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"In diesem Krieg gibt es keinen Sieger und wenn ich meine Stimme hebe, wird es niemanden kümmern." Italien 1943. Zwischen Blut und Zerstörung beginnt die Götterdämmerung. Verzweifelt jagt Samantha einem Wunder nach, das Camerons Leben retten soll. Dabei nimmt sie jeden Pakt in Kauf, jeden Preis. Ihren freien Willen würde Samantha setzen, um Cameron in Sicherheit zu wissen. Ihre Seele würde Sam verkaufen, um ein Blutvergießen zu beenden, das die gesamte Welt lähmt. Als der Graue Mann ihr einen Handel anbietet, schlägt Sam ein.
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Seitenzahl: 455
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Inhalt
Gottes Gericht
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Letztes Gericht
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Leseprobe zu „Götterdämmerung - Verdammung“
Danksagung
© 2024 Celina Weithaas
Umschlaggestaltung und Design: Franziska Wirth
Illustrationen: Janett Weithaas
Verlagslabel: Celina Weithaas
ISBN Softcover: 978-3-347-99290-0
ISBN E-Book: 978-3-347-99291-7
Druck und Distribution im Auftrag:
tredition GmbH, Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg, Germany
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg, Deutschland.
Die Chroniken des Grauen Mannes
Phase I:
Die Poison-Trilogie:
Dark Poison (Oktober 2018)
Cold Poison (Januar 2019)
Dead Poison (September 2019)
Die Jahreszeitentrilogie:
Spring (31. Dezember 2019)
Fall (31. Dezember 2020)
Winter (31. Dezember 2021)
Phase II:
Die Märchendilogie:
Erzähl mir Märchen (05. November 2019)
Märchen für Dich (01. Mai 2020)
Die Mitternachtstrilogie:
Fünf Minuten vor Mitternacht (02. September 2020)
Zehn Sekunden vor Mitternacht (21. April. 2021)
Vor Mitternacht (13. Oktober 2021)
Die Dämonentrilogie:
Fürchte mich nicht (21. April 2022)
Vergiss mich nicht (02. September 2022)
Verlass mich nicht (01. Mai 2023)
Die Götterdämmerungstrilogie:
Götterdämmerung - Verschwörung (05. November 2023)
Götterdämmerung - Verlockung (01. Mai 2024)
Götterdämmerung - Verdammung (02. September 2024)
Die Ich-Bin-Trilogie:
Ich bin Du (21. April 2025)
Du bist Ich (13. Oktober 2025)
Wer ich bin (21. April 2026)
Phase III:
Die Geschichte des Grauen Mannes:
Die Geschichte des Grauen Mannes oder Komm mit mir nach Gestern (02. September 2026)
Chronicles of Kings and Queens:
Blutzoll (01. Mai 2027)
Blutangst (05. November 2027)
Blutrache (01. Mai 2028)
Blutdurst (02. September 2028)
Blutmond (21. April 2029)
Blut-Matt (13. Oktober 2029)
Phase IV:
Die Foscor-Trilogie:
Laufe (31. Dezember 2027)
Bleibe (31. Dezember 2028)
Vergesse (31. Dezember 2029)
Erinnere (31. Dezember 2030)
Verdamme (31. Dezember 2031)
Erwache (31. Dezember 2032)
Phase V:
Die Trilogie von Gottes Tod:
Von verblühender Unschuld (21. April 2030)
Von leidendem Verrat (02. September 2030)
Von verzweifelter Liebe (01. Mai. 2031)
Die Ewigkeitsdilogie:
Endlicher Triumph (13. Oktober 2031)
Triumphale Ewigkeit (01. Januar 2032)
Das Ende:
Nun, da es das Ende ist (31. Dezember 2032)
Für all jene, die das Licht im Dunkeln verloren haben. Vergesst euch nicht.
Komm zu mir zurück.
Bleib hier.
Nur heute.
Nur dieses eine Mal.
Angespannt vergräbt Cameron das Gesicht in seinen Händen. Das schlichte Oberteil spannt über seinem Rücken. Er zuckt zusammen und entlastet seine Muskulatur.
„Möchtest du, dass ich dir etwas von der Salbe auftrage?“
Eine Bewegung, ein unterdrücktes Stöhnen. Ich öffne die Dose und tauche die Finger in die streng riechende, hellgelbe Creme ein.
„Wie lange kann sowas schon brauchen, um zu heilen?“, flucht Cameron.
Wochen. Dass selbst nach neun Tagen die Schmerzen kaum abgeklungen sind, besorgt mich. Während ich ihm den dunklen Stoff des Pullovers über den Kopf streife, betrachte ich die Hiebe genauer. Die Schnitte wurden provisorisch verbunden, wirken jedoch sauber. Einige Hautfetzen sind stark gerötet. Die unberührten Stellen scheinen gesund.
Ich trage die Salbe auf, Stück für Stück. Fiebrig heiß verkrampft sich Camerons Körper unter meiner Berührung.
„Fünfundzwanzig Hiebe, was soll das überhaupt?“ Cameron knirscht mit den Zähnen. „Einer hätte es auch getan. Oder zwei. Warum fünfundzwanzig.“
„Die Strafe sollte dir wohl im Gedächtnis bleiben.“
„Oh, das bleibt sie“, schnaubt Cameron. „Mit Sicherheit.“
„Furcht vor Schmerz macht treu“, gebe ich zu Bedenken.
„Deswegen stehe ich auch in vorderster Reihe und übe für den Ernstfall.“ Ich kann mir lebhaft vorstellen, wie Cameron die Augen rollt. „Schmerz ist schrecklich. Das ist alles.“
Dass er ihm trotzt, macht Cameron zu Cameron. Zu einem Jungen, der von Kindesbeinen an Strapazen erfuhr, unter denen ein anderer sich beugen würde.
„Wann bist du bereit, Aria gegenüberzutreten?“, frage ich. Der Verbandsmull ist schneeweiß. Ich fixiere ihn an Camerons Oberkörper. Seine Muskeln spielen unter meinen Fingerkuppen. Eine inzwischen bekannte Nähe, die ich in mich aufsaugen möchte.
„Nie?“, schlägt Cameron vor.
Aria war seine erste Liebe. Eine stille Liebe. Eine, die er sah und nie mehr vergaß. Cameron nun in ihre Nähe zu führen, auf der verzweifelten Suche nach Antworten, gleicht purem Masochismus. Manch einer würde behaupten, ich gehe diesen Schritt, um Cameron zu verlieren.
Dabei will ich ihn von Tag zu Tag näher bei mir wissen. Cameron mag mir nie einen Ring an den Finger gesteckt haben. Selbst wenn er es täte, wäre dieser Ring niemals glanzvoll wie der meines Ehemanns. In der kleinen Hütte im Wald spielt das keine Rolle.
„Dann gehe ich allein.“
Cameron schüttelt heftig den Kopf und legt seine Hand auf meine. „Allein zu Moreen und Aria? Ich werfe dich den hungrigen Wölfen nicht zum Fraß vor.“
„Manchmal“, sage ich, „könnte man fast meinen, meine Idee wäre deinem Kopf entsprungen und du würdest mich mit eiserner Hand zum Handeln zwingen.“ Ich ziehe den dunklen Pullover zurecht und belohne Cameron mit einem kleinen Kuss auf seinen Unterkiefer. Seufzend schließt er die Augen. „Was versprichst du dir nur davon?“, murmelt er. „Fortuna ist fort. Cathrin auch. Vladimir, wer weiß schon, was er als nächstes tut.“
„Ich suche Antworten für mich. Nicht für sie.“
„Glaubst du wirklich, dass dir die jemand anderes als du selbst geben kann?“
Wenn nicht, werde ich unwissend sterben.
Angespannt ziehe ich die Beine an. Leise quietscht das Bett. Wenn der ärgste Feind zur einzigen Chance wird, gibt es kein Heute und kein Morgen mehr. Nur noch ein Jetzt und ich will alles daran setzen, es richtig zu nutzen.
Der Krieg donnert. Er kommt näher. In jeder meiner Fasern spüre ich es. Die mächtigen Männer heben ihre Daumen und machen sich bereit, über Hunderttausende Schicksale zu entscheiden. Weil sie glauben, dass jedes einzelne davon ihnen gehört. Dass jedes Schicksal ihnen untersteht und von ihnen geschaffen wurde.
Diese Hybris wird unseren Untergang einleiten.
Meine Hoffnung ist eine finstere. Womöglich könnte es mir gelingen, Aria und Moreen von einer Idee zu überzeugen. Von der, diesen Krieg zu unterbinden, und obwohl ich selbst nicht ganz weiß, warum ich meine Energie in Risiken wie dieses investiere, fühlt es sich wie das einzige an, das mir bleibt.
Cameron ist kreidebleich. Wüsste ich es nicht besser, würde ich glauben, dass er mit einem Fieber kämpft und nicht mit seinen Wunden. Der lächelnde, aufrichtige Soldat ist einem leidenden Geschlagenen gewichen. Ihn so zu sehen? Ertrage ich kaum. Seine Wunden zu riechen? Dreht mir den Magen um. Zu ahnen, dass wir wehrlos sind in einem Geschehen, das wir selbst nicht ganz begreifen? Es ist frustrierend.
Frustrierender als alles andere.
„Bleib hier, Sam“, sagt Cameron sanft. In die fiebrigen Augen ist ein warmer Glanz getreten und wie in Trance streckt er eine Hand nach mir aus. „Das bringt doch alles nichts. Versuch die Situation realistisch zu sehen.“
„Realistisch?“, frage ich kühl. „Wenn ich mir das Ganze hier mit kühlem Kopf betrachte, dann bist du zu Tode erschöpft. Weil man dich hat auspeitschen lassen wegen deines Ungehorsams. Vielleicht hätte man dich vor all dem hier bewahren können.“
Müde seufzt Cameron und dass er keine Widerworte gibt, ist schrecklicher als der drückende Geruch seines blanken Fleischs.
„Aria könnte uns helfen“, sage ich sanft. „Sie ist die Zeit. Mit ihr könnte ein Königreich aufgehen.“
„Oder unter.“ Camerons Wispern klingt geschlagen. „Hast du daran gedacht? Aria ist die Zeit. Sie ist kein Engel, sondern die Zeit. Sie macht gemeinsame Sache mit Moreen und ich schwöre dir, Sam …“ Schwach streckt Cameron eine Hand nach mir aus und ich greife nach ihr. Dünne Schweißtropfen rinnen ihm über die Schläfen und das Grün seiner Iriden scheint stumpf. Seine Finger zucken, als stünde Cameron unter Strom, und gleichzeitig sind sie so eisig kalt, dass ich meine, er erfriert.
Keuchend kratzen die Bäume des Waldes an der Hütte. Sie biegt sich im Wind und hätte ich in ihrem Inneren nicht bereits Stürme überstanden, womöglich würde ich mich fürchten. Die Sonne, die durch schlanke Äste fällt, gaukelt eine Ruhe vor, die in dem nahenden Unglück untergeht.
„Nicht sprechen“, flüstere ich und als er den Mund erneut öffnet, versiegle ich Camerons Lippen mit einem Kuss. „Du wirst nicht gesund, wenn du mit mir diskutierst.“ Und dass Cameron gesund wird, das ist eines der wenigen Dinge, die ich wirklich will.
„Ich wäre viel ruhiger, wenn du diese unsinnige Idee verwerfen würdest“, murmelt er. „Das ergibt doch alles keinen Sinn!“
Will ich über Leichen gegangen sein, um nichts und wieder nichts zu erreichen? Einer Frau sind Macht und Einfluss nicht erlaubt. Sobald ich die richtigen Personen auf meine Seite gebracht habe …
Ich weiß es. Ich weiß, dass es möglich sein kann. Ich kann die Macht schmecken.
Wenn ich für sie Camerons Gesundheit aufs Spiel setzen muss, dann ist es so. Das Schicksal eines ganzen Landes könnte von meinem Erfolg abhängen. Vielleicht wurde ich stumm geboren, den Mund mit Schlamm gestopft. Es ist mehr aus mir geworden, als ich damals war. Nennt man es nun Hochmut oder Wahnsinn, Ignoranz oder Verzweiflung, schlussendlich führt alles auf den gleichen Pfad. Den, auf dem ich die Chance erhalten werde, das Zünglein auf der Waage zu sein, damit der alles vernichtende, alles verschlingende Krieg einen Bogen um uns macht. Während sich unsere Männer bereits aufrüsten und die Frauen sich auf eine Versorgungsknappheit einstellen.
Dumpf betrachte ich Camerons kreidebleiches, schweißiges Gesicht. Warum will niemand sehen, dass dem Land die Ressourcen fehlen?
Noch. Wir könnten neutral bleiben. Uns auf die richtige Seite schlagen, wenn alles vorbei ist und nicht nur vorbei scheint.
Während ich beobachte, wie Camerons Lider sich zittrig schließen und sein Brustkorb sich keuchend hebt und senkt, erinnere ich mich an Beterras Worte. Ein Krieg wäre das Beste, was uns passieren kann. Ein Krieg, der nichts übriglässt als zerplatzte Träume.
Zögernd streichle ich Cameron über die nasskalte Wange. Ich will nichts von dem Leid erleben, das zweifelsohne auf uns wartet. Wer muss sich in Zeiten wie diesen schon beweisen? Die Abenteuer warten hinter der nächsten Biegung, muss man für sie wirklich Hunderttausende setzen?
Mein Nacken prickelt. Ich bin es leid. Ich bin es leid, mich von Königen schlagen zu lassen, wenn ich vier Asse auf der Hand halte.
Einen zögerlichen Kuss hauche ich Cameron auf die Wange. Selbst seine Sommersprossen scheinen ungesund blass. Die Ringe unter seinen sonst strahlenden Augen sind pechschwarz und wollen sich in seinen Schädel hineindrücken.
Dass ich gehe, bemerkt Cameron nicht. Beinahe meine ich, die Blicke der Porzellanballerine auf mir zu spüren, aber sie ist verschwunden.
Wie alle anderen, die mir Antworten geben könnten, auch.
Die Ratten verlassen ihre Höhlen und wuseln fort.
Wenn Aria und Moreen das Weite suchen, sollten wir das Land verlassen. Um wo unterzukommen? Die Welt tobt. Manchmal bebt die Erde und schüttelt die Katastrophe ab. Nicht dieses Mal. Bald befindet sich unser Land in den blutigen Klauen des ungenügsamen Krieges.
Wenn sie angreifen, werden unsere Städte in die Knie gezwungen werden. Ob es nun die Deutschen oder die Alliierten sind. Wen kümmert es? Schlussendlich wird mein Italien in Schutt und Asche liegen.
Es sei denn, das Glück ist mir treu. Oder die Zeit. Oder ein Mann, dessen Macht ich mir nicht erklären kann. In Zeiten wie diesen braucht es mehr als nur einen Gott, um die Erde zurück in ihre Bahnen zu lenken.
Der Wind ist eisig, viel zu kalt für den anbrechenden Sommer. Die Bäume biegen sich um mich herum und scheinen ihre Nadeln verlieren zu wollen. Ich fröstle, während erste Schweißperlen sich auf meine Stirn stehlen. Juni. In vergangenen Jahren verbrachte ich diesen Monat in Beterras Garten und las. Vergnügte mich auf Festivitäten. Zum Intrigenspinnen blieb im Winter noch genug Zeit, während sich die Reichen und Schönen trafen, um das Ungeheuerlichste zu diskutieren. Damals war ein Gerücht schnell gestreut und es breitete sich aus wie ein Waldbrand.
Die Zweige brechen knackend unter meinen Füßen und die Vögel fliegen auf. Ich meine, Ruß und Asche riechen zu können. Irgendwann wird er losbrechen.
Heute? Morgen?
Mühsam versuche ich mich Beterras Ausführungen zu entsinnen. Deutschland müsse schon die halbe Welt eingenommen haben, damit man sich auf seine Seite schlüge. Dänemark. Norwegen. Frankreich. Vor wenigen Wochen sind sie alle unter der deutschen Wut gefallen. Die wohin führt?
Mussolini will auf der rechten Seite der Geschichte stehen. Ein Mann, dessen Name ewig bekannt sein soll.
Ihm scheint nicht klar zu sein, dass dieses Schicksal ihn längst ereilt hat. Jeder wird Mussolinis Namen noch in hundert Jahren kennen. Ganz gleich wie er sich entscheidet. Warum also, warum nur beschleicht mich das ungute Gefühl, dass Mussolini binnen der nächsten Wochen seine Waffen zu Gunsten Deutschlands schärfen wird?
Die Himbeerhecken verströmen einen betörenden Duft und als ich wenige der schwarzen Früchte pflücke und sie mir in den Mund schiebe, breitet sich das süßliche Aroma betörend auf meiner Zunge aus.
Seufzend husche ich von Sonnenstrahl zu Sonnenstrahl, bis das Summen des Waldes dem Treiben der Stadt weicht. Ich habe mich kaum an dem letzten Baum vorbeigestohlen, als eine ältere Frau in blinder Hast gegen mich stößt. Ihr Kleid bauscht sich auf, sie wirft mir einen raschen Blick zu – und läuft weiter. Ihre Schuhe klopfen einen unregelmäßigen Takt.
Blinzelnd verharre ich am Straßenrand.
Ich scheine mich in einem neuen Land wiederzufinden. An einem Ort, der seine Ruhe vergessen hat und gegen Angst tauschte.
Über meinem Kopf sausen Maschinen. Dunkle, graue Streifen malen den Himmel dunkel. Der schwere Geruch von Ruß liegt in der Luft. Ich fasse meine dichten Haare im Nacken zusammen und lege sie mir über eine Schulter. Der Magen verkrampft sich zu einem stechenden Klumpen. Ich bekomme kaum noch Luft. Unruhig stiebt der Staub und fängt die Sonnenstrahlen, um sie zu Boden zu zwingen. Männer jubeln, Männer weinen. Frauen rennen, Frauen reden. In jeder Regung liegt eine Aufregung, die mir die Galle in den Mund treibt.
Ich muss nicht bis ins Herz der Stadt vordringen. Die Neuigkeiten fliegen mir entgegen. Gemeinsam mit den Wortfetzen der Umstehenden.
Wir werden den Ausschlag geben.
Ich will freudlos lachen. Der Endgegner steht uns noch bevor.
Rasselnd atme ich ein und greife nach einer knittrigen Zeitung. Das Papier raschelt unter meinen Fingern. Die einzige Nachricht, die wirklich zählt, prangt auf dem Titelblatt.
Wir haben verspielt.
Ich werfe einen Blick zurück zum Wald.
Meine Ohren klingeln.
Sie werden Cameron einziehen. Früher oder später jeden Mann. Verdammt, dieser Krieg ist noch nicht gewonnen. Wir sind kein Zünglein. Wir sind Leichensäcke! Ich verfluche den geschlossenen Pakt. Ich verfluche die Gier.
Die Worte um mich herum sind tausend zu viel pro Sekunde. Lieder werden angestimmt. Lachen und der Geruch von Alkohol füllen die Luft.
Unbarmherzig brennt die Sonne auf mich nieder und ich sehe kaum mehr die Hand vor Augen. Mein Körper fühlt sich falsch an. Als müsse ich mich jeden Moment übergeben, um weiteratmen zu können. Schwarze Punkte tanzen vor meinen Füßen und scheinen mich zu verhöhnen.
Die Ratten verlassen das sinkende Schiff. Sie sind alle längst fort.
Cameron und ich werden an Bord sein, wenn die ersten Kanonen Löcher in den hölzernen Schiffsrumpf schlagen.
Das Datum brennt sich in meine Augen. Der zehnte Juni 1940. Er wird als der schwärzeste Tag in meine persönliche Geschichte eingehen.
Soldaten mit ihren blitzenden, blanken Uniformen marschieren durch die Straßen. Meine Mundwinkel zucken. Man feiert sie, ehe wir sie wie Vieh auf die Schlachtbank führen.
Dieses Mal wird man uns nicht Sizilien schenken, weil wir uns rechtzeitig für die richtige Seite entschieden haben. Dieses Mal werden wir bluten. Ausbluten bis zum letzten Mann. Das Glück scheint mir unser Unglück zuzuflüstern.
Fortuna ist weit und breit nicht zu sehen.
Wenn ich sie in meinen Körper hätte vordringen lassen, hätten wir heute bessere Chancen? Meine Augen brennen. Wenn ich mich dem Glück ergeben hätte, könnte Fortuna mein Land retten?
Die Wahrheit fühlt sich an wie ein Teil meiner DNS.
Mein Wort hätte keinen Einfluss auf die zigarrenpaffenden Herren gehabt. Die Herren meines Landes spielen mit Leben, als wären sie austauschbar. Mein Verschwinden hat für dieses Geschehen nicht den Ausschlag gegeben. Es ist passiert, was passieren musste. Haben wir die geballte Wut nicht alle gespürt? Konnten wir den Zorn nicht sehen, wenn wir die Soldaten patrouillieren sahen?
Die kleinen Jungen wollen mitspielen. Dass ihr Kopf gesetzt wird, sehen sie nicht. Solange man nur kämpft. Solange man nur schächtet. Solange man die Mütter und Töchter, die Kinder und Alten in der Heimat verhungern lässt.
Das Herz donnert mir überlaut in der Brust. Ein Teil von mir will hinauf in Beterras Haus hasten und ihn zur Rede stellen. Während ich angespannt einatme, weiß ich, dass es zu spät ist.
Von nun an kann uns nur noch die Zeit retten.
Indem sie alles, was geschehen ist, zurückdreht.
Was sie nicht tun wird.
Man rempelt mich an, während ich wie erstarrt verharre. Ich spüre es kaum. In meinem Kopf spielen sich Horrorszenarien ab, bis sie mich begraben. Blut wird fließen. Wir werden darin ertrinken. Wir alle.
Szenen blitzen vor meinen Augen auf und ich weiß nicht, ob sie wahr sind oder nur eine entrückte Idee.
Während ich tief einatme, versuche ich mich zu beruhigen. Ich überdramatisiere. Was ich glaube, wird nicht eintreffen.
Es ist nur ein Krieg. Menschen sterben, foltern, morden. Klingt nach Alltag. Warum also sollten wir uns diese Möglichkeit entgehen lassen? Barmherzigkeit ist noch immer die wärmste Form der Schwäche.
Beterra hat Recht. Mussolini auch. Wir tun das Richtige. Dieses Land macht sich bereit für den richtigen Schritt. Hitler wird siegreich sein. Er wird siegreich sein.
Das muss er einfach.
Tränen brennen mir in den Augen. Weil, wenn wir nicht nur Hunderttausende Menschenleben verlieren, sondern auch noch den Stolz dieses Landes, ich weiß nicht, was dann von uns übrigbleibt. Ein Sieg ist unsere einzige Option.
Wir haben nicht …
Wir haben mit Sicherheit, was es zum Triumph braucht. Das müssen wir.
Meine Lider fühlen sich geschwollen an, dabei habe ich nicht geweint. Meine Glieder sind gefühllos und zeitgleich schmerzen sie, dabei hat man mich nicht geschlagen. Ich fühle mich auf eine Weise leer, die nicht natürlich sein kann. Menschen starben meinetwegen und es kümmerte mich nicht. Nun?
Ich atme tief ein.
Wenn die Lebensmittel knapp werden, haben wir längst gewonnen.
Das Papier der Zeitung zerknüllt in meinen Fingern.
Mein Blickfeld ist verschwommen, als ich mich umsehe. Diejenigen, die schweigen, spinnen sie die gleichen Gedanken wie ich? Sprechen sie sich Mut zu, wo es keinen Mut gibt? Keine Hoffnung.
Entschieden schüttle ich den Kopf. Es gibt immer Hoffnung. Immer und überall. Und gerade als ich mir selbst glauben will, sehe ich eine schluchzende, ältere Dame, die sich zittrig an der Häuserwand abstützt. Der helle Creme-Ton des Gemäuers hebt sich gegen ihre sonnengebräunte Haut ab und lässt sie unmöglich schmaler erscheinen. Tiefe, besorgte Falten liegen unter ihren Augen und beben an ihren Mundwinkeln.
Sie werden kommen, um Cameron zu holen. Keine geringere Strafe steht ihm zu, als auf dem Schlachtfeld zu dienen.
Schaudernd wende ich der Frau den Rücken zu. Ich glaube nicht, dass Cameron dazu in der Lage wäre. Menschen zu töten und mit sich selbst im Reinen zu bleiben. Ich bezweifle, dass er jemals fähig sein wird, einen Mann zu erschießen und danach zum Heute zurückzukehren. Cameron würde sich für jeden Tropfen Blut, der an seinen Händen haftet, verurteilen. Manche Männer wurden nicht für das Schlachtfeld geboren. Er gehört dazu. Zu den wenigen Menschen, die ihr Gewissen bewahrt haben.
Ich weiß nicht, ob ich Cameron dafür lieben oder hassen soll.
Die nächste Maschine verdunkelt den Himmel.
Die Zeitung vor meiner Brust gefaltet, husche ich zurück in den Wald. Kennt jemand außer mir Camerons Rückzugsort? David vielleicht. Würde er seinen Freund verraten? Womöglich, wenn fünfundzwanzig Peitschenhiebe auf eine Antwort gesetzt werden.
Als ich im Wald verschwinde, empfinde ich keine Erleichterung. Ich fühle mich feige. Rücksichtslos. Dreist. Dabei bin ich auf dem Weg zu Cameron, um unsere Würde noch tiefer zu vergraben. Es bringt uns doch allen nichts, auf die erste Bombe zu warten, die die Innenstadt zersprengt. Die Ratten sind davongeschwommen, wir müssen versuchen, ihnen zu folgen. Wer, wenn nicht die Zeit, kann dieses Dilemma richten?
Dieses eine Mal werde ich nicht warten, bis Fremde mir die Entscheidung aus den Händen nehmen. Dieses eine Mal tue ich das Richtige.
Ich sage mir, dass es nun keine Rolle mehr spielt. Dass ich mich nicht von dem perfiden Glück habe übernehmen lassen.
Dass ich versuchte, an der Seite der falschen Person Einfluss zu erlangen.
Dass ich wirklich glaubte, die richtige Position könnte einer Frau wie mir eine Stimme verleihen.
Die Vögel sind verstummt. Die Sonne scheint mich zu verbrennen, dabei berührt sie mich kaum und es ist eiskalt. Der heftige Wind leckt unter die knisternden Seiten der Zeitung. Ich fliehe vor einem unsichtbaren Jäger – meinem Gewissen.
Lächerlich. Es hat mich doch längst gefangen.
Der Krieg hat uns alle, die hier kriechen und darauf warten, dass man uns die Gliedmaßen vom Körper sprengt.
Die Straßen in Blut tränkt.
Und nichts zurücklässt als eine trügerische, friedliche Erinnerung.
Ich überquere die Schwelle leise und schließe die Tür vorsichtig hinter mir. Gerade leise genug, damit das Knacken im Pfeifen des Windes untergeht. Nicht leise genug, damit mich niemand hört.
Ich erstarre, wo ich stehe. Das Bild, das sich mir bietet, ist absurd. Die Frau aus Camerons Erzählungen ist zum Leben erwacht. Und sie ist hier.
Arias schwarzen, kinnlangen Haare sind feucht wie von einem starken Regen und die tiefen Ringe unter Camerons Augen sind verschwunden. Ihre zarte, schmale Hand ruht auf seiner Wange und unter zusammengezogenen Brauen betrachtet Cameron sie.
Ein ungleiches Paar sind die beiden. Von Aria geht eine resignierte Kälte aus, die mir bis in die Knochen dringt. Camerons Lächeln genügt, damit die Sonne aufgeht.
Seine Mundwinkel heben sich, sobald Cam mich entdeckt. „Sam!“, ruft er aus, begeistert wie ein kleiner Junge. „Schau nur, wen ich gefunden habe.“
Wer ihn gefunden hat. Aria betrachtet mich mit einer neutralen Abschätzigkeit, die ich nicht nachahmen kann. Die ungedämmte Düsternis des personifizierten Glücks umgibt sie nicht. Eine andere Macht scheint in Arias Adern zu fließen. Weniger willkürlich. In keiner Weise gnädiger. Ihre quecksilbergrauen Augen scheinen alles und nichts gesehen zu haben – während sie alles und nichts kümmerte.
„Bist du hier, um zu helfen?“, frage ich und löse mich von der Schwelle. Der Wind zerrt an den Brettern und das Dach quietscht.
Die Zeit hebt einen Mundwinkel. Ein halbes Lächeln, restlos emotionslos. „Ich lebe nicht, um mich zurückzudrehen“, sagt sie und klingt auf eine Weise nüchtern, die strafend ist.
Ich presse die Lippen fest aufeinander. Natürlich. „Wenn du es nicht tust, taumeln wir in einen Krieg, der keine Grenzen kennt. Wir könnten alle sterben!“
„Es sterben nie alle“, erwidert die Zeit nüchtern. „Das Prinzip des Überdramatisierens schadet dem Menschen mehr als der eigentliche Krieg.“
Ich stehe kurz davor, mich an meiner Entrüstung zu verschlucken. „Aria“, setze ich an.
„Mein Name darf nur von solchen ausgesprochen werden, denen ich ihn genannt habe.“
Fassungslos lache ich auf. „Wir befinden uns von heute an in einem Krieg!“
Camerons Brauen rücken zusammen. Anstatt an Aria zu appellieren, hüllt er sich in ein bedrücktes Schweigen.
„Kriege toben täglich, stündlich, ewig. Sie fordern den notwendigen Tribut.“
Aria sitzt dort, wo ich saß. Direkt an Camerons Seite. Behauptete er nicht, dass sie nie miteinander gesprochen haben? Die beiden wirken einander deutlich vertrauter, als mir lieb ist.
Sich räuspernd zieht Cameron sich die Decke bis an das Kinn und starrt aus dem Fenster. Gespenstisches Licht huscht über seine gesund geröteten Wangen. Es ist, als hätte Aria ihn berührt und die Zeit um Cameron herum vorgedreht, bis er die Krankheit überwunden und zu alten Kräften zurückgefunden hat.
„Wir stehen jetzt also wirklich im Krieg? Wir, Japan und Deutschland gegen den Rest der Welt?“
„Fast“, sage ich und meine Stimme bricht.
„Klingt übel.“ Seufzend vergräbt Cameron sein Gesicht in den Händen. „Ziemlich übel.“
„Ein Soldat dient dem Tod“, wirft Aria gelassen ein. „Springst du ihm heute von der Schippe, holt er dich morgen.“
„Ja, komm, das wusste ich. Das musst du mir nicht sagen.“ Cameron setzt sich auf. Seine Bewegungen wirken kraftvoll. Bestimmt. Fast als wäre er nie krank gewesen. „Ist es schlimm, dass ich mein Leben trotzdem liebe? Ursprünglich hätte mir nichts passieren dürfen. Mit meiner alten Position. Aber nun?“
„Warum hast du mich gerufen, Cameron?“, fragt Aria ihn eisig.
Meine Brauen schießen in die Höhe. Er hat was? Langsam atme ich durch die Zähne ein. Stunden, Tage, beinahe Wochen bringe ich damit zu, herauszufinden, wie ich mit der Zeit sprechen kann. Dabei war sie die ganze Zeit über nur ein Wort entfernt?
Ich will Cameron erwürgen!
Cameron wirft sich die Decke über die Beine. „Um mich gesund zu pflegen. Das habe ich dir doch schon gesagt!“
„Gesund zu pflegen?“, frage ich pikiert. Wer hat ihm den Eiter aus den Wunden gewaschen und seine Stirn gekühlt? Wer saß Nacht um Nacht an seiner Seite und hielt die Einsamkeit aus? Diese Ungewissheit, diese Unruhe und Angst?
Eine steile Falte taucht zwischen Camerons Brauen auf. „Ganz so meinte ich das nicht“, sagt er. „Aria kann die Zeit schneller laufen lassen. Das ist zwar nicht so wohltuend wie das, was du gemacht hast …“
„… aber effizienter“, ende ich eisig.
Camerons winziges Achselzucken ist ein Schlag ins Gesicht. Ich sollte ihn auf der Stelle ausliefern, damit man ihn auf das Schlachtfeld schleift und er sich für einen Kameraden eine Kugel einfangen kann.
Und ein weiteres Mitglied der Familie Izaret ermorden? Das Herz schlägt mir in den Ohren. Es wäre so leicht. Erleichternd!
Und falsch.
„Der Grund meiner Anwesenheit“, wiederholt Aria. Sie erhebt sich in einer fließenden Bewegung und für einen Moment scheint der Raum um sie herum zu verschwimmen. Ihre nackten Füße schweben über dem Holz. Schimmern ihre silbrigen Augen golden? „Niemand ruft mich, damit ich mich an seiner Seite zur Ruhe setze.“
„Würdest du doch eh nicht tun“, schnauft Cameron und lehnt sich mit dem Rücken gegen die Wand. „Ich dachte, es wäre gut, dich mal wieder zu sehen.“
Eine Eiseskälte kriecht über den Boden. Um mich herum erwachen Eisblumen zum Leben und mein Atem dampft in der Luft.
„Sag ihr, warum sie hier ist“, fauche ich. „Und sag ihr, dass sie verschwinden soll!“
„Wir haben ein Problem“, setzt Cameron an.
„Wir haben ein Problem!“, bestätige ich. „Vom heutigen Tag an befinden wir uns im Krieg. Deine Pflicht ist es, in diesem Krieg zu dienen und du hast dich ausgerechnet heute heilen lassen.“
Cameron zuckt die Achseln, als würde nichts davon eine Rolle spielen. Dabei ist es das, was zählt. Das ist das Problem. Das einzige Problem. Krieg. Er wird uns verzehren. Er wird uns zerreißen. Nichts von uns wird übrigbleiben und die einzige Person, die ihn verhindern könnte, steht neben uns. Und lässt das kleine Haus gefrieren.
„Wir haben ein anderes Problem als den Krieg“, sagt Cameron und setzt sich aufrechter hin. Aria ist ein Phänomen. Offensichtlich. Eines, das mir den Magen umdreht. Ihre Iriden sind nicht länger silbrig schimmernd. Ich glaube zu erkennen, wie ein schwarzer Zeiger über Gold rast. Aria verharrt über den Dielen und das kinnlange, pechschwarze Haar steht ihr wirr vom Kopf ab. Ich spüre ihre Wut wie meine eigene. Nur dass ich mit aller Macht höchstens ein Fenster zertrümmern könnte. Aria? Wäre in der Lage alles zu zerreißen. „Meine Porzellanfigur ist weggelaufen“, sagt Cameron.
Hysterisch lache ich auf. Wie bitte? Er ruft die Zeit, diese Frau, um ihr zu berichten, dass seine Porzellanfigur verschwunden ist? Für Aria ist sie nicht mehr als das. Nur eine Ballerina, die ewig in einer Pose gefangen ist. Für Aria ist sie nichts, worüber es sich zu reden lohnt.
Ich glaube zu spüren, wie mein Leben um mich herum schmilzt wie Wachs von einer Kerze.
Arias Zehenspitzen berühren die knarzenden Dielen und ihre Iriden sind wieder aus Quecksilber gemacht. In einer unmöglich fließenden Bewegung setzt sie sich neben Cameron auf das Bett und zieht die Beine an. Ich verabscheue diese offensichtliche Vertrautheit zwischen den beiden. Wie konnte ich nur für einen Moment glauben, Cameron in der Hand zu halten? Irgendeine Form der Macht über ihn zu haben? Wenn er mindestens so intrigant ist wie ich selbst.
„Wohin ist sie gegangen?“, fragt Aria und ihre Stimme vibriert wie ein sich auf sein Ziel zubewegender Uhrenzeiger.
Cameron presst seine Decke fester an sich. „Das ist das Problem. Niemand weiß es.“
„Lass sie laufen.“
„Es ist nur eine dumme Porzellanfigur!“, rufe ich aus. „Es ist ein Niemand! Wir sind mit dem heutigen Tag in einen Krieg geschlittert, den wir nicht gewinnen können. Hört mir denn niemand zu?“
„Schweig Still!“, faucht Aria. Meine Lungen erstarren. Krampfhaft will ich die Luft durch mich hindurchpumpen, aber das Zwerchfell hängt spannungslos hinab. „Ein Krieg wird gefochten, weil die Menschen ihn fechten wollen. Sollte ein Mensch sich wünschen, dass sie verschwindet?“
„Sie?“ Ich lache heiser auf. „Die menschliche Rasse?“ Keuchend japse ich nach Luft. Die Bewegungslosigkeit löst sich auf.
„Die Spielkarte zum Schlüssel.“ Die Zeit verschränkt die Arme vor der Brust. So zart sie auf den ersten Blick auch wirkt, so unnachgiebig ist sie. Arias bloße Anwesenheit ist ein Schlag in den Magen. Mit jeder Sekunde holt sie erneut aus. Ich bin fehl am Platz. Ich bin diejenige, die nicht hier sein sollte, während Cameron und Aria sich einander zuwenden, als würde sie mehr verbinden. Mehr als nur dieser Moment.
Ich leugne die glühende Eifersucht, die sich ihren Weg durch mich gräbt, und nehme an dem kleinen Holztisch Platz. Gehen? Ich? Jetzt? Wer war es, der Cameron in den furchtbaren Momenten mit all den Mitteln heilte, die ihr zur Verfügung standen? Nicht Aria. Niemals die Zeit. Sie heilt keine Wunden. Sie reißt sie wieder auf.
„Ein Krieg tobt“, wiederhole ich und fühle mich, als würde nichts von dem, was ich sage, zu den beiden durchdringen. Gegen Wände brülle ich. Gegen Häuser. Durch das halbe Land, aber niemand scheint meine Sprache zu verstehen. Dabei befinde ich mich zwischen all den Menschen, die mir das Sprechen beigebracht haben.
„Um ehrlich zu sein, durchblicke ich die Situation nicht wirklich“, gesteht Cameron und seine hypnotisierend grünen Augen hat er auf Aria geheftet. „Ich bin mir nur ziemlich sicher, dass es zu früh dafür ist?“
„Nicht zu früh“, sagt die Zeit wegwerfend. „Sie wurde gerufen und sie folgt dem. Wenn du versuchst, ihr zu folgen, verschwendest du dein Glück.“
Cameron seufzt schwer. „Fortuna hat sich in diesem Collier eingenistet. Was, wenn …“
„Es ist noch niemand geboren, der dazu in der Lage ist, es zu tragen.“
Ungläubig japse ich nach Luft. „Ich habe es getragen!“, rufe ich aus. „Warum sollte es niemandem möglich sein, dieses Collier umzulegen?“ Es mag mich alles gekostet haben und noch mehr. Das ändert nichts an der Faktenlage. Cameron und Aria unterhalten sich, als sollte ich nicht Teil des Gesprächs sein. Sie unterhalten sich, als wäre es ihnen lieber, wenn ich nicht zuhören würde.
Ich stehe kurz davor, in hysterisches Gelächter auszubrechen. Es ist völlig egal, wie laut oder leise die beiden sprechen. Ich verstehe nichts von dem, was sie sagen. Dabei stehe ich im Kern des Geschehens. Ich kann diesen Kern verpesten, wann immer mir danach ist. Weil ich alles dafür geopfert habe, um diese Position einzunehmen! Meine Seele, mein Gewissen, mein Herz. Meine Finger zittern unkontrolliert.
Wen hat je gekümmert, was ich zu sagen habe.
Aria übergeht meinen Einwurf. Cameron scheint mich vergessen zu haben. Sie sehen einander an, als könnten sie stumm verstehen, was der andere denkt. Als ich schützend die Arme um mich schlinge, fröstle ich nicht nur der niedrigen Temperaturen wegen.
„Ich sollte diese Figur nie aus den Augen lassen“, sagt Cameron. „Es fühlt sich falsch an, sie einfach ziehen zu lassen.“
„Du bist noch nicht bereit für das, was sie sucht.“
„Sie gehört hierher“, murmelt Cameron.
„Das Glück ist dein Ansprechpartner“, sagt Aria eisig. „Einzig und allein das Glück, wenn du dem entrinnen willst, was dir vorherbestimmt ist.“
Cameron rollt die Augen. „Lass mich raten. Was das ist, willst du mir noch immer nicht sagen?“
Ich sitze kaum zwei Meter von den beiden entfernt und sie verhalten sich, als würde ich nicht existieren. Schlimmer noch. Als wäre meine Existenz irrelevant.
„Ich sehe keinen Sinn darin“, sagt Aria glatt.
Das Rauschen und Grölen in der Ferne – rast ein Bomber über uns hinweg?
„Ihr diskutiert völligen Unsinn“, flüstere ich. „Was kümmert euch eine Porzellanfigur? Ab heute befinden wir uns im Krieg. Versteht ihr, was das bedeutet?“ Als keiner von beiden reagiert, fahre ich unbeirrt fort. „Menschen werden sterben. Menschen werden verstümmelt werden. Menschen werden missbraucht werden. Mütter verlieren ihre Söhne und Söhne ihre Mütter. Unschuldige werden im Schutt ihrer Häuser begraben werden. Versteht ihr das?“
Aria würdigt mich keines Blickes. „Wenn dem Sohn die Mutter und der Mutter der Sohn stirbt, erkenne ich keine Tragik in deiner Ausführung“, sagt sie glatt. „Fortuna gilt es, zu finden.“„Aber die Porzellanfigur“, setzt Cameron an.
Das Dröhnen in der Ferne. Ich weiß, dass es nicht nur der Motor eines klapprigen Wagens ist. Ich will um mich schlagen. Kreischen, schreien, die beiden schütteln und irgendwie, irgendwie zu ihnen durchdringen. Während ich den Mund öffne, blicke ich in Camerons Augen. Und beginne einen winzigen Bruchteil der Wahrheit zu begreifen.
Nur weil ich ihn gepflegt habe, ist er mir nichts schuldig. Nur weil ich bei ihm geblieben bin, hat sich nichts geändert. Noch immer stehe ich in Camerons Schuld und noch immer ist es an mir, zu bereuen. Einen Tod gleicht man nicht mit Nächten aus, die man Kamillentee brühte, um die Wunden auszuspülen. Die man reinen Schnaps auf das offene Fleisch träufelte. Einen Tod gleicht man mit einem weiteren Tod aus.
Ich könnte tun, was ich will. Solange ich lebe, ist es sinnlos.
Ich begreife das, während ich die beiden beobachte, die sich angeblich nie zuvor begegnet sind. Die Frau, in die Cameron sich verliebte, obwohl sie sich angeblich so fern sind. Cameron ist ein Blender. Ein kluger dazu. Niemals hätte er sich an die Seite meines Ehemanns und Mussolinis stehlen können, wäre es anders.
Ich habe nichts gegen ihn in der Hand. Diese Gewissheit vernichtet mich. Nichts, was mir die Möglichkeit gibt, ihn zu einer Handlung zu zwingen. Cameron tut, was Cameron tun will. In diesem Moment? Hat es nichts mit dem zu schaffen, was er tun sollte.
Eisig reserviert stehe ich auf, schiebe den Stuhl an den Tisch und verlasse die Hütte im Wald. Meine Muskeln zucken. Diese Schlacht habe ich verloren.
Durch die Baumkronen erkenne ich, dass schwere Wolken aufziehen. Als wollten sie verbergen, was sich hinter ihnen abspielt. Als wollten sie uns beschützen.
Ich bin eine Verstoßene meines eigenen Hochmuts, weil ich glaubte, vom Boden aus neue Strippen ziehen zu können. Aber wer die Treppe hinab in den Kerker steigt, legt sich nur selbst Fesseln an.
Um mich herum biegen sich die Zedern in einem auffrischenden Wind und das Holz knarzt ohrenbetäubend. Ich drehe mich nicht um. Ich will nicht hören, was die beiden sagen, und ich will nicht sehen, wie sie nah beieinandersitzen. Am liebsten würde ich sie beide in der Luft zerfetzen. Am liebsten will ich ihnen das richtige Mittel in ihr Wasser mischen, damit sie endlich ruhig sind. Auf ewig.
Meine Gedanken rasen. Ein weiterer Krieg. Jede grauenhafte Erzählung ploppt in meinem Geist auf. Jede furchtbare Sekunde, die ich nie selbst erleben musste. Aber all das wird zurückkommen. So wie es war und noch tausendmal furchtbarer. Wir sind schwach. Wir sind humpelnde Greise an ihrem Krückstock, die versuchen, dem ersten Stahlregen zu entfliehen. Aber er donnert. Er zieht gerade jetzt auf und dann donnert er und donnert er, bis er an sich selbst erstickt. Bis er in der roten Suppe ertrinkt.
Ich habe nach niemandem gesucht, der mich auf dieser Reise begleitet. Nein. Ich wollte einen Mann an meiner Seite wissen, der tut, was ich von ihm verlange, und wollte somit meinen späten Sieg erringen.
Cameron Izaret hätte dieser Mann sein sollen.
Hätte ich seiner Schwester das Leben gelassen, vielleicht hätten sich einige Momente geändert.
Der schwere Geruch der Natur blendet mich. Einen Fuß setze ich vor den nächsten, mechanisch.
Sie werden jeden lebenden Mann einberufen. Jeden gesunden Mann und jeden Jungen, der es kaum erwarten kann, sein Vaterland zu verteidigen. Sie werden bewaffnet werden und sie werden vorrücken. Man wird sie auf den Verlust vorbereiten und auf die Leichenschau. Man wird ihnen sagen, dass das Essen knapp wird und der Freund leblos, aber Daheim werden die Wunden genäht und Daheim ist die Welt noch in Ordnung.
Ich glaube den Hunger erkennen zu können. Ich glaube das blutschwere Röcheln zu hören, wenn die Soldaten ihre gaszersetzte Lunge aushusten. Das Rauschen des Blutes, wenn es aus den zerfetzten Adern schießt.
Die Stöcke sind nicht mehr aus Holz, sondern aus Knochen. Die Kiefernnadeln sind Haare und die Wurzeln erstarrte Beine. Mein Blickfeld flackert und ich blinzle dagegen an. Die Zeit. Ich schwor mir, die Zeit dazu bewegen zu können, diesen Krieg zu verhindern. Ich schwor mir, Beterra dazu bewegen zu können, sich gegen diesen Krieg zu stellen. Ich schwor mir, das Glück herauszufordern.
Stattdessen blieb ich an Camerons Seite und habe das große Ziel aus den Augen verloren. Ich glaube, die Quittung bitter auf meiner Zunge schmecken zu können. Metallisch und salzig zugleich.
Cameron läuft mir nicht nach.
Niemand empfängt mich.
Die Straßen sind wie leergefegt, als ich den Wald verlasse. Für immer, schwöre ich mir. Für immer und ewig. Kein Vogel zwitschert und kein Käfer kriecht über die sandigen Straßen. An der Stadtmauer flattern die Todesanzeigen.Sie werden sich häufen. Bald werden sie ausgewaschen sein und durch neue ersetzt werden. Von nun an hunderte täglich. Tausende. Ich sehe die Soldaten auf das Schlachtfeld stürmen, aber den Boden, den sie betreten, hat jemand vor ihnen entdeckt. Und als man ihn entdeckte, vergrub man Minen, die gemacht wurden, um das Leben den unglücklichen Kreaturen mit den Beinen zeitgleich auszureißen. Die ersten fallen durch sie, die nächsten durch die Kugeln, die dritten bleiben im Stacheldraht verfangen hängen und wenn kein Stahl sie durchbohrt und kein Eisen, dann die Hitze und die Erschöpfung.
Cameron wurde zu einem Mann degradiert, der seine Truppe aufs Schlachtfeld führt, nur um als erster den Kopf zu verlieren. Ich mache mich darauf gefasst, seinen Namen auf der Stadtmauer zu lesen und es macht mir alles aus.
Er ist es noch immer. Der Junge mit den unmöglich grünen Augen, der eines Tages nicht nach Hause zurückkehrte, die Hose zerrissen und das Haar wirr nach einem langen, anstrengenden Tag.
Ich geistere durch die leeren Straßen. Ich gehe vorbei am Wald und vorbei an den letzten Ausläufen der Zivilisation. Die Ähren des Getreides strecken sich dem Himmel entgegen, als hätten sie nichts zu befürchten. Sie sind überall und sie duften besser als frisch gebackenes Brot. Ein schmaler Pfad führt mich fort von der Stadt und hin zu einem Ort, den es sich nicht zu bombardieren lohnt.
Ich weiß nicht, warum ich diesen Weg einschlage. Aber ich will nirgendwo anders hin.
Ob er die Nachricht bereits gehört hat? Ob er bereits versteht, was vor sich geht?
Sie donnern über unsere Köpfe hinweg. Sie werden an unseren Küsten die U-Boote stationieren. Wer hat den Menschen eingeredet, dass ein Sieg möglich wäre? Der bewaffnete Herrscher oder der zum Staatsoberhaupt geputschte?
Ich zittere am ganzen Körper. Wenn dieser Krieg kommen sollte, ich habe mir geschworen alle Asse in der Hand zu halten. Nun habe ich nichts. Nicht einmal jemanden, der zu mir hält. Auf den ich mich verlassen kann. Ich habe zu hoch gepokert. Jeder hat es kommen sehen. Jeder außer mir.
Vladimirs Haus baut sich in der Ferne auf, als meine Füße zu schmerzen beginnen, mir jeder Muskel vor Erschöpfung brennt und die Sonne sich schüchtern durch die Wolkendecke schiebt. Ich bin noch einige hundert Meter von meinem Ziel entfernt, als ich die schmale Gestalt erkenne, die sich durch das Tor schiebt und in die entgegengesetzte Richtung davonläuft. Das blonde Haar hat sie zu einem Zopf geflochten und jede ihrer Bewegungen erinnert an die einer Tänzerin. Die Porzellanfigur. Ich sollte mich an ihre Fersen heften. Bestimmt wüsste sie mehr. Bestimmt könnte sie mir einige meiner Fragen beantworten.
Beantwortete Fragen beenden keinen Krieg. Beantwortete Fragen beginnen einen.
Ich lasse sie laufen. Dass sie mich ebenfalls entdeckt hat, merke ich, als sie einen prüfenden Blick über ihre Schulter wirft. Ich renne nicht. Sie tut es ebenso wenig. Wir bewegen uns beide schweigend auf ein Ziel zu, das durch diese eine Zwischenstation verknüpft ist.
Das Tor protestiert leise in den Angeln, als ich es öffne und schließe. Die Kiesel sind weiß wie Schnee, der Wein rankt sich gemeinsam mit Efeu die Rosenbögen hinauf. Ein wunderschöner, schattenspendender Baldachin.
Ich klopfe. Der Höflichkeit halber. Und trete ein, ehe man mir öffnet. Vladimir muss sich bereits auf halbem Weg zu mir befunden haben. Er verharrt mitten in seinem Korridor und lächelt mich gequält an.
„Da hat wohl jemand die Nachrichten gelesen.“
„Wir werden zerbombt werden“, spreche ich die nackten Tatsachen aus.
„Und ich dachte schon, du wolltest das verhindern.“ Die weißen, wilden Locken hat er sich gestutzt. Vielleicht sind sie noch einen Fingerbreit lang. Eher weniger. Vladimir wirkt braver. Mein Blick bleibt an seiner Jacke hängen. Er trägt die Uniform eines einfachen Soldaten. Den Rucksack hat er sich über den Rücken geworfen, in einer Hand hält er ein Gewehr. Das Geschirr klappert leise, als er das Gewicht verlagert.
Ich resigniere.
„Ein düsterer Tag, Sammy.“
Der düsterste. Ich begreife nicht, was ich sehe, und wann immer ich es mehr zu begreifen beginne, verschließe ich die Augen davor.
„Ich hatte mich gefragt, ob du einen Weg kennst, das Feuer zu ersticken, ehe es eröffnet wird“, gestehe ich. Vladimirs Aufzug ist Antwort genug.
„Ein Krieg ist doch was Nettes“, sagt er. „Einmal ungestraft auf all die Säcke schießen, die einem seit Ewigkeiten auf die Nerven gehen.“
„Sie werden das Feuer erwidern.“
Vladimir zuckt die Achseln. „Klar werden sie das. Sonst wäre es nicht aufregend.“
„Menschen werden sterben“, sage ich.
Vladimir rollt die Augen. „Was ist das schon? Menschen sterben halt, sie foltern, sie morden. Klingt nach Alltag.“
Ein Spiegel meiner eigenen zynischen Gedanken.
Ich schlucke bitteren Speichel hinunter. „Du hast gesagt, du würdest helfen.“
„Um Fortuna kleinzukriegen, gern.“ Vladimir zuckt die Achseln. „Aber im Ernst, wie willst du einen Krieg stoppen, der gerade erst begonnen hat? Noch niemand ist gestorben. Das ist bisher also einfach nur sehr, sehr aufregend. Logisch?“
„Nein. Nein, das ist es nicht.“ Wenn man etwas ändern kann, dann jetzt. Aber wo ich auch hinsehe, niemand reicht mir seine Hand. Ich starre auf Vladimirs Aufmachung. Die Uniform des ersten Weltkrieges. Sie hat gesehen, wie Lungen ausgehustet und wie Körper aus den Stiefeln gesprengt wurden. Sie hat beobachtet, wie Ratten sich durch Schädel fraßen und wie Hände Waffen umklammerten. Dabei hat sie den Menschen, der sie trägt, längst verloren.
Lässig lehnt Vladimir sich gegen die Wand. „Komm, Sammy, sag schon, wovor hast du Angst?“
Vor nichts. Wirklich. Vor gar nichts. Ich will nur nicht, dass irgendwas hiervon wirklich geschieht.
„Du kannst mir nicht erzählen“, Vladimir gluckst vor sich hin, „dass es dich wirklich stört, wenn Menschen sterben. Wie viele hast du auf dem Gewissen?“
„Darum geht es nicht“, fauche ich. „Darum ging es nie.“
„Worum denn dann?“ Vladimirs keckes Grinsen steht im krassen Gegensatz zu seiner Uniform.
Ich schlucke gegen einen schweren Kloß in meiner Kehle an und verstehe nicht, woher er kommt. Ich verstehe gar nichts mehr. Die Maschinen grollen und eigentlich hätte nichts hiervon so schnell und ohne mein Wissen geschehen dürfen. Ich bin die Frau des zweitmächtigsten Mannes dieses Landes. Ich habe geplant, seine Pläne zu unterlaufen. Die Intriganten gegeneinander aufzuwiegeln. Ich hatte doch alles in der Hand. Was ist nur geschehen?
„Sei nicht bockig, Sammy“, seufzt Vladimir. „Es ist doch nur ein Krieg. Nichts Wildes oder so.“
Nur Menschen die tun, was Menschen eben tun. Was es auch sein mag, ich fühle mich furchtbar bei dem Gedanken daran. Mir tut alles weh, wenn ich versuche, die neue Realität auszublenden. Alles hieran ist grausam und unmöglich zu ignorieren und unmöglich zu akzeptieren und trotzdem drohe ich, genau das zu tun.
„Was würdest du mir raten?“, frage ich unvermittelt. „Was soll ich als nächstes tun?“ Ich brauche ein Leuchtfeuer, das mir einen Weg weist. Einen Pfad, den ich ohnehin früher oder später verlassen werde, aber der mir eine Idee gibt.
„Du könntest dir ein rotes Kreuz auf die weiße Bluse malen und ein paar Jungs wieder zusammenflicken“, sagt Vladimir leichthin.
Das will ich nicht. Ich will nichts hiermit zu tun haben, weil, so verrückt es klingt, es fühlt sich an, als wäre dieser Krieg der Beginn meines eigenen Untergangs. Nicht nur der Grund für meinen überstürzten Tod. Sondern für viel mehr, was ich nicht begreifen kann.
„Wer war das vorhin“, wechsle ich abrupt das Thema. „Ich habe eine Frau gesehen, die das Haus verlassen hat.“
Vladimir grinst. „Ein Mädchen halt. Ganz nett.“
„Was wollte sie von dir?“
„Reden.“ Er rollt die Augen. „Schon verrückt. Neuerdings wollen alle nur reden. Die kleine Diebin, du, Fortuna. Alle wollen nur quatschen.“
„Fortuna war hier?“
Breit grinsend nickt Vladimir.
„Und du hast es nicht für nötig gehalten, mir das zu sagen?“ Das Glück hätte dieses Geschehen im Keim ersticken können. So verdorben und dunkel es auch sein mag. Es könnte all das beenden, bevor es einen echten Schaden anrichtet.
„Nein, warum denn?“ Unschuldig lächelt er. „Fortuna wollte mir nur eine kleine Geschichte erzählen.“
„Welche Geschichte?“, frage ich heftig. Er muss es mir verraten. Wenn ich an das Glück komme, dann kann ich alles. Sie saß schon einmal in mir. Vielleicht gelingt es mir, sie noch einmal in mich zu locken. Nur dieses Mal werde ich sie kontrollieren und nicht umgekehrt.
„Eine Geschichte? Puh, wo fang ich da an?“ Ich will Vladimir treten, damit er aufhört zu lächeln. Wir sollten uns alle vergraben. Wir sollten unsere Testamente schreiben.
„Hat Fortuna über den Krieg gesprochen?“, flehe ich halb.
„Über den Krieg?“ Eine bittere Düsternis stiehlt sich in Vladimirs Blick. „Da kann ich dir was erzählen.“
„Was Fortuna gesagt hat“, fauche ich. „Sag mir, was sie gesagt hat. Sag mir, wann sie hier war und sag mir, wohin sie gegangen ist. Tu es!“
„Man, du bist hysterisch, als würden wir im Schützengraben darauf warten, abgeknallt zu werden“, lacht Vladimir. „Wir sitzen aber in keinem Schützengraben.“
„Die ganze Welt ist zu einem Schützengraben geworden.“
Seine Augen blitzen. „Was erwartest du denn?“
„Dass Fortuna mir hilft, das hier zu beenden, bevor es seinen Tribut fordert.“
„Dass … Warte, was?“ Vladimir richtet sich auf. „Du denkst ernsthaft, dass Fortuna sich gegen einen Krieg stellt? Warum?“
„Weil sie es muss!“
„Niemand muss hier irgendwas.“
„Sie muss“, insistiere ich. „Sie ist die Einzige, die dazu in der Lage ist. Niemand wird jetzt von seinem Standpunkt zurücktreten. Sie muss es einfach tun. Sie muss!“
Vladimir runzelt die Stirn. „Ich glaube, du verstehst die Situation hier nicht wirklich.“
„Du verstehst sie nicht!“
„Sammy, du bist völlig am Durchdrehen.“
„Sie werden uns zerstören“, rufe ich aus. „Nichts wird übrigbleiben. Alles, wofür ich mich verkauft habe, wird einfach verpuffen, weil ich selbst als Ehefrau von einem der fünf mächtigsten Männer Italiens nichts bewirken konnte.“
„Fahr mal runter.“
„Weil ich nichts bewirken konnte!“, rufe ich kreischend aus. „Wir werden einfach bombardiert werden und wir werden uns dem beugen müssen. Sie werden uns umbringen. Sie werden unsere Häuser zerschießen und unseren Männern die Beine vom Körper sprengen, unsere Kinder auf den Straßen verhungern und von uns nichts übriglassen.“ Japsend schnappe ich nach Luft, dabei spüre ich mich selbst nicht mehr.
Vladimir ist gefährlich still geworden. Die kurzen, weißblonden Haare stellen sich auf, dann erstickt er sie mit dem Helm. Er wird ihm gut passen, wenn die Panzer über ihn hinwegrollen und ihn Vladimir in den Schädel pressen.
„Wo ist Cameron?“, fragt Vladimir mich schließlich.
„Cameron ist nicht hier.“ Er wird nie wieder dort sein, wo ich bin, weil ich zu seiner Marionette wurde. Ohne es zu bemerken! Er trägt die Schuld. Er hat mich von meiner Mission abgelenkt. Die ersten Saaten waren gesetzt, aber Cameron hat mich von den mächtigen Herren ferngehalten, als ich ihre Strippen hätte ziehen müssen. Es ist Camerons Schuld. Wenn er stirbt, ist es nur gerecht. Wenn er stirbt, dann ist es gut so.
Weil er diesen Krieg zu verantworten hat.
„Du solltest zu ihm gehen“, rät Vladimir mir.
„Das will ich nicht.“
„Solltest du aber tun.“
„Ich will es nicht!“, rufe ich aus. „Er sitzt mit Aria im Wald und wechselt kein Wort mit mir.“
Vladimir rollt die Augen. „Vielleicht hilft sie dir ja, die Zeit zurückzudrehen“, spottet er.
Eher würde sie mich niemals altern und sterben lassen. Die hilflose Wut frisst mich von innen heraus auf. Ich weiß nicht wohin und woher und weshalb und ich weiß nicht mehr … Ich weiß einfach nicht mehr. Ich verstehe das nicht. Dafür habe ich das doch getan, alles getan, um etwas bewirken zu können. Um eine Stimme zu haben. Ich habe mich in diese Kleider gepresst und in die Schlafzimmer gestohlen und das Gift in Tassen geträufelt, damit es endlich Ruhe gibt. Damit diese Welt endlich einen Sinn ergibt und jedem Menschen etwas zurückgibt und jetzt beginnt dieser Krieg. Ein Krieg, den ich nicht wollte und den ich hätte aufhalten müssen.
Es passiert, weil ich an Camerons Seite stand. Weil ich ihm gefolgt bin. Wegen einer Idee von Liebe oder Schuld oder Hoffnung, wer weiß das schon? Wen interessiert das überhaupt? Es ergibt keinen Sinn. Nichts ergibt mehr einen Sinn, sobald die erste Kugel über unser Land saust. Sobald sie über unsere Felder trampeln. Sobald der eigene Freund einen erschießen muss, weil das Leid einen knebelt.
„Du musst mir helfen“, bringe ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. „Hilf mir, diesen mörderischen Irrsinn zu beenden.“
„Du und Cameron, ihr könntet hierherkommen“, bietet Vladimir mir an. „Euch wird hier niemand suchen und ihm wird ziemlich sicher nichts geschehen.“
„Soll er doch erschossen werden!“, rufe ich aus. „Das ist alles Camerons Schuld. Das passiert seinetwegen, hörst du?“ Ich schlage mit der flachen Hand gegen meine Stirn in der jämmerlichen Hoffnung, es zu spüren. Irgendwas zu empfinden. „Das hier ist alles seine Schuld und er soll bezahlen. Er soll mit seinem Leben bezahlen!“
Die Falten in Vladimirs Stirn graben sich tiefer. „Sag mal, was ist gerade falsch mit dir?“
Ich japse nach Atem. „Sei still“, flüstere ich. „Sei einfach still. Was du sagst, spielt keine Rolle. Nichts spielt mehr eine Rolle!“
„Samantha“, setzt Vladimir an, aber ich lasse ihn nicht aussprechen. „Sie werden uns umbringen und sie werden unsere Gesichter nicht sehen. Es wird ihnen egal sein, wer da liegt und es wird ihnen egal sein, was aus ihm wird. Jeder wird vergessen werden. Niemand wird mehr Bedeutung haben. Verstehst du das?“
„Ich verstehe mehr, als du wahrscheinlich willst“, seufzt Vladimir. „Aber ich sag dir, wenn du allen den Tod wünschst und einfach ein paar Tobsuchtanfälle bekommst, dann wird das auch nicht besser.“
„Worüber hast du mit Fortuna gesprochen?“, beharre ich. „Sag es mir. Sag es mir endlich!“
„Über nichts, was für dich wichtig ist.“
„Alles ist für mich wichtig.“
„Vor allem, dass du aufhörst zu keifen“, schnauft Vladimir. „Im Ernst. Melde dich bei den netten Damen an, die aufs Schlachtfeld taumeln und ein paar Wunden flicken. Würde dir guttun.“
Unkontrolliert schreie ich auf. „Ich will, dass es endet.“
„Entspann dich.“
„Es wird uns alle umbringen!“ Dieser Tod, mein Tod, er wird mehr bedeuten als nur das Ende eines Lebens. Ich spüre ein Grauen aufziehen, das schwelt.
„Na und?“ Vladimir lächelt matt. „Irgendwer bleibt immer übrig.“ Etwas Ähnliches hat Aria behauptet. Das streckt mich nieder. Meine Knie knicken ein und ich plumpse vor Vladimir auf den Boden. Es lohnt sich nicht, wieder aufzustehen. Es macht doch keinen Sinn. Nichts hat je einen Sinn gemacht. Ich habe meine Familie geopfert, mich, meine Seele, mein Gesicht. Alles habe ich weggegeben. Und wozu? Wozu, verdammt? Sie werden einfach kommen und sie werden nichts übriglassen. Niemand wird vor ihnen sicher sein. Jeder wird verlieren. Immer wieder.
„Geh mir aus den Augen“, wispere ich.
„Das hier ist mein Haus.“
„Wolltest du dem Tod nicht die Hand reichen?“, fauche ich. „Geh schon. Hau ab. Verschwinde endlich! Spiel bei diesem dämlichen Spiel mit, von dem die Männer glauben, dass es ihnen Spaß machen könnte.“ Für das sie ihr Alter ändern und ihren Namen, nur damit man sie auf das Schlachtfeld lässt. Um Leben zu nehmen. Um Gott zu spielen. Damit Gott walten kann und beweisen kann, dass es ihn nur einmal gibt.
„Du solltest wirklich nach Hause gehen“, sagt Vladimir fest. „Mach das einfach. Da bist du sicher.“
„Ich habe kein Zuhause!“ Das hatte ich nie. Nur einen Ort, an dem ich mich verkriechen konnte für eine begrenzte Zeit. Einen Flecken Erde, auf dem man meinen Namen kannte, nur um ihn nach meinem Verschwinden direkt wieder zu vergessen. „Ich habe kein Zuhause.“ Es hätte kein Krieg beginnen müssen, damit ich die absolute Gewissheit habe. Diese Gewissheit, dass ich mutterseelenallein bin und anderen Menschen gleichgültig wie es sonst nur die Toten sind.
Vladimir schweigt lange. Deutlich länger als ihm zusteht. „Du kannst hierbleiben“, wiederholt er. „Wenn dir das hilft. Aber ehrlich, wenn du freidrehst, dann bringt das niemandem was. Wir befinden uns im Krieg. Also einen kühlen Kopf behalten und die Sachen, die geschehen, einfach runterspielen.“
Und wenn ich das nicht länger will? Wenn es ohnehin keinen Sinn ergibt.
„Ich wünsche dir viel Glück“, sage ich. „Vielleicht kehrst du gemeinsam mit deinem Gewissen Heim.“
Vladimirs Grinsen ist spitzbübisch. „Welches Gewissen?“, fragt er mich.
Ich beginne hysterisch zu kichern. Ja. Welches Gewissen. Wenn irgendwer von uns eines besäße, hätte nichts hiervon geschehen dürfen.
Oder es wäre erst recht geschehen?
Kraftlos vergrabe ich das Gesicht in den Händen. Es macht doch eh keinen Sinn. Egal welchen Weg man geht. Ob man gehorsam ist oder aufsässig. Ob man mutig ist oder feige. Ob man die Schleichwege nutzt oder über die Hauptstraßen spaziert.
Schlussendlich sind wir alle tot. Früher oder später.
Später.
Spätestens der Hunger wringt uns aus.
Der Morgen folgt der Nacht, ein ewiger Kreislauf, und er fühlt sich leer und bedeutungslos an wie nie zuvor. Ich ziehe Kleidung an, die nicht mir gehört, und verbarrikadiere mich in einem Haus, das ich nicht kenne.
Ein Summen scheint in der Luft zu liegen, tiefer und aggressiver als zuvor. Ich binde mir die Haare zu einem festen Knoten, schlüpfe in Schuhe, die ich nie zuvor getragen habe, und greife nach einem Buch, dessen Inhalt ich nicht kenne. Ein bekannter Duft steigt von den Seiten auf und als ich mich neben den glänzenden Flügel in Vladimirs Musikzimmer setze, fühle ich mich winzig klein. Was ich lese, verstehe ich nicht, und was ich sehe, ist nicht wahr.