmten Wallfahrtsgruppen, die den göttlichen Segen auf Gedeih und Verderb herbeibeten wollten, schon früh eine gehörige Skepsis entwickelt.

Es gab in meiner Kindheit und Jugend durchaus Menschen mit einer spürbaren Passion, und ich habe ihre Nähe gesucht. Es ist schwer zu sagen, ob das Zufall war oder so gewollt, aber sie alle hatten eine Verbindung zur Kirche. Das heißt nicht, dass diese Beziehung unkompliziert war. Wem die Kirche wichtig ist und wer sich für sie einsetzt, leidet irgendwie immer auch an ihr. Ich will an dieser Stelle – so berechtigt das vielleicht auch wäre – nicht in Wehklagen über Missstände oder veraltete Inhalte verfallen. Denn vielleicht hat dieses Leiden an unseren menschenmöglichen Formen von Kirche auch damit zu tun, dass jene Menschen, die etwas ahnen dürfen vom großen Mehr hinter den Dingen, sich danach ausstrecken müssen. »Da muss doch mehr sein« – dieses Gefühl ist bei ihnen bereits von einer Erfahrung getragen: Da ist mehr! Aber es ist flüchtig, und seine goldenen Fäden reißen so leicht ab. Das Wissen um das Mehr ist vor allem Sehnsucht.

Dass solche Sehnsucht seltener wird (vielleicht war sie es schon immer), macht sie mitunter beschwerlich. Wer vom Mehr berührt worden ist, spinnt ein bisschen und kann durchaus ein Kopfschütteln von den »Seriösen« ernten, wie Simone de Beauvoir sie nennt. Von außen betrachtet ist es auch kaum nachvollziehbar. Bereits die Möglichkeit, dass die Köpfe über mich geschüttelt würden, hat ihre Wirkung nicht verfehlt. Sie hat mich zurückgehalten, vielleicht auch bewahrt vor mancher jugendlich-pathetischer Äußerung, von der man später verschämt hofft, sie möge im Internet nicht mehr zu finden sein. Die Neugier auf das Mehr ist darüber ein wenig verblasst in meinem Alltag, der geradezu überqoll von ehrenamtlichen Engagements. Einerseits hat mich das beschäftigt gehalten. Da kommt man nicht auf dumme Gedanken. Andererseits gab es hier und da immer wieder Anzeichen für jene heilige Unrast, die das Mehr nicht vergessen kann. Auch wenn ich das nicht immer explizit mit Gott in Verbindung brachte – fasziniert hat mich da schon etwas.

Seit ich mich entschlossen habe, Mönch zu werden und spätestens seit ich einen Habit trage, kann ich die Welt, wie ich sie erlebe, leichter ausdrücklich mit Gott in Verbindung bringen. Das klösterliche Gewand gibt mir gleichsam die Erlaubnis, innerlich und auch im sozialen Kontext quasi von Berufs wegen etwas von Gott zu erfahren. Vielleicht bin ich seither das erste Mal wenigstens ansatzweise »thematisch Christ«. Dieser Terminus stammt von Karl Rahner, der sagte, man könne sich auch athematisch mit Gott befassen, das heißt ohne Gott zum benannten Thema zu machen. Athematische Christen sind Menschen, die durchaus Kontakt zur transzendenten Wirklichkeit erfahren haben, als Christ würde ich sagen: denen Gott entgegenkam. Sie fassen das aber nicht in religiösen und damit auch nicht christlichen Begriffen.

Manchmal denke ich mir, dass ich erst einmal athematisch religiös war, und das inmitten einer durchaus christlich geprägten Umgebung. Was explizit mit Kirche zu tun hatte, war für mich gut – aber nicht religiös im engeren Sinn. Ich habe meine Arbeit gemacht, ich glaube sogar: gut gemacht, und war überzeugt davon. So ein »Möchtegern-Frommer« wollte ich aber nie sein. Heute scheint mir diese Bewertung etwas ungerecht und eher dem geschuldet, was ich mir selbst nicht zugestand: dass Gott eine Realität auch in meinem allzu alltäglichen Leben ist.

Die Erfahrungen, die ich von meinem heutigen Standpunkt aus als die eigentlichen bezeichnen würde, waren eher implizit und flüchtig. Sie standen in Bezügen innerhalb meines Lebens, die ich vom offenkundig Religiösen eher getrennt hielt. Vor dem Gedanken einer erhabenen Transzendenzerfahrung und einem Wirken des Heiligen Geistes an mir schreckte ich zurück. Das war ein paar Auserwählten vorbehalten. Ich war ja schon Oberministrant und Organist, statt mit den anderen im Sportverein, Schützenverein und bei der Feuerwehr zusammenzusitzen. Das war Sonderstellung genug.

Wer weiß, vielleicht habe ich dadurch die eine oder andere Chance verpasst. Die Erfahrung einer athematischen Gottsuche hat aber auch etwas Tröstliches. Denn es gibt genug junge Menschen, die anders sozialisiert wurden als ich. Ein gewisses Vokabular und damit bestimmte Zugänge habe ich durchaus mitgenommen aus meiner Tätigkeit in der Gemeinde und der Kirche. Meine Suche nach dem Mehr verlief nichtsdestotrotz eher parallel zum Kirchenhandwerk, und ich habe sie nicht immer als solche erkannt. Das dürfte mich immerhin mit denen verbinden, die nicht in einem kirchlich mitgeprägten Kontext aufgewachsen sind.

Heute bin ich überzeugt, dass Gott jedem von uns in vielfältigen Varianten entgegenkommen kann. Auch beim schnöden Einräumen von Supermarktregalen und in der Warteschlange auf dem Arbeitsamt, bei der Klausur im stickigen Uni-Hörsaal genauso wie in der S-Bahn an einem Montagmorgen, der noch müde ist vom Wochenende. Weder sind es nur Spezialisten, mit denen Gott sich befasst, noch muss da eine Stimme aus dem »Off« die große Lebenswende befehlen. Aber irgendetwas muss dennoch da sein. Ich glaube, die Zeichen sind unscheinbar geworden in einem sozialen Rahmen, der nicht unbedingt mit ihnen rechnet.

In einer Ausstellung von William Kentridge, die ich einmal in Salzburg besucht habe, ist mir ein Satz besonders im Gedächtnis geblieben: Long, long live the sparrow. Lang lebe der Spatz. In grauen Szenen, in denen altertümliche Megaphone Menschenköpfe ersetzen, beklagen die Stummfilme des südafrikanischen Künstlers das Geschrei der Welt und ihr Marschieren. Was soll da ein Spatz schon ausrichten? Ich male mir eine graue Straße aus, ausgebrannte Großstadthinterhöfe irgendwann mitten im August. Die paar von Betoneinfassungen eingeklemmten Bäume lassen ihre Blätter hängen. In dieser trockenen Staubwüste mag auch kein Kind mehr Ball spielen. Aber es raschelt hinter den Blättern. Ein frecher kleiner Spatz belebt die Szenerie trotzig. Allein, dass er da ist, macht das Ganze weniger bedrückend.

Vielleicht wirkt der Heilige Geist nicht nur klassisch als Taube, sondern auch so: als Spatz, der durch meinen Alltag hüpft. Selbst, wo es nicht so alltagsgrau ist, springt er herum und macht die andere Welt präsent, mitten zwischen den Café­tischen – und doch jenseits davon. Ein kleiner Spatz, der, wenn er nicht aufpasst, schnell der Katze gehört und der ganz angewiesen darauf ist, dass er Tag um Tag das Nötige vorfindet. Seit ich in dieser Kentridge-Ausstellung war, freue ich mich immer über seine vorsichtigen Annäherungen, er, der bei jeder schnellen Bewegung bereit ist, davonzustieben. Ja, lang lebe der Spatz!

Für mich ist das vorliegende Buch insofern ein Experiment: Ich will überlegen, welche Gedanken mir damals, als Jugendlicher und junger Erwachsener, andere Perspektiven erlaubt hätten. Manche Gedanken sind über lange Wege meiner eigenen Entwicklung entstanden, und entsprechend schwer ist zu sagen, ob mein früheres Ich auf solche Gedanken gehört hätte – oder hören hätte können. Im Erzählen von meinem Weg bin ich vorsichtiger geworden oder vielleicht nachdenklicher. Ich kann die eigenen Erfahrungen meines Gegenübers nicht überspringen, und manche meiner Worte innerhalb unseres Gedankenaustausches werden wahrscheinlich erst einmal ins Leere laufen. Entsprechend ist dieses Büchlein kein großer Wurf. Eher der Versuch eines Augenzwinkerns im rechten Moment, das der Situation ein anderes Gesicht gibt. Denn das ist alles, wozu ich mich in der Lage sehe. Für mehr müsst ihr schon auf Gott selbst warten.

Sich auf Unsicherheit einlassen

Aus meiner Sicht wird vor allem ein starker Einwand gegen ein Leben formuliert, das dem Religiösen Raum einräumt: Religiös zu leben laufe letztlich auf eine systematische Selbsttäuschung hinaus. Glaubenspraxis oder gar asketische Übungen werden vor diesem Hintergrund zu ausgetüftelten Eigenmanipulationen, der klösterliche Werdegang zur regelrechten Gehirnwäsche.

Unumwunden bin ich bereit zuzugeben, dass das, worauf ich mich bei meinem Weg ins Kloster eingelassen habe, nicht nur fester Grund ist. Es ist auch ein Weg, der sich auf Ungewissheiten einlässt. Zwar gibt es zum einen schon handfeste Argumente dafür – die Möglichkeit, regelmäßig an einer herrlichen viermanualigen Klais-Orgel musizieren zu dürfen, ist ein nicht ganz unwichtiges dabei. Zum anderen aber ergibt ein Klosterleben langfristig ohne Gott kaum Sinn. Wenn Gott nicht wäre, könnte (und müsste) man wohl vieles von dem streichen, was wir Mönche uns täglich auferlegen. Etwa das Ausmaß des Psalmensingens wäre deutlich zu reduzieren und erst recht das mitunter nervige Schweigen. Denn wir schweigen, um in eine innere Stille zu gelangen, in der Gottes Stimme eher zu hören ist. Dazu braucht es einen Gott, der die Stimme erheben kann. Das heißt zwar nicht, dass aus einer weltlichen Sicht alles Unsinn wäre, was wir tun. Aber ich gehe davon aus, dass auch ein christliches Leben außerhalb des Klosters in seiner Gesamtheit nur sinnvoll ist, wenn es Gott gibt. Wie aber können wir uns so sicher sein, dass das der Fall ist und dass Gott überhaupt etwas mit uns zu tun haben will? Dass wir relevant sind für Gott?

Mir scheint, wirklich sicher sein kann man sich nie. Das habe ich aus Büchern von Charles Taylor gelernt, einem kanadischen Politikwissenschaftler und Philosophen, der sich ausführlich damit beschäftigt, wie der moderne Mensch tickt. Die moderne Existenz, wie er sie beschreibt, ist gerade durch die Hinterfragbarkeit aller grundlegenden Einsichten gekennzeichnet. Das gilt auch für den Glauben: Im modernen westlich-europäischen Kontext darf der Glaube hinterfragt werden – und wird es auch, wo er vorkommt –, fast immer und überall. Wenigstens die Tatsache, dass andere kritisch durchleuchten und bezweifeln können, was ich als Gewissheit in meinem Leben setze, wird im westlichen Kontext auf jeden Gläubigen zutreffen. Gegen ein Glauben, das Nachfragen ausschließen will, besteht zurecht Ideologieverdacht. Heißt das für eine Praxis, die sich auf das Glauben einlässt und handfeste Konsequenzen im Alltag daraus zieht, dass ich nur einübe, die Nachfragen auszublenden und zu vergessen?

Sicher ist das eine Gefahr, und immer wieder tappen gerade religiöse Neuaufbrüche in diese Falle. Ich war aufrichtig erschüttert, als ich das erste Mal von den Missbrauchsvorwürfen gegen Jean Vanier hörte. Er war der Gründer der Arche-Gemeinschaften, deren Spiritualität und Alltag wesentlich gekennzeichnet ist durch das Zusammenleben »normaler« Menschen mit körperlich oder psychisch beeinträchtigten Menschen. Als ich davon erfuhr, war ich gerade in Minneapolis. Im Sculpture Garden des Walker Museums dort schwingt eine große Kirchenglocke ohne Klöppel, die mir ein Sinnbild für meine plötzlichen Zweifel an diesem großen Vorbild mitmenschlicher Zuwendung wurde. Eine Glocke, die so jäh verstummt – ist sie je wirklich erklungen? Waren Vaniers Schriften, die mich durchaus inspiriert hatten, Glocken, die schwingen, aber nicht klingen? Waren das Worte, die wohl erklangen, aber letztlich hohl und ohne Substanz gesprochen worden waren? War das Charisma echt, falls es sich doch wieder mit Vergehen gegen die verband, die eigentlich auf Schutz und auf seine Inspiration angewiesen waren? Charismatisch beschwingte Bewegungen sind immer in der Gefahr, die Nachfragen im Schwange der Begeisterung nicht mehr zu hören. Je mehr Beispiele ich für solche Zusammenhänge höre, umso lauter wird die Frage: Kann ich der Begeisterung überhaupt den Geist glauben, den sie behauptet, in sich zu tragen?

Charles Taylor beobachtet ganz richtig, dass solches Hinterfragen ein Teil unseres Lebens ist. Die Fragen zu leugnen, ist bereits eine Form des Umgangs mit ihnen. Genauso, sie absolut zu setzen und daraus abzuleiten, dass sich das »Projekt Glauben« ohnehin nicht lohnt. Die Fragen sind da und pieken mich immer wieder mal in die Seite. Und wer wüsste nicht, wie nervig das sein kann, wenn einer oder etwas einfach keine Ruhe gibt. Fragen und Zweifel können ein regelrechtes Eigenleben entwickeln und sehr ermüden. Sie lassen sich aber nicht einfach ausschalten, will man nicht zum Naiven degenerieren. Es braucht also einen irgendwie angemessenen Umgang mit dem Zweifel, und gerade im Kontext des Glaubens ist das gar nicht so einfach. Vielleicht gibt es aber zwischen Überwältigung und Ignorieren eine dritte Variante: dass wir mit Unsicherheiten zu leben lernen. Dafür beten die Mönche in Münsterschwarzach regelmäßig in ihrem Mittagsgebet.

Das Wirken Gottes in der Welt hier und jetzt nennen wir Christen den Heiligen Geist oder anders übersetzt: die Heilige Geistkraft. Diese Kraft wird als Feuersturm und Windhauch beschrieben. Beides sind nicht unmittelbar fassbare Phänomene. Doch obwohl der Geist sich nicht einfangen lässt, erkennen die Christen, dass er relevant ist. Sich auf die Heilige Geistkraft einzulassen, heißt, aushalten zu lernen, dass der Geist weht, wo er will: Als Christ kann man alles »richtig machen«, und dennoch stellt sich keine spirituelle Erfahrung ein. Das ist ganz normal. Wenn ich die Heilige Geistkraft als Person ernst nehme, heißt das, von ihr ein eigenes Handeln zu erwarten, das auf meinen Anruf reagiert – oder auch nicht. Man mag ergänzen: oder nicht gleich. Oder nicht auf die Art, wie ich es mir vorgestellt habe. Es ist eine durchgetragene Intuition religiöser Menschen, dass Gott immer da ist und immer hört. Deswegen die Suche nach Denkformen, warum gerade jetzt, da ich rufe, nichts passiert. Was bleibt, steht aber in Spannung dazu. Es ist die Erfahrung, dass das Rufen zu Gott manchmal ohne Antwort bleibt. Dann kommt es darauf an, ob ich anderen glaube oder selbst eine Erfahrung gemacht habe, dass es überhaupt eine Instanz gibt, die antworten kann und das auch tut.