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Ist Gott eine lebendige Realität, die zur Welt in einem Verhältnis dynamischer Interaktion steht, oder doch nur ein ohnmächtiger Begleiter, ein letzter Referenzpunkt oder ein Produkt menschlicher Arbeit an der Identität? Die systematisch-theologischen Beiträge dieses Bandes argumentieren für die erste Möglichkeit und begreifen Theologie als Entdeckung und Beschreibung der Lebendigkeit Gottes. Sie entfalten Gott als im Gebet berührbar und als in Jesus Christus risikobereit und vulnerabel. Im Geist Gottes ist auch der verletzliche Gott nicht nur selbst wahrnehmend, sondern zugleich lebensschaffend und todesüberwindend. Die christliche Hoffnung richtet sich auf eine leidenschaftliche und schöpferische Neuzuwendung Gottes, die bleibend die zerstörerischen Risiken und Nachtseiten dieser Welt verwandelt. [God's Vitality] Is God a living reality, in a dynamic relation to the world – or merely its powerless accompanier, a final reference point, or a product of humanity's preoccupation with its own identity? The systematic-theological contributions in this volume argue for the first possibility and thus understand theology as the discovery and description of the living God. They display God as tangible in prayer, and as daring, risk-taking and vulnerable in Jesus Christ. In God's Spirit, the vulnerable God is not only perceiving, but also life-giving and death-conquering. Christian hope is therefore directed towards God's passionate and creative new confrontation with humanity, which transforms the destructive risks and darkness of this world.
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Seitenzahl: 736
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Günter Thomas
Gottes Lebendigkeit
Beiträge zur Systematischen Theologie
Günter Thomas, Dr. theol. Dr. rer. soc., Jahrgang 1960, studierte Evangelische Theologie, Philosophie und Soziologie in Tübingen, Princeton (USA) und Heidelberg. Er ist Professor für Systematische Theologie an der Ruhr-Universität Bochum, Research Associate in Systematischer Theologie an der Universität Stellenbosch/Südafrika und Co-Principal Investigator des internationalen Projektes »Enhancing Life«.
Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
© 2019 by Evangelische Verlagsanstalt GmbH · Leipzig
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Cover: Kai-Michael Gustmann, Leipzig
Coverabbildung: © Ulla Kallert, Ausschnitt aus »Ohne Titel«, 2014, Acryl auf Leinwand, 180x120; https://www.ullakallert.de
Satz: 3W+P, Rimpar
E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2019
ISBN 978-3-374-06077-1
www.eva-leipzig.de
Für Christine und Bernd Janowski
Cover
Titel
Über den Autor
Impressum
Vorwort
Teil I.Dynamiken des göttlichen Lebens
I.Hinführung: Konturen einer Theologie der Lebendigkeit Gottes
1. Aufgabe und Herausforderung
2. Eine allzu menschliche Rede von Gott?
3. Weichenstellungen einer Theologie der Lebendigkeit Gottes
a.Affizierbarkeit Gottes
b.Gott reagiert auf das eigene Handeln
c.Gottes Risiko
4. Das Modell der Resonanz und seine notwendigen Grenzen
a.Aufgabe von Modellen
b.Konstruktivismus und operativer Realismus
c.Resonanz
d.Die theologische Grenze des Modells der Resonanz
5. Drei theologische Alternativen – idealtypisch skizziert
a.Gott als unbewegter Grund
b.Gott als Kraft des Lebens
c.Gott als mitleidender Begleiter
6. Gottes Lebendigkeit – Motive und Konturen
II.Das Kreuz Jesu Christi als Risiko der Inkarnation
1. Das›Risiko der Inkarnation‹ – im Schnittpunkt von sechs Diskursen
2. Die dynamische Relationalität des Risikos
3. Zwei Modelle der Beziehung zwischen Risiko und Inkarnation
a.Inkarnation als ein innergöttliches Risiko
b.Inkarnation als risikofreie Begrenzung des Risikos der Schöpfung
4. Riskante Risikobearbeitung – Inkarnation als Passion
a.Impulse Anselms von Canterbury und Karl Barths
b.Inkarnation als Risiko zweiter Ordnung
5. Die Auferweckung Jesu Christi als Verarbeitung des Risikos der Inkarnation
III.Göttliche Vulnerabilität, Passion und Macht
1. Historische Orientierungen – drei Sichtweisen auf göttliche Verwundbarkeit
a.Das grundlegende Desaster des Kreuzes
b.Der un/verletzliche Gott und das Verständnis des Kreuzes
c.Der leidende Gott in der Theologie des zwanzigsten Jahrhunderts – eine problemschaffende Lösung
2. Begriffliche Orientierungen – Variationen zur Verletzlichkeit
a.Das Kreuz Jesu Christi – Verletzlichkeit, Risiko und Leidenschaft Gottes
b.Die Auferweckung Jesu Christi – schöpferische Antwort und Begrenzung des Risikos der Verletzlichkeit
3. Göttliche Verletzlichkeit – notwendige Unterscheidungen
a.Nur scheinbare göttliche Verletzlichkeit
b.Verletzlichkeit als Moment der göttlichen Selbstbeschränkung
c.Die radikale Verletzlichkeit Gottes
d.Schöpferisch-responsive göttliche Verletzlichkeit
IV.Gottes Un/Veränderlichkeit. Theologische Motive, klassische Modelle, gegenwärtige Debatten und Perspektiven
1. Vorbemerkungen
a.Ein Relevanzhorizont
b.Un/Veränderlichkeit als Grundproblem aller ›metaphysischen Gottesprädikate‹
2. Drei Immunisierungsstrategien und die Verabschiedung einer Hermeneutik des Irrtums
3. Aktuelle Anfragen an die Rede von der Un/Veränderlichkeit Gottes
4. Leitthesen und die drei Horizonte der Themenfrage
5. Un/Veränderlichkeit Gottes – in einem einstellig-theistischen Horizont bei Philo von Alexandrien
6. Die Leidens- und Wandlungsfähigkeit Gottes in einem christologischen Horizont – William Hubert Vanstone und Jürgen Moltmann
a.Die Kenosis der Liebe – Inkarnation als Radikalisierung und Selbstbezeichnung der Schöpferliebe
b.Das Kreuz Jesu Christi als Ereignis des Leidens der Trinität
7. Die Un/Veränderlichkeit Gottes in einem pneumatologischen Horizont – Dynamiken und Mobilitäten des Geistes
a.Räumliche Mobilität
b.Mediale Mobilität
c.Affektive Mobilität
d.Handlungsmobilität
e.Mobilität der Kreativität
f.Prozessuale Mobilität
V.Die Affizierbarkeit Gottes im Gebet. Eine Problemskizze
1. Die Psalmen – systematisch-theologisch interpretieren und rezipieren
2. Der Zusammenhang zwischen einer Theologie des Gebets und der Gotteslehre
3. Theologiegeschichtliche Etappen
a.Spannungslagen und Akzente in Johannes Calvins dogmatischer Rede vom Gebet
b.Friedrich Schleiermacher als radikaler Interpret Johannes Calvins
4. Gebetstheologie im langen Schatten Schleiermachers
5. Erwägungen zur Affizierbarkeit Gottes im Gebet
a.Das Gebet als Hineinnahme in die jesuanische Vertrauensbeziehung zu Gott
b.Inkarnation als Verleiblichung
c.Intimität und Öffentlichkeit des Geistes
VI.Der Geist Gottes als Macht der Aufmerksamkeit
1. Spannungslagen der theologischen Pneumatologie
a.Selbstreferenz versus Fremdreferenz
b.Intimität oder Öffentlichkeit
c.Passivität oder Aktivität, Erleben oder Handeln
d.Ordnungsauflösung oder Strukturbildung und gepflegte Regelmäßigkeit
2. Aufmerksamkeitsrelative Welten
3. Der Geist Gottes und Gottes Wahrnehmung der Welt
4. Konturen der Aufmerksamkeit
5. Der Heilige Geist als Macht der Aufmerksamkeit und der Geist Jesu Christi
6. Der Heilige Geist und das priesterliche und prophetische Amt Jesu Christi
Teil II.Die Verheißung der Lebendigkeit Gottes
VII.»Er ist nicht hier!« Die Rede vom leeren Grab als Zeichen der neuen Schöpfung
1. Vorbemerkungen
2. Vier Typen theologischer Anfragen an die Rede vom leeren Grab
3. Die Wahrnehmung von Ereignissen und die Kommunikation des Evangeliums
4. Die Rede vom leeren Grab als›sprechendes Zeichen‹ der neuen Schöpfung
a.Das leere Grab als Korrelat der Leiblichkeit des auferstandenen Christus
b.Das Ostergeschehen als Ereignis der Treue Gottes
c.Die Ereignishaftigkeit der Auferstehung und die Beobachtung des leeren Grabes
d.Die Aufhebung der prekären Einheit von Leben und Tod – oder: Der Tod des Todes
e.Das leere Grab als Zeichen der creatura viatorum
5. Das leere Grab – das literarische Zeugnis und das historische Faktum
VIII.Das Konzept von Gottes schöpferischer Neuzuwendung und seine Konsequenzen für das Geflecht theologischer Themen
1. Modellkonstellationen der Zuordnung von Schöpfung und Neuer Schöpfung – Restitution, Substitution und Transformation
2. Die eschatologische Neuzuwendung Gottes als rettende Transformation – eine Problemskizze
3. Umbauten in theologischen Themenfeldern im Horizont rettender Transformation
a.Schöpfungslehre
b.Gotteslehre
c.Vorsehungslehre
d.Theologie des Gebets
e.Pneumatologie
f.Christologie
g.Ekklesiologie
IX.Gottes schöpferische Gerechtigkeit
1. Zwei Grundtendenzen der Eschatologie im 20. Jahrhundert
a.Ewigkeit als Verewigung des gelebten Lebens
b.Gericht im Horizont der Verewigung: Ereignislose Entbergung und Aufdeckung des Verborgenen
2. Schöpferische Gerechtigkeit: Soziale Versöhnung und Lebensgabe
a.Eschatologische Versöhnung – um den Preis einer Vernichtung der Erinnerung?
b.Das Gericht als Lebensgabe des schöpferisch-gerechten Gottes
X.Hoffen auf einen›Neuen Himmel‹. Erwägungen zu einer Welt ohne die Macht der Nacht
1. Die Wiederentdeckung des Himmels in der Theologie des 20. Jahrhunderts – Eine Entwicklungsskizze
2. Eine symboltheoretische Zwischenreflexion
3. Neuschöpfung: Ein nachtfreier Himmel und eine meerfreie Erde als Kennzeichen einer verwandelten Schöpfung
4. Der neue Himmel. Heilsame Ernüchterung und Perspektivierung der Sehnsüchte
XI.Emergenz oder Intervention? Konstellationen der schöpferischen Treue Gottes im Gegenüber zu einem theologischen Naturalismus
1. Einführende Bemerkungen
2. Kulturell-religiöse Ausgangsbeobachtungen und ein methodischer Hinweis
3. Reparatur, graduelle Optimierung, radikaler Ersatz oder Umbau des Gewesenen? Theologische Modelle
4. Das›Alte‹ und das ›Neue‹ im Horizont eines theologischen Naturalismus – ein Gespräch mit Arthur Peacocke
a.Die Welt als Schöpfung
b.Die Leiden der Schöpfung und das Leiden Gottes
c.Welche Hoffnung erschließt das Christusereignis?
5. Bilanz und Rückfragen
a.Emergent Neues oder radikal Neues?
b.Anfragen und Einwände
XII.Literaturverzeichnis
XIII.Veröffentlichungsnachweise
Register
Bibelstellenregister
Personenregister
Sachregister
Endnoten
Die in diesem Band versammelten Beiträge sind über mehrere Jahre entstanden. Dass sie nun unter dem Titel ›Gottes Lebendigkeit‹ zusammengefügt worden sind, hat zwei Gründe. Obwohl sie zu verschiedenen Anlässen verfasst wurden, dokumentiert sich in ihnen eine theologische Entdeckungsgeschichte. In ihrer theologisch-sachlichen Konvergenz bearbeiten sie alle aus differenten Perspektiven das gleiche Thema: Gottes Lebendigkeit. Hierin haben sie ihr thematisches Zentrum. Die Erschließung der Lebendigkeit Gottes ist ihr gemeinsames Anliegen. Um den theologischen Kontext, die begrifflichen Instrumentarien und die Konturen des Ansatzes summarisch zugänglich zu machen, wurde anstelle einer knappen Einleitung die etwas ausführlichere Hinführung vorangestellt. Der zweite Grund ist: Gottes Lebendigkeit ist das vielstimmig beschwiegene Thema in Theologie und Kirche. Dass sich Gott als der Lebendige bekannt macht, ist Teil seiner Lebendigkeit. Die Beiträge in diesem Band können daran nur hoffend erinnern und die Freude an der Entdeckung wecken.
Dieser Band ist Christine und Bernd Janowski gewidmet. Über viele Jahre hinweg hat Christine Janowski mit der ihr eigenen unerbittlichen Fragehaltung und Sachlichkeit die Suche theologischer Erkenntnis befördert. Bernd Janowski hat schon früh dafür Sorge getragen, dass sich der Systematische Theologe dem kanonischen Gespräch aussetzt, mit aller Mühe und aller Freude, die dies bereitet.
Kritik, Bestätigung und wichtige Impulse sind in den letzten Jahren dem gemeinsam mit William Schweiker / Chicago organisierten und von der John Templeton Foundation großzügig geförderten Projekt »Enhancing Life« erwachsen. Dem Gespräch mit William Schweiker verdankt der Band mehr als die Texte es erkennen lassen.
Die Entstehung des Bandes gibt Anlass zu aufrichtigem Dank. Annette Weidhas von der Evangelischen Verlagsanstalt hat die Hoffnung auf Fertigstellung nicht aufgegeben und das Projekt mit der richtigen Mischung aus Mahnung und Ermutigung gefördert. Annika Dahm, Franziska Lindner, Rebekka Scheler und Alexander Möller haben im Bochumer Lehrstuhlteam Großartiges geleistet. Ihnen sei herzlich gedankt. Benedikt Friedrich hat nicht nur koordiniert, sondern die Entstehung des Bandes mit scharfsinnigen Fragen und fruchtbaren Ideen begleitet. Danke!
Stuttgart / Bochum
Am Reformationstag 2018
Günter Thomas
Gottes Lebendigkeit theologisch zur Sprache zu bringen ist die dringendste Herausforderung gegenwärtiger evangelischer Theologie. Dies gilt ganz besonders für die deutschsprachige Theologie und die Räume, in die sie ausstrahlt. Ein solches Unterfangen verspricht nicht nur, Impulse für das Leben der Kirche zu geben. Auch die theologische Analyse und das Dekodieren soziokultureller Prozesse werden davon gewinnen. Ohne ein klares Erfassen der Lebendigkeit Gottes bleiben die Zugänge sowohl zur Freude des Glaubens wie auch zu einer Wut der Klage weitgehend verschüttet. In vielen Strömungen der Theologie wurden und werden durch Fehlorientierungen und Fehloptimierungen diejenigen Aspekte der Wirklichkeit Gottes, die dessen dynamische Lebendigkeit ausmachen, als unangemessen abgeblendet oder ganz infrage gestellt. An vielen Orten wissenschaftlich reflektierender Theologie begegnet man der Vorstellung von Gott als eines in Interaktion stehenden Akteurs mit Kopfschütteln. Aber auch unter Pfarrerinnen und Pfarrern und nicht zuletzt auch in Kirchenleitungen scheint diese elementare Einsicht abhanden gekommen zu sein.
Jenseits der berechtigten Infragestellung eines naiven Theismus steht die Frage im Raum der Theologie wie auch im Raum der kirchlichen Rede von Gott: Wagt es die Theologie noch, Gott als Akteur, als ›Agent‹, als Entität mit Intentionen und Aspirationen zu denken?1 Im Imaginationsraum der biblischen Texte mag diese Frage überflüssig, ja offensichtlich sinnlos erscheinen. Angesichts weiter Teile nicht nur historischer, sondern gegenwartsorientierter wissenschaftlicher Theologie und weiter Teile kirchlichen Redens von Gott drängt sich diese Frage jedoch mit aller Macht auf.
Viele Begegnungen während der letzten Jahre haben bei mir den Eindruck erzeugt, dass – bemüht man eine Metapher aus dem Milieu der Beratungsszene – diese Frage nach der ›Agency‹ Gottes geradezu der Elefant mitten im Raum ist, den jeder sieht, aber den niemand ernsthaft thematisieren möchte. Der Elefant wird beschwiegen. Die Frage nach ihm wäre peinlich.2 Beiträge, die dies tun, werden allzuleicht etikettiert: »fromm«, »vormodern«, »unreflektiert«, »kann man doch nicht mehr sagen«, »naiv realistisch« oder »geht nicht mehr«. Sehr schnell wird dann der Aufkleber »evangelikal« angebracht. Wer so akteurorientiert von der Lebendigkeit Gottes denkt, hat scheinbar nicht die intellektuelle Spannkraft, die notwendigen Höhen der philosophischen Reflexion zu erklimmen. Umgekehrt ist jedoch festzustellen: Solange die Systematische Theologie sehnsüchtig auf den Ritterschlag durch die zeitgenössische Philosophie und solange die Kirche nicht weniger sehnsüchtig auf den Ritterschlag des aktuellen common sense einer medial vermittelten Öffentlichkeit wartet, erscheint es für beide verlockend, sich der im Raum stehenden Frage zu entziehen. Allerdings verschwindet der Elefant nicht. Er bleibt einfach stehen. Doch die Suche nach Relevanz scheitert letztlich doppelt – an der fehlenden Lebendigkeit der Theologie und auch daran, dass die Menschen spüren, wenn selbst Theologie und Kirche nicht mehr mit einem lebendigen Gott ›rechnen‹.
Wenn sich Theologie und Kirche aber nicht von den provozierenden Fragen distanzieren, die ihnen aus der Welt der Bibel, ihren dichten Narrationen, ihren Metaphern und Symbolen ganz besonders in der Frage nach Gottes Lebendigkeit entgegenkommen, dann verspricht dies einen Zuwachs an Erkenntnis, aber auch einen Zuwachs einer freudigen Neugier in der Gotteserkenntnis, eben eines Glaubens, der auch überraschende Erkenntnis sucht. Nicht zuletzt ist auch eine klare Erfassung der Lebendigkeit Gottes und seiner Aspirationen Grundlage einer wirklich hoffenden und in der Macht des Geistes lebendigen Christenheit.
Dieses Eingangskapitel möchte eine erste und vorläufige Karte dieses Projektes einer Theologie der Lebendigkeit Gottes skizzieren. Die daran anschließenden Kapitel sind Suchbewegungen in exemplarischen Problemfeldern.
Seit Menschen in der Spannung einer Rede an und von Gott leben, sind sie mit der Frage konfrontiert, ob sie von Gott nicht zu menschlich, ja zu naiv anthropomorph denken. Die Frage nach der Angemessenheit der Rede von Gott begleitet diese Rede von jeher. Nicht umsonst ist diese in verschiedenen Formen schon Teil des kanonischen Gesprächs des Alten und Neuen Testaments. Ohne Zweifel verschärft sich diese kritische Anfrage im Horizont der neuzeitlichen Erkenntnistheorien und vor allem durch die Religionskritik Auguste Comtes, Friedrich Feuerbachs, Friedrich Nietzsches und Sigmund Freuds. Dass von Gott ›menschlich‹ gesprochen wird, d. h. zu behaupten, dass Gott sieht, bewertet, sich zurückzieht, zornig ist, etwas verspricht, dass er seine Meinung ändert, etwas bereut oder gar lernt, wird unter der Rubrik »interessante Pathologie« verbucht.3
Die Theologie bzw. die Religionsphilosophie hat auf die Problematik dieser sogenannten anthropomorphen Rede von Gott schon sehr früh mit einer Doppelstrategie reagiert.4 Sie hat zunächst (zumeist mithilfe philosophischer Mittel) eine privilegierte Beobachterposition zu etablieren versucht. Von diesem epistemischen Hochsitz aus ist dann der theologische Beobachter in der Lage zu sehen, was mit diesem zutiefst anthropomorphen Sprechen eigentlich gemeint ist, aber den religiösen Texten und den religiösen Sprechern selbst leider verborgen ist. Die zweite, davon abhängige Strategie ist, sozusagen in einem Akt der milden repressiven Toleranz, die relative Berechtigung dieser Vorstellungen und dieser Sprache in den Räumen spiritueller Praxis, bei Menschen minderer Bildung und geringerer moralischer Veredelung anzuerkennen. Und doch gilt für den Beobachter auf dem Theoriehochsitz: In Wahrheit erschließen diese menschlich-natürlichen Imaginationen nichts über Gott selbst. Diese Haltung theoriegestützter und zugleich angemaßter Überlegenheit ist zurückzuweisen. Bei Licht betrachtet manifestiert sich in ihr die naive Hoffnung, mit der richtigen Theorie ließe sich die Uneigentlichkeit des so menschlich-christlichen Sprechens zugunsten eines reflektierten Begriffsrealismus grundsätzlich überwinden.
Doch auch umgekehrt kann es für ein theologisches Begreifen nicht einfach um ein Nachsprechen dieser anthropomorphen Rede von Gott gehen. Gegenläufig zu dem Bemühen um eine privilegierte Beobachtungsperspektive geht es darum, das zur Sprache zu bringen und zu systematisieren, was in und mit den personal-menschlichen Ausdrücken von dem lebendigen Gott ausgesagt wird. Der Versuch der Vermeidung anthropomorpher Vorstellungen führt nicht von sich aus zu einem angemesseneren Gottesverständnis. Jede Rede von Gott bleibt im Raum menschlicher Imagination und Sprache und darin analogiebedürftig. Vielmehr scheint es die hermeneutische Pointe vieler allzu menschlicher Rede von Gott zu sein, dass nur so die Lebendigkeit Gottes erfasst werden kann. Von hier aus sortiert sich dann das Gefüge fundamentaltheologischer Fragestellungen neu, aber auch der gesamte Katalog der theologischen Themen neu.
Die Wiedergewinnung eines trinitarischen Gottesverständnisses in Teilen der Theologie des 20. Jahrhunderts ist zweifellos eine positive theologiegeschichtliche und systematische Voraussetzung einer neuen Wahrnehmung und Artikulation von Gottes Lebendigkeit. Sie führt allerdings nicht mit innerer Notwendigkeit zu einem klaren und differenzierten Erfassen der besonderen Lebendigkeit Gottes. Wie noch zu zeigen sein wird, gehen die Momente der Responsivität, der Affizierbarkeit und des ›Lernens‹ Gottes zumeist über klassisch trinitarische Modellbildungen hinaus bzw. verschieben die Akzente deutlicher in Richtung einer dynamischen Reziprozität zwischen Gott und Welt wie auch zwischen den göttlichen Akteurszentren.
Eine Theologie, die Gottes Lebendigkeit zu artikulieren sucht, wird gegenüber einer sich im langen Schatten der aristotelischen oder der platonischen Philosophie bewegenden Tradition einige theologische Weichen markant anders stellen. Sie wird dies tun, auch dann, wenn sie die relative Berechtigung des Anschlusses an die philosophische Gottesreflexion anstelle eines Anschlusses an die griechische Mythologie anerkennt.5 Dabei sind es vor allem vier Denkformen, die helfen, Gottes Lebendigkeit zu verstehen und die querstehen zu den Basisannahmen der ›klassischen‹ Tradition: die Einsicht in die Affizierbarkeit Gottes, die Beobachtung der korrigierenden Rekursivität göttlichen Handelns, das Moment des Eingehens und des Begrenzens des göttlichen Risikos und zuletzt das Modell der Resonanz und dessen Grenze zur Vergegenwärtigung der lebendigen Beziehung Gottes zur Welt. An dieser Stelle müssen ganz knappe Skizzen genügen, die zugleich offen die Probleme und Grenzlagen dieser Denkformen andeuten. Insofern gilt auch von diesen Weichenstellungen: Es gibt auch in der Theologie nur problemschaffende Lösungen. In den dieser Einführung folgenden Kapiteln werden sie innerhalb der dogmatischen Themen weiter entfaltet.
Der trinitarisch zu denkende Gott ist mit der Welt in einem Prozess der Interaktion, in welchem er in Christus und im Geist real von dieser Welt affiziert wird.6 Ohne von ihr determiniert zu werden, wird Gott berührt, bewegt und verändert. Analysiert man die innere Logik des sog. zweiten Schöpfungberichtes, so lässt sich Gott schon im Prozess der Schöpfung von der Not Adams berühren und zu kreativen, schrittweise das Ergebnis prüfenden Nachjustierungen bewegen (Gen 2,18–25).7 Die Bereitschaft zur Affizierbarkeit lässt Gott Schmerz empfinden (Hos 11,8–9), lässt Christus von Tränen überwältigt werden (Joh 11,35) und kann dazu führen, dass Menschen den Geist betrüben können (Eph 4,30). Allerdings teilt nicht jede trinitätstheologisch ausgerichtete Theologie notwendigerweise diesen Ansatz einer Affizierbarkeit Gottes. Die Theologie Karl Barths ist ein Beispiel dafür, dass das Bewegtwerden stets von der vorangehenden und übergreifenden Selbstbewegung immer schon aufgehoben wird – auch dann, wenn Barth gegenüber einer statischen Unveränderlichkeit explizit Gottes Lebendigkeit betont.8 Dagegen beinhaltet ein sachlich angemessenes Verständnis von Gottes Lebendigkeit ein Affiziertwerden, das eben über ein Werden als Selbstbewegung Gottes entschieden hinausgeht.9
Zugleich zeigt sich allerdings in der Barthschen Ablehnung einer Bestimmung Gottes von ›außen‹ ein reales und berechtigtes Problem an. Betont man ein reales Affiziertwerden Gottes, dann ist die in den Vordergrund rückende Frage zweifellos, ob dieser sich von der Geschichte der Schöpfung berühren lassende und mit ihr leidende Gott nicht von den Mächten der Destruktion und Gewalt überwältigt werden kann. Die besondere Schwierigkeit in der Rezeption des kanonischen Gesprächs ist, einerseits ein Affiziertwerden und Bewegtwerden Gottes, das heißt eine schwache Form der Einflussnahme, mit einer starken messianischen Hoffnung der Rettung und Neuschöpfung zu verbinden. Gottes Lebendigkeit entspricht nicht nur ein Schaffen und Erhalten einer riskant kokreativen Welt.10 Der schöpferischen Lebendigkeit Gottes entspricht auch ein responsorisches Handeln, d. h. bewertendes und korrektives Begleiten und ein Bewegtwerden des Menschen, das letztlich in eine neuschöpferische Aktivität mündet. Als Überwindung von vielfältigen Mächten der Destruktion und Fehlorientierung, Gewalt und Ungerechtigkeit ist dies ein überaus machtvolles Geschehen der Intervention und der Überwältigung – paulinisch gesprochen: ein Überwinden des Todes (1Kor 15) und eine Neuschöpfung von Himmel und Erde.11
Die Herausforderung ist also, Gottes Affiziertwerden so zu denken, dass christlicher Glaube nicht hoffnungslos wird, sondern transformativ-rettendes, innovatives Handeln Gottes Gegenstand der Hoffnung bleibt – weil eben Gott sich vom Menschen dem Menschen zugute bewegen lässt. Im Geist bleibt Gott der, der in Kraft und Macht seine Herrschaft für den Menschen trotz aller Widerstände aufrichtet. Gott will sich mittels seiner Affizierbarkeit vom Schicksal seiner Bundesgenossen rettend ›mobilisieren‹ lassen.
Gott bezieht sich in der Geschichte der Interaktion mit der Welt wahrnehmend, bewertend, korrigierend und überbietend auf sein eigenes Handeln und dessen Folgen in der Freiheitsgeschichte der Schöpfung und seines Bundes. Gottes Handeln ist responsorisch, d. h. korrektiv, reaktiv, überbietend, aber auch innovativ. Man könnte auch sagen intervenierend, abwartend, nachsteuernd und justierend. Wie Gen 2,15–25 vorführt, kann dieses responsorische Handeln geradezu einen experimentellen Charakter annehmen.
Insofern Gott in einem responsorischen Verhältnis nicht nur zu den offenen Geschichten der Welt, sondern auch zu seinem eigenen Handeln steht, wirft ein Ernstnehmen der Responsivität – man könnte auch sagen, dieser rekursiven rück- und vorwärtsweisenden Prozesse – Rückfragen zur potentiellen (Selbst-) Widersprüchlichkeit des Handelns der trinitarischen Akteure auf. Der so alarmierende wie auch die Debatte stoppende Problemtitel heißt: die Person Marcion. Die daueraktuelle theologische Entdeckung des frühchristlichen Häretikers Marcion ist eine stets valide und potente intellektuelle Versuchung im Hintergrund der christlichen Theologie. Sie lautet: Der in Christus gegenwärtig gewordene Gott der Liebe, Barmherzigkeit und Güte kann schlechterdings nicht der Schöpfergott dieser Welt sein. Die Qualität der Handlungen auf diesen beiden Feldern ist so unterschiedlich, dass sie notwendig zwei unterschiedlichen Akteuren zuzurechnen sind. Sie sind in ihrem Wesen so different, dass Christen von zwei Göttern ausgehen müssen. Marcions so brillante wie in der Konsequenz äußerst fragwürdige Einsicht war, dass eine korrektive und umgestaltende Responsivität Gottes zwei charakterlich unterschiedliche Akteure, also zwei Götter erfordert. Diese Versuchung bzw. das in ihr liegende Problem besitzt offenbar eine Daueraktualität.
Nur unter zwei Bedingungen lässt sich in einer Theologie der Lebendigkeit Gottes eine rekursive Responsivität, d. h. eine auf sich selbst zurückweisende, reagierende und korrigierende Richtung im Handeln der trinitarischen Akteure festhalten, ohne a) Marcions Fehlschluss zu verfallen und ohne b) die problematischen Antworten der Tradition auf Marcion zu wiederholen:
1. Gott reagiert in Christus und im Geist nicht auf eine Realität der geschaffenen Welt, die von ihm selbst vollständig bestimmt wird. Die nicht zuletzt auch trinitätstheologisch undifferenzierte Vorstellung, Gott sei ›die alles bestimmende Wirklichkeit‹, ist mutig zu verabschieden. Gott begleitet affirmativ, kritisch und korrektiv Prozesse riskanter Freiheit. Damit reagiert Gott auch auf Prozesse dieser Welt, die nicht oder nicht vollständig seinen Intentionen entsprechen. Teil der Lebendigkeit Gottes und der Interaktion zwischen Welt und Gott ist das Faktum, dass nicht jeder Moment und jedes Ereignis dieser Welt in Gänze den Aspirationen Gottes entspricht und diese ganz ausschöpft. So entsteht eine dynamische Interaktionsgeschichte. Um einen Ausdruck von Hans Jonas zu leihen, entsteht ein komplexes, für Christen trinitarisch zu entfaltendes »Weltabenteuer« Gottes.12 Aus diesem Grund ist ein Moment von Gottes Handeln stets die Bewertung des eigenen Handelns, d. h. dessen Eingehen in die geschöpflichen Kontexte geschöpflichen Handelns.13 Ein Festhalten an einer abstrakten Allwirksamkeit Gottes – sei sie auf jedes Einzelereignis bezogen oder auf die alles bedingende und determinierende Schaffung der initialen Rahmenbedingungen – verdunkelt die Einsicht in den responsorisch-korrektiven Widerwillen Gottes und damit den Blick für Gottes Lebendigkeit.
2. Die andere Bedingung, die Marcions luzide Einsicht in die Interaktion in Gott (und für ihn selbst letztlich zwischen den Göttern) vor seinem falschen Schluss bewahrt, ist in einer spezifischen Prozessualität Gottes gegeben. Im beständigen und treuen Begleiten und im Erfahren der Welt muss Gott zum Aufrechterhalten seiner Aspirationen sich wandeln und lernen – den Menschen und der Welt zugute. Trinitätstheologisch formuliert, liefert sich Gott weder vollständig in einem kenotischen Prozess der Welt aus, noch verfolgt er als Vater im Sohn und im Geist unverändert das Weltabenteuer. Angesichts des offenen Prozesses der Welt erfordert Gottes Treue und d. h. die Aufrechterhaltung seiner Aspirationen einen Wandel im Sinne von Innovationen.14 In der Fluterzählung reagiert Gott auf die Gewalt unter allen Geschöpfen und regiert dann in seiner Reue auf seine eigene Reaktion. Um das Projekt der Schöpfung fortzusetzen, agiert Gott innovativ mit einem Bundesschluss. Die gesamte sogenannte Erzvätergeschichte und dann die Erwählung Israels entfaltet sich in einer dynamischen Interaktionsgeschichte, in der Gott bewertend, korrigierend, Strategien verändernd seine Aspirationen aufrecht erhält. Rettend interveniert der Geist in selbstzerstörerische Prozesse. So reagiert Christus in den Krankenheilungen auf die nicht tolerierbaren Risiken der Schöpfung. Das Versöhnungshandeln reagiert innovativ auf die selbstzerstörerische Grenzlage der menschlichen Freiheit. In der Auferweckung von den Toten in der Macht des Geistes reagiert Gott mit gesteigerter Kreativität auf das Ereignis des Kreuzes.
Die vielfach aufgespannte Alternative Unveränderlichkeit/Veränderlichkeit Gottes ist daher unzureichend, fehlorientierend und unterkomplex. Man könnte bei diesem Wandel auch von einer Selbstüberbietung der Liebe oder einer Steigerung der schöpferischen Kreativität sprechen.15 Ganz analog zur evolutionstheoretischen Einsicht in die Notwendigkeit von Plastizität zum Erhalt von Stabilität und Kontinuität ist es Gottes verheißungsreiche und unveränderliche Treue, die eine der Welt und dem Menschen zugute kommende Veränderlichkeit und Innovationsfreudigkeit notwendig macht.
Eine Theologie der Lebendigkeit Gottes betritt mit sachlich begründeter Notwendigkeit das mit dem Begriff »Risiko« markierte Problemfeld.16 Für die traditionelle Metaphysik wie auch für ihre modernen Interpreten ist es ein Ungedanke, dass Gott Risiken eingeht. Eine solche Annahme widerspricht nicht nur allen metaphysischen Eigenschaften Gottes (Allmacht, Allwissenheit, Allwirksamkeit etc.), sondern würde auch in Gott ein Moment der Kontingenz einführen.17 Die klassische Zurückweisung jeglicher Kontingenz in Gott erzeugte ein an vielen Stellen der Theologie schwelendes Dauerproblem. Das Problem der Kontingenz der Sünde und des Bösen bleibt ein beunruhigendes Moment im Verständnis der Schöpfung, der Erwählung und der Begründung der Christologie, um nur einige wenige Felder zu benennen.18 Doch der Gott, der geschöpflichen Prozessen eine Eigenmacht und Eigenkreativität einräumt und zugleich in Treue seine Aspirationen verfolgt und nicht aufgibt zu begleiten, kann dies beides nur tun, indem er ›unterwegs‹ Risiken eingeht. Natürlich führt dies zu der Frage, die auch im Zusammenhang des Mitleidens Gottes unweigerlich aufbricht: Könnte der Risiken eingehende Gott zu große Risiken eingehen? Könnte der mitleidende Gott auch vom Leiden überwältigt werden? Könnte das Weltabenteuer Gottes nicht tragisch enden? Diese Frage ist offen und ehrlich theologisch zu bearbeiten und zu beantworten. Die Diskussion dieser Frage durchzieht mehrere Kapitel dieses Bandes. Die hier vorgeschlagene, in der Auseinandersetzung mit der Theologie des Leidens Gottes gewonnene Antwort lautet: Nein.
Für eine Theologie, die mit der Tradition und mit dem kanonischen Gespräch im Kontakt bleibt, eröffnen sich mit diesen drei Weichenstellungen neue Perspektiven auf die Dynamiken von Gottes Lebendigkeit. Gegenüber einer gleichmäßigen und flächigen Allgegenwart erschließt sich ein Blick auf eine Dynamik der Gegenwart und Abwesenheit – und dies sowohl in räumlicher, zeitlicher und sozialer Hinsicht. Zentrale ›Ereignisse‹ wie die Inkarnation, das Kreuz, die Auferstehung Jesu Christi, die Himmelfahrt wie auch die Hoffnung auf ein erneutes ›Kommen‹ sind – wie auch immer man das Verhältnis zwischen ihnen theologisch justiert – Prozessmomente einer dynamischen Interaktion zwischen dem lebendigen Gott und seiner sich hoch riskant entwickelnden Welt.
Während weite Bereiche der theologischen Tradition Gottes Weltbezug unidirektional im Modell der Kausalität denken und umgekehrt viele gegenwärtige Theologien der leidenden Gottespräsenz letztlich nur unidirektional ein Erfahren und Empfinden Gottes vorstellen, wird in den folgenden Überlegungen ein Modell der Resonanz vorgeschlagen.
Was ist die Stärke der Orientierung an Modellen und speziell an dem Modell der Resonanz? Während die Systematische Theologie sich im letzten Jahrhundert stark auf die Rezeption von Theorien und die Verwendung von Begriffen konzentrierte – man denke nur an die Debatten um die Theologie Rudolph Bultmanns und deren Rezeption der Philosophie Martin Heideggers – wird im Folgenden eine Orientierung an einem Modell vorgeschlagen.19
Theologie denkt als wissenschaftliche Theologie nicht nur in und mit Begriffen und Metaphern, sondern stets auch in und mit Modellen. Diese Modelle können mehr oder weniger in philosophischen oder soziologischen Theorien beheimatet sein. Trotz dieser Primärverortung erlauben Modelle Übertragungen zwischen Wissensgebieten und hierin die gezielte kreative Erschließung neuen Wissens in dem neuen Übertragungsbereich. In vielen Feldern der Naturwissenschaften sind Modellbildungen Ausgangspunkt gezielter Hypothesenbildung. Auch in den Geistes- und Textwissenschaften, aber nicht zuletzt auch in der Theologie, organisieren sie die Wahrheitssuche im Graubereich zwischen Erfindung und Findung, indem sie die Spannung zwischen beidem bearbeitbar machen und in Gestalten der Operationalisierbarkeit überführen. Modelle verbinden einzelne Elemente, legen Typen und Qualitäten von Relationen nahe und enthalten nicht zuletzt eine spezifische ›Ontologie‹. Modelle bringen bekanntes und nicht bekanntes Wissen in ein distinktes Relationengefüge.
Was ist der Sinn und das Ziel dieser Auseinandersetzungmit Modellen in der Entfaltung von Gottes Lebendigkeit? Sind dies, so mag eine ausschließlich an der Semantik der biblischen Schriften ausgerichtete Theologie fragen, für eine Theologie der Lebendigkeit Gottes nicht überflüssige Suchbewegungen? Diese Frage ist entschlossen mit Nein zu beantworten. Allerdings kann in der Auseinandersetzung mit außertheologischen Theorien die evangelische Theologie offensichtlich sehr verschiedene Absichten verfolgen. Für die hier vorgetragenen Überlegungen ist darum zunächst die Aufgabe der Orientierung an außertheologischen Theorien und Modellen knapp zu vergegenwärtigen.
Die Ausführungen in diesem Band versuchen, so der Anspruch, biblisch theologische Impulse, dogmatische Traditionen, eine bewusste Modell- und Theorieorientierung und nicht zuletzt eine ökumenische Offenheit mit einem konstruktiv-theologischen Anliegen zu verbinden. Wie lässt sich diese Arbeit der Theologie, kritisch wie konstruktiv von außen betrachtet, beschreiben und transparent machen? Was ›sieht‹ ein kulturwissenschaftlich orientierter Philosoph, wenn er diesen Typ von Theologie beobachtet? Was sieht die Theologin oder der Theologe, wenn sie oder er sich solchermaßen selbst über die Schulter schaut?
In der kritischen (Selbst-)Beobachtung und einer Suche nach einer konstruktiven Orientierung für die theologische Arbeit hat sich die philosophische Vorstellung der Weltenkonstruktion als überaus hilfreich erwiesen. Betrachtet man die theologische Arbeit und insbesondere die Arbeit Systematischer Theologie von ›außen‹, d. h. beispielsweise kulturwissenschaftlich, literaturwissenschaftlich oder auch wissenssoziologisch, so kann man zum Verständnis der hermeneutischen Prozesse auf den Harvarder Philosophen Nelson Goodman zurückgreifen.
Mit dem Goodmanschen ›optischen Instrumentarium‹ lässt sich beobachten, dass in der Systematischen Theologie und der konstruktiven protestantischen Dogmatik im Vorgang des fides quaerens intellectum eigene Text-Welten gebaut werden, die aus einer Vielfalt anderer Welten entstehen. Aus der Sicht anderer Fachdiskurse, d. h. ›von außen‹ betrachtet, oder auch in einer kulturwissenschaftlichen Selbstbeobachtung der Systematischen Theologie, erscheint die theologische Denkbewegung als ein wahrheitssuchender Prozess, auf den durchaus auch die Beschreibung Goodmans zutrifft: Eine theologische ›Orientierungswelt‹ entsteht durch a) Komposition und Dekomposition, b) ein Neugewichten und Umakzentuieren, c) ein Ordnen und Umordnen, d) durch Löschen und Ergänzen und nicht zuletzt e) durch ein Deformieren anderer ›Welten‹.20 Dieses Konstruieren vollzieht sich in einer je aktuellen Gegenwart mit ihren je eigenen Problem-, Relevanz- und Theoriehorizonten, im Gespräch mit den Theologien der Tradition und nicht zuletzt in der Auseinandersetzung mit den biblischen Texten. Die Konstruktion der neuen Textwelt darf nicht mit einem unverbindlichen Spiel mit Wissensfragmenten verwechselt werden. Die Konstruktion ist vielmehr notwendiges Medium der Wahrheitssuche und Wahrheitsgewinnung. Nicht unwesentlich ist dabei die Wahrnehmung bzw. die idealtypische Konstruktion von validen Alternativen und das Gespräch mit diesen Alternativen. Ohne Zweifel ist dieses gegenwärtige Verstehen des Glaubens (im Sinne eines genitivus subjectivus und eines genitivus objectivus) nicht möglich ohne eine Inanspruchnahme der menschlichen Imagination.21
Auch schon in dieser relativierend-vergleichenden Außenperspektive auf den Vollzug konstruktiver Systematischer Theologie darf allerdings die Pragmatik nicht übersehen werden: Wenn die theologische Denkbewegung des fides quaerens intellectum von außen beobachtet wird, dann geht es intern dennoch um die aktuelle Pflege eines spezifischen, nicht nur historischen, sondern auch gegenwärtig lebendigen Symbolsystems. Systematische Theologie ist als Dogmatik in diesem Sinne die verantwortliche Pflege, d. h. die Selbstbeobachtung und die kritische Prüfung der Sachgemäßheit, der Umweltadaptation und nicht zuletzt der Entwicklungsmöglichkeiten des christlichen Symbolsystems, das letzten Endes Gottes Lebendigkeit symbolisieren soll. Systematische Theologie zielt so auf die Gestaltung und Verarbeitung der ›Resonanzsensibilität‹ innerhalb der Theologie in einer sich stets wandelnden Umwelt.22
Diese selbstkritische Pflege des christlichen Symbolsystems unterstellt sich selbst stets eine theologische und darin stets eingeschlossen auch eine soziokulturelle Problemdiagnose, auf die hin orientierend und problemlösend gearbeitet wird. Genau dies macht die unausweichlich normative Seite der Theologie aus. Von dieser Last der verantwortlichen Steuerung ist der Religionswissenschaftler im Unterschied zum Theologen befreit. Er kann den möglichen ›Schiffbruch‹ der religiösen Praxis gelassen als Zuschauer vom Ufer aus beobachten und aus den angeschwemmten Planken des zerbrochenen Schiffes den nächsten Forschungsantrag zimmern.23 Dem wirklichen Theologen, der sich auf den lebendigen Gott und die reale Kirche einlässt, ist dieser entspannte Blick nicht vergönnt.
Ohne Zweifel stellt die Dogmatik – auch in aller biblisch-theologischen Orientierung und auch in aller Rede von Gott – im Unterschied zur verbreiteten Rede über die Rede von Gott eine imaginative Rekonstruktion und Konstruktion dar und bleibt stets interpretierend. Dennoch unterstellt sie sich mit guten Gründen – wie jede seriöse wissenschaftliche Erkenntnisbemühung – zur kognitiven Selbstkontrolle operativ, d. h. im Vollzug der Forschung, die Unterscheidung von ›Datum‹ und ›Interpretation‹, von ›Findung‹ und ›Erfindung‹, systemischer Fremdreferenz und Selbstreferenz. Nur so kann die Widerständigkeit der Realität, auch der religiösen ›Realität‹ in der wissenschaftlichen Konstruktion wahrgenommen und produktiv verarbeitet werden.
Die daraus resultierende realistische Rede von Gottes Lebendigkeit ist jedoch nicht naiv realistisch. Sie weiß, dass jeder Beobachter zweiter Ordnung, der diese Art Theologie zu treiben kritisch beobachtet, die Relativität der getroffenen Unterscheidungen und die Relativität der Wirklichkeitsannahmen sehen kann. Nur gilt dies auch für diesen z. B. historisierenden oder philosophischen Beobachter. Auch er kann nicht vermeiden, sich selbst operativ einen Realismus zu unterstellen und doch auch zugleich wiederum von anderen, z. B. wissenssoziologischen Beobachtern in seiner Kontingenz relativiert zu werden. Vereinfacht formuliert: Den praktischen Konstruktivismus in der Erkenntnissuche sieht man immer bei den anderen und unterstellt sich selbst, die Dinge zu sehen ›wie sie sind‹.
Innerhalb des Raumes der Theologie vollziehen die historisch ausgerichteten Disziplinen bei der Unterscheidung von Datum und Interpretation – so mein Vorschlag – eine Wiederholung der Unterscheidung, d. h. ein Re-Entry, auf der Seite des Datums. Dagegen vollzieht die Systematische Theologie die Wiederholung der Unterscheidung von Datum und Interpretation, d. h. das Re-Entry auf der anderen Seite der Unterscheidung, eben auf der Seite der Interpretation. Dennoch muss sich, und dies ist an dieser Stelle wert wiederholt zu werden, auch die Interpretation eine zu interpretierende Realität unterstellen. Ich möchte dies darum einen operativen Realismus nennen. Er unterscheidet sich klar von Formen eines klassisch-metaphysischen, aber auch von Formen eines lebensweltlich-naiven Realismus.24 Systematische Theologie ist darum stets beides: ein Abenteuer der Konstruktion und zugleich die operativ realistische Suche nach einer wahren und Gott entsprechenden Gotteserkenntnis.
Doch diese Kombination aus Konstruktivismus und operativem Realismus ist letztlich eine Außenbeschreibung, die noch keine spezifisch theologische Beschreibung des Erkenntnisprozesses ist. Holt die Theologie diese Außenbeschreibung in die interne theologische Beschreibung ein, so führt dies zu einer spezifischen Notlage. Die Theologie weiß sowohl um die Relativität ihrer Konstruktionen und weiß, dass sie sich operativ einen Realismus unterstellen muss. Sie muss realistisch von Gott reden und weiß doch – um den konstruktiven Charaker ihrer Rede von Gott wissend – um die Relativität und letztlichen ›Unmöglichkeit‹ dieser Rede.25 Diese Konstellation führt zu einem spezifisch pneumatologischen Realismus. Im Rahmen eines auf den Geist Gottes verweisenden Realismus ist es letztendlich dieser der Geist selbst, der auf vielgestaltige Weise eine Bewährung herbeiführt und die Referentialität der menschlichen Konstruktionen ›sichert‹.
In diesem konstruktiven Verstehensprozess muss die protestantische Systematische Theologie Begriffe, Metaphern und Modelle in Anspruch nehmen.26 Beansprucht die Dogmatik, eine Orientierungsleistung für die Kirche der Gegenwart zu erbringen und in eine spezifische Zeit und Welt zu sprechen, so muss sie auch – wenngleich realistischerweise hochselektiv – die wissenschaftlichen Rationalitäten und die multisystemische Verfasstheit der gegenwärtigen Gesellschaft wahrnehmen und adressieren. Zur Debatte steht also nicht, ob, sondern nur mit welcher Funktion und aus welchen Herkunftsgebieten die außertheologischen Theorien rezipiert werden.27
Eine konstruktive Theologie, die Gottes Lebendigkeit zu artikulieren sucht, wird nicht auf eine Fundierung theologischer Aussagen in und durch diese Theorien abzielen. Dass sich Gott selbst vergegenwärtigt und evident macht, ist ein wesentliches Moment seiner Lebendigkeit, ja seiner ›Agency‹. Es geht in der theologischen Rezeption philosophischer oder soziologischer Theorien in diesem Band aus diesem Grunde nicht um eine versteckte Apologetik, nicht um irgendeine Fundierung oder um den Versuch eines gesicherten Anschlusses an die eine Vernunft.28 Dieser Versuchung darf die Theologie speziell in der Frage nach Gottes Lebendigkeit nicht erliegen. Vielmehr dienen die aus den nicht-theologischen Theorien stammenden Modelle und Begriffe der Theologie in deren eigener konstruktiven Suche nach Transparenz und Verstehbarkeit. Sie werden darin ein Moment der Bewegung des fides quaerens intellectum. Mit dieser ›Schließung‹ der Theologie hinsichtlich externer Begründungen werden die Anschlüsse an andere Disziplinenund Diskursfelder nicht gekappt, sondern eben durch diese Kombination aus modellorientierter Offenheit und sachlicher Konzentration eben entwickelt und etabliert.
Vor diesem Hintergrund erscheint das immer noch vielfach verfolgte Modell, mit einer spezifischen Theorierezeption den christlichen Wahrheitsanspruch und grundlegende Inhalte des christlichen Glaubens darzulegen, wenig überzeugend. Dieses Vorgehen ist ja stets mit der Hoffnung verbunden, z. B. im Rahmen von Johann Gottlieb Fichte, Charles Peirce, Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Aristoteles oder Niklas Luhmann Begründungslasten der Theologie zu bearbeiten und hierdurch kulturelle Plausibilitätsgewinne einfahren zu können. Die Hoffnung, dass man hierdurch den Anschluss an ›die Vernunft‹ gewinnen und so die Torheit in Weisheit verwandeln könne, wird hier nicht geteilt. Dennoch: Die Theologie denkt mit Begriffen, Metaphern, Modellen und Theorien in ihrem Werkzeugkasten. Diese Werkzeuge befördern, so die Hoffnung, ein transparenteres Denken, das gute Gründe findet, ohne letzte Gründe zu suchen.29 Selbstverständlich sucht die Theologie in all ihrer Sachbezogenheit auf den lebendigen Gott nach Kohärenz und Plausibilität. In den folgenden Ausführungen wird daher für eine funktionale und instrumentelle Rezeption plädiert, nicht für eine letztbegründende. Die Theorie oder Theorieelemente sind dann Werkzeuge der Explikation der Lebendigkeit Gottes und nicht der Rahmen, der hoch selektiv auf den kanonischen Symbolbestand einwirkt. Nur eine instrumental-erhellende Rezeption vermeidet die weitverbreitete, nicht durch die Sache selbst, sondern durch die Theoriemittel erzeugte Selektivität des Sag- und Denkbaren: »Das kann man im Rahmen der Erkenntnisse von XY nicht mehr sagen, nicht mehr denken!«
Selbstverständlich darf diese Verpflichtung zum ›Sagbaren‹ nicht die Einsicht verschütten: Jedes Instrument, das Sicht und Einsicht ermöglicht, erzeugt unvermeidlich auch eigene Blindheiten – um die man grundsätzlich wissen kann, die man aber nicht selbst ›sehen‹ kann. Darum bleibt Theologie stets ein dialogisches und darin letztlich selbstkritisches und multiperspektivisches Unternehmen. Auch eine Inanspruchnahme idealistischer, systemtheoretischer und prozessphilosophischer Denkfiguren schützt nicht vor Blindheit.
Für eine Beschreibung von Gottes Lebendigkeit ist nun das mit dem Begriff Resonanz angezeigte Modell von großer Bedeutung. Mit Resonanz ist ein spezifisches Modell von Beziehungen zwischen selbständigen Entitäten angesprochen. In den folgenden Kapiteln wird die Beziehung zwischen dem lebendigen Gott und dieser Welt – nicht nur, aber doch über weite Strecken – als eine Resonanzbeziehung beschrieben. Dieses Modell verspricht, von Seiten der Systematischen Theologie wieder einen Zugang zu Vorstellunge nund Erzählungen der Hebräischen Bibel und des Neuen Testaments zu gewinnen. Darum gilt es, dieses Modell in seinen Grundzügen, aber auch seinen Grenzen, mit einigen wenigen Pinselstrichen zu skizzieren.30 Das an dieser Stelle vorgeschlagene Modell der Resonanzbeziehungen verdankt sich sachlich systemtheoretischen Beschreibungen von sogenannten Intersystembeziehungen zwischen autopoietisch geschlossenen und hierin offene (sic!) Systemen.31
Resonanzbeziehungen sind nicht unidirektional und kausal-determinierend. Sie ereignen sich zwischen zwei relativ eigenständigen Entitäten. Diese wirken nicht direkt aufeinander ein, sondern können sich nur – bildhaft gesprochen – in ihrer Eigenschwingungsfähigkeit, d. h. in ihrer jeweiligen Selbstorganisation anregen. Von ›außen‹ können die entsprechenden Entitäten keine direkten kausalen Effekte erzielen, sondern nur Anpassungen bzw. Neuanpassungen an die Umweltimpulse evozieren.
Dies führt dazu, dass sich in Resonanzverhältnissen die verschiedenen Entitäten nur in ein relatives und bedingt wechselseitiges Abstimmungsverhältnis begeben können. Resonanzbeziehungen bleiben wechselseitig und sind nie einseitig, dies unterscheidet sie von klaren Kausalbeziehungen. Weder strikt konstituierende Kausalbeziehungen noch Spiegelungen im Sinne eines Echos oder eines Gleichklangs erfassen Resonanzbeziehungen. Systemtheoretisch gedacht, sind die Resonanzen in einem System, bzw. in der anderen Entität auch nicht notwendig von außen sichtbar.32 Resonanzbeziehungen sind notwendig in irgendeiner Weise reziprok, wenngleich sie nicht notwendig symmetrisch reziprok sein müssen. Die Wechselseitigkeit muss also nicht mit einer Symmetrie der systemischen Möglichkeiten einhergehen.33 Auch prinzipiell asymmetrische Beziehungen können Resonanzbeziehungen sein.
Ein Aspekt des Nicht-Determinierenden ist, dass ein Ereignis in der Umwelt zweier Systeme in diesen unterschiedliche oder gar gegenläufige Reaktionen auslösen kann. Darum ist es in Resonanzbeziehungen so schwierig, den anzuregenden Entwicklungen eine Richtung zu geben. Das externe Ereignis in der Umwelt der Systeme löst – dies ist sozusagen die Minimalreaktion – irgendwie neue Selbstbeschreibungen und Selbstevaluationen aus, je nachdem, ob und inwieweit das Ereignis oder die Ereignisserie in die Erwartungen an die Umwelt passt. Diese Neubeschreibungen können, aber müssen nicht in interne Umbauten von Strukturen, Prozessen oder Elementen führen. Das Ereignis muss in die Sachorientierung, in die Zeitsystematik und letztlich in die basale Ontologie des jeweiligen Systems verwandelt werden.
Resonanzverhältnisse können in ihrer Ausbreitung einen mehrstelligen, kaskadenhaften Effekt haben. So kann beispielsweise die Politik auf eine Demonstration als Ereignis der Zivilgesellschaft reagieren, dies löst eine Reaktion auf Seiten der Medien aus, darauf können dann wieder Wissenschaft und Bildung reagieren und am Ende auch die Religion. Resonanzen reflektieren daher zumeist mehrstellige Relationsnetze – nicht Eins-zu-eins-Beziehungen.
Wichtig ist die Einsicht, dass es in Resonanzverhältnissen digitale Schwellenpunkte gibt, die in graduelle, d. h. analoge Prozesse eingelagert sind. So unvermeidlich Resonanzreaktionen grundsätzlich sind, so klar müssen Resonanzmöglichkeiten auch abgeblendet werden. Um zu überleben, müssen Systeme, seien es biologische, kognitive, soziale oder psychische Systeme, von ihrer Umwelt nicht nur, aber auch abschließen.34 Systemtheoretisch ist daher Resonanz im Problemfeld einer auf den ersten Blick paradoxen systemischen Offenheit durch Geschlossenheit anzusiedeln. Die operative Schließung ist die Voraussetzung für die Offenheit lebender Systeme. Ein System darf und kann nicht auf jeden Impuls und jedes Ereignis in der Umwelt Eigenresonanzen erzeugen. Die relative Steuerung, d. h. aber auch die Unterdrückung, das Ignorieren von Responsivität ist darum essentiell. Doch irgendwann wird in den Augen des Beobachters (d. h. des Dritten, nicht notwendig in der Beobachtung der betroffenen Entitäten), ein Schwellenpunkt erreicht, jenseits dessen das beobachtete System irgendwie mit Eigenresonanzen ›reagieren‹ muss. Was der Beobachter als ›Schwellenpunkt‹ identifiziert, ist der Moment, von dem an für das System das nicht-negierbare Ereignis in seiner Umwelt erst ›existiert‹. Resonanzbeziehungen können daher auch nicht einfach auf Absichten zurückgerechnet werden. Ereignisse, die niemand beabsichtigt hat, können Resonanzen auslösen, die niemand beabsichtigt hat.
Allerdings wäre es verfehlt, anzunehmen, dass Resonanzbeziehungen immer positive und förderliche Beziehungen sind. Destruktive und irritierende Umwelteinflüsse können jenseits der Schwelle des Negierbaren beachtliche Irritationen auslösen und für ihre Verarbeitungen große Ressourcen binden. Nicht förderliche, sondern zersetzende Umgebungen binden auch dann, wenn sie nicht determinieren, ein erhebliches Maß an Aufmerksamkeit.
In all diesen Beobachtungen gilt es aber auch in Erinnerung zu rufen: Nicht alle Beziehungen Gottes zur Welt sind Resonanzbeziehungen. Ebensowenig sind alle responsorischen Verhältnisse – man denke beispielsweise an klar definierte Tauschbeziehungen – notwendig Resonanzverhältnisse, obwohl umgekehrt alle Resonanzverhältnisse zweifellos responsorische Verhältnisse sind. Sich in einer Wechselseitigkeit der Interaktion entfaltende Beziehungen könnengrundsätzlich auch Kausalbeziehungen sein, ohne die Offenheit und Indeterminiertheit von Resonanzbeziehungen.35
So zentral das Modell der Resonanz für die Erfassung von Gottes Lebendigkeit ist, so begrenzt ist es an mehreren entscheidenden Punkten. Es ist die Anwendung des Modells auf das biblisch-theologische und dogmatische Material, was die relative Grenze des Modells hervortreten lässt. Theologisch formuliert sind Resonanzbeziehungen solche, in denen der dreieinige Gott nicht ohne die Seinen, d. h. nicht ohne die Gemeinde – und, grundsätzlich formuliert, nicht ohne die Menschen und ihre Welt – sein und handeln möchte.
Es ist der Geist Gottes, in dem Gott die intime Nähe des Menschen sucht und zugleich dem Menschen dessen Nähe zu Gott bezeugt. »Der Geist gibt Zeugnis unserem Geist, dass wir Gottes Kinder sind« (Röm 8,16). So ist und war die Pneumatologie der Ort, an dem speziell die protestantische Theologie die menschliche Mitarbeit an den Werken Gottes formuliert und hierin gegen einen abstrakten Supranaturalismus argumentiert hat.36 Mit der Rede vom Geist Gottes wird die Theologie nicht gespenstisch, sondern realistisch, geradezu empirisch. All diese Einsichten in die Mitarbeit des Menschen und in die geistgewirkte Inanspruchnahme des Menschen können sehr mit dem Modell von Resonanzbeziehungen erfasst und entfaltet werden.37 Nicht zuletzt steht der Geist Gottes in den Menschen nicht in einer zwingenden, sondern einer ermächtigenden und bewegenden Resonanzbeziehung zum menschlichen Geist und der menschlichen Leiblichkeit.
Das epistemische und handlungstheoretische Modell der Resonanz ist, soviel kann schon festgehalten werden, von großer systematischer Bedeutung für die Entfaltung von Gottes Lebendigkeit. Seine Übergeneralisierung führt jedoch in verhängnisvolle Fehlorientierungen. Sie verführt die Theologie dazu, Gott ganz in diese Partnerschaft mit dem Menschen innerhalb und außerhalb der Kirche aufzulösen und so letztlich von der menschlichen Mitarbeit abhängig zu machen. In letzter Konsequenz führt dies zu einer Reduktion der Macht Gottes auf die Möglichkeiten des Menschen.
Der christliche Glaube und speziell der evangelische Glaube hält an zentralen Punkten an einer in die Grenzlagen der resonanzlosen Einseitigkeit führenden Gottesbeziehung fest. Dass der lebendige Gott die Dynamiken der Resonanz missachtet, ist stets ein dem Menschen zugutekommendes Ereignis. Die Theologie der Reformatoren bestreitet, dass angesichts der Sünde des Menschen die Gottesbeziehung ohne eine unilaterale und disruptive Rechtfertigungshandlung erneuert werden kann. Auch die Auferweckung Jesu Christi von den Toten in der Macht des Geistes ist kein Resonanzereignis zwischen dem Sohn und dem Geist, denn auch der Sohn ›beteiligt‹ sich nicht irgendwie an der Auferweckung.38 Der Übergang vom Leben in den Tod ist keine Resonanzbeziehung. Die strikte Abwesenheit menschlicher Zeugen markiert diese radikale Einseitigkeit. Der Mensch ist noch nicht einmal als Beobachter beteiligt. Die Betonung des Kommens, ja des überraschenden Kommens des Reiches Gottes betont ein Element der disruptiven Einseitigkeit, die auch die Hoffnung auf eine tiefgreifende Neuschöpfung von Himmel und Erde kennzeichnet. Nicht zuletzt ist es das theologische Motiv der creatio ex nihilo, das in der christlichen Theologie stets die ursprünglich einseitige Initiative des Schöpfungsaktes und die Radikalität der Abhängigkeit zur Sprache bringen sollte. Zweifellos ist die menschliche Responsivität in der Interaktionsgeschichte Gottes mit der Welt ein Moment der Würdigung und Anerkennung der Geschöpfe. Der Kern der christlichen Hoffnung ist jedoch, dass Gottes responsorisches Handeln die Möglichkeiten menschlicher Resonanzfähigkeit überschreitet. Ohne diese Überschreitung gibt es keine Rettung, keine Erlösung, kein Kommen des Messias, kein Versammeln und Beleben der Totengebeine und keine eschatologische Stadt ohne Nacht.39
Eine Konsequenz des Wissens um die sehr spezifische Grenze des Resonanzmodells ist, dass die Theologie der Verwechslung von Gottes Leben und dem Leben dieser Welt entschlossen entgegentreten muss. Es ist die Auferweckung Jesu Christi von den Toten, die an die Grenze jeglicher kenotischen Theologie, an die Grenze jeglicher auf Mitarbeit abstellenden Vorstellung vom Geist und darin letztlich an die Grenze des Modells der Resonanz erinnert. Man mag dieses Festhalten an dieser Einseitigkeit des göttlichen Handelns als naiven Supranaturalismus und als unaufgeklärtes Relikt vormodernen Denkens bezeichnen. Man kann darin aber auch eine präzise Differenzmarkierung sehen, an der der christliche Glaube den Dissens mit anderen Rationalitäten festhalten muss. Dieser Dissens ist letztlich nur theologisch zu begründen, da er in der Auferweckung Jesu Christi als dem Gründungsdatum des christlichen Glaubens und damit verbunden in dem die spezifische Osterfreude auslösenden Geschehen ›gründet‹. Würde die Theologie hier zugunsten eines vermeintlich grenzenlosen Rationalitätskontinuums anders optieren, so müsste sich deren Vertreter, so Paulus, zu den »elendsten unter allen Menschen« zählen (1Kor 15,19).
Jede Theologie bewegt sich mit ihren Rekonstruktionen wie auch mit ihren konstruktiven Vorschlägen in einem spezifischen und bewusst wahrgenommenen Umfeld. Aus ihm erwachsen Fragen, Irritationen und eine Suche nach Alternativen.40
Im folgenden Abschnitt sollen drei idealtypisch beschriebene Positionen, man könnte auch sagen drei Cluster an Überzeugungen im wissenschaftlichtheologischen und im kirchlichen Gespräch, knapp skizziert werden. Ohne die in der Gegenwart wirksame Systematische Theologie auf diese drei Typen reduzieren zu wollen, also ohne eine erschöpfende Beschreibung der Gegenwart beanspruchen zu wollen, geht es um eine skizzenhafte und idealtypische Darstellung wahrgenommener und überaus mächtiger und lebendiger Alternativen. In den verschiedenen Typen formt ein Cluster an theologischen Entscheidungen ein gemeinsames Muster, das sich in verschiedenen profiliert ausgearbeiteten Theologien wieder finden lässt. Dabei sind zweifellos Überblendung, Kombinationen und Amalgamierungen der drei Typen möglich.
Wie jede idealtypische Beschreibung ist auch die folgende im Einzelnen notwendig reduktiv und abstrahiert von manchen Details.41 Sie erfassen primär den europäischen Diskurs und Teile des nordamerikanischen Diskurses.42 An dieser Stelle geht es um ein mit breiten Pinselstrichen skizziertes Bild, das zu verstehen helfen soll, in welchen Räumen sich eine Theologie der Lebendigkeit Gottes bewegt. Selbstverständlich kann gegen jede idealtypische Vereinfachung die Unendlichkeit feinerer Differenzierungen in Stellung gebracht werden. Es geht zunächst um einen Akt der hermeneutischen Reflexivität. Die drei Alternativen versuchen, zumindest im Feld der deutschsprachigen kontinentalen evangelischen Theologie ein gewisses Feld abzudecken – ohne den Anspruch, das Gesamt der Gegenwartstheologie zu erfassen. Dass es bei der hier vorgeschlagenen Theologie der Lebendigkeit Gottes auch zu ehrende theologische Mütter und Väter gibt, ist unschwer zu erkennen.43
Unstrittig ist, dass alle drei der kritisch zu bewertenden Typen der Theologie Wahrheitsmomente der theologischen Tradition und des kanonischen Gesprächs erfassen. Zugleich manifestiert sich in ihnen eine Fehlabstraktion aus einem komplexeren und reicheren Gefüge. In einer offenen epistemischen Situation, in der es keine theologischen Lösungen gibt ohne die Schaffung neuer oder den Erhalt alter Probleme, bieten sie Antworten, die, so der Anspruch, mehr Probleme schaffen als lösen. Aber es gilt zu betonen: Die im Folgenden beschriebenen Alternativen leben nicht nur in Bibliotheken und Seminarräumen, sondern auch in der kirchlichen Verkündigung, in den Gemeinden und Synoden und nicht zuletzt auch in Kirchenleitungen. Die für die europäische Theologie charakteristische enge Verflechtung von theologischer Reflexion an den Universitäten und der im weiteren Sinne kirchenleitenden Profession macht – in einer organisations- und wissenssoziologischen Betrachtung – aus jeder Theologie letztlich eine Theologie für die Kirche, eine kirchliche Theologie. Dies gilt ganz unabhängig von den programmatischen Selbstbeschreibungen als z. B. liberale, befreiungstheologische, öffentliche, philosophische oder biblische Theologinnen und Theologen. Die jeweilige Theologie findet dort einen Entfaltungsraum, wo es ein reales Arbeitsfeld gibt – und dies ist zuerst und zumeist die evangelische Kirche.
Allem Schwanengesang auf die Metaphysik zum Trotz lebt und reproduziert sich metaphysische Theologie im weitesten Sinne, sowohl im wissenschaftlichen Diskurs der Theologie und Philosophie, wie auch in der kirchlichen Rede in Gemeinden und Kirchenleitungen. Gott ist die wie auch immer alles bestimmende Wirklichkeit, konstitutiver Grund der Existenz und/oder der Welt. Der Gottesgedanke bietet einen variantenreich konzipierten Abschlussgedanken der Selbsterfassung des Subjektes, der Konstitution des Weltverhältnisses oder auch als Grund der Sozialität des Menschen. Dieser kann jenseits von Aristoteles oder Platon in einer nachkantianischen Welt transzendentalphilosophisch gedacht werden. Aber im gleichen Typus kann die religiöse Suche auch, sozusagen spiegelbildlich zu der Suche nach einem festen, weil in der Reflexion notwendigen Grund, auf eine eher mystische Beziehung zum Unbestimmten, Diffusen und irgendwie sprachlich nicht einholbaren Grund abzielen. Von einem im prägnanten Sinne handelnden Gott, d. h. von einer ›Agency‹ zu sprechen, verdankt sich im Horizont dieses Denkens einer problematisch metapherngesättigten Vorstellungswelt. Bestenfalls könnte man von einem allpräsenten Wirken Gottes sprechen – ohne jegliche personalistische Konnotation.44 Gott bezieht sich als Grund des Seins auf alles Sein, als Schöpfer dann des Naturzusammenhangs stets gleich, d. h. gleichmäßig und gleichsinnig, auf das Ganze einer Welt. Für viele Protestanten stellt die Theologie Friedrich Schleiermachers unter den Bedingungen der Moderne die Standardreferenz dar. Ein partikulares und distinkt differenziertes Handeln Gottes ist in diesem Denkrahmen faktisch nicht möglich, auch wenn die religiöse Frömmigkeit dies immer noch eindrucksvoll imaginieren kann.
In der Flucht- und Entwicklungslinie dieses Ansatzes finden sich dann auch Vertreter einer radikalen Nichtgegenständlichkeit Gottes. Die Annahme einer radikalen Transzendenz Gottes schlägt um in ein Denken, für das sich Religion und speziell der Gottesgedanke vollständig in Prozesse des Selbstbewusstseins verwandelt. Entsprechend »wird der Gottesbegriff als ein Implikat der religiösen Selbstdeutung entwickelt.«45 Das reflektierte Selbstverhältnis im Selbstbewusstsein ist dann nicht nur der Ort der Deutung und die ›Schnittstelle‹ einer ein Selbstverständnis implizierenden Beziehung zwischen Gott und Welt. Dieser Ort ist dann der Ort eines reflektierten und funktional gefassten Gottesgedankens, ohne dass er für sich selbst noch ein ›Außerhalb‹ des religiösen Bewusstseins denkend erfassen kann. Nicht ganz frei von einem Pathos der intellektuellen Aufrichtigkeit und einem Pathos des religiösen Heroen wird der Abschied von jeglicher Referenz außerhalb des Selbstbewusstseins vollzogen.46
In der kirchlichen Sprachpraxis führt dieser Typus der Theologie zu so emphatischen wie vagen Betonungen einer letzten Dependenz des Menschen und einer allumfassenden Gegenwart Gottes. Wie dieser Gott bzw. dieser Gottesgedanke auf gehaltvolle Weise mit der Suche nach Gerechtigkeit, mit emphatischer Fürsorge und der für das kanonische Gespräch so elementaren Erfahrung der Rettung in Verbindung gebracht werden kann, bleibt aber weitestgehend unbestimmt. Die Rede von Gott als Grund (im weiteren Sinne) bleibt »soteriologisch leer oder indifferent«.47
Gott wird zur letztinstanzlichen spirituellen Abschlussformel, die aber in Wahrheit weder adressierbar oder gar affizierbar ist, noch als handelnder Akteur zu denken ist. Pointiert formuliert der religionsphilosophisch orientierte Theologe Ulrich Barth: »Mit dem transzendenten Grund des Lebens ›spricht‹ man nicht, auf ihn ›besinnt‹ man sich.«48 Letztlich ist das Gebet eine theologisch irrationale Praxis. Der Grund kennt keine ›Agency‹, keine Interaktion und somit auch keine Fürsorge. Glaube wird zu einer mehr oder weniger bewussten Arbeit am Selbst – angesichts des tragenden Grundes der Welt, des Lebens, des Ichs.
Auffallend hilflos reagiert diese Theologie auf ein postmodernes Desinteresse an tragenden Gründen und selbstreferentieller Stabilisierung zugunsten flüchtiger Identitätsformen und transindividueller Identitätsanker.49 Die Betonung von religiösen Letztversicherungen verschiebt die Religion trotz anderslautender Erklärungen aus der Mitte des Lebens in die Grenzlagen und Krisenregionen. Das Vertrauen in den Grund, das auch als Vertrauen in die Vaterliebe codiert werden kann, führt nicht selten zu einer aufgeklärten Pathoshaltung, die ihre Nähe zu einem religiös imprägnierten Stoizismus nicht verbergen kann – auch dann, wenn in den liturgischen Formen noch andere Traditionsbestände präsent sind.
Im Resonanzraum zwischen diesem Typus der Theologie und einer qualifizierten Rede von Gottes Lebendigkeit lassen sich markante Differenzen benennen. Zwar kann die Theologie des Grundes Gottes Transzendenz entfalten, aber die christologisch wie pneumatologisch auszuformulierende Präsenz der Transzendenz in der Immanenz rückt völlig in den Hintergrund. Nicht zuletzt sind diese Theologietypen auch unzureichend in der Lage, distinkte Partikularität wie z. B. die besondere bleibende Erwählung Israels einzuholen. Sicherlich wird eine gewisse transzendente Weltüberlegenheit Gottes zur Sprache gebracht, aber eine dynamische Nähe und Ferne Gottes wird ›undenkbar‹ und ein durch das Leben der Schöpfung affiziert werdender Gott ganz und gar ›unsagbar‹. Eine Passion Gottes, bei der die drei Dimensionen des Begriffs – Leidenschaft, Leiden und Affektivität – eingeholt werden, ist im Rahmen dieses Gottesverständnisses nicht denkbar.
Gegenläufig zu diesem Typus wird die riskante und zugleich machtvolle christologisch und pneumatologisch zu entfaltende Präsenz Gottes herauszustreichen sein. Eine Erfassung der Lebendigkeit Gottes wird die dynamischstabilen (christologischen) und die dynamisch-fluiden (pneumatologischen) Re-Entry-Konstellationen in den Blick nehmen.50 Gegenüber Theologien des transzendenten Grundes ist eine Sensibilität für den fürsorglich die Nähe zur Schöpfung suchenden, an und in dieser Nähe leidenden, aber aufgrund der Erfahrung der besonderen Nähe zu dieser Schöpfung auch diese Schöpfung verwandelnden Gott zu entwickeln. Dass Gott der Schöpfung vorausliegende, aber auch die Schöpfung begleitende und korrigierende, seine Responsivität steuernde Aspirationen hat, wird im Gegenüber zu diesem Typus der Theologie besonders deutlich. Jede von der Platonrezeption Philos von Alexandrien über die Aristotelesrezeption des Thomas von Aquin bis zu Friedrich Schleiermacher reichende Gotteslehre wird auf die Vorstellung einer dynamischen und selektiven Responsivität nur mit Abwehrreaktionen antworten können.
Dem christlichen Stoizismus dieses Typus entspricht, dass Religion letztlich Passung, Einpassung, Coping ist. Dem unidirektionalen Handeln und umfassenden Willen dieses alles wirkenden Gottes gibt es und gilt es nichts entgegenzusetzen.51 Protest und Klage sind entweder Durchgangsmomente eines Copings oder im prägnanten Sinne sinnlos.52 Damit ist dieser Typus in dem Widerspruch gefangen, einerseits mit dem Gottesbegriff einen generellen Sinn stiften zu wollen und andererseits doch die meisten Formen der christlichen Religionspraxis und wesentliche Momente der biblischen Traditionen zumindest prima facie nicht als sinnvoll erachten zu können. Gegenüber dieser stillschweigenden Verwandlung christlichen Glaubens in eine Copingpraxis wird eine Theologie der Lebendigkeit Gottes Protest und Klage als legitime Momente der Interaktion mit Gott in den Vordergrund rücken.
Während der erste Typus im weitesten Sinne als eine Theologie der Transzendenz angesehen werden kann, repräsentiert dieser zweite Typus eine Theologie der Immanenz – als eine Theologie des Lebens. Trotz großer Ähnlichkeit mit dem ersten Typus kennzeichnet ihn das Differenzmerkmal: Gott ist ein Gott der radikalen Immanenz. Dieser Typus ist im deutschsprachigen Raum weniger präsent als im angelsächsischen Diskurs. Spiegelbildlich zum transzendenten Grund ist Gott die immanente Kraft und Dynamik der Welt und vor allem auch der naturalen Prozesse. Strömungen des theologischen Naturalismus, Varianten einer ökologischen Theologie, Theologien radikaler Kenosis und Teile der Prozesstheologie entsprechen diesem Typus.53
Gott ist verwoben in die Grundkräfte der Natur, ohne ihr nochmals bewertend, richtend oder rettend gegenüberzustehen. Obwohl dieser Typus eine große Affinität zu schöpfungstheologischen Motiven hat, kann er auch christologisch oder pneumatologisch ausformuliert werden.54 Sowohl die Inkarnation wie auch die Geistpräsenz können entsprechend universalisiert und naturalisiert realisiert werden. Geht Gott solchermaßen in den evolutionären Prozess ein, so resultiert daraus eine Theologie des Lebens. Wird Gott letztendlich in diesem Typus als tragender Lebensgrund, als universal präsenter Logos oder als dynamischer Geist der Kreativität und Autopoiesis konzipiert, so werden letztlich das sich evolutionär entfaltende Leben der Welt und das Leben Gottes ununterscheidbar. Eine dynamische Interaktion zwischen beiden Entitäten lässt sich nicht mehr aussagen.55 Ist Gott so in das Leben verwoben, so ist dieser evolutionäre, d. h. natural und soziokulturell vielfach gegliederte Prozess »all that is«.56 Eine Theologie der Lebendigkeit Gottes wird dagegen auch auf die Möglichkeit einer elementar responsorischen Eschatologie verweisen, in deren Rahmen sich Gott bewertend und transformierend, d. h. rettend und erlösend, zu diesem Prozess verhält.
In spiritueller Kommunikation wird Gottvertrauen und die Erfahrung der Auferstehung innerhalb dieses Typus als Vertrauen in das Leben ausgeflaggt.57 Die Macht Gottes wird zur Kraft des Lebens, die am Beginn und in der Mitte des Lebens gefeiert wird.58 Die Abhängigkeit von der Natur und von den stützenden Kräften des Lebens wird spirituell eingefangen und erhöht. Man mag darin den Rückbau einer Erlösungsreligion zu einer Naturreligion sehen.59 Unstrittig ist die Macht der rituellen Lebensbegleitung in diesem Deutungshorizont.60 Religion ist wie im ersten Typus eine Deutung naturaler und soziokultureller wie auch psychischer Lebensprozesse. Wie schon im ersten Typus ist hier die Religion in einer religionssoziologischen Sicht vor allem eine Kontingenzbewältigungspraxis.
Deutlich ist, dass hier vielfältige Motive der Romantik aufgegriffen werden können (Lebensbaum, Lebenskreis, Einheit eines Organismus, vitale Emotionalität, Eingliederung in eine Ganzheit, Ehrfurcht vor der Natur, etc.) – wobei die gewaltgesättigten Konflikte innerhalb des ›Lebens‹, auch unterhalb menschlichen Bewusstseins, zumeist ausgeklammert werden.61
Kirchlicherseits feiert beispielsweise die Osterfrömmigkeit die Macht des den Tod/Winter überwindenden Lebens auch noch inmitten eines manifesten Karfreitagsschweigens. Ist die Gerechtigkeit Gottes in den Lebensprozess selbst hineingeflochten, so ist die intervenierende Schaffung von Gerechtigkeit kein plausibles eschatologisches Ziel. Nicht umsonst stellt die Rede von Versöhnung und Erlösung vielfach auf therapeutische Modelle um. Religiös sein heißt, sich mit dem Leben zu versöhnen, wie differenziert und komplex dieses auch immer gedacht wird. Zumindest ambivalent erscheint mit Blick auf die hier vorliegende Typologie die theologische und spirituelle Aktualität des Themas Segen und die vielgestaltigen Praktiken des Segnens. Man kann sie einerseits als ›Naturalisierung‹ einer Erlösungsreligion und als Momente dieser Theologie des Lebens begreifen. Zugleich kann man sie als Suche nach einer intensivierten Präsenz Gottes und damit als ein Moment des Erlebens der Lebendigkeit Gottes betrachten. Gegen eine Akzentuierung von Klage und Protest geht es wiederum, dem ersten Typus nicht unähnlich, um ein Einfügen in den Lebensprozess. Nicht unähnlich zum ersten Typus ist die Theologie des Lebens durchgehend eine Theologie der Präsenz des Göttlichen. Die Gottes Lebendigkeit mit charakterisierende Möglichkeit und Wirklichkeit der Abwesenheit Gottes kann in einer Theologie des Lebens und einem theologischen Naturalismus nicht eingeholt werden. Politisch kann dieser Typus mit einem eher konservativen oder einem eher progressiven Programm der Lebensbewahrung verbunden werden, wobei im Horizont ökologischer Krisen eine in den verschiedenen Gestalten einer ökologischen Theologie die letztere Möglichkeit dominiert.
Vis-à-vis dieses zweiten Typus liegt die Herausforderung einer die Lebendigkeit Gottes erschließenden Theologie in der klaren Differenzierung von Leben und Gott. Nur ein Gott, der dem Leben gegenübersteht, kann dem Leben schöpferisch, d. h. bewertend, rettend und verwandelnd gegenübertreten. Nur ein geschöpfliches Leben umgreifender Gott kann die Verwerfungen dieses Lebens, seine Abgründe, Bruchkanten und ›Nachtseiten‹ neuschöpferisch adressieren.
Trinitätstheologisch reflektiert und pneumatologisch ausformuliert ist allerdings die Einsicht in Gottes unüberbietbare Nähe, seine wahrnehmende und erfahrene Präsenz im Geschaffenen zu würdigen und aufzunehmen.62 Allerdings ist es nicht die Rhythmik des Lebens selbst – sozusagen die Zusage des Noah-Bundes – die den Tod überwindet, sondern nur eine qualitativ neue Intervention Gottes.
Im Horizont dieser im Geist gegenwärtigen Hoffnung können die Lebensprozesse in ihrer Differenziertheit kritisch wahrgenommen werden. Allerdings stößt jegliche Theologie des Geistes Gottes an diesem Punkt auf eine Spannungslage, die auch von keiner der Pneumatologien des 20. Jahrhunderts auf befriedigende Weise aufgelöst wurde. Auch eine Theologie der Lebendigkeit Gottes wird diese Spannung nicht behende auflösen. Speziell im Gegenüber zu einer Theologie des Lebens in allen ihren Schattierungen wird sie sich aber an dieser Spannungslage abarbeiten müssen. Worin besteht diese Spannung? Sie besteht zunächst aus einer Unterscheidung. Aufgabe einer die Lebendigkeit Gottes nachvollziehenden Theologie ist die Unterscheidung zwischen einem Geist der Schöpfung und einem Geist der Neuschöpfung. Auf der einen Seite steht der die Schöpfung durchziehende Geist des Lebens, der den Staub atmen lässt (Gen 2,7) und der in Prozessen der machtvollen Autopoiesis und in mehr oder weniger konzertant abgestimmten Prozessen der Natur lebensbewahrend ›permanent‹ gegenwärtig ist. Auf der anderen Seite steht ein Geist Gottes, der nicht nur das geknickte Rohr nicht zerbricht und den glimmenden Docht nicht verlöscht (Jes 42,3), sondern darüber hinaus die Macht der Todesüberwindung (Röm 1,4) ist und die Schöpfung über die Neuschöpfung zu ihrem Ziel führt. Der Geist Gottes, der bewahrend, mobilisierend und rettend über den Menschen ausgegossen wird, der Geist, der sich im Christusgeschehen offenbart, ist sowohl barmherziger als auch kreativ-machtvoller als das Leben selbst.63