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Garry J. Shaw leitet den Leser in diesem großartigen, illustrierten Überblick durch das Labyrinth der ägyptischen Mythologie. Im Wirken der Götter erschließt sich für die alten Ägypter die Welt. Wenn jeden Tag die Sonne am blauen Himmel aufgeht, so ist das beispielsweise Re, der auf seiner Sonnenbarke über den Himmel zieht. Aber nicht nur die Welt, in der wir leben, auch die Vorstellungen vom Jenseits durchweben die Mythen. Die Götter am Nil sind aber auch zutiefst menschlich und durchaus streitsüchtig. Ihre Abenteuer erzählen Geschichten von Mord und Totschlag, von Machtstreben und mächtiger Liebe. Wie der neidische Seth seinen Bruder Osiris ermordet. Wie die zaubermächtige Isis dem Sonnengott Re seine Macht entreißen will. Wie Re die trunkene Himmelskuh Hathor überlistet und Geb Jagd auf Res magische Perücke macht. Es sind tolle Geschichten, die ein ganzes Universum und die Welt zugleich eröffnen.
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Garry J. Shaw
Aus dem Englischen von Jörg Fündling
Die englische Originalausgabe ist 2014 bei Thames & Hudson unter dem TitelThe Egyptian Myths. A Guide to the Ancient Gods and Legends erschienen.© 2014 Thames & Hudson Ltd., LondonAbb. S. 1: Die Götter Seth (links) und Horus (rechts) verknoten Lilien undPapyrusstauden, die für Ober- beziehungsweise Unterägypten stehen,mit der Hieroglyphe „Vereinigung“.Abb. S. 2: Der Gott Anubis, eine besonders mit der Einbalsamierungverknüpfte Totengottheit, diente als Geleiter der Verstorbenen.
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in derDeutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sindim Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
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Der Philipp von Zabern Verlag ist ein Imprint der WBG.
© der deutschen Ausgabe 2015 by WBG(Wissenschaftliche Buchgesellschaft), DarmstadtDie Herausgabe des Werkes wurde durch dieVereinsmitglieder der WBG ermöglicht.Lektorat: Tobias Gabel, HeppenheimGestaltung & Satz: Anja Harms, OberurselEinbandabbildungen: links: Thot mit den Hieroglyphen für Lebenund Autorität, rechts: Horus mit den Kronen Ober- und UnterägyptensEinbandgestaltung: Stefan Schmid Design, Stuttgart
Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de
ISBN 978-3-8053-4885-0
Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich:eBook (PDF): ISBN 978-3-8053-4905-5eBook (epub): ISBN 978-3-8053-4906-2
Für Sean McKenna
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Innentitel
Inhaltsverzeichnis
Informationen zum Buch
Informationen zu Autor und Übersetzer
Impressum
Einleitung
ERSTER TEIL:DIE ZEIT DER GÖTTER ODER WOHER WIR ALLE KOMMEN
1 Unordnung und Schöpfung
2 Die Herrschaftszeit der Könige Re, Schu und Geb
3 Die Königsherrschaft des Osiris
4 Die Herrschaft des Seth und der Triumph des Horus
ZWEITER TEIL:DIE LEBENDIGE WELT ODER WAS UM UNS HERUM GESCHIEHT
5 Die mythische Umwelt
6 Der Umgang mit der unsichtbaren Welt
DRITTER TEIL:DIE MYTHOLOGIE DES TODES ODER DAS LEBEN IM JENSEITS
7 Die Prüfungen der Duat – ein Reiseführer für das Jenseits
8 Totengericht und Leben als ach
Nachwort: Der Mythos des alten Ägypten
ANHANG
Dank
Zum Weiterlesen
Quellen der Zitate
Abbildungsnachweis
Index
Was war vor mir da? Was geschieht rund um mich herum? Was passiert, wenn ich tot bin? Wie wir Menschen von heute suchten auch die Ägypter nach Antworten auf diese Grundfragen, und wie wir entwickelten sie Theorien, die auf ihrer Beobachtung der Welt beruhten. Das Ergebnis dieser Untersuchungen war, was wir heute als „altägyptische Mythen“ bezeichnen; aus ihnen bildete sich eine einmalige Weltsicht.
Eine Mythologie ist mehr als eine bloße Ansammlung von Geschichten über Helden und Götter: Sie liefert eine Methode, die Welt zu verstehen. Am Himmel hängt eine große leuchtende Kugel; jeden Morgen erhebt sie sich, verbringt den Tag damit, über den Himmel zu wandern, und senkt sich dann im Westen. Was ist sie? Und wohin geht sie? Sie könnten auch fragen: Wie kann sie sich bewegen? Ob Sie nun in der Sonne den Gott Re sehen, der auf seiner Tagesbarke über den Himmel segelt, oder ein Paket aus Kernfusionsreaktionen, das uns im Kreis um sich herumzieht, Sie beobachten dieselben Phänomene. Die Ägypter, die ihr Wissen über das Universum erweitern wollten, ohne dabei auf die Teilchenphysik zurückgreifen zu können, sind einfach zu anderen Ergebnissen gekommen. Ihre Erklärungen prägten eine charakteristische Perspektive und formten ihre Art, die Welt zu erfahren; aus den Mythen wurde das Rückgrat der ägyptischen Gesellschaft, ein Filter für die teilnahmslose Wirklichkeit, der ihre ganze Kultur umfasste. Begab man sich einmal in die innere Logik dieser Weltanschauung, hatte das Leben mehr Sinn; Ordnung trat an die Stelle der Unordnung, Kontrolle verdrängte die Ohnmacht, Wissen bezwang die Unwissenheit. Die Welt mit ihren tobenden Sandstürmen und tödlichen Skorpionen verlor etwas von ihrem Schrecken.
Der falkenköpfige Re bei der Fahrt auf der Sonnenbarke
Das Horuskind, der Sohn von Osiris und Isis
Die mythische Erzählung des alten Ägypten war im täglichen Leben allgegenwärtig – sie spielte sich im Lauf eines jeden Tages ab, als eine endlose Wiederkehr von Schöpfung, Zerstörung und Wiedergeburt, verstrickt in ein Netz aus Wechselwirkungen zwischen göttlichen Mächten. Es war unnötig, diese Ereignisse in ein unabänderliches Erzählschema zu bringen. Jeder Mensch durchlebte jeden Tag als Held seiner persönlichen mythischen Geschichte. Als personalisierte Kräfte waren die Götter in jedem Detail der geschaffenen Welt gegenwärtig, und für außerordentliche wie alltägliche Ereignisse ließen sich mythische Präzedenzfälle als Erklärung anführen, wodurch sie den Einzelnen mit der Welt der Götter verbanden. Doch damit nicht genug – indem sie sich auf mythische Ereignisse bezogen, setzten sich die Ägypter mit ihren Gottheiten gleich. Jemand, der Kopfweh hatte, wurde das Horuskind, um das sich seine Mutter kümmerte, die damit ihrerseits zu Isis wurde; im Tod verwandelten die Verstorbenen sich in mehrere Götter nacheinander, während sie das Jenseitsreich durchquerten, und übernahmen dadurch vorübergehend die Macht dieser einzelnen Gottheiten. Ägyptens Mythen waren dehnbar genug, um mit dem Lebenslauf einer jeden Person zur Deckung gebracht zu werden, wenn das Individuum sich die Natur ebenso zu erklären suchte wie die Freuden und Leiden des Daseins. Die Mythen und die in ihnen enthaltenen Handlungen der Götter lieferten eine Antwort auf die Frage: „Warum ist das mir passiert?“ Dass es einem nicht als Erstem so geht, hat etwas Tröstliches.
Die Ägyptologen von heute sehen sich einer Fülle von Fragmenten gegenüber, verstreuten Anspielungen auf die Mythen Ägyptens, die man aus dem Inhalt völlig verschiedener Quellen gewinnt, welche sich von 3050 v. Chr. bis in die ersten Jahrhunderte n. Chr. verteilen. Wie man sieht, ist die Zeitspanne, die der Begriff „Altes Ägypten“ abdeckt, extrem lang – je nachdem, wo man die Grenzen zieht, über 3000 Jahre. Angesichts der bestehenden Probleme, Ereignisse mit spezifischen Daten zu versehen, neigt die Ägyptologie dazu, sich statt Datumsangaben in der christlichen Zeitrechnung auf die Regierungszeit eines Königs, seine Dynastie oder die Epoche, in der er regierte, zu beziehen. Im 3. Jahrhundert v. Chr. unterteilte der ägyptische Priester Manetho die Könige Ägyptens in dreißig Dynastien (spätere Autoren fügten eine 31. hinzu). Zwar lässt jede Dynastie vermuten, dass sie von einer Herrscherlinie – einer biologischen Ahnenfolge – durchzogen ist, doch ist das nicht immer der Fall, denn Manetho verwendete außerdem wichtige Ereignisse wie den Bau der ersten Pyramide oder einen Wechsel des Königssitzes für die Trennung zwischen Zeitabschnitten. Die moderne Ägyptologie hat Manethos Dynastien ergänzt und zu längeren Abschnitten gebündelt, bei denen es sich teils um Phasen handelt, in denen ein einziger König über das gesamte Land herrschte (Frühdynastische Zeit, Altes, Mittleres und Neues Reich, Spätzeit), teils um solche, in denen die Herrschaft aufgeteilt war (Prädynastische Zeit, Erste, Zweite und Dritte Zwischenzeit). Auf diese großen Abschnitte der ‚Pharaonenzeit‘ folgte die Zeit der Ptolemäer, als Könige makedonisch-griechischer Herkunft Ägypten regierten, und später die Römerzeit. Im vorliegenden Buch bin ich diesen ägyptologischen Datierungsweisen gefolgt.
Die Hügel der Duat – des Reiches für das Leben nach dem Tod
Der griechische Autor Plutarch – hier ein Fantasiebild – hat viele ägyptische Mythen aufgezeichnet.
Da es keine einzelne Quelle gibt, die uns die Mythen der alten Ägypter ordentlich erklärt, sind die Ägyptologen gezwungen, sie aus der ohnehin fragmentarischen Überlieferung zusammenzustückeln, die seit jener fernen Zeit überlebt hat. Viele Mythen hat man auf Papyri aufgezeichnet, die später als Grabbeigaben oder in Tempelruinen gefunden wurden; auf andere spielen Grabstelen an, die Teil einer Bestattung waren. In den modernen Namen einiger Quellen spiegelt sich deren ursprünglicher Fundzusammenhang: Die Pyramidentexte hat man auf den Wänden von Königspyramiden des Alten Reiches seit der 5. Dynastie entdeckt, wogegen die Sargtexte, die man aus dem Mittleren Reich kennt, auf die Särge derjenigen gemalt waren, die sich solche Luxusstücke leisten konnten. Das Totenbuch (bei den Ägyptern hieß es „Das Buch vom Herausgehen am Tage“) gab seit der späten Zweiten Zwischenzeit den Verstorbenen in Form von Abschriften auf Papyrusrollen und Särgen einen Reiseführer durch das Jenseits an die Hand und blieb von da an noch über tausend Jahre in Gebrauch. In beinahe jedem Fall werden die Mythen verkürzt wiedergegeben oder nur in dunklen Anspielungen erwähnt; manchmal geschah dies aus Anstandsgründen – so schrecken die Ägypter zum Beispiel davor zurück, innerhalb eines Grabmals den Tod des Osiris zu erwähnen, weil, so ihre Überzeugung, die Beschreibung dieses traumatischen Vorfalls in einem Grabkontext zu magischen Schädigungen des Toten führen konnte – während es in anderen Fällen überflüssig war, den Mythos ausführlich zu erklären, weil man voraussetzte, dass der Leser die Geschichte schon kannte.
Im Lauf der enorm langen ägyptischen Geschichte wurde das Land durch viele Kulturen des östlichen Mittelmeerraums und des Nahen Ostens beeinflusst, ja, zu bestimmten Zeiten sogar von ihnen beherrscht – von den Assyrern und Persern bis hin zu Griechen respektive Makedonen und Römern. Ägyptens Mythen passten sich den Zeiten an, nahmen dank solchen Einflüssen neue Nuancen an und fanden zu neuen Ausdrucksformen. Außerdem entwickelten sich in jeder ägyptischen Provinz („Gau“ oder griechisch nomos genannt) Variationen zu bestimmten Mythen; folglich gab es nicht die eine korrekte Version. Das ist bedauerlich und doch auch befreiend: bedauerlich, weil deshalb keine Einführung in die ägyptischen Mythen jemals eine authentische Wiedergabe dessen sein kann, was die alten Ägypter glaubten, aber befreiend, weil ich als dessen Chronist nicht ans strikte Nacherzählen gefesselt bin. Was in diesem Buch steht, ähnelt also eher den Werken Plutarchs, der die Elemente des Osirismythos nahm und für eine griechische Leserschaft neu zusammensetzte, als einer typischen akademischen Analyse. Wie auch Plutarch habe ich Mythenfragmente genommen, die gelegentlich aus verschiedenen Zeiten stammen, und eine zusammenhängende Erzählung aus ihnen geschaffen. Wenn die Leser Plutarch verzeihen, dass er sich die Rosinen herausgepickt hat, dann bin ich zuversichtlich, dass sie auch mir vergeben können.
Die zwei Länder
Ägypten ist ein Land scharfer Gegensätze. Der Nil schlängelt sich von Süden nach Norden durch sein Tal, gesäumt von einem schmalen Streifen kultivierbaren Bodens, bis er nahe dem heutigen Kairo das antike Memphis erreicht, wo er sich in eine Reihe von Armen auffächert und so das riesige fruchtbare Dreieck des Nildeltas bildet. Wegen dieses dramatischen Wandels in der Landschaft teilten die Ägypter ihr Land in das südliche Ober- und das nördlich gelegene Unterägypten auf – also das Niltal südlich von Memphis beziehungsweise das Delta – und sprachen von Ägypten als von den Zwei Ländern. Für jede Hälfte stand eine eigene Krone, die Rote Krone für Unterägypten und die Weiße Krone für Oberägypten; man kombinierte sie zur Doppelkrone, die die Herrschaft des Königs über das ganze Land verkörperte. Außerdem beeindruckte die Ägypter der schroffe Kontrast zwischen der öden, trockenen Wüste, die sie das ‚rote Land‘ nannten, und dem fruchtbaren Boden, von dem man als vom ‚schwarzen Land‘ sprach. Auch Osten und Westen hatten ihre Bedeutung; mit Blick auf die aufgehende Sonne verbanden die Ägypter den Osten mit neuem Leben und Wiedergeburt, während der Westen, wo die Sonne jeden Abend ‚starb‘, zum Reich der Toten wurde; deshalb legte man Gräberfelder oft in der Wüste westlich des Nils an.
Die ägyptischen Gottheiten sind eine bunte Mischung, die vor Leben nur so sprüht; sie zanken sich, kämpfen, morden, gehen Beziehungen ein und können an Altersschwäche sterben (ehe sie dann wiedergeboren werden, was viel über die ägyptische Liebe zur zyklischen Zeit aussagt). Außerdem konnten sie in einer Vielzahl von Formen Gestalt annehmen, und zwar an mehreren Orten zugleich, während ihr wahres Wesen fern und den Blicken verborgen am Himmel verblieb; so vielgestaltig ihre Form war, sie waren dennoch niemals allwissend oder allgegenwärtig. Da ihnen bestimmte göttliche Zuständigkeiten auferlegt waren (beispielsweise Osiris die Regeneration oder Min die Fruchtbarkeit), waren sie an Macht beschränkt und mussten, um ihre Kräfte kurzzeitig zu vereinen, miteinander verschmelzen, sofern sie jenseits ihres kosmischen Ressorts ein Ziel erreichen wollten. So verschmilzt der hinfällige Sonnengott, dem die Fähigkeit und Macht fehlt, sich selbst mit neuer Energie aufzuladen, allnächtlich mit Osiris, auf dass er die erneuernde Kraft dieses Gottes nutzen kann, um dann selbst in einer neuen Morgendämmerung wiedergeboren zu werden. Manchmal verwandelte sich, wenn eine Gottheit die Eigenschaften einer anderen annahm, er oder sie in jene andere Gottheit – als beispielsweise Hathor als das Auge des Re die Menschheit angriff, verwandelte sie ihre rasende Wut in die unverhohlen blutdürstige Göttin Sechmet. Anfangs ist das komplexe Wesen von Ägyptens Göttern für moderne Leser verwirrend, doch im Lauf der folgenden Seiten wird es hoffentlich klarer werden.
Eine notwendige Anmerkung: So nützlich Detailanalysen der Eigenschaften der Götter und der mit ihnen verbundenen Kulte im Wandel der Zeiten sind, so lenken sie doch von ihrer Eigenart ab und fehlen darum im vorliegenden Buch weitgehend; der Vorzug wurde der Betonung der göttlichen Persönlichkeiten und ihrer ‚menschlichen‘ Züge gegeben. Für Leser oder Studierende, denen das alte Ägypten neu ist, ist mein Ansatz, wie ich hoffe, ein Gewinn, indem er ihnen eine nützliche Einführung in die Mythen an die Hand gibt, deren Geschichten Luft zum Atmen lässt und nur in Maßen ‚moderne‘ Einschübe und Analysen vorsieht. Vor allem aber sollen die Lektüre dieser Mythen und das Wissen, wie die Ägypter es mit der Welt aufnahmen, unterhaltsam sein – denn von ihrem Erklärungswert einmal abgesehen sollten die Mythen ja auch damals schon unterhalten. In diesem Geist greift der Leser hoffentlich zu dem vorliegenden Buch.
Um die Fragen zu klären, die am Beginn dieser Einleitung stehen, habe ich das Buch in drei Abschnitte unterteilt: 1. Die Zeit der Götter oder Woher wir alle kommen, 2. Die lebendige Welt oder Was um uns herum geschieht und 3. Die Mythologie des Todes oder Das Leben im Jenseits. Ich hoffe, dass Sie sich beim Weiterlesen in die Sandalen eines alten Ägypters – oder einer alten Ägypterin – versetzen und die Welt aus deren Sicht zu betrachten versuchen. Stellen Sie sich auf Grundlage meiner mythologischen Betrachtungen vor, wie es wohl war, die Welt auf diese Art zu sehen und zu begreifen. Die Mythen gewähren Einblicke in die Psychologie der Antike, öffnen Fenster in das ägyptische Denken und können Sie mit einer ganz neuen – und doch zugleich alten – Art und Weise vertraut machen, die Welt zu erleben.
Der Versuch, das altägyptische Denken über die Schöpfung zu verstehen – ja, der Versuch überhaupt, die ägyptischen Mythen zu rekonstruieren –, erinnert an die Aufgabe, ein Puzzle zusammenzusetzen, von dem die meisten Stücke fehlen und jemand den Karton weggeworfen hat.
In der Vergangenheit sahen sich die Ägyptologen mit versprengten, vielfältigen und scheinbar widersprüchlichen Überbleibseln von Schöpfungsmythen aus verschiedenen Teilen des Landes konfrontiert. Darum teilten sie diese Mythenschnipsel nach denjenigen Kultzentren ein, von denen sie annahmen, dass sie jeweils die Quelle hervorgebracht (oder vereinheitlicht) hatten – einschlägige Forschungen sprachen von der „Memphitischen Theologie“ (aus der Stadt Memphis) oder der „Heliopolitanischen Theologie“ (aus Heliopolis). Manchmal wurde die Ansicht vertreten, dass diese Kultzentren mit ihren unterschiedlichen Interpretationen in „Wettbewerb“ standen, womit man unterstellte, dass Ägyptens Priester über ihre Kollegen in anderen Städten pikiert waren, weil einer davon dem Gott Amun in seiner Gestalt als „der Große Schnatterer“ den Vorrang gegenüber der göttlichen Kuh einräumte, die den Re hervorbrachte.
Vielleicht war das so. Aber wie die Dinge auch liegen mögen, in Wirklichkeit zeigen die verschiedenen Schöpfungsberichte bemerkenswert viel Verbindendes, denn sie weisen dieselben Kernthemen auf und verlaufen in immer ähnlichen Strukturen. Anscheinend legten sich die regionalen Kultzentren allgemeingültige mythologische Grundlagen jeweils passend zurecht, indem sie die Rollen einzelner Akteure, Schöpfungsphasen oder -aspekte hervorhoben und ihre eigenen Ortsgottheiten an die Stelle derer setzten, die anderweitig vorkamen. Auf diese Weise legten Ägyptens diverse Priesterschaften eher Alternativ- als konkurrierende Versionen vor, was das Risiko eines Gerangels zwischen den Glaubensrichtungen senkte.
Der Gott Nun hebt die Sonnenbarke in den Himmel
Die Achtheit von Hermopolis flankiert die Sonnenbarke, vier auf jeder Seite.
Obwohl es also keinen allgemeinen Schöpfungsmythos gab, existierte doch immerhin ein übergeordnetes Konzept – eine gemeinsame Basis – dafür, wie es tatsächlich zur Schöpfung gekommen war: Tief in Nun (dem unendlichen dunklen Ozean) erwachte ein Gott oder kam auf den Gedanken, zu erschaffen. Durch seine Macht teilten sich er oder seine Erscheinungsformen in die vielen Aspekte der geschaffenen Welt auf, wodurch sie die ersten Götter schufen und außerdem den ersten Erdhügel, der aus den Fluten auftauchte. Später ging die Sonne – in manchen Berichten das unabhängige Auge des Schöpfergottes, in anderen soeben aus einem Ei geschlüpft – zum ersten Mal auf und brachte Licht dorthin, wo einst Dunkelheit geherrscht hatte.
Während des Neuen Reiches, ungefähr um 1200 v. Chr., gab es in Theben einen Versuch, Ägyptens Haupttraditionen zu vereinheitlichen, mit dem Gott Amun als alleinigem Schöpfer. Deshalb ist diese Epoche der perfekte Ausgangspunkt, um die ägyptischen Schöpfungsmythen detaillierter zu beschreiben, denn die Texte aus jener Zeit gewähren den besten Einblick in das ägyptische Konzept von der Entstehung der Welt und beziehen obendrein die Lieblingstraditionen der wichtigsten Kultstätten des Landes ein – vorwiegend die aus Hermopolis, wo man sich auf die acht Götter (die Achtheit) im Universum vor der Schöpfung konzentrierte, die Fassung aus dem Tempel des Gottes Ptah in Memphis, nach der das gesprochene Wort alle Dinge ins Sein rief, und die von Heliopolis, wonach sich der Gott (Re-)Atum aus einem einzelnen Ei oder Samen in die gegenständliche Welt entwickelte. So werden wir in diesem Kapitel die Erschaffung der Welt kennenlernen – gestützt auf die Arbeiten des Ägyptologen James P. Allen und mit dem Großen Amunhymnus der Ramessidenzeit als Leitfaden, einem einmaligen Text, der als die theologische Summe der Amun-Priesterschaft gelten kann.
Nun – die unendlichen Wasser Das Universum vor der Schöpfung ist eine endlose Wassermasse, eine Zone der Dunkelheit, träge und reglos; eher der Ort für ein U-Boot als für ein Raumschiff. Es besteht keine Trennung zwischen den Elementen, keine Erde und kein Himmel, nichts hat einen Namen und es gibt weder Tod noch Leben. In dieser Form hat die Welt seit Ewigkeiten existiert, unendlich, still und stumm. Obwohl sie sich dem menschlichen Verstehen entzieht, personifizierten die Ägypter, um dieses grenzenlose Gewässer in ein Konzept zu bringen und darüber sprechen zu können, seine ineinander verwobenen Aspekte als unauflösliche Paare aus Mann und Frau – die Männer als Frösche und die Frauen als Schlangen. So gab es Nun und Nauhet als die uferlosen Wasser, Huh und Hauhet als die Unendlichkeit, Kuk und Kauket als das Dunkel sowie Amun und Amunet als das Verborgensein. Diese Kräfte bezeichnet man oft kollektiv als die acht Urgötter von Hermopolis (die „Achtheit“ oder griechisch „Ogdoas“).
Laut den Theologen von Hermopolis, die in ihren Mythen diese vor der Schöpfung bestehenden Kräfte in den Mittelpunkt stellten, schufen die acht Gottheiten vereint den ersten Erdhügel (oder eine Insel) und bildeten anschließend ein Ei, aus dem der Sonnengott schlüpfte. Je nach dem Mythos, den man befragt, soll die Sonne öfters aus einem Ei gekrochen sein, das eine Gans namens Großer Schnatterer – oder aber der Gott Thot in Gestalt eines Ibis – gelegt hatte. Nach anderen Lesarten schaffen die acht Gottheiten eine Lotosblüte in Nun, aus der die Sonne geboren wird und erst die Form des Skarabäus-Käfers Chepre, dann des Kindgottes Nefertem annimmt, dessen Augen, als sie sich öffneten, der Welt Licht schenkten.
Die Form dieses Pyramidions steht wahrscheinlich für den Urhügel der Schöpfung.
Unter den acht Aspekten des Universums vor der Schöpfung kam Nun als den uferlosen Wassern besondere Bedeutung zu. Obwohl er manchmal wie seine drei Gefährten als Frosch dargestellt wird, konnte man ihn auch als Menschen mit dreigeteilter Perücke oder als Fruchtbarkeitsidol abbilden, das für Fülle, Ergiebigkeit und reichen Ertrag steht, denn wie wir sehen werden, war Nun zwar träge und reglos, dunkel und unendlich, doch er war auch ein Hervorbringer – ein Ort der Geburt und des Möglichen. Das leuchtet auf den ersten Blick nicht ein: Wie kann ein Ort der Dunkelheit und Unordnung denn eine Wachstums- und Lebenskraft sein? Da die ägyptische eine optimistische Kultur war, sahen die Ägypter in Nun das Potential für Dasein und Erneuerung: Licht kommt aus dem Dunkel, Land steigt mit erneuerter Fruchtbarkeit aus dem Überschwemmungswasser, Blumen sprießen aus trockenen, leblosen Samenkörnern. In der Unordnung liegt das Potential zur Ordnung.
In Nun also nahmen alle Dinge ihren Anfang.
Amun: „der sich zu Millionen machte“ Amun, eine der acht Urgottheiten, war für den ägyptischen Staatskult um 1200 v. Chr. beispiellos wichtig geworden – so sehr, dass man die Achtheit von Hermopolis nunmehr als die erste Entfaltung von Amuns eigener, verborgener Macht und Majestät ansah.
Die Acht waren deine [= Amuns] erste Form …
Eine weitere seiner [= Amuns] Formen ist die Achtheit …
Großer Amunhymnus
Die Ägypter stellten Amun als einen blauhäutigen Mann dar, der eine Krone aus zwei hohen Federbüschen trägt. Sein Titel „der Große Schnatterer“ verweist auf Amuns Verbindung zur Gans, jenem Vogel, der das Schweigen am Anfang der Zeit durch sein Schnattern brach; außerdem konnte man ihn als Widder zeigen – ein Fruchtbarkeitssymbol. Obwohl als Amuns Gemahlin meist die Göttin Mut betrachtet wurde, fand er als eine der Urkräfte von Nun sein weibliches Gegenstück in Amunet (die manchmal mit der Krone von Unterägypten geschmückt und einem Stab mit Papyrusspitze erscheint).