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"Was ist der Mensch?" Diese Frage ist so alt wie die Menschheit. Bis heute wird sie ganz unterschiedlich beantwortet. Eine abschließende Antwort kann es nicht geben. Dennoch bleibt die Frage wichtig, denn es gehört offenbar zum Wesen des Menschen, nach sich selbst zu fragen. Eine eigenständige Perspektive bringt die theologische Anthropologie in das Gespräch über den Menschen ein. Sie geht von der Beziehung des Menschen zu Gott und den Mitgeschöpfen aus und fragt von hier aus nach seinem Platz in der Welt. Ausgangspunkt ist die Bibel und was sie als Urkunde des Glaubens zum Menschen sagt. In vier Kapiteln wird dies systematisch reflektiert: Der Mensch verdankt sich dem schöpferischen Entschluss Gottes, er ist auf Beziehung hin geschaffen und kann sich selbst verfehlen und neu gewinnen. Die theologische Anthropologie steht im Kontext anderer Wissenschaften. Aktuell fordert vor allem die Neuro-Biologie heraus, neu über den Menschen nachzudenken. Die kritisch-konstruktive Auseinandersetzung mit ihren Erkenntnissen gibt den hier vorgelegten Überlegungen den Rahmen.
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Seitenzahl: 449
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Theologie elementar
Herausgegeben von
Peter MüllerSabine Pemsel-Maier
Anita Müller-Friese
Gott und Mensch
Orientierungswissen Anthropologie
Verlag W. Kohlhammer
1. Auflage 2017
Alle Rechte vorbehalten
© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Print:
ISBN 978-3-17-029668-8
E-Book-Formate:
pdf: ISBN 978-3-17-029669-5
epub: ISBN 978-3-17-029670-1
mobi: ISBN 978-3-17-029671-8
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Was ist der Mensch?' Diese Frage ist so alt wie die Menschheit. Bis heute wird sie ganz unterschiedlich beantwortet. Eine abschließende Antwort kann es nicht geben. Dennoch bleibt die Frage wichtig, denn es gehört offenbar zum Wesen des Menschen, nach sich selbst zu fragen. Eine eigenständige Perspektive bringt die theologische Anthropologie in das Gespräch über den Menschen ein. Sie geht von der Beziehung des Menschen zu Gott und den Mitgeschöpfen aus und fragt von hier aus nach seinem Platz in der Welt. Ausgangspunkt ist die Bibel und was sie als Urkunde des Glaubens zum Menschen sagt. In vier Kapiteln wird dies systematisch reflektiert: Der Mensch verdankt sich dem schöpferischen Entschluss Gottes, er ist auf Beziehung hin geschaffen und kann sich selbst verfehlen und neu gewinnen. Die theologische Anthropologie steht im Kontext anderer Wissenschaften. Aktuell fordert vor allem die Neuro-Biologie heraus, neu über den Menschen nachzudenken. Die kritisch-konstruktive Auseinandersetzung mit ihren Erkenntnissen gibt den hier vorgelegten Überlegungen den Rahmen.
Dr. Anita Müller-Friese ist Privatdozentin am Ev.-theol. Institut der PH Karlsruhe. Sie war Studienleiterin mit dem Schwerpunkt Sonderpädagogik und Inklusion im RPI Karlsruhe.
Vorwort
1. Einführung
1.1 Wer bin ich?
1.2 Es kommt auf die Perspektive an
1.3 Gott und Mensch
1.4 Zugänge
1.5 Zur Konzeption dieses Buches
2. Was ist der Mensch?
2.1 Körper und Seele – Zusammenhänge
2.1.1 Was man über den Körper sagen kann
2.1.2 Gefangen oder frei? Platon versus Aristoteles
2.1.2 … wie eine Uhr – René Descartes
2.1.3 Der Mensch als Geistwesen – Max Scheler
2.1.4 Nur noch Hirn – neurobiologische Herausforderungen
2.1.5 Was es zu klären gilt – Herausforderungen für eine theologische Anthropologie
2.2 Mensch und Mensch – Beziehungen
2.2.1 Zoon politicon – Jeder Mensch ein Politiker?
2.2.2 Der Mensch ein Rollenspieler
2.2.3 Ich und Du – Martin Buber
2.2.4 Ist Beziehung angeboren?
2.2.5 Was es zu klären gilt – Herausforderungen für eine theologische Anthropologie
2.3 Mensch und Tier – Verwandtschaften
2.3.1 Der Mensch als – von der Rolle der Vernunft
2.3.2 Der nackte Affe – entwicklungsgeschichtliche Erkenntnisse
2.3.3 Exzentrische Existenz
2.3.4 Biologisches Mängelwesen – Arnold Gehlen
2.3.5 Animal symbolicum
2.3.6 Was es zu klären gilt – Herausforderungen für eine theologische Anthropologie
2.4 Fragen nach dem Menschen – Zusammenfassende Überlegungen
Literatur zum Weiterlesen
2.5 Religionspädagogische Anregungen
3. »Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst?« Biblische Rede von Gott und Mensch
3.1 Grundlage des Lebens: Vertrauen und Glaube
3.2 Freiheit und Bindung gehören zusammen
3.3 Orientierung für ein Leben aus Liebe
3.4 Leben als Geschöpf und Bild Gottes
3.5 Leben in der Hinwendung zu Gott
3.6 Leben mit Grenzen und Zweifeln
3.7 Jesus Christus, der Mensch Gottes
3.8 Gelingendes und verfehltes Leben
3.9 Leben auf Hoffnung
3.10 Mensch und Gott, Bilder und Begriffe
3.11 Vielfalt und Einheit – Zusammenfassende Thesen
Literatur zum Weiterlesen
3.12 Religionspädagogische Anregungen
4. Gott und Menschsystematische Überlegungen
4.1 Der Mensch als Geschöpf Gottes
4.1.1 Wertvoll und unverwechselbar – von Gott gewollt
4.1.2 Körper und Seele, wie gehört das zusammen?
4.1.3 Begrenzt und verletzlich – so ist das Leben
4.1.4 Ende und Anfang – Leben auf Hoffnung
4.1.5 Zusammenfassende Thesen
Literatur zum Weiterlesen
4.1.6 Religionspädagogische Anregungen
4.2 Menschsein nach dem Bild Gottes
4.2.1 Zwei Wörter und ihre Wirkung
4.2.2 Nachdenken über den Menschen (Eine Zwischenbemerkung)
4.2.3 Alle Menschen sind Personen
4.2.4 Vernunft und Geist
4.2.5 Würde oder Wert?
4.2.6 Auftrag
4.2.7 Zusammenfassende Thesen
Literatur zum Weiterlesen
4.2.8 Religionspädagogische Anregungen
4.3 Menschen sind auf Beziehung aus
4.3.1 Gleichheit und Differenz – Theologische Überlegungen
4.3.2 Gleichheit und Differenz in der Inklusionsdebatte
4.3.3 Sprache und Verständigung
4.3.4 Autonomie und Abhängigkeit
4.3.5 Zusammenfassende Thesen
Literatur zum Weiterlesen
4.3.6 Religionspädagogische Anregungen
4.4 Der Mensch kann sich verfehlen – Sünde und Rechtfertigung
4.4.1 Was ist Sünde?
4.4.2 Kann man Sünde erben?
4.4.3 Wie frei ist der Mensch?
4.4.4 Rechtfertigung
4.4.5 Zusammenfassende Thesen
Literatur zum Weiterlesen
4.4.6 Religionspädagogische Anregungen
5. Einladung zum Dialog
5.1 Exemplarische Problemfelder
5.2 Positionen
5.3 Was ist der Mensch? – Eine Glaubensfrage
5.4 Was ist der Mensch – wer bin ich?
Literaturverzeichnis
Register
Das vorliegende Buch »Gott und Mensch« gehört in die Reihe »Theologie elementar.« Diese Reihe richtet sich an Studierende der Theologie und Religionspädagogik sowie Unterrichtende aller Schularten und will in zentrale Themen der Theologie einführen.
Entsprechend der Konzeption der Reihe1 wird Gott als das »Hauptwort der Theologie« in diesem Band unter der Perspektive der Beziehung Gottes zu dem/den Menschen thematisiert.
Die Frage des Menschen nach sich selbst ist so alt wie die Menschheit. Sie wird bis heute auf verschiedenen Ebenen und in vielen wissenschaftlichen Disziplinen gestellt und unterschiedlich beantwortet. Trotz aller Antworten kommt sie aber nie wirklich zu einem Ende: Es gehört zum Wesen des Menschen nach sich selbst zu fragen.
Der Schwerpunkt dieses Buches liegt auf der theologischen Frage: In welchem Verhältnis sind Gott und Mensch zu denken? Was bedeutet es für das Verständnis des Menschen von sich selbst, wenn er sich in Beziehung zu Gott sieht?
Das theologische Nachdenken ist natürlich nicht der einzige Weg, die Frage des Menschen nach sich selbst zu stellen. Gerade in der heutigen Zeit gibt es viele Stimmen, die Anspruch auf eigene Antworten erheben. Einige dieser Stimmen sollen auch in diesem Buch aufgenommen werden. Sie bilden den Kontext, in dem eine theologische Anthropologie ihren Beitrag beschreiben kann und muss. Dabei geht es weniger um Konkurrenz, als um Dialog, gegenseitige Anregung und auch kritisches Infragestellen.
Mit der Zielgruppe dieses Buches (Lehramtsstudierende, Unterrichtende) sind indirekt auch deren berufliche Adressaten im Blick, die Schülerinnen und Schüler. Eine Lebensaufgabe (besonders) für heranwachsende Menschen ist es, sich in der Vielstimmigkeit divergierender Sinnangebote zurechtzufinden und einen eigenen Weg zu finden. Es ist das Anliegen dieses Buches, den Beitrag christlich-theologischer Anthropologie zu formulieren und damit ein Orientierungsangebot zu machen. Darauf zielen nicht zuletzt die religionspädagogischen Anregungen in den einzelnen Kapiteln. Nähere Hinweise zur Konzeption und zum Aufbau des Buches finden sich in der Einleitung (vgl. Kapitel 1.5).
Die Reihe, in der dieses Buch erscheint, ist ökumenisch ausgerichtet. Im Verlauf der Darstellung werden darum auch konfessionelle Unterschiede erkennbar. Die Gemeinsamkeiten stehen aber deutlich im Vordergrund.
Das Buch hat einen systematisch-theologischen Schwerpunkt. Es geht also in erster Linie um die Frage des Menschen nach sich selbst und seiner Beziehung zu Gott. Dabei kommen immer auch ethische Fragen in den Blick. Diese Themen können hier benannt, aber nicht mit der gebotenen Ausführlichkeit behandelt werden. Das muss einer eigenen Veröffentlichung vorbehalten bleiben.
Ein weiterer Band dieser Reihe mit dem Thema »Gott und das Leben«2 hängt auch eng mit dem Schwerpunkt dieses Buches zusammen, hat aber stärker die Entwicklung des Gottesglaubens bei Kindern und Jugendlichen und die Bedeutung des Glaubens an Gott im Vollzug des Lebens im Blick. Auch diese Themen können im vorliegenden Buch allenfalls angedeutet werden. Beide Bände ergänzen sich deshalb. Weil der andere Band von einem katholischen Theologen verantwortet wird, ist auch in ökumenischer Perspektive Vielfalt gewährleistet.
Ein Buch wie das vorliegende entsteht nicht im Alleingang. Darum ist es mir ein Anliegen, einigen Menschen zu danken, von denen ich Unterstützung erfahren habe. Ich danke meinem katholischen Kollegen, Prof. Dr. Lothar Kuld, für die kritische und konstruktive Lektüre des Manuskripts, ebenfalls für hilfreiche Ergänzungen und Hinweise aus katholischer Perspektive. Mein Mann, Prof. Dr. Peter Müller, war mir in Bezug auf die Konzeption des Buches ein kritisch-gewogener Berater und Begleiter. Während der Arbeit an diesem Buch hat er mich geduldig und liebevoll unterstützt. Mein langjähriger Kollege PD Dr. Wolfhard Schweiker hat das ganze Manuskript gelesen und stand mir vor allem beim Thema Inklusion beratend zur Seite.
Natalie Drescher hat die mühevolle Arbeit des Korrekturlesens übernommen und Bärbel Herold die Überarbeitung des Literaturverzeichnisses. Beiden danke ich herzlich.
Studierende der PH Karlsruhe haben den Beginn der Arbeit an diesem Buch in einem Seminar begleitet und mir durch ihre Fragen und Kommentare wertvolle Anregungen gegeben.
Mein Personalausweis gibt Auskunft über mich. Er zeigt ein mehr oder weniger gelungenes Bild. Er nennt meinen Namen, mein Geburtsdatum, Geburts- und Wohnort, Nationalität, Körpergröße und Augenfarbe und enthält ein paar wichtige Daten zu meiner Identifizierung. Bin ich das?
Abb. 1: Personalausweis3
Natürlich, aber ich bin noch viel mehr: Zu mir gehören zum Beispiel meine Familie und meine Freunde, mein Beruf und meine Hobbys, meine Eigenschaften, Fähigkeiten und Begabungen ebenso wie meine Grenzen, mein Glaube und meine Lebensgeschichte.
Rückblickend auf mein bisheriges Leben kann ich fragen: Wie bin ich zu der Frau geworden, die ich heute bin? Wer oder was hat mich geprägt, bewusst oder unbewusst, zum Guten oder zum Schlechten?
Im Blick auf meine gegenwärtige Situation lauten einige Fragen vielleicht: In welchen Beziehungen stehe ich? Wie beschreibe ich die Beziehung zu mir selbst, zum Lebenspartner, zu Freunden, zu Menschen meiner näheren und weiteren Umgebung? Was ist mein Beruf und welche Rolle spiele ich dabei? Welche Haltungen habe ich in gesellschaftlichen und politischen Fragen, wo engagiere ich mich und warum (oder auch nicht)? Und was bedeutet mein Glaube für die Gestaltung meines Lebens?
Bezogen auf die Zeit, die vor mir liegt, stellen sich wieder andere Fragen: Was will ich (noch) erreichen, wie werde ich mein Leben gestalten, was kommt mit/nach meinem Ende? Und im Blick auf mein Leben insgesamt frage ich möglicherweise: Warum bin ich überhaupt auf der Welt? Was ist der Sinn meines Lebens? Wer bin ich? und: Wer kann mir diese Frage beantworten?
Diese Überlegungen über mich selbst, meine Person und mein Leben sind ein persönlicher Zugang zur Anthropologie, und wahrscheinlich ein wichtiges Motiv für alle weiteren Fragen.
Schon hier wird erkennbar: Die Frage eines Menschen nach sich selbst ist vielschichtig – äußerliche Merkmale, körperliche Gestalt, innere Einstellungen, Werte und Normen, Religion, Beziehungen, Lebensgeschichte und auch die Herkunft – all das und noch mehr machen (m)eine Person aus.
Lautet die Frage aber »Was ist der Mensch?«, gibt der Blick auf eine konkrete Person allein noch keine ausreichende Antwort.
Menschen fragen nach sich selbst und finden dabei unterschiedliche, teilweise auch widersprüchliche Antworten. Sie hängen von dem Interesse und der Blickrichtung der Fragenden ab und werden von den gewählten methodischen Zugängen geprägt. Das 2009 erschienene »Handbuch Anthropologie«4 beschreibt 23 (!) verschiedene Ansätze aus unterschiedlichen Wissenschaftsrichtungen, die alle etwas über den Menschen herausgefunden haben. Es sind z. B. natur-, rechts-, geistes-, kultur-, und sozialwissenschaftliche Erkenntnisse oder philosophische, pädagogische und theologische Einsichten. Forschungsrichtungen wie die Evolutionspsychologie oder Soziobiologie zeigen, dass gegenwärtig zunehmend versucht wird, interdisziplinär zusammen zu arbeiten. Die Ergebnisse der Kulturanthropologie und der historischen Anthropologie verweisen über die Vielfalt und Wandelbarkeit anthropologischer Phänomene hinaus auf die Geschichtlichkeit, Kulturabhängigkeit und damit auch die Relativität aller Theorien über den Menschen. Das Nachdenken über den Menschen ist, wie der Mensch selbst, geschichtlich und kulturell bedingt. Der Philosoph Hans Lenk beschreibt darum den Menschen als »das flexible Vielfachwesen.«5 Richard Precht macht mit dem Titel seiner Einführung in die Philosophie auf die Verwirrung aufmerksam, die mit der Vielfalt verbunden sein kann: »Wer bin ich und wenn ja, wie viele?«6
Aus der Vielfalt der Antwortversuche lässt sich folgern, dass es die Antwort auf die Frage nach dem Menschen bisher offensichtlich nicht gibt, wohl auch in Zukunft nicht geben wird und vielleicht auch nicht geben kann. Soll man also auf die Frage ganz verzichten? Diese Möglichkeit liegt nahe, sie lässt sich aber nicht verwirklichen. Seit es Menschen gibt, taucht die Frage immer wieder auf, sie gehört offensichtlich zum Menschen und zum Menschsein dazu. Es ist ein Wesenszug des Menschen, nach sich selbst zu fragen. Jürgen Moltmann behauptet sogar: Der Mensch muss sich kennen, um zu leben und sich für andere erkennbar zu machen. Er muss sich zugleich verborgen bleiben, um am Leben und in Freiheit zu bleiben. »Könnte er feststellen, was mit ihm los ist, wäre gar nichts mehr mit ihm los, alles wäre festgestellt und gebunden, und er wäre am Ende. Das ›aufgelöste Rätsel‹ des Menschen wäre dann zugleich die endgültige Erledigung des Menschseins.«7
Das Dilemma beim Versuch, das Rätsel Mensch zu lösen, lässt sich besser verstehen, wenn man sich vor Augen führt, dass der/die Fragende und der »Gegenstand« der Frage identisch sind. Wer nach dem Menschen fragt, fragt ja immer auch nach sich selbst, wird sich selbst zur Frage und zum Forschungsgegenstand, er ist also Subjekt und Objekt des Fragens zugleich. Als Subjekt erforsche ich den Menschen, also auch mich selbst. Und was über den Menschen herausgefunden wird, ist immer auch eine Aussage über mich als die Fragende. Damit ist klar, dass es kein distanziertes Nachdenken und Forschen über den Menschen geben kann. Den dafür nötigen Abstand zwischen dem Forscher und seinem Forschungsgegenstand kann es in Bezug auf den Menschen nur eingeschränkt geben. Weil das so ist, kann es die eine richtige endgültige Antwort nicht geben. Das ist wichtig, denn Antworten klären, sie legen aber auch fest und engen ein. Jeder Versuch, normativ und dogmatisch zu definieren, was oder wer der Mensch ist, führt zu Festlegungen und damit Ausgrenzungen und Aussonderungen. Die Offenheit und das »Geheimnis Mensch« gilt es zu wahren um des Menschen willen.
Mit der Vielfalt und der Bedingtheit der Aussagen über den Menschen ist es ein wenig wie bei der bekannten Fabel von den Blinden und dem Elefanten – je nach Standort entdecken die Einzelnen mit tastenden Versuchen Unterschiedliches. Wenn dabei eine Sichtweise verabsolutiert wird, kann selbst eine an sich richtige Aussage falsch werden. Jeder Ansatz, den Menschen zu verstehen, hat also zugleich eine eigene Berechtigung und eigene Grenzen. Keiner darf absolut gesetzt werden, Austausch und Dialog ist gefordert. Die je spezifische Perspektive kann und muss so durch die Hinsichten der anderen Zugänge ergänzt werden.
Erforscht man den Menschen z. B. mit naturwissenschaftlichen Methoden, wird man alles das über ihn herausfinden, was mit diesen Methoden empirisch messbar und nachprüfbar ist, nicht mehr und nicht weniger. Neue Möglichkeiten der Forschung ergeben auch neue Erkenntnisse – und werfen neue Fragen auf. Das zeigt gegenwärtig insbesondere die Neurobiologie.
Sozialwissenschaftlich geprägte Untersuchungen ermöglichen mit ihren spezifischen Forschungsmethoden Einsichten über die gesellschaftlichen und kulturellen Prägungen von Menschen in ihrem jeweiligen Lebensumfeld.
Die philosophische Perspektive dagegen stellt die Frage nach dem Wesen des Menschen. Dabei helfen Erfahrungen, lange Traditionen des Nachdenkens und die Voraussetzung, dass ihre Aussagen rational formuliert und begründet werden müssen. Sollen sie auf allgemeines Einverständnis stoßen, müssen sie für alle nachvollziehbar sein.
In diesem vielstimmigen, vielseitigen und vielschichtigen Zusammenhang steht auch das theologische Nachdenken über den Menschen, das im Mittelpunkt dieses Buches steht. Was ist das Besondere daran, was unterscheidet diese Perspektive von anderen Zugängen und in welchen Beziehungen stehen sie zueinander?
Theo-logisch – in diesem Wort steckt ein wichtiger Hinweis auf die Perspektive: Theologie ist nachdenkende Rede über Gott. Sie gewinnt dabei auch Erkenntnisse über den Menschen. Theologie geht davon aus, dass alle Rede vom Menschen ohne die Beziehung zu Gott unvollständig ist. Umgekehrt ist auch von Gott nur aus der Perspektive des Menschen zu reden. Insbesondere christliche Theologie setzt diese gegenseitige Verbindung voraus. Wolfgang Schoberth sieht darin einen »Grundzug theologisch sachgemäßer Rede vom Menschen: Sie definiert den Menschen nicht anhand bestimmter und bestimmbarer Eigenschaften, sondern dadurch, dass Gott ihn von Anbeginn der Schöpfung als Partner erwählt hat, wie dies in der Erwählung Israels und in dem Menschen Jesus Christus offenbar wird.«8 Theologische Anthropologie sucht also nicht nach einer formalen Definition des Menschen. Sie geht aus von der Beziehung des Menschen zu Gott und den Mitgeschöpfen und fragt nach seinem Platz in Gottes Werk. Gott als Schöpfer gibt dem Menschen das Leben und sichert ihm seine Zuwendung zu: Der Mensch ist von Gott gerufen und beauftragt. Diese elementare Prämisse theologischer Anthropologie beschreibt damit eine spezifische Blickrichtung auf den Menschen, die besondere Einsichten ermöglicht. Darauf will der Titel dieses Buches aufmerksam machen: »Gott und der Mensch.«
Gegenwärtig setzt sich gegenüber einem religiös begründeten Verständnis von Mensch und Welt mehr und mehr eine Sichtweise durch, die die Welt und den Menschen auf der Grundlage empirischer Forschung und ihrer Ergebnisse zu erklären versucht. Der christliche Glaube erscheint demgegenüber als unvernünftig, manchen sogar als wissenschaftsfeindlich. Eine theologische Anthropologie muss sich mit dieser Einschätzung auseinandersetzen und darauf reagieren. Dafür gibt es in der aktuellen Theologie unterschiedliche Ansätze. Die Herausforderung wird erkannt, die theologischen Einsichten in Auseinandersetzung mit und Positionierung gegenüber philosophischen, naturwissenschaftlichen und anderen Beschreibungen des Menschen und ihren Ansprüchen darzulegen. Dabei setzen die einzelnen Autoren unterschiedliche Akzente. Für alle gilt aber die oben dargelegte Voraussetzung: Theologisches Reden vom und über den Menschen geht von Gott aus und handelt von seinem Wirken in der Welt. Weil Gottes Handeln sich aber auf den Menschen richtet und auf ihn ausgerichtet ist, ist jede Rede von Gott immer auch zugleich Rede vom Menschen.
Wolfhard Pannenberg hat im Jahr 1983 eine »Anthropologie in theologischer Perspektive« als »fundamentaltheologische Anthropologie« vorgelegt.9 Sein Anliegen ist es, die Wahrheit des christlichen Glaubens aufzuweisen, und zwar unter den Verstehensvoraussetzungen der Gegenwart. Er will die Diskrepanz zwischen theologischer und allgemeiner Anthropologie verringern und die Unterschiedlichkeit der Perspektiven überbrücken. Der traditionellen dogmatischen Anthropologie wirft er vor, dass sie »die Wirklichkeit Gottes schon voraussetzt.« Damit verschenke sie die »Möglichkeit, auf der Ebene der anthropologischen Befunde mitzudiskutieren, auf der göttliche Wirklichkeit bestenfalls als problematischer Bezugspunkt menschlichen Verhalten, nicht aber apodiktisch als dogmatische Behauptung eingeführt werden kann.«10 Pannenberg schließt dagegen ausdrücklich und absichtlich an anthropologische Überlegungen in der Philosophie an und »wendet sich den Phänomenen des Menschseins zu, wie sie von der Humanbiologie, der Psychologie, Kulturanthropologie oder Soziologie untersucht werden, um die Aufstellungen dieser Disziplinen auf ihre religiösen und theologisch relevanten Implikationen zu befragen.«11 In den zeitgenössischen anthropologischen Entwürfen der Sozialwissenschaften, der Biologie und Philosophie entdeckt er Anknüpfungspunkte für die theologische Frage nach Gott und Mensch. Er will z. B. zeigen, dass der Gedanke der Weltoffenheit letztlich auf eine Gottoffenheit hinaus läuft. Seine These ist: »Die Frage des Menschen nach sich selber und die Frage nach der göttlichen Wirklichkeit gehören zusammen.«12 Mit diesem Ansatz will er die christliche Wahrheit diskursfähig machen und nachweisen, dass allgemeine anthropologische Fragestellungen und Erkenntnisse zwangsläufig auf eine religiöse Thematik und die Frage nach Gott hinauslaufen. Die Aussagen christlicher Anthropologie, beispielsweise die Gedanken der Gottebenbildlichkeit und Sünde, sollen so für den Wissenschaftsdiskurs anschlussfähig werden. Er verfolgt damit ein hermeneutisches Interesse, das schon biblischen Texten zugrunde liegt: Die Botschaft des Glaubens so auszusagen, dass sie in der konkreten Situation gehört und verstanden werden kann.
In der evangelischen Theologie ist Pannenbergs Ansatz eher solitär geblieben. Ihm wird vor allem vorgehalten, dass er den Anspruch, die wissenschaftliche Anthropologie in ihrer Vielfalt und Vielschichtigkeit in das theologische Nachdenken einzubinden, nicht einlösen konnte. Darüber hinaus ist zu fragen, ob auf diese Weise die Eigenart theologischer Anthropologie angemessen zur Sprache kommen und über einen allgemeinen Gottesbezug des Menschen hinausgelangen kann. Pannenbergs Ansatz »steht für einen Typus von Anthropologie, der sie vor allem zur Verteidigung und Erläuterung der Rede von Gott überhaupt einsetzt, also in apologetischer Funktion.«13 Die Konkretheit biblischer Rede von Gott kann Pannenberg mit seiner Anthropologie nicht erreichen, da er notgedrungen von seinem Ansatz her abstrakt und allgemein über Gott und Mensch reden muss.
Die Anthropologie Karl Rahners ist dem Ansatz Pannenbergs in dem Sinne vergleichbar, dass auch bei ihm ein apologetisches Interesse zu bemerken ist. Mit seiner Forderung, dass »die dogmatische Theologie heute theologische Anthropologie sein muss,«14 hat Rahner in der katholischen Theologie die Wende zur Anthropologie eingeläutet. Sein »Grundkurs des Glaubens« stellt den Menschen als »Hörer der Botschaft« und »vor dem absoluten Geheimnis« (Gott) stehend dar. Der Mensch wird weiter als »Wesen der radikalen Schuldbedrohtheit« und als »das Ereignis der freien, vergebenden Selbstmitteilung Gottes«15 beschrieben. Ähnlich wie Pannenberg geht Rahner mit der allgemeinen Anthropologie von der Erkenntnis aus, dass der Mensch über sich selbst hinaus fragt, fragen muss und damit zwangsläufig an die Gottesfrage stößt. Der Mensch erfährt sich als »Wesen der Transzendenz«16, als Fragender, der im Fragen auf das »Sein« vorgreift. »Wo immer der Mensch sich in seiner Transzendenz als der Fragende erfährt,« erkennt er sich zugleich als Empfangender »im Sinn der Seinsempfängnis, letztlich der Gnade.«17 Diese transzendentale Erfahrung kann inhaltlich nur durch die Offenbarung des Wortes Gottes in Jesus Christus gefüllt werden. Der Mensch sucht über sich hinaus nach dem Grund seiner Existenz. Das Suchen aber ist von Gott bewegt, der zugleich das Ziel und die Antwort auf die Fragen des Menschen ist.
Ein umfangreiches Werk zur theologischen Anthropologie hat der katholische Theologe Thomas Pröpper im Jahr 2011 vorgelegt. Er geht zunächst auf die philosophischen Versuche der Neuzeit ein, die Frage des Menschen nach sich selbst zu beantworten. Ebenso wie die Naturwissenschaften können auch sie den Menschen nicht definieren. Sie zeigen aber, dass die Gottesfrage zu einem Thema der menschlichen Verständigung über sich selbst wird. An diesem Punkt setzt Pröpper an und entwickelt sein Menschenbild aus dem Gedanken der Freiheit heraus: Gott hat sich in Freiheit dazu bestimmt, sich von der Freiheit des Menschen bestimmen zu lassen. Er ist ein Gott, der den Menschen von Anfang an als Partner erwählt hat. Er achtet dessen Freiheit auch dann noch, wenn der Mensch eigene Wege geht und sich dem Angebot der Liebe Gottes widersetzt. »Nur ein freies Geschöpf (sc. kann) seinen Gott als Gott anerkennen,« nur einem freien Geschöpf kann Gott »das Höchste: in seiner Liebe sich selbst schenken.« Diese Mitteilung der Liebe aber schließt, »um in der menschlichen Zustimmung zum Ziel kommen zu können, auch Gottes Achtung der menschlichen Freiheit ein.«18
In seiner ebenfalls 2011 erschienenen Schrift »Das verborgene Leben« legt Gerhard Sauter eine theologische Anthropologie vor, die im Gegensatz zu Pannenberg steht und sich auch von Rahner unterscheidet. Er versteht seine Arbeit als »Rechenschaft darüber, wie Menschen sich selbst wahrnehmen: als von Gott gerufen, von seinem Handeln erfasst und, wenn sie darauf zu antworten versuchen, vor neue Fragen gestellt.«19 Theologische Anthropologie »erwächst aus dem Staunen darüber, dass Gott Menschen ins Leben rief, was er ihnen anvertraute, wessen er sie würdigte, wie er sie immer wieder aus ihren eingefahrenen Lebensweisen herausruft und wie er sie sich gegenüber stellt, gerade auch durch andere Menschen.«20 Es geht Sauter also nicht darum, von der Reflexion des Menschen über sich selbst zu Gott zu gelangen. Umgekehrt versteht er den Menschen als von Gott gerufen. Er gerät dadurch, dass er nach Gott fragt, in eine Distanz zu sich selbst. Sauter lenkt die Frage »Wer sind wir wirklich?« darauf, »wie Gott uns Menschen ansieht, wessen er uns würdigt und was er uns zusagt.«21 Mit diesem Ansatz steht Sauter in der Tradition von Ps 8 und Martin Luther: Es geht nicht um den Menschen, wie er sich aus eigener Reflexion verstehen und begreifen kann, sondern um den Menschen vor Gott, der von ihm gerufen und zur Antwort befähigt ist. Seine Anthropologie ist von diesem Ausgangspunkt geprägt. Er beginnt mit dem Staunen über Gottes Zuwendung zum Menschen und verfolgt diese gleichsam lebensgeschichtlich von der Geburt bis zum Tod. Erst im letzten Kapitel, quasi als Anhang, beschäftigt Sauter sich mit der Frage nach dem Verhältnis von Theologie und allgemeiner Anthropologie.
Schon 2002 hat Christoph Schwöbel in 12 Thesen zum Menschen den Glauben als eine Grundorientierung des menschlichen Lebens beschrieben. Der Glaube stellt »den Interpretationsrahmen für die Darstellung eines sachgerechten Verständnisses des Menschseins bereit.«22 Für Schwöbel ist die Offenbarung Gottes in Christus die Basis für die Erfassung der Bedeutung des Menschseins.23 Von Christus her lässt sich erkennen und verstehen, wer oder was der Mensch ist, nicht durch Erforschung seiner faktischen Existenz (wie es empirische und auch philosophische Zugänge versuchen). Anders als Pannenberg behauptet Schwöbel: »Angemessene und vollständige Erkenntnis der Bedeutung des Menschseins (sc. kann) weder an den empirischen Befunden der verschiedenen sich mit anthropologischen Themen befassenden Wissenschaften abgelesen noch vom reflexiven Charakter des menschlichen Selbstbewusstseins abgeleitet werden.«24 Vielmehr ist die »angemessene Erkenntnis des Menschseins von Gottes Beziehung zur Menschheit in der Offenbarung abhängig.« Darum kann es weder darum gehen, anthropologische Theorien theologisch zu interpretieren noch sie als Grundlage für theologisches Nachdenken zu verstehen. Schwöbel betont, »das Verhältnis der theologischen Anthropologie zu nicht-theologischen Anthropologien (sc. sollte) nicht im Sinne der Ausrichtung auf eine mögliche (theologische) Synthese verstanden werden, sondern als dialogische Beziehung.«
Ähnlich argumentiert Wolfgang Schobert. Das Thema seiner »Einführung in die theologische Anthropologie« ist die Suche nach dem Ort, an den eine theologische Anthropologie gehört. Sie braucht »die Fähigkeit zum Diskurs mit den heterogenen Vorstellungen vom Menschsein, wie sie gesellschaftlich, kulturell, aber auch wissenschaftlich begegnen.« Damit ist nicht gemeint, »dass sich die theologische Rede vom Menschen an das anpasst, was gegenwärtig als plausibel erscheinen mag.«25 Es geht aber auch nicht um einen Alleinvertretungsanspruch. Der Beitrag der Theologie zum allgemeinen Nachdenken über den Menschen ist vielmehr so zu beschreiben, dass er verstanden werden kann. Gleichzeitig soll erkennbar werden, dass die theologische Stimme unverzichtbar und unersetzbar ist. »Die Aufgabe der theologischen Anthropologie ist die Entfaltung und Reflexion einer genuinen Rede vom Menschen, die sich durch wissenschaftliche und philosophische Anthropologien anregen lässt und ihre Impulse aufnimmt, dabei aber auch durchaus kritisch und konfrontativ gegen anthropologische Ansprüche argumentiert.«26
Dieser Aufgabe will auch das vorliegende Buch nachgehen. Den Überlegungen Sauters und Schoberths folgend, ist der Ausgangspunkt meiner Überlegungen die Beziehung Gottes zum Menschen. Sie ist die Voraussetzung theologischen Redens über den Menschen. Dieses Nachdenken zum Menschen geschieht aber stets im Kontext anderer Wissenschaften. Es bringt sich dialogisch in die Stimmen- und Perspektivenvielfalt gegenwärtigen Reflektierens über den Menschen ein. Darum handelt das zweite Kapitel von diesem Kontext. Es beginnt mit drei Fragen, die seit der Antike das Nachdenken bestimmen und auch in der aktuellen Diskussion um den Menschen von Bedeutung sind: Wie ist das Verhältnis von Körper und Seele zu verstehen? Wie lässt sich die Beziehung des Menschen zu sich selbst und zu anderen Menschen beschreiben? Was unterscheidet den Menschen vom Tier? Dabei kommen Aspekte aus unterschiedlichen Forschungsrichtungen und Denktraditionen in den Blick, die Anregungen zum Weiterdenken bieten. Diese Anstöße werden dann im theologischen Teil wieder aufgenommen (Kapitel vier).
Christliche Theologie bezieht sich auf die Bibel als Ur-Kunde des Glaubens. In den biblischen Schriften sind wichtige Aussagen über den Menschen zu finden, die richtungsweisend für theologische Überlegungen sind. Darum geht Kapitel drei den vielfältigen Geschichten von der Beziehung zwischen Gott und Mensch nach.
Im Kapitel vier, dem Hauptteil des Buches, werden dann einige dieser Aspekte systematisch-theologisch reflektiert: Der Mensch verdankt sich dem schöpferischen Entschluss Gottes (Leben als Geschöpf und Ebenbild), er ist auf Beziehung hin geschaffen (Menschen sind auf Beziehung aus) und kann sich selbst verfehlen und neu gewinnen (Der Mensch kann sich verfehlen). Das Gespräch mit der theologischen Tradition wird dabei ansatzweise und begrenzt geführt. Es geht nicht um einen Überblick über die theologiegeschichtlichen oder dogmatischen Aussagen zum Menschen, sondern um die Gewinnung einer Perspektive.
Im abschließenden Kapitel fünf werden dann aus theologischer Perspektive Anregungen zum Weiterdenken formuliert, mit denen dieses Buch endet und zum Dialog einladen will.
Die einzelnen Themen lassen sich unterschiedlich konkretisieren und verdeutlichen. Ich wähle in diesem Buch dafür bewusst eine inklusive Hinsicht.27 Das bedeutet: Die Verschiedenheit und Vielfalt der Menschen soll berücksichtigt und gewürdigt werden. Es muss so von Menschen geredet werden, dass niemand ausgeschlossen bleiben muss. Die Perspektive von Menschen mit Behinderungen, die immer wieder in den Blick kommt, kann darauf aufmerksam machen, dass Menschsein nicht auf Perfektion, Gesundheit, Leistungsfähigkeit und Rationalität reduziert werden darf.
Der Konzeption der Reihe entsprechend finden sich Anregungen zur religionspädagogischen Annäherung und Auseinandersetzung mit einzelnen Themen am Schluss der jeweiligen Kapitel.
Abschließend ist auf eine Einschränkung hinzuweisen: In allen Bereichen musste eine Auswahl getroffen werden. Darum bleibt manches unberücksichtigt, anderes wird vielleicht verkürzt dargestellt. Das lässt sich bei der Fülle der (möglichen) Themen nicht vermeiden. Das »Vielfachwesen« Mensch (Lenk) lässt sich nicht endgültig erfassen – und schon gar nicht auf 200 Seiten. Was offen bleibt, mag zum weiteren Nachdenken und Forschen anregen.
Haben Menschen eine (unsterbliche) Seele? Wie gelingen Beziehungen? Und ganz allgemein: Was unterscheidet den Menschen vom Tier?
Diese Fragen stehen exemplarisch für das Nachdenken des Menschen über sich selbst. Sie ziehen sich durch die Zeiten hindurch, werden immer wieder (neu) diskutiert und sind auch aktuell zu hören.
Im folgenden Kapitel werden diese Fragen in drei Abschnitten erörtert. Philosophische, naturwissenschaftliche und soziologische Zugänge bringen je eigene Aspekte in die Diskussion ein. Sie geben Antworten aus verschiedenen Perspektiven. Alle zusammen beschreiben den Kontext, in dem theologisches Nachdenken über den Menschen heute steht.
Ausblickend werden am Ende jedes Abschnitts Themen und Fragen benannt, die im vierten Kapitel wieder zur Sprache kommen sollen.
In seinem Roman »Sofies Welt« erzählt Jostein Gaarder von einem dreizehnjährigen Mädchen, das eines Tages auf geheimnisvolle Weise mit einem unbekannten Philosophen in Kontakt kommt. Sofie erhält Briefe, die ihr viele Fragen stellen und sie zum Nachdenken herausfordern. Eine dieser schwierigen Fragen lautet: »Was ist der Unterschied zwischen einer Pflanze, einem Tier und einem Menschen?«28 Sofie überlegt. Sie
»sah sofort ein, dass es hier ziemlich klare Unterschiede gab. Sie glaubte zum Beispiel nicht, dass eine Pflanze ein besonders kompliziertes Seelenleben hatte. Wann hatte sie je von einer Glockenblume mit Liebeskummer gehört? Eine Pflanze wächst, sie nimmt Nahrung auf und produziert kleine Samenkörner, durch die sie sich vermehrt. Und damit ist wohl das meiste über das Wesen der Pflanzen gesagt. Sofie überlegte sich, dass alles, was sie über die Pflanzen gesagt hatte, doch wohl auch für Tiere und Menschen galt.
Aber die Tiere hatten außerdem noch andere Eigenschaften. Sie konnten sich zum Beispiel bewegen (wann hätte je eine Rose an einem 60-Meter-Lauf teilgenommen?). Es war schon schwieriger, den Unterschied zwischen einem Menschen und einem Tier aufzuzeigen. Die Menschen konnten denken, aber das konnten Tiere doch auch?
Sofie war davon überzeugt, dass ihre Katze Sherekan denken konnte. Sie konnte sich jedenfalls ganz schön berechnend aufführen. Aber konnte sie über philosophische Fragen nachdenken? Konnte die Katze sich den Unterschied zwischen einer Pflanze, einem Tier und einem Menschen überlegen? Wohl kaum! Eine Katze konnte sicher froh oder traurig sein – aber fragte sich die Katze, ob es einen Gott gab oder ob sie eine unsterbliche Seele hatte? Sofie fand das ungeheuer zweifelhaft.
Aber … mit einer Katze war es genauso schwer, über diese Ideen zu reden, wie mit einem neugeborenen Baby…«
In diesen Gedanken des Mädchens Sofie lassen sich wichtige anthropologische Überlegungen erkennen. Zunächst geht es um den Unterschied zwischen Mensch und Tier, der offenbar gar nicht so einfach zu bestimmen ist. Sofie überlegt sodann, ob der Mensch vielleicht, anders als Tiere, eine unsterbliche Seele hat. Auch dies scheint eher eine offene Frage zu sein. Deutlich wird nebenbei auch, dass solche Fragen kaum alleine beantwortet werden können, man braucht einen Dialogpartner. Vielleicht findet man nur über das Gespräch mit anderen heraus, wer man selber ist und was der Mensch ist.
Sofie steht mit ihren Überlegungen in einer langen Tradition des Fragens und Nachdenkens über den Menschen. Unterschiedliche Disziplinen haben sich mit dem Menschen beschäftigt: Theologen und Philosophen fragen beispielsweise seit jeher nach dem Wesen des Menschen. Naturwissenschaftler erforschen den Körper einschließlich des Gehirns. Sozialwissenschaftler sammeln Erkenntnisse über das Zusammenleben der Menschen. Jede dieser Disziplinen hat einen spezifischen Blickwinkel und kommt von daher zu eigenständigen Resultaten. Diese Ergebnisse sind aber nicht voraussetzungslos. Jeder Mensch ist eingebunden in geschichtliche und soziale Zusammenhänge. Darum ist auch das Nachdenken über den Menschen historisch bedingt. Auch Wissenschaftler können sich nicht aus ihrem jeweiligen Kontext lösen. Die Fragen ihres Forschens und Nachdenkens werden auf diesem Hintergrund gestellt, und so verändern sich auch die Ergebnisse im Laufe der Zeit. Was immer über den Menschen gedacht und herausgefunden wurde, steht in einem geschichtlichen und sozialen Kontext. Das darf nicht unberücksichtigt bleiben.
Im Folgenden gehe ich in Grundzügen drei Fragestellungen nach, die in Sofies Überlegungen angedeutet sind. Zunächst werde ich das Verhältnis von Körper und Seele reflektieren und im zweiten Abschnitt den Menschen als ein Beziehungswesen beschreiben. Abschließend wird Sofies Ausgangsfrage nach dem Verhältnis von Mensch und Tier aufgenommen.
In jedem Abschnitt ergeben sich Impulse für eine theologische Anthropologie. Damit beschäftigt sich das vierte Kapitel dieses Buches dann ausführlich.
Mit dem Leib-Seele-Problem ist die grundsätzliche Frage nach dem Zusammenhang zwischen körperlichem (Leib, Körper) und geistigen Vorgängen (Geist, Seele, Bewusstsein) gestellt. Jeder Mensch hat einen Körper. Das ist unbestreitbar. Aber ist der Körper der ganze Mensch? Oder gehören zum Menschen noch andere Elemente, wie die Seele oder der Geist? Und wie sind diese zu beschreiben? In welchem Verhältnis stehen Körper, Geist und Seele? Diese Fragen stellen sich Menschen seit der Antike.29 Sie sind bis heute nicht endgültig beantwortet, aber immer wieder aktuell. Einige der Antworten, die unsere Vorstellung vom Menschen bis heute beeinflussen, sollen im Folgenden vorgestellt werden.
Der menschliche Körper ist die materielle Seite des Menschen. Der Organismus sichert das Überleben des Menschen durch die Aufnahme von Nahrung und deren Verdauung, ermöglicht die Fortbewegung und das Handeln. Der Körper kann krank sein oder gesund, alt oder jung, groß oder klein. Nach dem Tod verfällt er in seine einzelnen Bestandteile, seine chemischen Substanzen. Den Körper kann man messen, wiegen und mit unterschiedlichen Methoden erforschen und untersuchen. Hauptsächlich aus naturwissenschaftlicher Sicht kommen dabei z. B. folgende Aspekte in den Blick:
Die mittlere Körpergröße eines erwachsenen Menschen liegt zwischen 150 cm und 200 cm. Er verfügt über 206 Knochen, von denen sich die Hälfte in den Händen und Füßen befindet. Sie sind durch Gelenke oder Bänder miteinander verbunden und von Muskeln umgeben. So verleihen sie dem Körper Stabilität und bilden gleichzeitig Schutz und Gerüst für alle Organe. In den bekannten und umstrittenen Ausstellungen Gunter von Hagens »Körperwelten«30 kann man die Schönheit dieses Gerüsts bestaunen – oder sich befremdet fragen: Sind das Menschen, die wir da sehen?
Chemisch gesehen besteht ein erwachsener Mensch, gemessen an seinem Gesamtgewicht, zu ca. 56,1 % aus Sauerstoff, 28% Kohlenstoff, 9,3% Wasserstoff, 2% Stickstoff, 1,5% Calcium, je 1% Chlor und Phosphor sowie geringen Mengen an Kalium, Schwefel, Natrium, Magnesium und Spurenelementen.31 Der Wert dieser Rohstoffe liegt – je nach Körpergröße und aktuellem Marktwert der Produkte – bei ungefähr 10 Euro. Physiker berechnen, dass in den Atomen des menschlichen Körpers mehrere Millionen Kilowattstunden Energie gespeichert sind. Diese entsprechen einem Wert von einigen Millionen Euro.32
Biologen fanden heraus, dass fast die gesamte Erbinformation des Menschen in 23 Chromosomenpaaren gespeichert ist, die im Kern einer Zelle lokalisiert sind. In einer bestimmten Phase der Zellteilung sind sie dem Beobachter zugänglich, können fotografisch dokumentiert und zur Feststellung bestimmter genetischer Erkrankungen (z. B. Trisomie 21) herangezogen werden.33 Das gesamte Genom eines Menschen wurde seit einigen Jahren vollständig entschlüsselt. Es besteht aus ca. 20.000 Genen. »Wenn man sich nur die etwa 20.000 Gene anschauen will, kann man die Sequenzierung dieser DNA heute für nur noch knapp 800 US-Dollar ... haben. Sein Erbgut im Detail kennenzulernen ist viel weniger aufwändig und für fast jeden erschwinglich geworden.«34
Ist nun mit diesen Ergebnissen der Mensch hinreichend beschrieben? Oder gibt es noch mehr, Anderes, das den Menschen ausmacht? Kann man dieses »Mehr« als Seele und/oder Geist beschreiben? Und in welchem Verhältnis steht es zum Körper und/oder Leib? Solche Fragen werden überwiegend von Philosophen und Theologen gestellt und bis heute kontrovers diskutiert. Das soll in den folgenden Abschnitten ausgeführt werden.
Zu bedenken ist, dass die Begriffe im Laufe der Zeit – historisch bedingt – unterschiedlich verwendet werden. Auch ihre Bedeutung variiert. Der aktuelle »Duden« versteht »Seele« als »Gesamtheit dessen, was das Fühlen, Empfinden, Denken eines Menschen ausmacht; Psyche« oder als »substanz-, körperloser Teil des Menschen, der nach religiösem Glauben unsterblich ist, nach dem Tode weiterlebt.«35 Mit »Geist« dagegen ist »denkendes Bewusstsein des Menschen, Verstandeskraft, Verstand« oder auch »Gesinnung; innere Einstellung, Haltung«36 gemeint. Auch die Begriffe Körper und Leib werden teilweise synonym gebraucht oder variieren in ihrer Bedeutung. Das muss im Folgenden berücksichtigt werden.
1 Die Frage nach dem Verhältnis von Körper und Seele ist bis heute von den Überlegungen Platons bestimmt. Der antike, griechische Philosoph lebte von 427–347 v. Chr. in Athen.37 Er stellte sich den Menschen als eine lockere Verbindung von Körper und Seele vor. Der Körper ist nicht viel mehr als ein Schatten, ein Gefährt für die Seele. Diese macht den eigentlichen Menschen aus. Sie stammt aus dem Reich der Ideen, dort gehört sie eigentlich auch hin und dorthin wird sie wieder zurückkehren. Aus diesem Reich ist sie herausgefallen und jetzt unglücklicherweise im sterblichen Körper eingebunden. Dort ist sie gefangen wie in einem Gefängnis oder Grab. In seinem berühmten Höhlengleichnis vergleicht Platon die Menschen mit Wesen, die in einer Höhle leben.38 Sie sind an Ketten gefesselt und blicken auf eine Felswand, während hinter ihnen ein Feuer flackert. Auf der Felswand sehen sie nur die Schatten von Gegenständen, die hinter ihnen vorübergetragen und vom Schein des Feuers als Schattenbilder an die Wand vor ihnen projiziert werden. Die Menschen halten einzig diese Schattenbilder für die Wirklichkeit (das Seiende) und befinden sich damit auf der ersten Stufe der Erkenntnis: der bloß sinnlichen Wahrnehmung.
Die Seele ist für Platon unsterblich. Sie wandert über viele tausend Jahre immer wieder vom Himmel in den Körper eines Menschen, bis sie schließlich auf ihren Stern zurückkehrt, von dem sie kam.39 Durch philosophische Bildung kann die Seele sich von ihren Fesseln befreien und an den Urzustand erinnern, aus dem sie stammt und in dem sie das wahre Wesen der Dinge geschaut hat. Dann soll sie den Menschen mit den Kräften der Vernunft beherrschen wie ein guter Wagenlenker seine Pferde.40 Er setzt die Kraft des gehorsamen Pferdes, das sich dem Wollen des Lenkers unterwirft, gegen die Kraft eines triebhaften Pferdes ein, das nur seinen Begierden folgt. So kann es der Seele gelingen, sich weitgehend vom Körper zu befreien und das Leben des Menschen zu einem guten Ziel zu führen. Die entsprechende Lebenshaltung wurde später in der Stoa ausgeprägt. Sie besteht in »Gleichmut und Souveränität in Glück und Leid, in Gesundheit und Krankheit, in Leben und Tod.« Der Tod des Körpers wird dann zu einem »Fest der Freiheit für die Seele.«41
2 Platons Gegenspieler in dieser Frage ist Aristoteles. Er lebte von 384–322 v. Chr. und trat mit 17 Jahren in Platons Akademie in Athen ein. Er war also ein Schüler Platons. Gleichwohl entwickelte er eine andere Position als sein Lehrer. Für Aristoteles ist die Seele das Lebensprinzip aller Lebewesen (Pflanzen, Tiere und Menschen), die Entelechie des Körpers.42 Der Mensch ist eine aus Körper und Seele zusammengesetzte einheitliche Substanz. Deshalb haben alle »eine richtige Auffassung, die annehmen, dass die Seele weder ohne Körper ist, noch (selber) ein Körper; denn sie ist kein Körper, wohl aber etwas (Prinzip), das zum Körper gehört, und liegt daher im Körper vor.«43 Der Körper ist aber nicht wie bei Platon der Kerker der Seele, sondern dessen »Werkzeug« (organon). Er ist um der Seele willen da: »Die Seele ist Ursache und Prinzip des lebenden Körpers. ... Alle natürlichen Körper ... sind Organe der Seele.«44
Wie Platon unterscheidet auch Aristoteles drei Seelenteile. Die vegetative Seele sorgt für Wachstum, Nahrung und Fortpflanzung und ist schon in den Pflanzen vorhanden. Tiere haben zudem eine Sinnenseele, die über die Pflanzenseele hinaus Sinnesempfindungen und Bewegung ermöglicht. Nur der Mensch hat zusätzlich noch die Geistseele. Erst diese macht ihn zum Menschen, zum »animal rationale.« Alle drei Seelenteile sind im Menschen vereint, wobei das Geistige die Oberhand hat. Diese Geistseele verleiht dem Menschen seine Individualität. Sie ist der Ort der Vernunft, darum hat sie Vorrang vor dem Körper. Sie herrscht über ihn und zügelt die körperlichen Begierden und Affekte.
»Organisch« gesehen gehört der Mensch also zum Bereich des Natürlichen und zur Gattung der Tiere. Er unterscheidet sich von allen anderen Lebewesen aber dadurch, dass er, von der Geistseele geleitet, ein Leben nach den Grundsätzen der Vernunft führen kann und soll. Aristoteles sagt: »Was einem Wesen von Natur aus eigentümlich ist im Unterschied von anderen, ist auch für dasselbe das Beste und Genussreichste. Also ist dies für den Menschen das Leben nach der Vernunft, wenn anders die Vernunft am meisten der Mensch ist. Mithin ist dieses Leben auch das glückseligste.«45
3 Platons dualistisches Menschenbild wurde ca. 500 Jahre nach Platon vom Neuplatonismus (ab ca. 250 n. Chr.) aufgenommen und hat sich so in der (spät-)antiken Welt verbreitet. In Platons Gefolge kam es zu einer Hochschätzung der Seele und zu einer gleichzeitigen Abwertung des Körpers. Dieser galt als bloße Hülle für die Seele, als »Erdenrest.«46 Die Seele dagegen wurde als unkörperlich, ausgedehnt und unteilbar gedacht.
In dieser Gestalt gelangten Platons Gedanken auch in das frühe Christentum und beeinflussten besonders die Gedanken des Kirchenvaters Augustin (354–430).47 Er beschreibt Gott als Geistwesen. Als geistige Kraft steht die Seele darum Gott näher als der Körper. Dieser besteht aus Materie und hindert die Seele an der Erkenntnis Gottes und der Welt.
Im 15. und 16. Jahrhundert vollzog sich in Europa ein großer Wandel der Vorstellungen von Welt und Menschen. Bisher geltende Grenzen wurden überschritten. Es kam zu einem wirtschaftlichen Aufschwung, man entdeckte unbekannte Länder und Kontinente, der Buchdruck wurde erfunden. Durch die Entwicklung von mechanischen Uhren wurde die exakte Zeitmessung möglich. Mit der Einführung der Geldwirtschaft änderte sich die soziale Ordnung der Gesellschaft (Ständewesen). Die Wiederentdeckung und Aktualisierung der antiken Schriften, die schon zum Ende des Mittelalters begann, verhalf der Bildung zu einem neuen Aufschwung, das Studium von Sprachen, Literatur und Geschichte nahm zu.
Abb. 2: Flammarions Holzstich48
1 Vor allem aber war es die rasant wachsende naturwissenschaftliche Erforschung der Welt und des Kosmos, die neue Erkenntnisse brachte. Nikolaus Kopernikus beschrieb um 1540 als erster ein heliozentrisches Weltbild des Sonnensystems: Die Erde dreht sich um die eigene Achse und bewegt sich wie die anderen Planeten um die Sonne.49 Bis dahin war man sich im christlichen Abendland mehr oder weniger uneingeschränkt einig: Gott hat die Welt erschaffen. Er hat Sonne, Mond und die Gestirne an den Himmel gesetzt und den Menschen als sein Ebenbild mitten hineingestellt (vgl. Genesis 1). Welt und Mensch sind der Mittelpunkt des Kosmos (vgl. Abb. 2). Das scheint nun nicht mehr zu stimmen. Der Mensch blickt über seinen bisherigen Horizont hinaus und erkennt, dass die Erde nicht im Zentrum des Universums steht. Diesen tiefgreifenden Wandel beschreibt später Sigmund Freud als eine erste »Kränkung« der Menschheit.50
2 Auch die Vorstellung vom Menschen musste nun neu bestimmt werden. Wie lassen sich die neuen Erkenntnisse und Forschungsmethoden mit den geltenden religiösen, kirchlich-dogmatischen Lehren verbinden? Nikolaus von Kues (1401–1461, genannt Cusanus) fand eine Antwort: Als Gottes Ebenbild hat der Mensch teil an der Schöpferkraft Gottes, die sich in der Natur zeigt. Die Welt an sich geht aus der göttlichen Vernunft hervor, die Auffassungen über die Welt aber entstehen im menschlichen Geist: »Indem nämlich der menschliche Geist, das hohe Abbild Gottes, an der Fruchtbarkeit der Schöpferin Natur, soweit er vermag, teilhat, faltet er aus sich, als dem Gleichnis der allmächtigen Form, als Abbild der realen Dinge die rationalen aus.«51 Gott hat dem Menschen einen vernünftigen Geist gegeben. Mit der Vernunft kann und soll er die Welt erforschen und benennen. Damit ist der Weg frei für die Erforschung der Welt und des Menschen mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln. Francis Bacon (1561–1626) setzt 100 Jahre später dann ganz optimistisch auf die Entwicklung von Wissenschaft und Technik: »Die Wohltaten der Erfinder können dem ganzen menschlichen Geschlecht zugutekommen. … Die Erfindungen sind gleichsam neue Schöpfungen und sind Nachahmungen der göttlichen Werke.«52
3 Erkenntnistheoretisch durchdacht hat diese neue Sicht René Descartes (1596–1650). In einer Zeit, in der alle bisherigen Wahrheiten in Frage stehen, denkt er darüber nach, wie Menschen die Dinge der Welt und sich selbst erforschen können. Wie können sie sicher sein, dass das Erkannte auch tatsächlich wahr ist? Um mögliche Täuschungen zu vermeiden und Sicherheit zu gewinnen muss man alles, was bisher als sicher galt, in Frage stellen und in Zweifel ziehen. Eine Sache ist nur dann als wahr anzunehmen, wenn es keine Möglichkeit gibt, sie zu bezweifeln. Auf der Suche nach dieser Wahrheit ist nicht nur die Welt, sondern auch der Mensch selbst in Zweifel zu ziehen. Descartes erkennt: Auch wenn wir alles bezweifeln, ist es doch unmöglich, »dass wir, die wir solches denken, nichts sind; denn es ist ein Widerspruch, dass das, was denkt, in dem Zeitpunkt, wo es denkt, nicht bestehe. Deshalb ist die Erkenntnis: ›Ich denke, also bin ich‹ von allen die erste und gewisseste, welche bei einem ordnungsmäßigen Philosophieren hervortritt.«53
Der Mensch, der sich selbst in Zweifel zieht, wird sich im Vollzug des Zweifelns bewusst, dass er es ist, der zweifelt. Damit gibt es keine Möglichkeit mehr, seine Existenz in Frage zu stellen. Im Vollzug des Zweifelns erkennt Descartes also, »dass ich eine Substanz war, deren ganze Natur oder Wesen nur im Denken besteht, und die zu ihrem Bestand weder eines Ortes noch einer körperlichen Sache bedarf; in der Weise, dass dieses Ich, d. h. die Seele, durch die ich das bin, was ich bin, vom Körper ganz verschieden und selbst leichter als dieser zu erkennen ist; ja selbst wenn dieser nicht wäre, würde die Seele nicht aufhören, das zu sein, was sie ist.«54
Descartes unterscheidet demnach strikt zwischen »res cogitans« (eine ausschließlich denkende Substanz) und »res extensa« (alle ausgedehnten Körper). Die Seele ist das unmittelbar Gegebene, ihre Natur besteht im Denken (cogitans) und sie lässt sich nur denkend erfassen. Sie ist gleichzusetzen mit Bewusstsein und dem »Ich.« Die Seele ist aber nicht mehr, wie bei Platon und Aristoteles, das Lebensprinzip des Körpers, sie ist völlig verschieden vom Körper. Dieser befolgt alle Gesetze der Natur. Descartes kann den Körper mit einer Uhr vergleichen, die aufgezogenen wird und dann, den mechanischen Regeln des Uhrwerks folgend, geht. Der menschliche Körper ist eine »Art von Maschine …, die aus Knochen, Nerven, Muskeln, Adern, Blut und Haut so eingerichtet und zusammengesetzt ist, dass, auch wenn gar kein Geist in ihr existierte, sie doch genau dieselben Bewegungen hätte, die jetzt in ihm nicht durch die Herrschaft des Willens und also nicht durch den Geist erfolgen.«55 In Bezug auf den Körper verfolgt er ein rein mechanistisches Prinzip. Einmal in Gang gesetzt, funktionieren die Bewegungen der Körper von allein. Der Anfang der Bewegung aber stammt von Gott, er hat die Weltmaschine in Gang gesetzt.
Das denkende Subjekt und sein Körper sind also gedanklich voneinander zu trennen. Dennoch sind sie faktisch miteinander verbunden. Es lässt sich ja nicht leugnen, dass ein Mensch durch Denken und Vernunft (also die Seele) den Körper beeinflussen kann. Auch wirken sich Befindlichkeiten des Körpers auf das Denken aus. Diesen Widerspruch erkennt Descartes, er kann ihn aber nicht auflösen. Für die Vermittlung zwischen beiden Teilen vermutet er einen »Gemeinsinn«, den er in einem speziellen Teil des Gehirns verortet.56
Die Frage nach dem Verhältnis von Körper und Seele wird also von Descartes mit einer strikten Trennung beantwortet. Dieses dualistische Denken wirkt bis in die heutige Zeit nach und bestimmt die Vorstellung vom Menschen.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts, als Max Scheler (1874–1928) über diese Frage nachdachte, hatten sich die Erkenntnisse über den Menschen noch einmal grundlegend erweitert und gewandelt. Die Entdeckungen Charles Darwins haben die enge Verwandtschaft zwischen Tier und Mensch nachgewiesen und die biologische Bestimmtheit des Menschen gezeigt.57 Dies wurde als zweite große Kränkung der Menschheit erlebt.
Fast gleichzeitig stellte die Psychoanalyse das »Ich« des Menschen fundamental in Frage. Sigmund Freud (1856–1939) entwickelte die Theorie, dass ein großer Teil der menschlichen Seele der Kenntnis und dem Einfluss des Bewusstseins und des Willens entzogen ist. Er behauptete, »dass das Ich nicht Herr sei in seinem eigenen Haus«58 und nannte seine Theorie vom Überich die dritte und folgenschwerste Kränkung des modernen Menschen.59
Diese tiefgreifenden Verunsicherungen trafen in eine Zeit, in der der erste Weltkrieg die europäische Politik und Gesellschaft in eine ernste Krise gestürzt hatte. »Zu keiner Zeit der Geschichte (sc. ist) der Mensch sich so problematisch geworden ... wie in der Gegenwart,«60 so analysierte Max Scheler die Situation. Es musste wieder einmal neu bestimmt werden, wie der Mensch verstanden werden kann.
Die dualistische Sichtweise Descartes mit der absoluten Trennung von Seele und Körper ist für Scheler durch die Forschungsergebnisse der Biologie und der Psychoanalyse überholt. »Die Philosophen, Mediziner, Naturforscher, die sich heute mit dem Problem von Leib und Seele beschäftigen, konvergieren immer mehr zur Einheit einer Grundanschauung. Ein und dasselbe Leben ist es, das in seinem Innesein psychische, in seinem Sein für andere leibliche Formgestaltung besitzt.«61 Diese Einheit ist bei allen Lebewesen gegeben. »Den Menschen seinem Seelenleben nach mehr als gradweise vom Tier zu trennen, seiner Leibseele eine besondere Art von Herkunft und künftigem Schicksal zuzuschreiben, ... dazu besteht nicht der mindeste Grund.«62
Während es also für Scheler keinen erkennbaren Grund gibt, Körper und Seele zu unterscheiden, hält er doch an einem anderen Gegensatz fest, »es ist der Gegensatz von Geist und Leben.«63 Es muss etwas geben, das Körper und Seele überlegen ist und dem Menschen ermöglicht, die Einheit von Physischem und Psychischem zu erkennen. »Dieses X ist nichts anderes als der ... selber nie gegenständlich werdende, alles ›vergegenständlichende‹ Geist.«
Geist und Leben sind zwei wesensverschiedene Prinzipien, die aber aufeinander angewiesen sind. Der Geist »ideiert das Leben«, (d. h. bringt das Leben zu seiner Vorstellung) aber »nur das Leben kann die Ideen des Geistes verwirklichen und in Taten umsetzen.«64
Der Geist ist überräumlich und überzeitlich. Er ermöglicht dem Menschen, über sich selbst hinaus zu denken und aus dieser Position die Welt und sich selbst zu erforschen und zu erkennen. Der Mensch also ist ein geistiges Wesen und als solches »nicht mehr trieb- und umweltgebunden, sondern ›umweltfrei‹ und, wie wir es nennen wollen, ›weltoffen‹: Ein solches Wesen hat ›Welt‹.«65 Je mehr sich der Mensch von der Gebundenheit an die natürlichen Gegebenheiten seines Seins löst, desto mehr wird er Mensch und muss »auch sein Zentrum irgendwie außerhalb und jenseits der Welt verankern. ... Er (sc. kann) sich doch nicht mehr als einfachen ›Teil‹ oder als einfaches ›Glied‹ der Welt erfassen, über die er sich so kühn gestellt hatte.«66 Dies ist für Scheler der Ursprung von Metaphysik und Religion.
Aktuell begegnet in der Neurobiologie der Anspruch, den Menschen mit naturwissenschaftlichen Mitteln vollständig erklären zu können. Der Hirnforscher Gerhard Roth schreibt: »Zuerst wird durch die Evolutionstheorie dem Menschen der Status als Krone der Schöpfung abgesprochen, dann wird der Geist vom göttlichen Funken zu etwas Natürlich-Irdischem gemacht, und schließlich wird das Ich als nützliches Konstrukt entlarvt.«67 Er stellt also die Arbeit der Neurowissenschaften auf eine Stufe mit den Forschungen von Kopernikus, Darwin und Freud und versteht ihre Ergebnisse als die vierte Kränkung der Menschheit.
Neurobiologen machen sich auf die Suche nach dem Geist des Menschen, indem sie die Wirkungsweise des Gehirns bestimmen. Sie erleben gegenwärtig einen Boom. Neue Entdeckungen schaffen es bis in die Schlagzeilen der Presse. Sie stellen erneut das bisherige Wissen und die bisherigen Vorstellungen über den Menschen grundlegend in Frage.
Das Gehirn ist ein zentraler Bestandteil des menschlichen Nervensystems. Seine mehr als 500 Milliarden Neuronen (Nervenzellen) sind vielfältig vernetzt. Sie verarbeiten eingehende Informationen in unterschiedlichen Bereichen des Gehirns mit hochkomplexen Interaktionen.68 Die Frage, wie und wo dies geschieht, ist der Gegenstand neurobiologischer Forschung. Dafür sind Verfahren entwickelt worden, die es erlauben, die Aktivität des menschlichen Gehirns direkt zu messen und bildnerisch darzustellen.69 Forscher können heute Vorgänge in einzelnen Neuronen und molekulare Prozesse ziemlich genau messen. Sie verfolgen auch Vorgänge in Neuronenverbänden und erforschen die Regeln, nach denen das Gehirn im Einzelnen arbeitet. Dies gelingt allerdings gegenwärtig noch sehr ungenau. In bildgebenden Verfahren lässt sich die Funktion sehr großer Hirnareale darstellen. Am besten erforscht sind Bereiche, die Informationen der Sehnerven verarbeiten. Ein wichtiges Ergebnis dieser Forschungen ist, dass das Gehirn nicht nur ein Steuerungsorgan für körperliche Abläufe ist. Es verarbeitet die Sinneseindrücke, organisiert und kontrolliert damit das Handeln des Menschen. Das Gehirn bildet die umgebende Welt nicht wie eine Fotografie ab, es konstruiert vielmehr die Wahrnehmung. Sensorische und assoziationskortikale Funktionsbereiche des Gehirns arbeiten, weitgehend unbewusst, an der Erstellung eines Bildes dessen, was ein Mensch wahrnimmt. Entwicklungsgeschichtlich gesehen haben sich vor allem solche Funktionen herausgebildet, die das Überleben des Lebewesens sicherten, Gefahren als solche erkennen und angemessen darauf reagieren ließen oder diese sogar schon vorausschauend vorwegnehmen konnten.
Des Weiteren haben Neurowissenschaftler »in den letzten Jahren weitgehend entschlüsselt, welche Gehirnareale zum Bewusstsein beitragen. So nehmen wir nur das bewusst wahr, was mit Aktivitäten in den assoziativen Gebieten der Großhirnrinde (des Cortex) einhergeht.«70 Alle anderen Aktivitäten, die für die Verarbeitung der Informationen wichtig sind, bleiben unbewusst. »Unsere verschiedenen Bewusstseinszustände stellen also nur das Endprodukt äußerst komplexer, aber unbewusst ablaufender Verarbeitungsvorgänge dar. Dies gilt letztlich auch für das Gefühl, in unseren Absichten und Handlungen frei zu sein – der subjektive Eindruck von Willensfreiheit.«71 Die Vorstellung, das Bewusstsein sei etwas ›im‹ Gehirn und unabhängig von dessen biologischen Funktionen, lässt sich nicht belegen. »Geist und Bewusstsein – wie einzigartig sie von uns auch empfunden werden – fügen sich ... in das Naturgeschehen ein und übersteigen es nicht. Und: Geist und Bewusstsein sind nicht vom Himmel gefallen, sondern haben sich in der Evolution der Nervensysteme allmählich herausgebildet. Das ist vielleicht die wichtigste Erkenntnis der modernen Neurowissenschaften.«72 Dieses Ergebnis soll sich in den nächsten Jahrzehnten der Forschung immer differenzierter darstellen und belegen lassen. Daraus wird sich – so die Überzeugung der Wissenschaftler – eine Veränderung des Menschenbildes zwingend ergeben, in dem sich »dualistische Erklärungsmodelle – die Trennung von Körper und Geist – zunehmend verwischen ... Was unser Bild von uns selbst betrifft, stehen uns ... in sehr absehbarer Zeit beträchtliche Erschütterungen ins Haus. Geisteswissenschaften und Neurowissenschaften werden in einen intensiven Dialog treten müssen, um gemeinsam ein neues Menschenbild zu entwerfen.«73
Für die theologischen Überlegungen zum Menschen in Kapitel 4 sind folgende Punkte festzuhalten:
Die Frage nach dem Verhältnis von Seele, Geist und Körper ist im Laufe der Geschichte immer wieder gestellt und auf unterschiedliche Weise beantwortet worden. Es wird zu klären sein, wie dieses Verhältnis aus theologischer Perspektive zu beschreiben ist. Verbindungen und Widersprüche zu den oben dargelegten Lösungen sollen aufgezeigt werden.
Bis ins Mittelalter war es unbestritten, dass Gott in der Welt