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"Vergiss mich und vergiss das alles hier. Wenn es so sein soll, dann sehen wir uns in einem anderen Leben wieder. In einem Leben, in dem wir beide eine echte Chance haben." Italien 1945. Samantha ist gestorben. Aber sie ist nicht tot. Der Graue Mann verlangt von Sam, den Preis für ihr Leben zu zahlen und von Vladimir einen Schlüssel zu stehlen, der dem Grauen Mann neue Macht schenken soll. Während der Krieg sich dem Ende zuneigt, hat Sam nichts mehr zu verlieren. Erst betrügt sie den Grauen Mann, dann Cameron – und schlussendlich auch sich selbst.
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Seitenzahl: 313
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Inhalt
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Apokalypse
1
Epilog
Leseprobe zu „Ich bin Du“.
Danksagung
© 2024 Celina Weithaas
Umschlaggestaltung und Design: Franziska Wirth
Illustrationen: Janett Weithaas
Verlagslabel: Tredition
ISBN Softcover: 978-3-347-99830-8
ISBN E-Book: 978-3-347-99831-5
Druck und Distribution im Auftrag:
tredition GmbH, Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg, Germany
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg, Deutschland.
Die Chroniken des Grauen Mannes
Phase I:
Die Poison-Trilogie:
Dark Poison (Oktober 2018)
Cold Poison (Januar 2019)
Dead Poison (September 2019)
Die Jahreszeitentrilogie:
Spring (31. Dezember 2019)
Fall (31. Dezember 2020)
Winter (31. Dezember 2021)
Phase II:
Die Märchendilogie:
Erzähl mir Märchen (05. November 2019)
Märchen für Dich (01. Mai 2020)
Die Mitternachtstrilogie:
Fünf Minuten vor Mitternacht (02. September 2020)
Zehn Sekunden vor Mitternacht (21. April. 2021)
Vor Mitternacht (13. Oktober 2021)
Die Dämonentrilogie:
Fürchte mich nicht (21. April 2022)
Vergiss mich nicht (02. September 2022)
Verlass mich nicht (01. Mai 2023)
Die Götterdämmerungstrilogie:
Götterdämmerung - Verschwörung (05. November 2023)
Götterdämmerung - Verlockung (01. Mai 2024)
Götterdämmerung - Verdammung (02. September 2024)
Die Ich-Bin-Trilogie:
Ich bin Du (21. April 2025)
Du bist Ich (13. Oktober 2025)
Wer ich bin (21. April 2026)
Phase III:
Die Geschichte des Grauen Mannes:
Die Geschichte des Grauen Mannes oder Komm mit mir nach Gestern (02. September 2026)
Chronicles of Kings and Queens:
Blutzoll (01. Mai 2027)
Blutangst (05. November 2027)
Blutrache (01. Mai 2028)
Blutdurst (02. September 2028)
Blutmond (21. April 2029)
Blut-Matt (13. Oktober 2029)
Phase IV:
Die Foscor-Trilogie:
Laufe (31. Dezember 2027)
Bleibe (31. Dezember 2028)
Vergesse (31. Dezember 2029)
Erinnere (31. Dezember 2030)
Verdamme (31. Dezember 2031)
Erwache (31. Dezember 2032)
Phase V:
Die Trilogie von Gottes Tod:
Von verblühender Unschuld (21. April 2030)
Von leidendem Verrat (02. September 2030)
Von verzweifelter Liebe (01. Mai. 2031)
Die Ewigkeitsdilogie:
Endlicher Triumph (13. Oktober 2031)
Triumphale Ewigkeit (01. Januar 2032)
Das Ende:
Nun, da es das Ende ist (31. Dezember 2032)
Für Cameron.
Für Samantha.
Für all die Träume, die ihr aufgegeben habt, und für alles, was ihr auf euch genommen habt für diesen einen letzten Moment.
Erinnerst du dich an Gestern? Als wir Menschen waren.
Erinnerst du dich an Heute? Wie verschwenderisch wir mit unserer Menschlichkeit umgingen.
Bin ich ein Unmensch mich ins Morgen zurückzuwünschen?
Er sitzt im prasselnden Regen. Die Nässe klebt ihm die erdbeerblonden Haare an den Kopf, malt sie dunkel und durchweicht seine Kleidung. „Die hätten uns wenigstens wasserdichte Jacken geben können“, murmelt Cam. David gibt ein zustimmendes Geräusch von sich. Das Wasser trieft von seinem Helm.
„Lass mal hoffen, dass wir hier nicht einfach einsinken und dann im Schlamm zappeln.“
„Ich fände es gut, wenn sie uns mal ein paar Tage Ruhe verschaffen“, murmelt Cam. „Was soll das hier? Wir sitzen wie die Sardinen im Glas und aller Wahrscheinlichkeit nach, werden wir früher oder später abgeknallt. Ich habe besseres zu tun, als hier auf den Tod zu warten.“
David zieht unter seinem Helm die Brauen zusammen. „Hast du?“
„Ja, ungefähr tausend Dinge.“
„Was denn?“
„Mal ein richtiges Nickerchen machen“, schlägt Cam vor. „Mal die Augen zuzumachen, ohne dass neben mir jemand umfällt wie eine Jahrmarktpuppe. Irgendwas Produktives halt.“
David lacht leise. „Was ist daran produktiv?“
„Dass ich wieder geradeaus sehen kann?“
David schnauft. „Im Ernst? Das willst du nicht.“ Kopfschüttelnd verschränkt er die Arme vor der Brust, „Willst du genau erkennen, wie der aussieht, den du abknallst?“
„Ich sehe genug von denen. Danke für deine Sorge“, murmelt Cameron.
„Ich erkenne nichts von ihnen“, seufzt David. „Ich meine, ich will mich nicht beschweren und so, aber manchmal wäre es schon ganz gut zu sehen, ob der andere es verdient hat. So richtig verdient hat.“ David reckt die Faust in die Höhe. „Klar, es sind alles Schweine, die versuchen uns abzuknallen. Aber einige scheinen mir übler zu sein als andere. Denkst du nicht auch? Die eine richtig brutale Freude am Töten haben. Während sie uns niedermähen. Bam, bam, bam, bam, bam!“
Befremdet betrachtet Cameron seinen eigentlich engsten Freund. „Du bist doch völlig durchgeknallt“, sagt er. „Du lässt mich herbringen, damit ich mit dir gemeinsam auf Menschen schieße?“
„Zu meiner Verteidigung“, David verschränkt die Arme vor der Brust, „ich hätte nie erwartet, dass du hier wirklich auftauchst.“
„Wollte ich auch nicht. Ich hätte dir wahrscheinlich eine Kerze angezündet, nachdem du gestorben bist, aber mir ging es ziemlich gut, bevor du mich herbeordert hast.“
Augenrollend lehnt David sich gegen die provisorisch befestigten Sandsäcke. „Zum hundertsten Mal, ich wollte dich hier haben, aber hätte nie gedacht, dass das wirklich klappt.“
„Wie auch immer.“ Cam stellt sich aufrecht hin, während das Regenwasser ihm in den Kragen läuft. Er rümpft die Nase. „Die hätten uns wenigstens was Wasserfestes geben können“, wiederholt er.
„Sie geben uns etwas zu essen.“
„Ja. Viel zu wenig und ich habe nichts runterbekommen.“ Cam rollt die Augen. „Wir kommen nicht zum Schlafen. Ich will in die Luft schießen und hoffen, dass ich mich selbst erwische.“
„Komm, was willst du machen, wenn nicht kämpfen?“, seufzt David. „Das hier ist das Abenteuer unseres Lebens. Sobald wir hier raus sind, sind wir Helden der Nation.“
„Falls“, sagt Cam heftig. „Falls wir hier rauskommen. Wir sind welche der Ersten, die hierhergeschickt wurden. Glaubst du ernsthaft, wie erleben das Kriegsende mit? Nicht wirklich, oder?“
„Wir sind Helden, so oder so.“ Davids Augen funkeln fröhlich. „Wollen wir mal nachsehen, ob sich irgendwo Ratten abknallen lassen?“
„Knall sie ohne mich ab.“ Cam starrt in das Unwetter hinaus. „Und pass auf, dass dich keine verirrte Kugel trifft. Sonst bist du vor den Ratten erledigt.“
David lacht heiser auf. „Warum so schlecht gelaunt? Wir können hier endlich mal alles machen, was wir wollen.“
„Ich bekomme weder Schlaf noch meine Freundin. Also lass mich in Ruhe, such dir deine Ratten und besorg mir irgendwas Gutes zum Einwerfen.“
„Du kannst nicht immer beduselt durch die Gegend laufen.“
„Und wie ich das kann. Man lässt mich keine Briefe schreiben. Da soll man wenigstens zulassen, dass ich durch bin.“
David schnalzt mit der Zunge. „Hör auf zu heulen. Du bekommst wenigstens welche. Jeden Tag. Frag mich mal.“
„Hättest nicht nur mit mir in diesem Zimmer schlafen sollen“, murrt Cam.
„Das erfüllt mich nicht und es ist kein Wiedersehen.“ Ich schüttle die Bilder ab und stehe von dem Sofa auf. „Es ist gar nichts. Nichts von dem, was du mir versprochen hast.“
Dante schlägt die Beine übereinander, die Zigarre zwischen den Fingern. Er raucht Tabak und Vanille, als könne er nur mit ihnen atmen. „Ein Wiedersehen habe ich dir versprochen, ein Wiedersehen bekommst du, wann immer du nach den Bildern greifst.“ Anstatt mich anzusehen, blättert er durch die Zeitungen.
„Du hältst mich hier gefangen.“
„Ich arbeite daran, dir die Stimme zu geben, die du begehrst.“
„Damit ich sage, was du willst?“ Die Glühbirnen flackern über unseren Köpfen. Ich glaube, die Bomben zu spüren, die jeden Moment auf die Stadt niederprasseln werden.
„Damit du sagst, was richtig ist.“
Richtig und Falsch sind derart verkommen, dass ich beides nicht mehr hören mag. „Was willst du von mir?“ Die einzige Frage, die ich endlos wiederhole, seitdem Dante mich nicht hat sterben lassen.
„Du wirst es eines Tages verstehen.“
Die gleiche Antwort, als wüsste er selbst nicht, was wir hier tun. „Und wenn nicht? Lässt du mich dann gehen?“
Dante zieht an seiner Zigarre, bis das Ende beinahe weiß glüht. Ich beobachte, wie die Glut sie auffrisst und Asche zu Boden regnen lässt. Eine graue, nach Vanille riechende Wolke aus Qualm steigt der Decke entgegen. Das Licht erlischt. Das Krachen ist ohrenbetäubend. Stirnrunzelnd greife ich nach dem Glas Wein, ehe es umkippt. Es muss doch bald zu Ende gehen. Wir müssen doch bald endgültig verloren haben. Ich will mich in einen trügerischen Frieden flüchten, der von Männern beherrscht wird wie denen, die ihre dreckigen Finger an meinem Körper trockengewischt haben.
„Ich schenke dir den größten Luxus auf Erden“, seufzt Dante. „Du darfst deine einzige Liebe sehen, wann immer dir der Sinn danach steht.“
„Ich wäre gern bei ihm.“
„Im Tod gibt es keine Erinnerung.“
„Auch das klingt nach einer hervorragenden, wunderbaren, fast schon traumhaften Realität.“
Das einzige Licht im Raum stammt von Dantes glühender Zigarre. Wann immer ich schlafe, verschwindet er durch eine Tür, die ich nicht finde. Irgendwann kehrt er zurück. Wo er war, will er mir nicht sagen. Es ist, als wäre ich erneut verheiratet. Nur dieses Mal mit einem Mann, der lediglich einen Bunker besitzt, den er mühsam zu einem Wohnraum umfunktioniert hat.
„Die Bitterness steht dir nicht“, sagt Dante. „Ich gebe dir mehr, als eine Frau wie du sich erträumen sollte. Dankbarkeit wäre angebracht.“
„Hättest du mich sterben lassen, wäre ich dankbar“, sage ich. „Was kümmert es mich, ob ich Cam vergesse oder im Tod wiedersehe? Alles ist besser, als von diesen Bildern verfolgt zu werden. Weil er nicht mehr da ist. Verstehst du?“
„Der Tod ist relativ“, seufzt Dante. Er steht auf. Die Zigarre glüht heller, dann tanzt Rauch durch den Raum. „Bist du heute bereit, mir zuzuhören?“
„Nicht wirklich.“ Ich spitze die Lippen. Mein Herz versteht, dass ich mich verhalte wie ein Kind. Jeder meiner Sinne weiß, dass mein Leben vorbei war. Es ist, als hätte der ewige Kreislauf von vorn begonnen, und mit diesem Wissen versuche ich mein jämmerliches Verhalten vor mir selbst zu entschuldigen. Ich bin eine Dame, die sich selbst ihren Status gestohlen hat und von einem zwielichtigen Mann aus dem Dreck gezogen wurde.
„Ich habe eine Aufgabe für dich“, fährt Dante unbeirrt fort.
„Es mag dich schockieren. Deine Wünsche kümmern mich nicht. Ich schulde dir nicht, eine Aufgabe für dich zu erfüllen.“
„Ich habe dir dein Leben geschenkt. Du schuldest mir alles, bis du meine Rechnung beglichen hast.“
„Du hast es mir aufgezwungen“, murmle ich und trinke den Wein im Ganzen aus. Er schmeckt rauchig. Nicht als wollte oder könnte ich ihn genießen.
„Du hast dich nicht gewehrt.“
„Weil ich wie gelähmt am Boden lag und keine Luft mehr bekam!“, rufe ich aus. „Ich war wie ein Fisch auf dem Trockenen. Ich war am Ende, ich konnte mich nicht mehr bewegen.“
„Das hättest du früher bedenken sollen.“
Bitter verziehe ich den Mund. „Das nächste Mal flehe ich meine Vergewaltiger an, dass sie mir die Hände abhacken.“
„Tu das, mein Kind.“
„Dann kannst du mir nichts mehr aufzwingen, was ich partout nicht will. Verstehst du, was ich dir sage?“
„Ich verstehe alles, was du mir sagst.“
„Dann solltest du die Finsternis doch nutzen, um abzuhauen und mich mit meinen Gedanken allein zu lassen. Damit ich endlich dahinterkomme, was richtig ist.“ Der Spott zerfrisst meine Stimme. „So ist es doch.“
„Ich möchte, dass du für mich das Sprechen übernimmst“, sagt Dante unbeirrt. „Du sollst eine Zeit lang meine Stimme sein.“
„Weil du Angst hast, mit deinen unglücklichen Klienten zu sprechen? All den Menschen, die du betrogen und um ihr Liebstes gebracht hast.“ Der Tod gibt mir Mut. Oder zumindest das Wissen, dass ich ihn weniger fürchte als jeden weiteren, bedeutungslosen Tag.
„Dein Trotz wird dich nicht retten.“
„Mein Trotz ist alles, was mir geblieben ist.“ Im Dunklen taste ich nach der Weinflasche. Bekomme sie zu greifen, setze die Öffnung an meine Lippen und stürze alles hinunter, was sich noch darin befindet. Der Wein schmeckt widerlich. Er betäubt meine Zunge. Ich würde alles trinken, wenn er meine Gedanken nur endlich zum Schweigen bringt. Ein Teil von mir möchte sich fortschließen und bis in alle Ewigkeit Cameron beistehen. In seinem Kampf, den er nicht gewinnen konnte. Aber mit jedem weiteren Tag, den ich ihn beobachte, verliert der Cameron, den ich kannte, an Glanz. Die Jungenhaftigkeit wurde ihm zuerst genommen. Dann sein Lächeln. Sein Humor. Sein alles. Wäre Cameron zurückgekehrt, er wäre ein anderer Mann gewesen. Ein Mann, den ich noch immer geliebt hätte, weil ich es mir geschworen habe. Aber ein anderer. Einer, der besser tot gewesen wäre.
„Ich möchte, dass du für mich verhandelst“, sagt Dante.
Abfällig schnaufe ich. Mein Kopf dreht sich. Verwirrend in der Dunkelheit. Während die nächste Bombe krachend zu Boden fällt, setze ich mich vor das Sofa. Irgendwann müssen ihnen die Salven doch ausgehen.
„Und in welchem Namen soll ich für dich sprechen? In meinem? In Dantes? In dem des Grauen Mannes?“ Meine Zunge fühlt sich schwer an. Stöhnend presse ich die Finger gegen meine Schläfen. Die Trunkenheit gefällt mir nicht mehr. Sie betäubt nur meinen Körper, nicht mich. Es ist, als würde ich mich selbst meiner Fähigkeiten berauben. Nur um einige Minuten Ruhe genießen zu dürfen. Lächerlich. Erbärmlich. Verdammt und verloren.
„Nenn mich nicht Dante“, erwidert Dante nach einigen schweigsamen Momenten. „Nein. Nenn mich den Grauen Mann. Meinen Namen ändere ich mit jeder Phase, aber im Herzen bleibe ich gleich.“
„Grausam und kalt?“
„Gewissermaßen.“
Wie furchtbar im Reinen mit sich selbst muss man sein, um sich diese eigene Frevelhaftigkeit eingestehen zu können? Eingestehen zu können ohne zu zögern.
„Ich würde es vorziehen, wenn du mich Dante nennst“, sagt er nach einigen Momenten.
„Ich habe dich als Moreen kennengelernt. Du wirst nie jemand anderes für mich sein.“ Enttäuscht schüttle ich die Flasche. Sobald das Licht angeht, kann ich zum Schrank taumeln und die nächste holen. Was nur aus mir geworden ist. Ein bisschen weniger und ich existiere nicht länger. Wäre fast so tot, wie ich es wünschte zu sein.
Den winzigen Fuß im Blickfeld.
Das Wissen im Kopf, dass man Cameron meine Briefe nicht mehr zustellt, weil eine Kugel sich durch seinen Körper grub und das Herz traf. Oder den Magen. Den Hals. Was auch immer ihm das Leben raubte.
„Es wäre für dich vorteilhaft, meine Bitten zu respektieren.“
„Es wäre für mich vorteilhaft, wenn du mich in Ruhe lassen würdest“, murmle ich. „Für alles, was ich getan habe, habe ich auch bezahlt. Es ist nicht fair, dass du mir versuchst Dinge in Rechnung zu stellen, die längst vorbei sind.“
„Das tue ich nicht.“
„Und woher bei Gott hast du dir dann das Recht genommen, mir dieses erbärmliche Leben aufzuzwingen?“
Ich meine, Dante, Dante, den Grauen Mann resigniert seufzen zu hören. „Eines Tages sollst du eine Figur in meinen Spielen sein, aber bereit bist du dafür noch lange nicht.“
„Was erhoffst du dir?“ Ich hebe die Schultern. „Sag es mir und ich werde zu genau dieser Frau werden. Da musst du dir keine Gedanken machen. Ich werde genau diese Frau sein und dann lässt du mich endlich in Frieden.“
„Frieden“, murmelt Dante, „ist eine grausame Illusion.“
„Mein gesamtes Leben war eine grausame Illusion. Da macht so ein bisschen Frieden den Braten nicht fett.“ Frustriert werfe ich die Flasche von mir. Klirrend und hohl rollt sie durch den Raum. „Ich bin betrunken. Du kannst mir nichts sagen.“
„Deine Zunge mag schwer sein, aber dein Verstand ist wach“, sagt Dante. „Dafür habe ich Sorge getragen.“
Keine Erleichterung erlaubt er mir. In keiner Weise. Ich bewundere Dante wie ich ihn hasse. Die perfekte Basis für eine erfolgreiche Tragödie.
„Von unserer Zusammenarbeit habe ich mir einiges versprochen“, fährt Dante fort.
„Es gibt keine Zusammenarbeit“, murmle ich. „Es gibt dich und es gibt mich und es gibt das, wozu du mich zwingst. Nicht mehr und nicht weniger.“
„Ich werde dich nicht damit betrauen, die Schulden einzutreiben“, sagt er. „Ich möchte, dass du einigen bestimmten Personen, einigen bestimmten Personen, die es verdient haben, einen Denkanstoß gibst.“
„Einen Denkanstoß?“, spotte ich. „In welche Richtung denn? Dass sie dem Teufel ihre Seele verkaufen?“
„Bei einem Pakt steht nicht immer die Seele auf dem Spiel und dem Teufel will ich weder etwas geben noch etwas schenken.“
Natürlich. Niemand betrachtet sich selbst als Ausgeburt der Hölle. Dabei wäre der Name des Teufels gerade bei Dante erschreckend zutreffend. Es ist, als würde er alle Fähigkeiten beherrschen, die es braucht, um einen anderen Menschen vom Guten abzubringen. Begegne dem Grauen Mann, scheint das Schicksal zu flüstern, und du schlägst den falschen Weg ein.
„Was dann?“ Ich schnaube. „Soll ich sie an die Schulden erinnern, die sie bei dir haben?“
„Du sollst ihnen beistehen.“
„Bei Gott“, flüstere ich, „ehe ich bei deinen Opfern bleibe, sterbe ich.“
„Der Tod ist keine Option mehr.“ Eine winzige Stichflamme glüht auf und heftet sich an eine neue Zigarre. Der Geruch von verbrannter Vanille. Stirnrunzelnd lehne ich mich zurück. Es könnte alles so viel leichter sein. Sollte ich dem Sterben ein weiteres Mal nah kommen, alles werde ich daransetzen, dass niemand nach meiner Hand greifen kann.
„Es täte dir gut, diesen Bunker zu verlassen“, sagt Dante. „Deine Sinne werden schmal. Deine Menschlichkeit schwindet von Tag zu Tag. Du nimmst nichts zu dir als billigen Wein.“
Warum sollte ich tun, was er von mir verlangt? Seine Grausamkeit hat mich an diesen Punkt gebracht. Seine falschen Versprechungen zwingen mich dazu, in die Bilder zu sehen, die mir von Cameron geblieben sind. Eines desillusionierender als das andere. Alle unter dem Donnern von Waffen entstanden. Ein Wiedersehen ist mir zu wenig. Ich hätte darauf beharren müssen, dass ich Cams lebendigen Körper noch einmal in die Arme schließen darf. Ich lag zerschlagen auf der verregneten Straße. Ich konnte mich nicht rühren, konnte Dantes lebensschenkenden Berührung nicht ausweichen, konnte es nicht verhindern, einzuschlagen. Wäre es mir möglich gewesen auch nur zu zucken, dann säße ich heute nicht hier.
„Du ahnst, wie sich die nächsten Jahre gestalten werden“, erwidere ich eisig.
„Ich verstehe, was ich nicht zulassen werde.“ Knackend erwacht das Licht wieder zum Leben. Gerade rechtzeitig damit ich beobachten kann, wie eine winzige Wunde an Dantes Daumen heilt. Es ist, als lebte er für den Schmerz. Hat er seine Zigarre aufgeraucht, drückt er sie in keinem Napf aus und in keinem Tuch. Er presst das glühende Ende auf seine eigene Haut, bis sie schmilzt und der Qualm sich verflüchtigt. Die Wunden heilen in Minutenschnelle. Der Geruch nach verbranntem Fleisch bleibt.
Schwach beschienen wirkt Dante beinahe erschöpft. Die letzten Wochen und Monate haben ihn altern lassen. Zarte, graue Strähnen ziehen sich durch sein braunes Haar und die braunen Iriden scheinen langsam zu einem fahlen Grau zu verblassen. Als würde Dante vor meinen Augen erblinden.
„Was willst du tun?“, seufze ich. „Mich an die Oberfläche zerren und zum Sprechen zwingen? Mich zu deiner hörigen Marionette machen?“
„Ich werde tun, was notwendig ist, um deiner Seele beim Welken zuzusehen und ist sie einmal verkommen, dann werde ich deinem schwachen Willen geben, was er sich ersehnt.“
Meine Seele wurde erschlagen. Man hat sie erdrosselt, man hat sie aufgeknüpft, man hat sie ausgesaugt und als Schatten zurück in meinen Körper geheftet. Mir ist nichts geblieben als ein schwaches, zittriges Etwas, das durch meinen Leib geistert, als wäre es auf irgendeine Weise greifbar und real.
„Ich bin betrunken“, sage ich. „Mein Willen ist schwach wie nie. Es wäre so einfach, mich zu Taten zu zwingen, die ich nicht tun will.“
„Du versperrst dich mir auf allen Ebenen.“
„Ich bin auf allen Ebenen betrunken.“ Dumpf stiere ich vor mich hin. Wenn mein Verstand sich nur endlich verschleiern würde. Wenn nur endlich dieses Pochen von meinem Schädel in mein Hirn wandern würde, um es weich zu kochen.
„Während du für mich Botengänge tätigst, dürftest du deine eigenen Rechnungen begleichen.“
„Ich bin tot“, sage ich. „Was will ich da noch begleichen? Alle sind tot, die mir etwas geschuldet hätten. Alle sind tot, gegen die ich einen Groll gehegt habe. Oder unantastbar. Es spielt keine Rolle.“ Mein Rücken verkrampft sich, während ich ungeschickt am Sofa lehne. „Es fühlt sich nicht an, als könnte mir Rache Genugtuung geben.“
„Rache ist eine einzige Genugtuung“, antwortet Dante mir gefährlich leise. Er lehnt sich vor zu mir. Der braune Ledersessel verschluckt nicht länger seine halbe Gestalt. Viel zu leicht ist es, sich einzureden, Dante wäre nahbar, wenn er wie ein gewöhnlicher Mann dort sitzt, die Zeitung über den Knien und eine Zigarre in der Hand. Jede seiner Bewegungen, unwirklich kraftvoll und unwirklich kontrolliert, sprechen eine andere Sprache. Wer versucht Dante anzurühren, hat bereits verloren. Ihn umgibt eine teuflische Sicherheit, eine göttliche Macht. Es ist, als wäre Gottes Sohn wiedergeboren und als wäre Gottes Sohn die Kehrseite von sich selbst.
„Dann sag schon“, lalle ich. „An wem soll ich mich rächen? An dir oder gleich an der ganzen Welt? Am Schicksal vielleicht?“
„An all jenen, die dein Leben zu einem schlechten geformt haben.“
„Was schlägst du vor?“ Steif hieve ich mich von dem Boden auf das Sofa. Meine Gliedmaßen gehorchen mir nicht. Zu eckig bewegen sie sich, zu kantig. „Soll ich mich täglich erschießen oder mir regelmäßig die Pulsadern aufschneiden? Ich bin offen für Vorschläge.“ Denn ich, allein ich habe mich an den dunklen Punkt geführt, an dem ich heute kauere, verwahrlost und allein.
„Du bist nur ein Produkt deiner Umwelt“, flüstert Dante mir ein. „Du trägst an nichts eine Schuld.“
„Wenn ich das glauben würde, wäre ich erbärmlich wie du.“ Verspannt versuche ich, mir meinen eigenen Nacken zu massieren. „Es mag dir entgangen sein, aber ich habe genug Menschen wehgetan. Ich bin es leid.“
„Du bist schwach geworden, Samantha. Du wirst niedergetreten und fürchtest dich davor, zum Gegenschlag auszuholen.“
„Niedergetreten?“, spotte ich. „Die guten Jungs schlagen keine Mädchen und gegen alle anderen muss ich nicht antreten.“
„Warum nicht?“, fragt Dante mich und seine Augen funkeln auf gefährliche Art. Auf irrsinnige Weise.
„Weil ich nicht so viele Messer bei mir trage wie diese Männer. Selbst wenn ich einen Treffer landen würde, im nächsten Moment hätte man mich aufgespießt wie einen waghalsigen Fisch.“
„Du scheust den Kampf.“
„Ich scheue das Verlieren“, sage ich. „Um ganz genau zu sein, kümmert mich nichts von beidem mehr.“ Ich habe zu viele Pyrrhussiege errungen. Keiner von ihnen hat sich gut angefühlt. Keiner von ihnen war real.
„Wenn es dich nicht kümmern würde“, merkt Dante an, „könntest du mir einen kleinen Dienst erweisen.“
Ich starre auf den Weinschrank. „Welchen?“
„Sprich für mich mit jemandem.“
„Warum tust du es nicht selbst?“ Nach dem Trotz kommt die Depression. Ich will mich auf dem Sofa zusammenrollen und mich unter Bergen von Decken verstecken, die Dante nicht besitzt. Ich suche nach dem Funken Heimeligkeit, den Dante nicht begreifen würde, wenn man ihn ihm unter die Nase reibt.
„Ich bin beschäftigt“, sagt Dante. „Es gibt Wogen zu glätten. Neue Verhandlungen abzuschließen.“
„Dann glätte die Wogen wann anders oder schieb auf, zu was auch immer du mich zwingen willst.“
„Einen Gefallen wolltest du mir tun“, sagt Dante.
„Daran kann ich mich nicht erinnern.“ Mühsam stemme ich mich auf und torkle zum Weinschrank. Ich kann mich nicht richtig bewegen. Keines meiner Gliedmaßen will mir gehorchen. Aber mein Verstand ist wach, als versuche er, mich zu erdolchen.
„Such Vladimir auf. Erinnere ihn an seine Schulden.“
Ungläubig lache ich. „Vladimir hat mit dir Geschäfte gemacht? Ähnlich unfreiwillig wie ich oder hast du ihm damit gedroht, jemanden zu töten, der ihm nahesteht?“
„Er will mir nicht geben, was er für mich gefunden hat.“
„Ich soll es ihm nun also stehlen?“, rate ich. „Du möchtest, dass ich den Mann, der mir Obdach gewährte, als sich die ganze Welt gegen mich stellte, betrüge?“
„Es wäre nicht dein erstes Mal.“ Gelbliche Qualmschwaden wirbeln vor Dantes Lippen.
„Du bist widerlich“, flüstere ich.
„Du müsstest nach nichts suchen als nach einem Schlüssel.“
„Brich selbst dort ein“, sage ich. „Raub du ihn selbst aus.“
„Deine Waffen sind effektiver als meine.“
Ich stütze mich am Weinschrank ab. Womöglich hat der Alkohol doch auf meinen Verstand übergegriffen. Ich brauche erschreckend lang, um zu verstehen, was Dante von mir verlangt. Wozu konkret er mich auffordert.
„Nein.“
„Er würde sich in wenigen Wochen nicht mehr an dich erinnern“, murmelt Dante. „Du wärst weder seine erste noch seine letzte.“
„Nein! Ich werde nicht mit Vladimir schlafen, weil du einen Schlüssel willst.“
„Niemand hat von dir verlangt, die Hüllen fallen zu lassen.“
„Ach?“ Meine Brauen schießen in die Höhen. „Welche Waffen meinst du dann? Dass ich keinen Finger krümmen werde, um Vladimir einen Nachteil zu verschaffen?“
„Dich kennt er als Freund“, sagt Dante. „Mich kennt er als Feind.“
„Dann solltest du dir die Mühe machen, dich mit Menschen gut zu stellen und sie nicht in schwachen Momenten zu betrügen.“ Ich ziehe eine neue Flasche aus dem Schrank und versuche, sie mit den Zähnen zu öffnen.
Leise knarzen die Dielen, als Dante den Raum durchschreitet und mir die Flasche entwendet.
„Du hast kein Recht dazu“, fauche ich.
„Ich habe jeden Gegenstand und jedes Lebewesen in diesem Raum erworben“, sagt Dante. „Ich habe jedes Recht.“
Angewidert hebe ich die Lippen. Er ist das Unterste. Er ist das Grausamste. Dantes Handreichung war ein Köder. Wer weiß, für welches Spiel ich unterzeichnet habe in meiner bitteren, naiven Verzweiflung. Wer weiß, was er mit mir tun wird, ehe er mich endlich freilässt.
„Wenn du deine Versprechungen einhalten würdest, bestimmt.“
Dante widerspricht nicht. Ich bezweifle, dass er mir zustimmt. Vielmehr haben wir diese Diskussion häufiger geführt, als ich zählen kann. Er solle mir Cam zurückgeben. Er solle mich zu Cam lassen. Er solle einmal Gnade walten lassen. Ein einziges Mal in seinem Leben.
Ich flehte ihn auf Knien an, ich versprach ihm alles. Ich weinte Tag und Nacht, bis ich das Gefühl hatte, die Augen würden mir aus den Höhlen bluten. In den schwächsten Sekunden versuchte ich zu fliehen. Aus einem Raum ohne Tür. In den widerlichsten Minuten wollte ich ihn töten und kam Dante nicht einmal nah genug, um ihn zu berühren. Ich rolle diesen Streitpunkt wieder und wieder auf in der jämmerlichen Hoffnung, Dante würde eines Tages nachgeben. Er ist ein Fels in der Brandung. Selbst wenn er mir eines Tages gibt, worum ich ihn bitte, dann tut er es nicht für mich. Sondern allein für sich.
„Früher oder später wirst du Vladimir für mich aufsuchen“, prophezeit Dante mir. „Wann immer du mir einen Gefallen erweist, werde ich dich belohnen.“
Ich rolle die Augen. „Womit? Mit einer zusätzlichen Flasche Wein? Mit einem Freigang?“ Langsam fühle ich meine Beine wieder. Es kostet mich alles, nicht fuchsteufelswild gegen den Schrank zu treten, bis der Alkohol hinausrollt und zerschellt.
„Mit der Erfüllung deiner tiefsten Wünsche.“
Natürlich. Ich starre an die dunkle Decke. Leere Versprechungen. Immer die gleichen leeren, manipulativen Versprechungen. Ich bin mir sicher, dass er es könnte. Mir jeden Wunsch erfüllen. Selbst wenn Dante dafür die Toten zurückholen müsste. Das macht ihn so gefährlich. Das macht mich furchtbar schwach.
„Ich werde Vladimir nicht hintergehen.“
„Wozu der Edelmut?“, fragt Dante, direkt neben mir stehend. Er ist großgewachsen. Er ist kräftig. Er wirkt gleichzeitig wie ein junger Mann und ein alter Greis.
„Das ist kein Edelmut. Das ist das letzte, erbärmliche Bisschen, was mir geblieben ist.“
„Anstand steht dir nicht.“
„Das ist mir egal.“ Ich verschränke die Arme vor der Brust. „Gott hat mich in die furchtbarste Hölle geschickt, weil ich leiden soll. Weil ich diese Form des Leids verdient habe. Das bedeutet nicht, dass ich mich dem fügen muss.“
„Du solltest dich dem fügen.“
„Will ich aber nicht!“ Rasselnd atme ich ein und verfluche mich für den Kloß in meiner Kehle. „Ich will nichts davon. Ich will aufwachen und sehen, dass das alles nur ein böser Traum war. Ich will“, Tränen brennen mir in den Augen, ich hasse mich dafür, „dass ich in meinem Bett aufwache und Cam neben mir liegt und nichts von alldem geschehen ist. Ich will, dass wir eine neue Chance bekommen, dass die Karten neu gemischt und nicht gezinkt werden. Ich will ein einziges Mal in meinem Leben das Gefühl bekommen, dass uns nicht alles vorherbestimmt ist.“
„Du bist eine Figur in einem ewigen Spiel“, sagt Dante nüchtern. „Dir wird bis an dein Lebensende und darüber hinaus alles vorherbestimmt sein.“
„Offensichtlich. Sonst wäre ich nicht hier.“
„Offensichtlich.“
Wir taxieren einander. Es gab eine Zeit, da habe ich mich davor gefürchtet, Dante direkt in die Augen zu blicken. Ich hatte das Gefühl auf den Grund der Hölle zu blicken. Wie leicht es sich doch gestaltet, einen Menschen zu betrachten, der einen zu allem verdammt hat und von dem man nichts mehr zu erwarten hat. Nichts als einen schmerzhaften Niedergang.
„Lass dir mein Angebot durch den Kopf gehen.“
„Das habe ich. Ich schlage es aus.“
„Du wirst in diesem Bunker bleiben, bis du es annimmst.“
„Dann ist dem so.“ Ich greife nach einer neuen Flasche, Dante entwendet sie mir. Was mag ich in seinen Augen sein? Doch ein kleines Kind oder nur ein lästiges Insekt?
„Je schneller du mir gehorchst, desto froher wird deine Existenz werden.“
„Was?“ Ich schnalze verärgert mit der Zunge. „Lässt du mich unter Umständen gelegentlich vor die Tür gehen?“
„Ich würde dich zu meiner rechten Hand machen.“
„Lieber hacke ich mir jedes Fingerglied einzeln ab.“ Cam hat mich gewarnt. Dante ist kein guter Mann und während die Glühbirne über unseren Köpfen flackert, glaube ich jede Bedeutung hinter Camerons Warnung zu begreifen. Wäre Dante ein guter Mann, hätte er mich gehen lassen. Wäre Dante ein Mann, hätte er Mitleid.
Das Ungeheuer vor mir zwingt mir seinen Willen auf. Langsam. Ich kann mich verweigern und nie wieder das Tageslicht sehen oder nach seinen Regeln spielen. Es gibt nichts, was ich mehr verabscheue, als diese Gewissheit. Dass ich ihm ausgeliefert bin. Mehr als jedem Mann, der mir versprach, mir eine Stimme zu geben. Mehr als jedem Mann, der mich schlug, der mich verhöhnte und der mich verleugnete.
Die beiden Flaschen in der Hand setzt Dante sich zurück in seinen Sessel. Ich sollte nach dem dritten Wein greifen. Meine Beine fühlen sich an, als wären sie aus Butter gemacht. Mit brennenden Gliedern gehe ich in die Knie und lehne den Kopf gegen die hölzerne Tür des Schranks. Ich glaube den Geruch von Alkohol wahrnehmen zu können. Ich glaube in der Wand einen Weg nach außen erkennen zu können und ich rede mir ein, dass dieser Kabuff nur fast so hoffnungslos ist, wie ich ihn mache. Lügen haben kurze Beine. Und die, die ich mir selbst erzähle? Keine.
Dante entkorkt eine Flasche und trinkt daraus. Er behält mich im Blick. Ich starre vor mich hin. Ich habe dieses Kräftemessen verloren, als wir es das erste Mal begannen. Ich bin erbärmlich. Lächerlich. Eine Wanze, die durch sein Wohnzimmer kriecht. Eine Ratte, die sich krampfhaft vor der Kälte des Winters versteckt.
„Sobald du bereit dazu bist, Vladimir diesen einen Schlüssel zu entwenden, den ich will, erfülle ich dir einen Wunsch so gut ich kann“, sagt Dante. Seine Stimme hallt durch die Stille und gibt ihr ein verzerrtes, grausiges Gesicht.
Sobald. Als bestünde kein Zweifel daran, dass ich mich ihm eines Tages beuge. Er begegnet meinem zerbrochenen Willen mit einer erschreckenden Zuversicht und ich verstehe ihn. Wer könnte besser wissen als Dante, was es braucht, um einen Menschen mürbe zu machen?
Ich warte darauf, dass er wieder das Licht löscht und mich in der betäubenden Finsternis allein lässt. In dieser Finsternis, in der ich nichts sehe, nichts höre, irgendwann nichts mehr rieche. In der ich nach mir selbst taste, um mich davon zu überzeugen, dass ich noch existiere. In der ich wimmere und schreie, damit ich mich weniger allein fühle. In der ich zu betteln beginne nach einem Funken Licht, nach frischer Luft, nur damit meine Lungen zu brennen aufhören. Diese Stille, diese Finsternis, die mich begräbt.
Wir sind wieder an diesem Punkt angelangt. Ich schweige. Er trinkt. Sobald er getrunken hat, wird er gehen. Dante zündet keine Zigarre mehr an. Er raubt dem Raum so viel Eigennote, wie ihm möglich ist.
„Solltest du dich weiterhin weigern, steht uns die Ewigkeit offen.“
Meine Lippen beben, als er aufsteht. Die Ewigkeit? Ich habe Dante oft genug verhöhnt. Ich habe ihm gesagt, dass niemand ewig lebt. Dante? Reichte mir eine Waffe und befahl mir, abzudrücken. Ich habe es getan. Die Kugel sprengte sich in seinen Schädel und Blut floss. Es sickerte ihm aus den Augen und aus den Ohren. Es tropfte ihm aus der Nase. Ich ließ die Waffe sinken und fragte mich, wie ich nun aus diesem verfluchten Gefängnis fliehen könnte. Ich stand hier und hoffte darauf, dass mich eines Tages jemand finden würde und bevor ich den ersten Schritt tun konnte, heilte Dante. So oft ich auf ihn schoss, so panisch ich auch wurde. Dante heilte. Als würde der Tod ihn fortstoßen. Als hätte Dante nichts zu befürchten als das Leben.
Wenn er mir sagt, uns steht die Ewigkeit offen, glaube ich ihm. Niemand nimmt sein Wort ernster als Dante. Er mag es zu drehen und er mag es zu wenden wissen und er mag daraus machen, was ihm selbst am besten gefällt, aber es ist wahr. Wenn er es will, verrotte ich hier ohne zu sterben. Wenn er es will, dann sitze ich im Dunkeln, bis ich meinen eigenen Namen vergessen habe.
Ausgeliefert. Einem Mann, der keine Gnade kennt. Er hält mich auf andere Weise klein. Er braucht keine Übergriffigkeit und keine körperliche Gewalt, damit ich mit dem Gedanken spiele, mich ihm zu fügen. Dante dringt in meinen Verstand ein und in den wenigen Momenten, die er nicht mit mir spielt, lässt er mich in Camerons Vergangenheit blicken. Lässt mich Zeuge werden, wie Cameron tötete und wie jedes Leben, das er forderte, ihn ein Stück mehr auslaugte. Quält Dante mich nicht aktiv, quält er mich passiv. Er kennt keine Gnade. Er kennt keine Liebe.
„Ich habe woanders Wogen zu glätten“, sagt Dante mir. „Wir sehen uns in wenigen Stunden wieder.“ Er löscht das Licht.
Die Hände auf die Ohren gepresst, kauere ich hinter dem Sofa und lausche angestrengt meinen eigenen Atemzügen. Ein, aus. Ein, aus. Das Geräusch kommt von innen. Aus meinem Körper. Ein, aus. Rasselnd, leer und verschwommen. Ich öffne die Augen. Mit jeder Sekunde scheinen die Schatten tiefer zu hängen. Die Wände rücken näher und lösen sich gleichzeitig auf, während die Decke auf mich hinabstürzt. Was bleibt einem, wenn man nichts mehr hat?
Dunkelheit.
Stille.
Rauschen.
Finsternis.
Schmerzen.
Qualvolle, mich zerfressene, aus dem Nichts kommende Schmerzen. Ich will mich ihnen entziehen, um jeden Preis. Während ich auf Schritte lausche. Während ich auf explosives Krachen lausche. Während ich darauf warte, dass die Glühbirne flackernd zum Leben erwacht und diese erdrückende Masse aus Schatten vertreibt.
Unruhig reibe ich mit den Fersen über den Boden. Das Holz treibt Splitter in mein Fleisch. Ich konzentriere mich darauf. Während es dunkel ist. Während es still ist. Während es dunkel ist. Wenn ich atme, glaube ich mich selbst zu hören. Wenn ich damit aufhöre, pocht mein Puls gleichmäßig durch meinen Körper. Ich bin da. Ich existiere. Die Welt existiert. Aber sie beginnt zu flimmern. Sie malt sich in düsteren Farben an. Sie bringt neue Geräusche in diesen kleinen Raum. Wenn ich aufstehe, dann zieht es mir den Boden unter den Füßen weg. Wenn ich mich hinlege, dann zerdrückt es mich.
Wenn ich aufhöre zu denken, dann sehe ich den Krieg. Dann jagt er mich. Dann zerreißt er mich. Dann zeigt er mir, was aus Cameron geworden ist. Dass er meine Briefe bekommen hat. Dass er auf keinen von ihnen antworten durfte. Dass man ihn gezwungen hat, Menschen zu töten, die er lieber lebendig gesehen hätte.
Wenn ich es zulasse, dann bin ich bei Cam. Und ich leide mit Cam. Und ich begreife, dass es das zwischen uns, so flüchtig es auch war, nicht wert war, dass wir beide dafür sterben.
Ich will über alles hinwegkommen, während meine Gedanken mich auffressen. Während die Schatten mich auffressen. Während ich nicht mehr existiere.
Meine Ohren tun mir weh. Meine Augen tun mir weh.
Sie wispern von irgendwo. Sie existieren nicht. Sie wispern weiter. Sie existieren nicht. Sie graben in meinen Gedanken. Sie schlagen ihre Klauen in meinen Brustkorb.
Meine Augen tun mir weh. Und die Ohren auch.
Ein, aus. Ein, aus.
Meine Atmung verzerrt sich. Sie wird zum Donnern von Geschossen. Wimmernd kneife ich die Augen fester zusammen. Ich will nichts sehen. Ich will nichts hören. Sie sollen aufhören damit.
Wenn Dante jetzt zurückkommt, ich tue alles, was er will. Ich werfe mich vor ihm zu Boden. Ich bestehle meinen engsten Freund. Ich reiße mir selbst die Gliedmaßen aus. Wenn er nur zurückkommt und macht, dass diese Stille aufhört.
Ich will aufstehen und mich durch die Dunkelheit tasten, bis ich einen Lichtschalter gefunden habe. Ich will darauf schlagen, bis die Glühbirne zehnmal brennt.
So etwas wie einen Schalter gibt es nicht. Das Licht geht an, wenn Dante es will. Es erlischt, wenn er es verlangt.
Ich schreie in meinem Kopf, bis nur ein dumpfes Klingeln zurückbleibt. Jedes Toben, alles Flehen, jedes Betteln ist umsonst. Sie kommen zurück. Sie heben ihre Gewehre. Sie tragen ihre Helme und die Uniformen mit den verdreckten Knöpfen.
Fluchend schlägt Cam mit der flachen Hand gegen die Sandsäcke. „Kommt schon“, brüllt er in das Donnern hinein. „Kommt schon, knallt mich ab. Knallt mich doch endlich ab.“
David wirft ihm einen mörderischen Blick zu. Verschwommen wirkt er, als wäre er von Sinnen. Dann wird der Lauf wieder ins Nichts gerichtet. Sie zielen irgendwohin und schießen irgendwohin. Sie lassen die Geschosse fliegen, ohne den Mann zu sehen, den sie aus dem Leben schieben. Es ist ein Trauerspiel. Es ist ein Trauerspiel und Cam verweigert sich ihm. Er stützt sich auf seiner gesicherten Waffe ab und starrt stur auf die Wand vor sich. Fliegen summen um ihn herum und ich glaube die Fäulnis zu riechen. Die getroffenen Kameraden müssen irgendwohin getragen werden. Ihre Überreste müssen aufgelesen und fortgeschafft werden. Nur möglich, wenn es eine Feuerpause gibt. Die Rattenkadaver türmen sich. Wer keine Menschen schießt, schießt Tiere.
Tränen brennen mir in den Augen. Warum ist er nicht zu mir zurückgekommen? Es wäre so leicht gewesen. Während seine Kameraden um ihr Leben schießen, hätte Cam umdrehen können. Solange der Offizier es nicht bemerkt, wäre Cam nur verschollen gewesen.