Gott ist unbequem - Ulrich L. Lehner - E-Book

Gott ist unbequem E-Book

Ulrich L. Lehner

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Beschreibung

Der nette Opa? Der Kumpeltyp von nebenan? Der hilfreiche Onkel, der alles verzeiht? Das soll Gott sein? Für Ulrich Lehner ein Gräuel. Er nimmt den Leser mit auf eine Entdeckungsreise um herauszufinden, wer Gott wirklich ist. Dabei zeigt er, dass der christliche Gott keiner ist, den man in schlechten Zeiten um eine Therapiestunde bittet und der ansonsten nicht viel vom einzelnen Menschen verlangt. Vielmehr ist er ein radikaler, mysteriöser Gott, der jede Person, die sich ernsthaft mit ihm beschäftigt, herausfordern und nachhaltig verändern kann. Man spürt beim Lesen: Ja, dieser Gott ist unbequem – und deshalb begeistert und bewegt er. Ein spannendes, hoch aktuelles Buch, das jeden dazu anregt, über seine Beziehung zu Gott nachzudenken und einen dazu bringt, sein Leben abwechslungsreicher zu gestalten. "So ist diesem Buch energischer Widerspruch zu wünschen. Es predigt das Gegenteil des Kurses, auf dem die westliche Christenheit unterwegs ist. Es soll, darf und muss anecken. Wer sich an seinen Aussagen nicht stößt, ist innerlich schon stumpf geworden für die Provokation Gottes. Dass er so anders ist. Dass es ihn überhaupt gibt und nicht der Mensch Maß aller Dinge ist. Dass dieser erhabene, ungezähmte Gott die Wahrheit selbst ist. Die Wahrheit ist nicht immer nett. Doch sie macht immer frei. (Johannes Hartl im Vorwort)"

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Ulrich L. Lehner

Gott ist unbequem

Eine Herausforderung

Mit einem Vorwort von Johannes HartlVom Autor aus dem Englischen übersetzt

Titel der Originalausgabe:

God Is Not Nice. Rejecting Pop Culture Theology and

Discovering the God Worth Living For

© Ave Maria Press, Notre Dame 2017

Erstveröffentlichung in den USA durch Ave Maria Press, Notre Dame

Für die deutschsprachige Ausgabe:

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2019

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Wenn nicht anders angegeben, so sind die Bibeltexte entnommen aus:

Die Bibel. Die Heilige Schrift

des Alten und Neuen Bundes.

Vollständige deutsche Ausgabe

© Verlag Herder, Freiburg im Breisgau 2005

Umschlaggestaltung: Gestaltungssaal, Rosenheim

Umschlagmotiv: © alejandro dans neergaard / shutterstock, © Lukasz Szwaj / shutterstock

E-Book-Konvertierung: Daniel Förster, Belgern

ISBN E-Book 978-3-451-81681-9

ISBN Print 978-3-451-03165-6

Inhalt

Vorwort

1. Gott ist nicht zum Kuscheln da: Ein falsches Gottesbild

2. Der Gott der Schöpfung

3. Der nutzlose Gott

4. Der Gott unserer Fantasie

5. Der Donnergott

6. Der Gott des Schauers

7. Der Gott der Hingabe

8. Der Gott der Intimität

9. Der Gott des Trostes

10. Gott im Fleisch

11. Der Gott der Wiedergeburt

12. Der Gott des Abenteuers

13. Der unwahrscheinliche Held

Danksagung

Der Autor

Vorwort

Dieses Buch ist eine Unverschämtheit. Es scheint sich kein bisschen um die Themen zu kümmern, die Menschen beschäftigen, denen es heute in Deutschland noch um den Glauben geht. Liest man derzeit etwas über die Kirche und geht es dabei ausnahmsweise einmal nicht um Missbrauch, rangiert das Thema der Zeitgemäßheit hoch im Kurs. Ob die Kirche noch zeitgemäß sei. Ob diese oder jene Lehrmeinung dem heutigen Menschen noch zu vermitteln sei. Wie die Kirche sein müsse, dass sie es überhaupt noch vermöge, moderne Menschen anzusprechen. Ob etwas in die Gegenwart passt, ob es auf der Höhe der Zeit ist oder nicht vielmehr überholt, im Gestern erstarrt, veraltet, das scheinen Argumente mit Ausschließlichkeitscharakter zu sein. Denn es müsse doch, folgerichtig in derselben Logik, darum gehen, Menschen anzusprechen. Der Mensch steht doch im Mittelpunkt. Etwas theologischer formuliert wird die »Lebenswelt« der Gegenwart zum Maßstab, an dem sich bitte auch die kirchliche Verkündigung zu orientieren habe. Nun ist keine einzige dieser Aussagen unberechtigt. Selbstverständlich tut die Kirche gut daran, zu überlegen, ob und wie ihre Botschaft heute noch verstanden werden kann. Und ohne jeden Zweifel geht es beim Glauben immer um den Menschen in seiner Würde und seiner Einzigartigkeit. Frappierend ist jedoch die Leerstelle, die sich inmitten all der Fragen und Aussagen bezüglich des Zeitgemäßen auftut. Es ist die Frage, was denn nun eigentlich wahr ist. Solange nicht klar ist, was die Aussage sein soll, ist die Frage nach der Vermittlung sinnlos. Darauf auszuweichen, dass man aber doch auch auf den Gesprächspartner eingehen müsse, verschleiert eine grundsätzliche Tatsache. Wenn man selbst keinen Standpunkt vertritt, ergibt sich trotz aller Dialogbereitschaft kein echtes Gespräch. Man verliert auch alle Relevanz als Gesprächspartner außer für jene, die ohnehin nur sich selbst reden hören wollen und Widerspruch scheuen. Eine zweite Leerstelle klafft zwischen all den Fragen nach der Relevanz der Kirche und der Frage, wie sie heute noch bei den Menschen ankommt. Es ist die schlichte, aber profunde Frage, wie sie denn eigentlich bei Gott ankommt. Klingt das zu naiv? Wie genau man das erfahren kann, sei noch einmal hintangestellt. Doch liegt nicht auf der Hand, dass das die zentrale Frage ist? Welche Relevanz hat das, was wir sagen und tun, für Gott – falls es ihn gibt? Man stelle sich eine Geburtstagsparty vor, bei der alles stimmt. Die Lampions hängen richtig, die Bowle mundet vorzüglich, der Nudelsalat findet reißenden Absatz und zur Musik wird ausgelassen getanzt. Die Gäste sind bester Laune. Wie wäre all das, wenn das Geburtstagskind nicht anwesend wäre? Oder wenn ihm/ihr alles überhaupt nicht zusagte? Die ganze Party steht und fällt mit dem, der gefeiert wird. Das deutsche Wort »Kirche« stammt vom griechischen Wort »­Kyriake« ab und bedeutet: die Versammlung des Herrn. Eine Veranstaltung also, die einen Herrn hat. Ein Fest, zu dem ein Gastgeber lädt. Er ist das Zentrum der Feier, er ist ihre Ursache. Christen feiern Gottesdienst. Hört man sie aber nachher darüber reden, könnte man fast meinen, es sollte besser »Menschendienst« heißen. Denn die Lieder wurden ausgesucht, um sowohl die jüngeren als auch die älteren Besucher anzusprechen. In der Predigt ging es darum, ein guter Mensch und hilfsbereiter Nachbar zu sein. Die Vorbereitung auf die Erstkommunion ist so gestaltet, dass sie selbst dem Glauben fernstehenden Eltern ganz sicherlich keinerlei Anlass dazu gibt, irgendetwas daran nicht zu mögen. Und die ganze Veranstaltung scheint sich um Menschen zu drehen, um ihre Erwartungen und Bedürfnisse. Eine Party, so könnte man frech sagen, die auch ganz gut ohne Geburtstagskind funktioniert, vielleicht sogar besser.

Dass so etwas aber keine Kraft hat, keine Tiefe und keine Ausstrahlung, muss nicht verwundern. Gott ist nicht nur das Zentrum der Kirche, er ist auch das, was sie attraktiv macht. Tatsächlich ist das einzig Interessante an der Kirche die Tatsache, dass man dort Gott begegnen kann. Kann man das nicht, finden sich Wellness­angebote, Psychotherapie oder politische Parteien, die die exakt gleichen Werte ohne den metaphysischen Ballast ebenso und meist besser anbieten.

Doch der Schatz, der den Christen anvertraut ist, ist unaussprechlich groß. Seine Relevanz kann nicht überschätzt werden. Er ist nicht weniger als das: die Kenntnis Gottes. Für wen das überheblich klingt, dem sei die Lektüre des Neuen Testaments empfohlen. In Jesus Christus, so bekennen die Evangelisten und Apostel geradewegs, hat Gott sich selbst kundgetan. Unüberbietbar, endgültig und verbindlich. Was Jesus gebracht hat, war nicht die Ethik. Zu Recht weisen Kirchenkritiker darauf hin, dass es bereits bei den Griechen und natürlich bei den Juden weitgehend ähnliche Konzepte wie beispielsweise die Feindesliebe gab. Das Neue, das Jesus brachte, war seine Offenbarung, wie Gott ist. Und nichts, aber auch gar nichts daran hat heute an Faszination und Relevanz verloren. Tatsächlich ist erstaunlich, wie lebendig die Frage nach Gott auch heute noch ist. Bücher darüber, ob es Gott gibt oder auch nicht gibt, belegen seit Jahren immer wieder die Spitzenplätze der Bestsellerlisten (Manfred Lütz: Gott; Richard Dawkins: Der Gotteswahn). Lebensberichte, gerade aus Krisenzeiten, enthalten erstaunlich häufig Bezüge auf den Glauben (Hape Kerkeling: Ich bin dann mal weg; Horst Lichter: Und plötzlich guckst du bis zum lieben Gott). In der Ratgeberliteratur sieht es kaum anders aus (Eva-Maria Zurhorst: Liebe dich selbst und es ist egal, wen du heiratest). Die genannten Bücher gingen allesamt in Höchstauf­lagen über die Ladentheke. Davon, dass das Thema Gott heute aus der Mode gekommen ist, kann überhaupt nicht die Rede sein. Doch kann es vielleicht sein, dass die Kirche über alles andere redet als über ihn? Wann sind Sie das letzte Mal in eine Kirche gegangen und haben dort eine Predigt gehört, in der es einfach um Gott ging? Um sein Wesen, seine Allmacht etwa, seine Heiligkeit, seine Liebe, sein dreifaltiges Wesen? Eine Predigt ferner, die Sie zum Staunen über ihn gebracht hat, ja zur Anbetung? Kennen Sie Christen, kennen Sie Geistliche, denen man ansieht, dass sie zutiefst gepackt sind von diesem Gott und ebenso packend über ihn sprechen können? Falls ja: herzlichen Glückwunsch! Die Vermutung liegt nahe, dass besagte Verkündiger Zuhörer finden. In einer Welt, die sich inmitten ihres Konsums und ihrer »Unterhaltung« zu Tode langweilt, strahlt nichts so hell wie Augen, die fest auf das Unsichtbare gerichtet sind.

Die ganze Kraft des Christentums liegt im Inhalt seiner Verkündigung: sie liegt in Gott selbst, der heute noch erfahrbar ist, den man kennenlernen kann. Wird dieser Gott jedoch auf die harmlose Passform des für den modernen Menschen Unanstößigen heruntergedampft, kommt die Botschaft auch um ihre Kraft. Und natürlich macht dann alles keinen Sinn mehr. Weshalb sollte es einer Erlösung bedürfen, weshalb gar einer so erschreckenden Geschichte wie jener von der Kreuzigung Jesu, wenn Gott ohnehin dem verständnisvollen Opa gleicht, der zu allem, was Menschen tun, friedlich lächelt, aber letztendlich keine Meinung dazu hat? Ein Gott, der sich dem Bösen nicht entschieden entgegensetzt, es benennt und richtet, der kann auch nicht retten. Ein Gott, vor dem man nicht erbeben kann, vermag auch nicht zu faszinieren. Allzuoft ist ein solches harmloses Gottesbild nichts weiter als die Projektion unserer Vorstellungen von einem freundlichen Menschen. Kein Wunder, dass in heutigen Kirchen kaum mehr gekniet wird. Wovor auch?

So ist diesem Buch energischer Widerspruch zu wünschen. Es predigt das Gegenteil des Kurses, auf dem die westliche Christenheit unterwegs ist. Es soll, darf und muss anecken. Wer sich an seinen Aussagen nicht stößt, ist innerlich schon stumpf geworden für die Provokation Gottes. Dass er so anders ist. Dass es ihn überhaupt gibt und nicht der Mensch Maß aller Dinge ist. Dass dieser erhabene, ungezähmte Gott die Wahrheit selbst ist. Die Wahrheit ist nicht immer nett. Doch sie macht immer frei.

Johannes Hartl

1. Gott ist nicht zum Kuscheln da: Ein falsches Gottesbild

»Gott ist nicht nett. Er liebt einige mehr als andere.« Meine Studenten in einem Einführungskurs in die Theologie wirkten auf einmal aufgeregt. Manche Gesichter sahen verstört aus, andere gereizt, wieder andere wie vor den Kopf gestoßen. Ich hielt mein Lächeln zurück, denn schließlich wollte ich meine Studierenden ja auf etwas Wichtiges hinweisen, aber es war einer der Momente, die das Herz jedes Lehrers höher schlagen lassen – der Augenblick, in dem etwas in den Köpfen der Zuhörer klickt und eine Diskussion in Gang kommt. Plötzlich waren ein Dutzend Hände in der Luft, die alle darauf warteten, eine Frage zu stellen …

Aber warum hatte diese Binsenwahrheit ein solches Ergebnis? Was hatte meine Studenten denn so verstört, dass sie auf einmal aus ihren Lehrbüchern aufblickten? Die Antwort ist, wie ich meine, ganz einfach: Sie hatten bisher noch nie jemanden so etwas Unbequemes sagen gehört wie »Gott ist nicht nett« oder »Gott ist nicht lieb« oder »Gott ist nicht zum Kuscheln da«. Meine Spitze hatte den zentralen Glaubenssatz getroffen, der uns von der Popkultur, sozialen Medien und leider auch vielen Kirchenvertretern eingetrichtert wird: Wenn Gott existiert, dann ist er »ganz lieb« und tut, worum wir ihn bitten. Er ist kein Gott der Liebe, Wahrheit und Gerechtigkeit, sondern der Gott des Wohlfühlens. Man kann mit ihm alles aushandeln, wie mit einem freundlichen Verkäufer auf einem Basar. Für alles findet dieser Gott eine Entschuldigung, sei es Ehebruch, Pornografie, Gier oder Geiz. So ein Gott ist flexibel und wir biegen ihn uns zurecht, sodass wir unser Leben nicht nach ihm ausrichten müssen.

Der Gott, den uns die seichten Propheten vorgaukeln, ist wie ein göttlicher Therapeut. Das Bild hat natürlich etwas für sich und ist biblisch (vgl. Lk 5,31), wenn man es richtig versteht: Christus ist der einzige Arzt, aber die heutige Umdeutung macht ihn zu einem teilnahmslosen Therapeuten, der einfach nur zuhört, aber keine Analyse abgibt und schon gar keine radikalen Maßnahmen vorschlägt. Gott wird zum Kummerkasten herabgewürdigt, an den wir uns wenden, wenn es uns schlecht geht, den wir aber links liegen lassen, sobald Schmerz und Leid verflogen sind. So ein Gott ist bequem, weil man für ihn das Leben nicht verändern muss. Man muss sich nicht von ihm fragen lassen, ob man alles Materielle höher schätzt als die Liebe zu Gott, ob man seine Nächsten wirklich liebt und Jesus nachfolgt. Warum sollte man das Leben für eine Kummerkastentante auch ändern? Gott ist so an den Rand gedrängt, dass er nur mehr zu speziellen Zeiten aus der Verpackung genommen wird, ähnlich wie der Christbaumschmuck.

Zuerst dachte ich, dass die Ursache im Religionsunterricht liegen müsse, den diese Studenten erhalten haben. Aber als ich meinen eigenen Kindern genauer zuhörte, die ich selber im Glauben erziehe, fiel mir auf, dass auch diese oft so über Gott sprachen, als sei er einfach nur nett. Das war ein Schlüsselerlebnis; mir wurde klar: Wenn wir nicht wollen, dass die Kirchen noch leerer werden, dann müssen wir den langweiligen Gott gesellschaftlicher Erwartungen aus unseren Seelenwohnungen verbannen.

Ich selbst bin nicht immun gegen die Anfechtungen eines solchen Gottesbildes. Oft ertappe ich mich dabei, meine Beziehung zu Gott selbst zu vernachlässigen, sie zur Routine werden zu lassen, sie im Konventionellen zu ertränken.

Das Wort Konvention bedeutet zuallererst, dass etwas allgemein ist, eine Übereinkunft. Konventionelles bewegt sich also in ausgetretenen Bahnen und ist nicht aufregend; Konventionelles gibt Sicherheit, stabile Emotionen, aber kein Leben und kein Abenteuer. Bestenfalls geben uns Konventionen ein Gefühl des Wohlgefallens, bis das nächste Erlebnis angestrebt wird, aus dem wir uns Glücksgefühle versprechen. Im Glauben führt es dazu, dass wir die Beziehung zu Gott konventionell werden lassen. Damit sind keineswegs Rituale wie das Stundengebet gemeint, sondern die innere Einstellung, die Gott an den Rand drängt. Wir erwarten von Gott nichts mehr, weil die Gesellschaft um uns herum die Konvention aufgestellt hat, dass Gott höchstens ein schmückendes Beiwerk sein darf, aber nichts, was den Menschen von Grund auf verändert. Man geht am Sonntag höchstens in die Kirche; vom Streben nach Heiligkeit zu reden würde als verrückt gebrandmarkt. In kaum einer Predigt im deutschsprachigen Raum habe ich je davon gehört.

In meinen beinahe 15 Jahren als Theologieprofessor war ich immer wieder erstaunt, dass das am meisten vorgebrachte Standardargument gegen das Christentum nichts mit intellektuellen Schwierigkeiten zu tun hat, sondern eigentlich ein Vorurteil ist: dass nämlich das Christentum einfach stinklangweilig ist. Denn man meint, das Christentum beschränke sich darauf, am Sonntag in die Kirche zu laufen. Leider tut es das für viele, und das scheint mir ein Problem zu sein, welches man in der Katechese einfach nicht wahrhaben will. Niemand will den weichgespülten Gott und die entleerte Theologie, weil man anderswo bessere Glücksgefühle findet: Geht man ins Fitnessstudio, hat man einen Endorphin-Schub, geht man mit Freunden aus, genießt man Geselligkeit – das ist für viele profunder als die Eucharistie. Warum? Weil sie Gott nicht mehr ernst nehmen, da ihnen jahrzehntelang gesagt wurde, Gott würde nicht richten, strafen, aber auch nicht wollen, dass sie sich ändern. Wer auch nur eine Zeile der Bibel gelesen hat, weiß, wie abgrundtief falsch dies ist. Gott will, dass wir uns von der Sünde abwenden und ihm zukehren, dass wir nie bei uns selbst sind außer durch ihn. Anstatt ein Dorn im Fleisch der Konsumgesellschaft zu sein, sind die Kirchen kulturkonform geworden. Gott erscheint als langweilig, und konsequenterweise auch das Volk Gottes.

Deshalb brauchen wir alle die Impfung mit dem Serum des biblischen Gottes, der Menschen radikal umformt und der ein ewiges Geheimnis bleibt: Wir müssen den Gott zurückgewinnen, der Moses im brennenden Dornbusch erscheint, der durch Esel spricht, Dämonen in eine Schweineherde bannt, Saulus zu Boden wirft und einem heiligen Franziskus von Assisi erscheint. Wir müssen uns klar werden, dass der Glaube nur lebendig werden kann, wenn wir selbst Teil der Geschichte Gottes mit seinem Volk werden, uns an Jesus hängen. Dann wird uns plötzlich ein Gott begegnen, der die Macht hat, uns aus unserem Schlafwandel aufzurütteln, uns herauszufordern, zu verändern und unser Leben gefährlich zu machen. Er nimmt uns auf das einzige große Abenteuer mit, das sich im Leben lohnt.

Auf dem Campus meiner alten Universität stand eine alte Kapelle im Zentrum. Sie wurde im 15. Jahrhundert in Frankreich erbaut und in den 1920ern Stein für Stein nach Milwaukee gebracht. Sie ist der heiligen Johanna von Orléans geweiht. In ihrem Inneren gibt es bis heute eine Steinplatte, die die Heilige angeblich vor einer ihrer Schlachten geküsst haben soll. Johanna war ein Teenager, der sich von Gott berufen fühlte und alle Konventionen hinter sich ließ, sich in ein Leben voller Gefahren stürzte und am Ende auch einen gewaltsamen Tod starb. Für einen langweiligen Kuschelgott hätte sie das nicht getan. Hätte sie je zum wilden Gott gefunden durch eine der Predigten in deutschen Kirchen oder gar durch ein Theologiestudium? Ich glaube keinen Augenblick daran.

Wann immer ich an dieser Kapelle vorbei zu meinen Hörsälen ging, betete ich: »Heiliger Geist, führe meine Studenten und gib, dass ich keinen durch meine Worte von Dir wegführe«. Ich rief mir immer die Verantwortung ins Bewusstsein, die man als Lehrer und Universitätsprofessor hat, und die Bescheidenheit, die mich bei meinen eigenen Lehrern am meisten beeindruckt hat. Eines Tages reflektierte ich im Vorübergehen auch über meinen eigenen Glauben und es wurde mir schlagartig klar, dass er sich verwässert hatte, dass er ins Konventionelle abgeglitten war. Ich hatte mich selbst zu distanziert gegeben und in der Vorlesung zu akademisch und zu wenig über meinen eigenen Glauben gesprochen. Wie konnte ich aber andere führen, wenn ich sie nicht an meinem Glaubens­leben teilnehmen ließ? Ich hatte den Studenten nicht die Ressourcen vermittelt, die sie brauchten, um mit Jesus zu wandeln, sie nicht zum lebensbringenden Quell geführt, sondern ihnen allenfalls eine Flasche abgestandenes Wasser gereicht. Mein eigener Glaube war langweilig geworden, leblos und ohne Abenteuergeist.

Diese Offenbarung war wie ein Blitz – schön und doch furchterregend. Ich fühlte das brennende Feuer, von dem die Heiligen sprachen, von Gottes Liebe, das uns verzehrt, aber nicht zerstört. Diese Einsicht zwang mich in die Knie. Ich stellte mir Jesus vor, wie er mir gegenüber steht als der Herausfordernde, der Hörende, aber auch als der Heilende. Das war der Ansporn, die Bequemlichkeitszone meines Glaubens zu verlassen, mich aufzumachen, mit Jesus zu wandern, statt stillzustehen, und ihn so in allem zu finden, wie der heilige Ignatius von Loyola sagt.

Aber wie sollte ich das meinen Studenten vermitteln? Die Antwort kam mir, als ich die Prüfungsarbeiten im Garten korrigierte. Ich hatte die Studenten gebeten, über die Israeliten und ihren Auszug aus Ägypten zu schreiben – eine faszinierende, abenteuerliche Geschichte über eine Wüstenwanderung, im Sturzwasser versinkende Soldaten und unerschütterliches Gottvertrauen. Doch was ich las, ließ sich in etwa darauf reduzieren: »Gott half den Israeliten, weil sie zu ihm gebetet haben.« Nun war das zwar nicht falsch, aber eine Verkümmerung der eigentlichen Botschaft. Ich realisierte, dass die meisten Studenten über Gott wie über einen Automaten dachten, in den wir Münzen (Gebete) einwerfen und einen Schokoladenriegel herausbekommen. An so einen Gott wendet man sich dann aber auch nur in Ausnahmefällen. Daher sprach ich in der nächsten Vorlesung über die Geschichte der Erlösung im Alten Testament. Abraham wurde aus Ur fortgerufen ins Ungewisse. Er verließ alles, um Gott zu folgen, ganz auf sein vages Versprechen hin, dass er ihn in ein gelobtes Land führen werde. Wir sprachen über Moses und den Dornbusch, vor dem er seine Sandalen löste, weil er auf heiligem Boden stand, und über Elija, der von Raben gespeist wurde und Gottes »Stimme verschwebenden Schweigens« (1 Kön 19,12 Buber/Rosenzweig-Übersetzung) im säuselnden Wind vernahm. Geschichte über Geschichte standen hier die Erfahrungen Israels mit einem atemberaubend schönen, aber auch erschreckenden, geheimnisvollen Gott. Vom Kuschelgott war hier nichts zu lesen. Stattdessen lud der biblische Gott zu einem Abenteuer ein, das einen von Grund auf veränderte, auch in Gefahr brachte, aber zu einem großartigen Ziel hinführte. Keiner hat die theologische Summe des christlichen Gottes besser ausgedrückt als C. S. Lewis, der berühmte Literaturwissenschaftler und Apologet, in seinen Narnia-Geschichten. Herr Biber erklärt dort auf die Frage des Mädchens Susan, ob der Löwe Aslan, ein Symbol für Jesus, zahm sei: »Er ist wild!«

Wenn wir Gott wirklich wollen, dann dürfen wir ihn nicht zu einem zahmen Gott herabwürdigen. Allerdings sollten wir dann auch nicht überrascht sein, wenn uns seine Vorsehung zu Abenteuern führt, die wir uns nie hätten träumen lassen. Unser Verlangen nach Sicherheit lässt uns Abenteuer und Risiko meiden und Veränderungen fürchten, die wir nicht kontrollieren können. Viel zu oft vergessen wir dabei, dass wir solchen Veränderungen andauernd ausgesetzt sind. Als ich etwa meine Frau zum ersten Mal traf, wurde mir klar, dass sie mein Leben radikal verändern würde. Sie fordert mich jeden Tag stets neu heraus, ein besserer Ehemann und Vater zu sein. Wenn ein Mensch den anderen grundlegend verändern kann, warum trauen wir Gott nicht dasselbe zu? Warum lassen wir uns nicht auf das Abenteuer Glauben ein? Die Gnade Gottes lässt sich nicht zähmen; entweder man nimmt sie an oder nicht. Sie ist gefährlich, weil sie andere Wege geht, als wir wollen, aber, wie C. S. Lewis uns erinnert, sie ist »immer gut«.

Die Gnade Gottes macht uns nicht nett und lieb, was ebenso ein Vorurteil zahlreicher Nichtchristen zu sein scheint. Wenn sie uns nur nett machte, wäre sie doch nicht Gnade, Leben Gottes in uns, sondern nur etwas Oberflächliches – eine Art Zuckerguss. Stattdessen verändert uns die Gnade ebenso, wie sie durch den Heiligen Geist Wein und Brot in Blut und Leib Christi verwandelt. Gottes Pläne durchkreuzen die unseren immer, weil wir uns selbst nicht gut genug kennen, aber trotzdem meinen, genau zu wissen, was das Richtige für uns ist.

Der heilige Johannes vom Kreuz schrieb einmal: »Wenn du meinst, du könntest Gott in der Bequemlichkeit deines Schlafzimmers entdecken, wirst du ihn nie finden.« Die Reise zur Erkenntnis Gottes führt uns weg von unseren angestammten Konven­tionen, ebenso wie sie Abraham aus Ur wegführte. Lässt man sich aber auf den neuen Weg ein, sieht man die Welt mit anderen Augen, bemerkt Geheimnisse im Kleinen, denen man bisher keine Beachtung geschenkt hat, findet Glück, von dem man meinte, es könne nicht existieren. Nur der Abenteurer kann sehen, was niemand sonst sieht – diese Einsicht haben wir im konventionellen Christentum verloren. Wir fragen uns, warum das Leben keinen Sinn macht, warum wir so unglücklich sind und warum uns unser eigenes Leben zu Tode langweilt; aber wir sollten davon nicht überrascht sein, weil unser kurzsichtiger Blick uns vom einzigen wirklichen Abenteuer im Leben, Gott, fernhält.

Als ich über das Thema dieses Buches nachdachte, kam mir eine Episode aus meiner Gymnasialzeit in den Neunzigerjahren in den Sinn. Damals war ich Ministrant in einer mittelgroßen bayerischen Stadt; wochentags ministrierte ich oft um acht Uhr morgens, bevor ich zur Schule ging. Besonders gerne ging ich bei einem alten Ruhestandspriester zur Messe. Einmal erzählte er mir nach der Messe: »Am Abend vor meiner Priesterweihe 1936 habe ich vor dem Tabernakel gekniet und gebetet: ›Herr, nimm alles, was ich bin und habe, aber bitte gib mir kein langweiliges Leben‹.« Sein Gebet wurde erhört. Er wurde Kriegspfarrer in Russland im Zweiten Weltkrieg und überlebte selbst viele Jahre harscher russischer Kriegsgefangenschaft. All die Jahre der Entbehrung und Krankheit hatten ihn nicht verbittert; er war eine niederbayerische Frohnatur geblieben. »Und keine Sekunde war langweilig!«, fügte er lachend hinzu. Diesen Moment habe ich nie vergessen. Hier hatte ich einen Glauben kennengelernt, der konkret war, und einen Menschen, der damit zufrieden war, im Weinberg des Herrn ein einfacher Arbeiter zu sein und jede Herausforderung anzunehmen. Das imponierte mir gewaltig – genauso wie das stille Gebet nach jeder seiner Messen: Danksagung für sein Priestersein und die Eucharistie. Während andere Geistliche aus der Sakristei spazierten, als kämen sie aus einem Restaurant oder einem Kino, zog sich dieser Priester immer für ein paar Minuten auf die Kniebank zurück. Das war ein Glaube, der einen formte und der nicht nur aus Oberflächlichkeit bestand. Bis zum heutigen Tag denke ich nach jedem Empfang der Kommunion an diesen Priester zurück, der mich gelehrt hat, dankbar zu sein, und ich versuche dieses Beispiel auch meine Kinder zu lehren.

Wenn ich heute vor meinen Studenten stehe, sind mir diese Erinnerungen immer ein Ansporn, von dem Gott zu sprechen, der Leben ist; mehr noch, den zu bezeugen, der mich erlöst hat, und nicht einen konventionellen, blutleeren Gott. Der Gott und Vater Jesu Christi ist ein den Menschen radikal einforderndes, oft erschauderndes Geheimnis. Dieses Buch versteht sich daher in erster Linie als Zeugnis, das eine möglichst verständliche Karte zu sein versucht, die zeigt, wie man aus der Bequemlichkeit unseres Gottesverhältnisses herauskommen und dem wilden Gott begegnen kann. Wer tiefschürfende Theologie sucht, eine komplette Dogmatik oder philosophische Antworten, wird sie hier nicht finden, obwohl ich mich bemüht habe, meine Ideen intellektuell redlich darzustellen. Es ist aber eben auch kein »Gefühlsbuch« – ein Genre, dem ich noch nie etwas abgewinnen konnte. Vielmehr zeigt es, dass Gefühle nicht der Schlüssel zum Glauben sein können und dürfen. Alle Karten sind dazu da, Orientierung für das aktive Gehen oder Fahren zu bieten, so auch dieses Buch. Es will zur Begegnung mit Gott führen und nicht nur über ihn reden. Am Ende werden die Leser hoffentlich erkennen, dass Gott viel zu großartig ist, um gezähmt zu werden, und was wir verpassen, wenn wir ihm die Chance verweigern, unser Leben zu durchdringen.

2. Der Gott der Schöpfung

Ich ließ meine kleine Heimatstadt Straubing hinter mir, um in München Philosophie und Theologie zu studieren. Wie viele Studierende fragte ich mich, wer ich denn eigentlich sei und welcher Lebensweg für mich der richtige wäre. Ich versuchte, Gott besser zu verstehen und seinen Plan für mich zu entdecken. Glücklicherweise waren viele meiner Professoren Jesuiten – gerade das Studium an der Hochschule für Philosophie der Jesuiten hat mich tief geprägt … Einer meiner Professoren empfahl mir die Lektüre von Erich Fromm, einem atheistischen Psychoanalytiker mit jüdischen Wurzeln, und insbesondere dessen Buch Haben oder Sein.1 Fromm hat mich zutiefst erschüttert und geradezu aufgeweckt aus einem Schlummer der Selbstzufriedenheit und Selbstzentriertheit meiner Ideen über Gott.

Nach Fromm gibt es zwei Arten menschlicher Existenz, nämlich die des »Habens« und die des »Seins«. Diejenigen, die sich auf das »Haben« versteifen, wollen Dinge, wie Urlaube, gutes Essen, Gesundheit und betrachten die Welt als großen Kaufladen, aus dem man sich nimmt, was man sich wünscht. Diejenigen aber, die sich auf das »Sein« konzentrieren, entwickeln ihre geistige und geistliche Sphäre weiter, ihre innere Seinstiefe, und streben nach einer aufrichtigen Verbundenheit mit der Welt.

Der Modus des »Seins« motiviert uns, die Selbstzentriertheit aufzugeben und zu aktiven Menschen mit einem wahren Ich zu werden, anstatt konsumierende Maschinen zu bleiben. Ich erkannte, wie sehr ich versucht war, am »Haben« festzuhalten, am konventionellen Leben, am Anhäufen von Dingen, was mir auch schlagartig zu Bewusstsein brachte, dass ich Gott oft primär nur als jemanden betrachtet hatte, der mir hilft, das zu erreichen, was ich gerade wollte. Fromms Buch weckte mich auf und brachte mich auf den Pfad, dem wirklichen Gott zu begegnen, der nie langweilig, aber auch nie bequem war.

Der Realismus der Schöpfung

Fromm ermutigte mich, das Sein zu entdecken. Das war gar nicht so abstrakt, wie es klingt, sondern vermengt mit praktischer Anleitung, wie etwa auf meine eigene Existenz zu achten und mir meines Lebens in der Welt, in der Schöpfung, bewusst zu werden.

Die Reise zu Gott beginnt oftmals mit der Schöpfung, von der wir nur ein Teil sind. Selbst säkulare Umweltaktivisten teilen mit Gläubigen den Wert der Natur und die Verbundenheit der Menschen mit der Natur. Aber der christliche Glaube geht noch weiter. Er ist sogar noch viel radikaler: Wir sind Teil des Kosmos und erfahren unsere Verbundenheit miteinander und mit uns nur in der Schöpfung. Ohne sie sind wir nur zu ganz wenigen Erfahrungen fähig. Wir existieren nach christlicher Tradition in einer Hierarchie des Seins, einer Seinsordnung, in der das Niedrige auf das Höhere, das Materielle auf das Spirituelle abzielt. In der menschlichen Person erzielt die Materie einen neuen Höhepunkt, weil die Person Bewusstsein und eine Seele besitzt. Dadurch soll uns aber auch niemals abhandenkommen, dass wir gegenüber der Natur Verpflichtungen haben, weil wir von ihr abstammen und nie befugt sind, sie zu zerstören oder zu missbrauchen.

Unser Leib ist für uns als Personen etwas anderes als der Körper für ein Tier. Jedes Tier begegnet der Welt als etwas, das seine Bedürfnisse stillt: Eine Katze sieht ihren Besitzer, der ihr Futter gibt; ein Hase nimmt einen Paarungspartner wahr … Als Mensch aber bin ich fähig, eine einigermaßen faire und sachliche Beziehung zu dieser Welt zu entwickeln (absolute Sachlichkeit ist etwas für Gott und die Engel!).2 Ich kann meine Wünsche und Bedürfnisse und Erwartungen einklammern, und die Wirklichkeit um ihrer selbst willen betrachten. Ich sehe den Baum als Baum, nur um seinetwillen, während das Tier, soweit wir wissen, ihn nur unter dem Gesichtspunkt sieht, wie er zu seinem Überleben dient. Ich kann etwa auch über die Natur der Sexualität nachdenken, anstatt in ihr nur das sexuelle Bedürfnis für mich zu sehen. Diese Art des Denkens gibt mir Einsichten in das Wesen der Dinge und führt mich dazu, die Seinsordnung der Natur zu erkennen.

Der heilige Thomas von Aquin lehrte, dass der Kern allen Wissens wirklich in der »Teilhabe« bestehe. Ich kann an etwas aber nur teilnehmen, indem ich mich diesem zur Verfügung stelle und etwas für mich annehme. Wenn wir die Natur betrachten, wie sie ist, und nicht unsere eigenen Erwartungen auf sie projizieren, dann werden wir überrascht werden von der beeindruckenden Schönheit der Wirklichkeit. Leider hindert aber viel in unserem Leben und insbesondere in der Gesellschaft unsere Fähigkeit, die Welt so zu sehen.

Viele Menschen bauen Konventionen auf, d. h. ­gesellschaftliche Übereinkünfte, die uns daran hindern, die Wirklichkeit zu sehen. Sie untergraben etwa die Einsicht, es gebe so etwas wie ein »Wesen« oder eine »Natur« der Dinge, die wir mit der Vernunft erfassen können. Besonders postmoderne Philosophen und Theologen haben sich seit den 1960ern am Abriss der Wesenseinsicht beteiligt. Sie gaukeln vor, die Natur des Menschen oder der Sexualität lasse sich nicht erschauen, weil jeder etwas anderes sehe. Allerdings haben sie zwei gravierende Fehler begangen: Diese stupiden Polemiken, die ich mir selbst an der Universität anhören musste, gehen völlig fehl, denn die traditionelle Philosophie vertritt keine vollständige Wesens-Schau, wie es ihr hier unterstellt wird – auch kein Phänomenologe würde das je tun. Die scholastischen Philosophen haben immer darauf hingewiesen, dass wir nur wenige, allgemeine Aspekte der Natur eines Dinges erfassen können, von einer allumfassenden Einsicht kann also keine Rede sein. Zweitens, wenn wir nicht zumindest einen Teil des Wesens eines Dinges erfassen können, dann können wir ein solches Ding auch nicht benennen und nicht darüber reden. Unsere Worte werden bedeutungslos, wenn die Begriffe »Wetter«, »Hund« oder »Essen« nicht ein ungefähres Wesen widerspiegeln. Wir wissen, was Wetter ist, wenn wir einen Satz bilden: »Das Wetter ist grässlich heute.« Begriffe sind, wie Thomas von Aquin einmal sagte, nur die Schatten von Dingen. Je mehr etwas erkennbar ist, desto mehr entzieht es sich unserer begrifflichen Fassung. An Gott sehen wir das am besten; wir können ihn nicht in Begriffen fassen, weil er das höchste Erkennbare ist. Oder aber auch am Sein, weil alles, was ist, schon in ihm enthalten ist. Wir kennen das Sein am besten, weil wir in ihm sind, aber ausdrücken können wir es dennoch nicht sonderlich gut.3 Wenn wir die Einsicht aufgeben, dass wir in unseren Begriffen, die denkerischer Arbeit entspringen, etwas vom Wesen der Dinge erkennen, dann geben wir auch die Idee auf, dass es eine Ordnung in der Welt gibt, die es zu entdecken und zu respektieren gilt. Erst dieses Vergessen der natürlichen Ordnung erlaubt uns, andere Menschen und die Natur rücksichtslos auszubeuten oder zu zerstören; sie werden für uns eine Ressource, um unsere Wünsche zu stillen. Das ist eine Vergewaltigung der Wirklichkeit.

Oft blockieren wir unsere Sicht auf die Wirklichkeit und ihre Ordnung durch unsere schlechten Entscheidungen und Angewohnheiten: Wenn ich etwa andauernd zu viel Alkohol trinke, dann messe ich dem Alkohol einen größeren Wert bei, als er verdient, und meine Ordnung der Wirklichkeit ist pervertiert. Oder wenn ich mich etwa kontinuierlich der Internetpornografie aussetze, dann darf es mich nicht verwundern, dass ich einen völlig verdrehten Begriff von der menschlichen Sexualität und der menschlichen Person habe. Daher müssen wir uns darüber klar werden, welche Wirklichkeitsfilter wir eigentlich besitzen, die es uns nicht erlauben, die Wirklichkeit in aller Sachlichkeit zu sehen: Die Seinsordnung und Hierarchie der Werte, was man gemeinhin Teleologie nennt. Erst dann hören wir auf, unsere Wünsche auf die Wirklichkeit zu projizieren und sie ihnen zu unterwerfen. Das ist insbesondere der Fall, wenn wir im Konsumrausch gefangen sind, im Modus des »Habens«, da wir dann andere als Dinge behandeln, als Mittel zum Zweck.

Menschliches Verhalten ist demnach ganz anders als das von Tieren, die nur ein sehr begrenztes Wissen um die Wirklichkeit haben und sie nicht als Welt für sich allein wahrnehmen; für sie ist die Welt immer in den Kontext des Überlebens eingebettet. Menschen sind gezwungen, ihre Beziehung zur Welt erst zu erarbeiten, müssen sich entscheiden, weil sie eben nicht vollständig durch Instinkte bestimmt sind. Wir sind dazu verurteilt, frei zu sein, und darin liegt eine Ähnlichkeit zu Gott. Wir sehen die Welt nämlich nicht genauso wie die Tiere, aber auch nicht wie die Engel. Vielmehr entdeckt der menschliche Verstand Ordnung im Chaos und sinnt über die Dinge um uns herum nach. In diesem umsichtigen Betrachten von allem, was ist, zeigt sich ebenso eine gottebenbildliche Qualität des Menschen.4