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Dieses Buch möchte ermutigen, indem es theologisch provoziert. Geschrieben wurde es für alle, die Verantwortung für ihre Kirche übernehmen wollen. Es wendet sich also an alle Getauften. In den gegenwärtigen Krisen der Kirche plädiert es für einen hoffnungsvollen Realismus. Die einzelnen Impulse des pointiert argumentierenden Bochumer Systematikers Günter Thomas fügen sich wie Puzzlestücke zu einem Bild: Gottes Lebendigkeit ernst nehmen; sich als Glaubende im Weltabenteuer Gottes entdecken; kühn anerkennen, in einer noch unerlösten Welt zu leben; und vor allem als Kirche mit Verwegenheit Glaube, Liebe und Hoffnung bezeugen. Denn darum geht es Gott bei seinem Weltabenteuer. Nur wenn Christen ihren speziellen Ort im Drama Gottes besetzen, kann sich eine doppelte Befreiung ereignen: die Befreiung von manischer Selbstüberschätzung ihrer öffentlichen Relevanz und die Befreiung von einer lähmenden Erschöpfungsdepression, die sich angesichts düsterer Zukunftsprognosen schleichend verbreitet. [Living in the world adventure of God. Impulses for responsibility for the Church] This book seeks to encourage by provoking theologically. It was written for all who want to take responsibility for their Church. So it addresses all the baptized. In the current crises of the Church, it forcefully advocates a hopeful realism. The individual impulses of the pointedly arguing systematic theologian Günter Thomas (Ruhr-University Bochum) fit together like pieces of a puzzle to form a picture: take God's vitality seriously; discover oneself as believer in God's world adventure; boldly acknowledge to live in an unredeemed world; and above all as a church testify to faith, love and hope with audacity. For that is what God is all about in his world adventure. Only if Christians occupy their unique place in the drama of God can a double liberation take place: the liberation from a manic overestimation of their public relevance and the liberation from a crippling exhaustion depression that is slowly spreading after years of reform and in the face of bleak prospects for the future.
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Seitenzahl: 394
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GÜNTER THOMAS
Impulse zur Verantwortungfür die Kirche
Günter Thomas, Dr. theol., Dr. rer.soc., Jahrgang 1960, studierte Evangelische Theologie, Philosophie und Soziologie in Tübingen, Princeton (USA) und Heidelberg. Er ist Professor für Systematische Theologie an der Ruhr-Universität Bochum und Co-Principal Investigator des internationalen Projektes »Enhancing Life«.
Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek:Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
3. Auflage 2021
© 2020 by Evangelische Verlagsanstalt GmbH · Leipzig
Printed in Germany
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Das Buch wurde auf alterungsbeständigem Papier gedruckt.
Gesamtgestaltung: makena plangrafik, Leipzig
Druck und Binden: CPI books GmbH
ISBN 978-3-374-06679-7 // eISBN (PDF) 978-3-374-06713-8
eISBN 978-3-374-07018-3
www.eva-leipzig.de
Dieses Buch ist eine Einladung zu Entdeckungen. Ich hoffe, dass es ermutigende, tröstende und stärkende Entdeckungen und zugleich selbstkritische und ein Umdenken provozierende Entdeckungen sind.
Dieses Buch ist eine Einladung für einen hoffnungsvollen Realismus. Es ist ein Plädoyer für einen empirischen und einen theologischen Realismus in Sachen Kirche. Der hier vorgeschlagene Realismus ist hoffnungsvoll, weil er theologisch auf Gottes Lebendigkeit setzt. Entdeckt die Kirche ihren Ort im Weltabenteuer Gottes, so kann sie beides überwinden, die Selbstillusionierung und die Erschöpfungsdepression. Im Weltabenteuer Gottes kann sie mit der notwendigen Verwegenheit und möglichen Gelassenheit Glaube, Liebe und Hoffnung kommunizieren. Wer dies interessant findet, der sollte weiterlesen.
Wir leben in hysterischen Zeiten, in denen – um diese plakative Zuschreibung aus dem Wortschatz der Psychopathologie zu erweitern – die Kirchen zunehmend manisch-depressiv werden. Nicht wenige Verlautbarungen von Synoden lesen sich wie eine Mischung aus depressiver Anklage gegen die Welt und manischem Machbarkeitsbewusstsein. Manche Forderungskataloge einer Öffentlichen Theologie offenbaren mehr eine Theologie der Verzweiflung als eine Theologie der Hoffnung. Sind sie Klagen mit falscher Adresse? Verdeckt unter dem Lack des Zweckoptimismus (»Wir schaffen das mit der Gerechtigkeit und dem Frieden«) und dem Furnier des Empörungsgestus findet sich die spirituelle Verzweiflung über den Zustand der Welt. Backen aufpusten reicht hier nicht. Pfarrerinnen und Pfarrer sind als »menschliche Leuchttürme« nach Jahrzehnten organisatorischer Kirchenreformen zunehmend ausgezehrt und erschöpft. Jede schlaue neue Rettungsidee bedeutet Mehrarbeit und reduziert die Zeit auf dem Friedhof auch nicht. Und obendrauf kam noch die Demütigung in der Coronakrise: Offene Baumärkte sind wichtiger als offene Kirchen. Dabei fällt auf: Die evangelischen Kirchen, die mit großer Routine irgendwelcher Politik ein Totalversagen vorwerfen, sind äußerst dünnhäutig, wenn sie selbst kritisiert werden.
Moralischer Alarmismus prägt die bundesdeutsche Öffentlichkeit. Empörung scheint der Standardmodus öffentlicher Kommunikation geworden zu sein. Ja, die Empörung hat reale Ungerechtigkeiten im Auge. Die westlich-liberalen Gesellschaften stehen mitten in einem kulturellen Bürgerkrieg zwischen Kosmopoliten und Regionalisten. Mittendrin stehen die Kirchen, gefangen in der vermeintlichen Alternative von moralischer Selbstradikalisierung und einem mal eher bangend-nervösen und mal eher routinierten Weiterwursteln. Jahrzehnte von Reformen der Organisationsstrukturen haben weder zu einschlägigen Erfolgen (»Wachsen gegen den Trend!«) noch zu einer inneren Entspannung geführt. Oder sollen sich die evangelischen Kirchen gesundschrumpfen? Immer kleiner, immer reiner und immer feiner? Einem gewissen Krisenbewusstsein kann sich kaum jemand entziehen. Nur: welche Krise? Und: wie viele? Auch die einsetzende Verarbeitung der Coronakrise lässt noch nicht erkennen, welche Impulse die Kirchen dauerhaft beleben und welche Fragen sie noch lange verfolgen werden.
Welche Rolle kommt den Kirchen in den Spannungen des nächsten Jahrzehnts zu? Mein Vorschlag: die Nerven bewahren und Entdeckungen machen. Solche, die das Selbstbewusstsein der Kirchen und ihrer Mitglieder stärken, und solche, die Korrekturen auslösen. Nicht nur manches, nein, vieles in der Kirche läuft richtig gut. Vieles gelingt und wird in seinem Gewicht und seiner Bedeutung nicht angemessen wahrgenommen. Dennoch gibt es Wege in die Sackgasse. Es gibt Ideen und Haltungen, die zu mehr Problemen als zu Lösungen führen, ja, die oftmals das Ausgangsproblem erst hervorrufen, das sie zu bekämpfen meinen. Da es mir aber in der Tat um beide Spielarten der Entdeckung geht, hoffe ich, dass dieser Band nicht auf dem Stapel endet, über dem ein Post-it-Zettel hängt, auf dem steht: »Akademische Nörgler und katastrophenverliebte Retter«.
Und, nicht zu vergessen, es gibt Fragen, die auf eine Antwort warten. Hinter der Krise der Mitgliedschaft verbirgt sich nicht nur eine kommende Finanzkrise. Es tritt eine schon lange schwelende, im Kern theologische Krise zutage: »Warum sollte man in einem entwickelten Sozialstaat mit einer Fülle sich für die Humanisierung der Welt einsetzender NGOs eigentlich noch in der Kirche sein?« Solange die Kirchen darauf keine Antwort haben, nützt alles Rühren im organisatorischen Brei recht wenig.
Dieses Buch ist das Ergebnis vieler Gespräche mit engagierten Laien, mit Pfarrerinnen und Pfarrern, Menschen in der Kirchenleitung, mit »religiös unmusikalischen« Sympathisanten der Kirche und echten Kritikern. Zugleich bietet das Buch eine vorläufige Bilanz eines langen inneren Gesprächs. Darum behalte ich die Form bei, in der es Fragen, Rückfragen und die Sichtweise der ersten Person gibt. Es ist ein Beitrag zu einem weitergehenden Gespräch. Es möchte – auch mit seinen Spitzen – zu einer neuen theologischen Nachdenklichkeit anregen. Theologie ist ein Produkt, das nie die Werkstatt verlässt.
Dieser Band wendet sich nicht nur an Menschen, die an der Universität Theologie studiert haben, an Profi-Theologen. Die Leser, die ich mir selbst wünsche und erhoffe, sind Menschen, die zunächst in der Kirche Verantwortung für die Kirche übernehmen möchten und dann auch die Verantwortung der Kirche für ihre Umgebungen erkennen möchten. Dies sind aber auch nicht nur Pfarrerinnen und Pfarrer. Es sind auf ihre Weise Kirchengemeinderäte, Ehrenamtliche, Religionslehrer und Diakone, Mitarbeiter der diakonischen Werke und all der »Werke und Einrichtungen« der Kirche. Es sind Christen in kirchlichen Bildungseinrichtungen, die haupt- und ehrenamtlichen Kantorinnen und Kantoren und nicht zuletzt im engeren Sinne kirchenleitend Tätige. Es sind aber auch die Laien, die in ihrem Alltag mit Gummistiefeln durch moralische Morastlandschaften gehen und ebendies als Christen tun wollen und müssen. Radikal und konsequent evangelisch gedacht, richten sich daher die folgenden Vorschläge an alle getauften evangelischen Christen. Wenn sie auch faire Skeptiker und neugierige Zweifler erreichen, dann würde ich mich darüber freuen.
Meine Hoffnung ist, dass der Beobachtungsballon, den dieser Band darstellt, hoch genug fliegt, um erweiterte Sichtweisen und überraschende Blicke auf die Landschaft der Kirche zu ermöglichen. Zugleich soll der Beobachtungsballon aber doch so tief fliegen, dass die Menschen, die am Boden ihrer alltäglichen Arbeit innerhalb und außerhalb der Kirche nachgehen, noch gesehen werden können.
Die Akteure im Feld der wissenschaftlichen Theologie werden sicherlich an sehr vielen Stellen wichtige Unterscheidungen vermissen und etwas mehr Umsicht einfordern. Zu breit ist in ihren Augen hier und da der Pinselstrich, zu holzschnittartig die Argumentation. Manches hätte deutlich ausgewogener formuliert werden können. Sicherlich. Gestaltungsorientiertes Wissen wird sich aber immer in Konkretisierungen hineinwagen müssen. Gestaltungsorientiertes Verstehen wird immer der Versuchung widerstehen müssen, sich selbst freudig im Meer der zehntausend Differenzierungen zu ertränken. Allzu oft lieben wir Theologen die Probleme mehr als die Lösungsvorschläge. Weil wir die Komplexität so sehr mögen und das Risiko der Zuspitzung scheuen. Wo in so schwierigen Debatten um die Verantwortung der Kirche in der Gegenwart die notwendige und ganz pragmatische Vereinfachung endet und wo eine zu weitgehende Vereinfachung beginnt, ist vorab schwer entscheidbar.
Wahrscheinlich zum Entsetzen der akademisch orientierten Leser und zur Freude der Laien und derjenigen Theologen, die keine Zeit und keine Energie für das Kleingedruckte haben, verfügt dieser Band über keine Fußnoten und keine Quellenangaben. Theologische Weichenstellungen und Gespräche sind nicht durch Fußnoten angezeigt, sondern alle im Text gegenwärtig. Anmerkungen und Fußnoten hätten den Umfang verdoppelt. Sie hätten die Zeit für das Verfassen des Bandes vervierfacht. Angesichts der eigenen Endlichkeit hätten sie ihn vielleicht nie das Licht der Welt erblicken lassen. Die Leser mögen entschuldigen, dass ich meinte, aus der Not eine Tugend machen zu können. So entstand ein langes Essay.
Am Ende dieser Einleitung gilt es einen Dank auszusprechen. Ohne Sigrid Brandt, Gottfried Class, Christoph Chalamet, Ralf Frisch, Gabriele Wulz, William Schweiker und Annette Weidhas gäbe es diesen Band nicht. Sie alle wissen, welchen Anteil sie daran haben. Noch vielen anderen ist zu danken für Impulse und Kritik. Danke!
Das von der John Templeton Foundation geförderte interdisziplinäre und internationale Forschungsprojekt »Enhancing Life« bot über Jahre einen fruchtbaren Kontext zur Entwicklung der in diesem Buch vorliegenden Einsichten. Nicht zuletzt von den Gesprächen mit eher ›religiös unmusikalischen‹ (Max Weber) und kritischen, aber an Religion und Humanität interessierten Zeitgenossen habe ich sehr profitiert.
Noch ein Hinweis zur Lektüre. Dieses lange Essay kann ganz ungeordnet gelesen werden. Wer irgendwo mittendrin anfangen möchte, soll dies tun. Egal wo. Meine Hoffnung ist, dass die Sache so interessant ist, dass das Interesse für die anderen Teile von alleine wächst.
Bochum, im Juli 2020
Günter Thomas
IStatt einer Einleitung: Die Thesen des Bandes in Kurzform
1.Theologie – nicht nur Reform der Organisation
2.Kräfte und Mächte der Gegenwart wahrnehmen
3.Fehler im Gewebe der Theologie
4.Weichenstellungen: Gottes Lebendigkeit und seine Entdeckergemeinschaft
5.Die Einheit von Glaube, Liebe und Hoffnung
6.Konsequenzen
IIWo sind wir? Kulturelle Kräfte, die uns prägen und herausfordern
1.Diagnostische Beobachtungen
2.Sind die richtigen optischen Instrumente im Werkzeugkoffer der Theologie und der Kirche?
3.Kirche inmitten der mythischen Erzählmaschinerie
4.Vitalismus
5.Neostoizismus
6.Verzweifelte Hoffnung
IIIDie Entdeckung des Weltabenteuers Gottes
1.Glaube als Entdeckung, Kirche als Erzählgemeinschaft im Abenteuer Gottes
2.Entdeckung von Gottes Lebendigkeit
3.Leben in der mit Gott versöhnten, aber noch unerlösten Welt
4.Warum Kirche? Verantwortung der Kirche zwischen Versöhnung und Erlösung
IVDie moralische Atemlosigkeit einer grenzenlosen Kirche in grenzenloser Weltverantwortung – oder: Die Notwendigkeit von Grenzmanagement
1.Kein Treibholz auf dem Meer der Zeit
2.Weichenstellungen auf dem großen Rangierbahnhof
3.Acht Weichen – Wege in die Entgrenzung und die Selbstüberforderung der moralischen Agentur
4.Theologische Entgrenzungen und die grenzenlose Kirche
5.Entgrenzungen der Verantwortung
6.Und nun? Überlastung, Relevanzinflation, Selbstradikalisierung und tiefe Erschöpfung
VDie Kommunikation von Glaube, Liebe und Hoffnung
1.Hintergründe
2.Kommunikation und Medien – Ein Griff in die Werkzeugkiste
VIDie Kommunikation von Glauben
1.Glaube – Antwort auf Gottes Sehnsucht und Vertrauen
2.Menschlich glauben – jenseits von Gewissheit im Modus von Klage, Bitte, Dank und Lob
3.Kommunikation im Rahmen »Glaube« – Steine, Klänge, Zeiten und Themenkataloge
4.Medien der Kommunikation des Glaubens
5.Glaube als Unterscheidung – statt Abgrenzung und Vergleichgültigung
6.Vom Warten und Erwarten Gottes – Mission
7.Die Taufe als Versprechen der Partnerschaft
VIIDie Kommunikation von Liebe
1.Liebe – Antwort auf göttliche Feindesliebe und Detailversessenheit
2.Liebe – risiko- und verlustbereit in einer Gesellschaft der Verträge
3.Radikale jesuanische Liebe
4.Menschlich begrenzt lieben – Bauhandwerker und Weltenbauer sehen und würdigen
5.Die Falle der Liebe, oder: Wie das Christentum zur Freizeitreligion wird
6.Kommunikation im Rahmen »Liebe«
7.Medien der Kommunikation der Liebe
8.Ist Liebe industriell zu fertigen? Diakonie als Lösung und Problem
9.Liebe als Schubkraft der Hoffnung und Fragment der Zukunft
10.Das Vaterunser als Erinnerung an Gottes Liebe des gefährdeten Lebens
VIIIDie Kommunikation von Hoffnung
1.Hoffnung – Antwort auf Gottes Hoffnung, Versprechen und Geduld
2.Kommunikation im Rahmen »Hoffnung«
3.Medien der Kommunikation von Hoffnung
4.Dreifach hoffen – endlich, radikal und verwandelnd
5.Endliche Hoffnung auf Glück
6.Radikale Hoffnung auf Gottes Neuschöpfung
7.Verwandelnde Hoffnung auf Gerechtigkeit und Frieden – für diese Welt
8.Im Zwischenraum von Versöhnung und Erlösung – Grundprobleme verwandelnder Hoffnung
9.Wege verwandelnder Hoffnung, oder: Das Ende der Party
10.Verwandelndes Hoffen als Kunst der Navigation
11.Radikal hoffen für die Opfer der Geschichte
12.Keine radikale Hoffnung ohne Klage
13.Abendmahl als Feier radikaler Hoffnung – tröstende Gegenwart und schmerzhafte Abwesenheit
IXLeben im Weltabenteuer Gottes
1.Was ist zu gewinnen, wenn die Einheit von Glaube, Liebe und Hoffnung gelebt wird?
2.Trost und Freude
3.Befreiung für Überwältigte
4.Nochmals: Warum Kirche?
5.Jesus und Luther im Kampf für lösungsorientierte politische Vernunft
6.Säkularisierung – Und was tun? Welche Strategie?
XHalb gehobene und ungehobene Schätze, oder: Aufgaben und Orte in der Kommunikation von Glaube, Liebe und Hoffnung
1.Kirche wie ein Smartphone
2.Pfarrerinnen und Pfarrer
3.Männer
4.Familien
5.Mitarbeiter in diakonischen Einrichtungen
6.Ehrenamtliche in der Kirche
7.Kirchenmusik
8.Krankenhausseelsorge
9.Beerdigungen
10.Die Bildung des Glaubens und Religionslehrer
11.Arbeiter und Arbeiterinnen an den Nachtseiten des Lebens
12.Sogenannte Laien im Alltag
XIDie Sackgasse des Übersetzens – oder von der Verwegenheit, Geduld und Leichtigkeit des Erläuterns
1.Übersetzen und seine Folgen
2.Im Sog der Vereinfachung
3.Verstehen gleich Zustimmung?
4.Die vier Todsünden des Übersetzens
5.Verwegenheit
6.Leidenschaft, Geduld und Barmherzigkeit
7.Leichtigkeit
XIIEin Blick zurück und nach vorne
Die Kirchen sind kein Stück Treibholz auf dem Meer der Geschichte und der gesellschaftlichen Entwicklungen. Sie sind ihren Umgebungen und deren Kräften, seien es demographische Entwicklungen oder Säkularisierungsschübe, nicht nur schicksalhaft ausgeliefert. Sie erzeugen sie mit. Sie werden zu Opfern ihrer eigenen Fehlentwicklungen und profitieren zugleich von ihren klugen Entscheidungen und förderlichen Umgebungen. Die Kirchen können sich ihre Umgebungen aber auch nicht aussuchen. Sie können sich niemals wie Mister Spock in der Serie »Raumschiff Enterprise« aus ihren gesellschaftlichen, kulturellen und natürlichen Umgebungen »herausbeamen«. Sie können sich mit ihren Umgebungen selbstbewusst und kritisch auseinandersetzen. Sie müssen sich ihnen nicht fatalistisch ausliefern. Sie können sich mit ihrem eigenen Denken und Handeln bewusst und selbstkritisch verhalten. Sie können genau darin Verantwortung übernehmen. Darum geht es in diesem Band.
Auf die vielfältigen Herausforderungen haben die Kirchen in den letzten Jahrzehnten vornehmlich mit Reformen der Organisation reagiert. Eine der grundlegenden Thesen dieses Bandes ist: Für die Bewältigung der gegenwärtigen und noch kommenden Krisen bedarf es auch theologischer Neuorientierungen. Organisationsreformen, so notwendig sie sind, sind nicht ausreichend. Organisation und theologisches Selbstverständnis sind vielmehr eng miteinander verknüpft. In jede kirchliche Organisationsgestalt ist eine Theologie eingeschrieben. Jede theologische Orientierung sucht organisatorische Entsprechungen. Mit Reformen der Organisation lassen sich aber keine Probleme der sachlichen Ausrichtung in der Rede von Gott lösen. Meine Überzeugung ist, dass die tiefe Erschöpfung in der Kirche eine Erschöpfung ist, die durch die Reformen eher verstärkt denn gemindert wurde. Darum gilt es, Fragen nach theologischer Orientierung zu stellen. Die Probleme der Kirche sind nicht nur Organisationsprobleme. Es sind auch Probleme der theologischen Orientierung, ja zum Teil der theologischen Fehlorientierung. Organisationen wie theologische Orientierungen können zu Ruinen verfallen, die in neuen stürmischen Zeiten nur noch unzureichend Schutz gewähren.
Angesichts des massiven Einbruchs der Kirchensteuereinnahmen infolge der Coronakrise und der steigenden Zahl der Kirchenaustritte empfiehlt der Ratsvorsitzende der EKD, Heinrich Bedford-Strohm, aktuell, »einen selbstkritischen Blick auf gewachsene Formate und Strukturen« zu werfen. Man reibt sich die Augen. Und die Sache? Gibt es auch einen selbstkritischen Blick auf die Botschaft, auf die vertretenen Inhalte?
Um das sehr begrenzte Modell der Wirtschaft nur für einen Moment zu bemühen: Die Kirche wirkt oftmals wie eine Firma, die angesichts von Absatzproblemen und Problemen der Kundenbindung eben Bilanzprobleme hat. Als Reaktion darauf reagiert sie mit Optimierungen der Verpackungen, einer Neustrukturierung der Vertriebswege, einer besseren Schulung der Außendienstmitarbeiter und schließlich mit einer Erhöhung des Werbeetats. Wenn – was selten vorkommt – die entscheidende Frage nach dem Produkt aufkommt, dann ist vor der eigenen Antwort die Frage zu hören: »Wie können wir uns der Konkurrenz anpassen?« Um in diesem sehr begrenzten Modell zu bleiben: Diese Herangehensweise ist falsch oder zumindest grob unzureichend. Sie ist letztlich verantwortungslos. Diese Haltung ruiniert die Firma. Sie dokumentiert ein Managementproblem.
Dieser Band möchte ermutigen, über das Produkt der Kirche nachzudenken. Und: dabei geduldiger und entschlossener nach den Eigenheiten des eigenen Produktes fragen. Darum der Untertitel »Impulse zur Verantwortung für die Kirche«.
Jede Reform und jede Notwendigkeit einer Veränderung unterstellt sich ein Bündel an Problemen oder Herausforderungen. Aus den Herausforderungen einer wohl fortschreitenden Säkularisierung, eines schwer bremsbaren Mitgliederschwundes und einer kommenden Finanzkrise kann sich keine Kirche und keine Gemeinde herausträumen. Sie müssen die Gegenwart angemessen wahrnehmen.
Jede Organisation ist geneigt, die eigenen Probleme den Faktoren und Kräften in ihrer Umgebung zuzuschreiben und die eigenen Erfolge sich selbst. Wenn es gut läuft, ist es alles das eigene Handeln, wenn nicht, erlebt man sich als Opfer überwältigender Kräfte. Kirchen sind von dieser »kreativen Buchführung« in der Beschreibung von Ursachen nicht ausgenommen. Wird die kirchliche Gegenwart ehrlich und selbstkritisch betrachtet, so stellt sich eine unangenehme Frage: Welche theologischen Entscheidungen und Entdeckungen der letzten Jahrzehnte oder gar der letzten zwei Jahrhunderte bedürfen einer Korrektur – weil sie sich eben als irreführend und selbsttäuschend erwiesen haben? Um an dieser Stelle sehr deutlich zu sein: Es geht nicht um die Frage, ob wir die betreffenden theologischen Einsichten lieben und intellektuell überzeugend finden. Nein. Die Frage ist schlicht: Haben sie sich bewährt? Ich unterstelle dabei, dass sie gewirkt haben. Sie sind, so meine These, wie alle theologischen Antworten problemschaffende Lösungen, allerdings solche, bei denen die mit der Lösung mitgeschaffenen Probleme heute überwiegen. Oder aber es sind Fehloptimierungen, bei denen die Lösung so optimiert wird, dass das zugrunde liegende Problem wieder miterzeugt wird oder aber neue überwältigende Probleme geschaffen werden. Auf jeden Fall gilt: theologische Fehlersuche betreiben! Dabei ist offensichtlich: Ob die Fehlersuche überzeugt, hängt davon ab, ob man meine Problemwahrnehmung teilt. Das ist natürlich ein Zirkel. Aber es gilt, ein diffuses Gefühl des Unwohlseins in Sachen theologischer Orientierung anzugehen, Selbstverständlichkeiten in Frage zu stellen, Denkrituale zu beenden, Immunisierungsreaktionen zu unterdrücken – um Theologie als lösungs- und wahrheitssuchende Unternehmung zu begreifen.
Die theologische These des Bandes ist eine so einfache wie weitreichende – sollte sie sich bewahrheiten. Nicht nur der akademischen Theologie, sondern auch der Kirche in ihren vielfältigen Erscheinungsformen ist die Vorstellung von Gottes Lebendigkeit abhandengekommen. Gottes Lebendigkeit in ihrem besonderen Reichtum, ihrer Differenziertheit, ihrer Zugewandtheit und Freiheit ernst zu nehmen, scheint mir wesentlich zu sein für die Verantwortung der Kirche. Öffnet sich der Blick für Gottes Lebendigkeit, so wird deutlich, dass die Kirche eine Entdeckergemeinschaft des »Weltabenteuers Gottes« (Hans Jonas) ist. Glaube ist darum vor allem Handeln, die wahrnehmende Entdeckung, im Weltabenteuer Gottes zu leben und sich dafür in Anspruch nehmen zu lassen. Glaube ist zugleich die Wahrnehmung von Gottes lebensförderlichen und doch auch dramatischen Verwicklungen in die Entwicklung der Welt. Der Glaube entdeckt, wie Gott die Welt berührt und bewegt und selbst von ihr berührt und bewegt wird.
Der konstruktive Vorschlag, der in diesem Band zu den Krisen der Kirche unterbreitet wird, ist: Die von Apostel Paulus ins Auge gefasste, als vom Geist Gottes gewirkte Dreiheit von Glaube, Liebe und Hoffnung umreißt eine Gestalt der Kirche und des christlichen Lebens im Weltabenteuer Gottes. Die eng verknüpfte Dreiheit kann, so die These, in der Gegenwart nicht nur irritieren, sondern auch orientieren, trösten und ermutigen. Die Kommunikation von Glaube, Liebe und Hoffnung antwortet stets auf Gottes Vertrauen, Liebe und Hoffnung. Sie weist einen Weg der Kirche, der an der Skylla einer erschöpfenden moralischen Weltverantwortung ebenso vorbeiführt wie an der Charybdis einer spirituell aufgeheizten, aber letztlich bequemen und weltabgewandten Spiritualität. Die kecke These des Bandes lautet darüber hinaus: Wenn die Kirche die Einheit von Glaube, Liebe und Hoffnung ernst nimmt, dann kann sie auch den aktuellen kulturellen Herausforderungen getrost begegnen. Um die Entdeckung der Einheit von Glaube, Liebe und Hoffnung geht es.
Wenn die Kirche Gottes Lebendigkeit und die Einheit von Glaube, Liebe und Hoffnung realisiert, dann hat dies Folgen. Dann geht sie anders mit den Fragen um den Säkularisierungsprozess um – entspannter und zugleich unverschämt mutiger. Dann findet sie neue Zugänge zu Mitgliederfragen. Ja, dann macht sie an sich selbst Entdeckungen von halb gehobenen und ungehobenen Schätzen. In der Verantwortung des Glaubens in Öffentlichkeiten außerhalb der Kirche wird sie der Versuchung widerstehen, die Rede von Gottes vielgestaltiger Lebendigkeit im Weltabenteuer zu übersetzen. Sie wird sie stattdessen mit Geduld und Verwegenheit erläutern.
Die Kirchen des Westens und insbesondere die Evangelische Kirche in Deutschland nehmen in der Gegenwart mehrere Krisen wahr. Nicht zuletzt die seit den 1980er Jahren diskutierten und auch umgesetzten Reformprozesse unterstellen sich eine kircheninterne Organisationskrise. Diese ist das Resultat von Säkularisierungsprozessen, die zu einer Mitgliederkrise führen und diese wiederum zu einer Finanzkrise. Kräftezehrende Umstrukturierungen, Gemeindefusionen und die Infragestellung von bewährten Initiativen ist die Folge. Hin und wieder wird der von vielen als belastend und entmutigend empfundene Abbau und Rückbau durch neue Projekte und gelungene Initiativen gegenbalanciert. In diese Stimmungslage hinein kam die vom Freiburger »Forschungszentrum Generationenverträge« angefertigte Studie »Langfristige Projektion der Kirchenmitglieder und des Kirchensteueraufkommens in Deutschland«. Das Ergebnis: Bis 2060 wird sich die Zahl der Kirchenmitglieder in Deutschland halbieren. Rund 21 Prozent des Rückgangs sind der Bevölkerungsentwicklung geschuldet, rund 28 Prozent gehen auf die Taufquote, das Austrittsverhalten und die Wiedereintrittsbereitschaft zurück. Ob die Botschaft, dass es weniger an der Demographie liegt als an Taufe und Austritten, eine gute oder eine schlechte ist, muss sich noch erweisen. Deutlich ist nur: Die Vorstellung eines fröhlichen Gesundschrumpfens, ein Weg zu »klein, aber fein«, zur »Elitenbildung« (Thies Gundlach) ist eine Illusion – solange nicht auch theologische Weichen anders gestellt werden. Auch dann, wenn »Austritte in der Peripherie der Parochie« (in Wahrheit distanziert Engagierter) geschehen, bleibt es eine Frage des theologischen Rahmens, wie die Kirche mit der sogenannten distanzierten Kirchenmitgliedschaft umgeht.
Bedrückend ist zweifellos auch das Bild, das sich in den Gebieten der ehemaligen Sowjetunion und den Staaten des sogenannten Ostblocks zeigt: Während sich die orthodoxen Kirchen und auch die katholische Kirche von dem staatlich verordneten Atheismus und den damit zusammenhängenden Säkularisierungen erholt haben, gilt dies speziell für den Protestantismus nicht. Dies sollte m. E. doch zu denken geben. Die Geburtsregion des lutherischen Protestantismus bleibt eine der religionslosesten Gegenden der Welt.
Das Krisenbewusstsein existiert nicht mehr nur im Expertenwissen, es ist schon lange in den Synoden und den Gemeinden angekommen. Auffallend ist dabei, dass die Krisenursachen vornehmlich außerhalb der Kirche gesucht werden: Säkularisierung, Traditionsabbruch etc. Erst der Vertrauensverlust im Zusammenhang des sexuellen Missbrauchs hat intensiver nach internen Krisenursachen fragen lassen.
In all dem gilt es indirekt ein Problem anzugehen, das von vielen sehr laut beschwiegen wird, man könnte auch sagen, das eine der größeren Leichen im Keller der Kirche ist: Der christliche Glaube, das Christentum, wurde zur Stammesreligion. Die Kirche reproduziert sich über Biologie, über Abstammungsbeziehungen. Warum?
Alle Prognosen zur Mitgliederentwicklung der Kirchen in Deutschland legen die demographische Entwicklung zugrunde. Was dadurch mitgesagt wird: Glaube wird nur noch »biologisch« im Raum der Familie durch Sozialisation weitergegeben. Und selbst dort wird es z.B. durch den regelmäßigen Ruf nach einem überkonfessionellen oder gar interreligiösen Religionsunterricht in Frage gestellt. Biologisch werden die Protestanten weniger. Schweigend sagen viele Christen: »Das ist eben so!« Wer hier laut mehr als ein Fragezeichen anbringt, wird schnell in eine radikal-evangelikale Ecke und ruckzuck unter Fundamentalismusverdacht gestellt. Aber es ist doch ganz einfach: Wenn der Protestantismus für die Selbstreproduktion faktisch vom Heiligen Geist auf Sex (Kinder bzw. Geburtenrate) umstellt, so funktioniert dies nach der Erfindung der Pille nicht mehr. Das funktioniert nur bei vier Kindern oder mehr. Wenn dann christliche Eltern nicht mehr wissen, warum sie ihr Kind taufen lassen sollten, dann müsste es eigentlich heißen: »Houston, we have a problem!« Wem aber die Umstellung auf eine Stammesreligion gleichgültig ist, weil sowieso alle religiösen Angebote oder alle Begründungen von Menschenrechten irgendwie gleich gültig sind, der wird auch von den Menschen außerhalb der Kirche nur Gleichgültigkeit ernten. Wer mit seiner Umgebung identisch sein möchte, ist nicht mehr identifizierbar. Die Antwort auf die Gleich-Gültigkeit ist Gleichgültigkeit.
In den folgenden Überlegungen wird nun nicht ein lautstarkes Plädoyer für Mission vorgelegt. Aber es wird gegen einen sich einschleichenden Fatalismus und gegen eine heroische Schicksalsgläubigkeit in Sachen Kirche und moderne Gesellschaft argumentiert. Und: Es gilt, die bestehenden Initiativen zu der nicht leichten Arbeit am Fatalismus zu stärken und zu ermutigen. Ob die Bewältigung der inneren theologischen Krise in absehbarer Zeit zu einem Abklingen der Mitgliederkrise oder gar zu einem »Wachsen gegen den Trend« führt, entzieht sich jeglicher Prognostik. Die folgenden Ausführungen haben aber schon ihr Ziel erreicht, wenn die die Krise verstärkenden Fehlorientierungen gesehen und korrigiert werden. Dann wird die Kirche die kommenden Mitglieder-, Organisations- und Finanzkrisen konzentrierter, ehrlicher, freudiger und kreativer verarbeiten.
Jede Berufsgruppe, die sich mit der Krise bzw. den Krisen der Kirche befasst, sieht ihre ganz eigene Krise. Mit Organisation betraute Menschen sehen Organisationskrisen. Finanzfachleute sehen Finanzkrisen. Theologen sehen theologische Krisen. Das ist so richtig wie falsch. Es zeigt, dass die Diagnose der Krise – um ein Bild zu gebrauchen – von dem optischen Beobachtungsinstrument abhängt. Jeder hat seine Brille. Die verschiedenen Beobachter sehen nicht richtig oder falsch, sondern eben anders. Trotzdem können die optischen Instrumentarien auch wirklich ungeeignet oder gar völlig unzureichend sein.
Meine Frage ist daher: Warum erscheinen die meisten Systematischen Theologen (in der Disziplin, die die Kirche in Fragen des Glaubens in der Gegenwart orientieren sollte) gegenwärtig so tiefenentspannt und sehen keine theologische Krise? (Die intensiven Debatten um das Schriftprinzip und die Säkularisierung sind vorbei.) Der Grund ist darin zu finden, dass sie mit dem falschen Werkzeugkasten und darum mit den falschen optischen Instrumenten beobachten. Dies gilt es mutig zu korrigieren. Wo steckt also das Problem? Meine These: Der Blick der Theologie auf ihre Umgebungen ist zu eng. Er muss sich erweitern.
Um das Problem zu erfassen, muss man in der Tat fast 2.000 Jahre zurückblicken. Der Kirchenvater des lateinischen Christentums im Westen, Augustinus, berichtet in seinem Werk »Der Gottesstaat« von dem römischen Gelehrten Marcus T. Varro (116 v. Chr. – 27 v. Chr.). Varro unterscheidet drei Typen der Theologie und entsprechend drei Formen der religiösen Praxis im vorchristlichen römischen Reich. Es gibt eine politische Theologie oder theologia civilis, in der es darum geht, »welche Götter von Staats wegen der jeweilige Bürger verehren und welche heiligen Handlungen und Opfer er machen soll«. Daneben gibt es eine mythische Theologie oder eine theologia fabularis, die sich bei den Dichtern und in den Aufführungen des Theaters findet. Der dritte Typ der Theologie und der religiösen Praxis ist die philosophische Theologie oder die theologia naturalis.
Die politische Theologie bleibt bewusst relativ unbestimmt und kann eben dadurch das integrierende Dach für den einen Staat und die Vielfalt der mythischen Religionen sein. Die politische Religion ist hart in der Durchsetzung und vage im Inhalt. Weil sie hart durchgesetzt wird und inhaltlich vage bleibt, kann es unterhalb von ihr einen weiten Religionspluralismus im Reich geben. Weil die ersten Christen diese politische Theologie ablehnten, galten sie als Atheisten und setzten sich der Verfolgung aus.
Die mythische Theologie lebt in Erzählungen und kennt eine Vielzahl miteinander streitender und kämpfender Götter. Es ist die heiße Religion der Popularkultur, voller Konflikte und Gewalt, voller Dramatik, reich an Emotionen und eher frei von staatsbürgerlicher ethischer Orientierung. Es ist die Religion eines ganzen Götterpantheons oder – wollte man einen Blick nach Asien werfen – die Religion einer Göttin mit drei Köpfen oder zweiundzwanzig Armen. Sie lebt im Tanz, im Lied, im Ritual und in der Feier des Außeralltäglichen. Ekstase, nicht besonnene Pflichterfüllung oder kühles Erkennen, ist ihr Lebenselixier. Nicht umsonst wollte sie der griechische Philosoph Platon in seinem Entwurf eines Idealstaates schlicht komplett kontrollieren und im Zweifelsfall verbieten – eben um sie durch moralisch lupenreine und vernünftige Erzählungen zu ersetzen.
Die philosophische Theologie ist dagegen kühl, nicht heiß. Sie ist präzise, weder vage noch chaotisch. Sie sucht erste, letzte und vereinheitlichende Prinzipien, setzt auf Ordnung, auf Kohärenz und vernünftige Durchdringung. Sie baut auf den Dialog, die Vernunft und das gute Argument. Gefühle scheut sie wie der Teufel das Weihwasser. Der Gräzist Walter Burkert nennt sie darum »Philosophische Religion«.
Nach dem Untergang des Römischen Reiches wollte die christliche Kirche alle drei Religionsgestalten aufnehmen und ineinander integrieren – mit zwiespältigen Folgen. Bis in die Gegenwart hinein folgenreich ist allerdings eine Entscheidung, die von der gesamten frühen Kirche übernommen, aber schon von dem großen jüdischen Philosophen und Theologen Philo im damaligen kulturellen Hotspot Alexandrien (dem heutigen Alexandria) gefällt wurde. Philos Frage war: Woran soll die jüdische Theologie in der Begegnung mit Griechenland und Rom anschließen? In welcher Form der Theologie soll sich jüdischer Glaube in der griechischen und römischen Welt ausdrücken? Soll die jüdische – und dann wenig später auch die christliche – Theologie mit dem Werkzeugkasten der heißen, gefühlsbetonten und chaotischen mythischen Religion oder mit dem Werkzeugkasten der kühlen, gedanklich klaren und Kohärenz suchenden philosophischen Religion arbeiten?
Wie die Schweizer so treffend formulieren können, »gleiste« Philo von Alexandrien die jüdische Theologie auf die Schienen der philosophischen Theologie auf. Auf diesen Schienen rollt der Zug der westlichen Theologie bis heute. Auf diesen Schienen fahren die aufgeklärt liberalen Kirchen des Protestantismus.
Im Kern war die Entscheidung Philos theologisch begründet. Er sah nur in der philosophischen Religion mit dem Gedanken der Unwandelbarkeit Gottes die Möglichkeit, die Treue Gottes zu entfalten. Seine Entscheidung ist auch christlicherseits nachvollziehbar, ist aber dennoch in mustergültiger Weise eine problemschaffende Lösung. Eine Lösung mit extrem hohen Folgekosten.
Die Gottesfrage wurde im Abendland zum philosophisch-intellektuellen Abenteuer. Die akademische Ausbildung von Theologen folgt bis heute weithin dieser Entscheidung Philos. Die Philosophie ist wichtiger als die Literaturwissenschaft oder die Medienwissenschaft. In den Bibelwissenschaften wird dies natürlich anders gesehen – aber zu wenig für die Analyse der gegenwärtigen Umwelten der Kirche fruchtbar gemacht. Warum ist diese vor rund 2.000 Jahren in Kairo getroffene Entscheidung für die heutigen Debatten um die Krisen der protestantischen Kirchen des Westens wichtig? Ist die Verbindung nicht doch »weit hergeholt«?
Ich möchte die These vertreten, dass diese Weichenstellung bei aller relativen Berechtigung eine enorm problemschaffende Lösung war und ist. Der Anschluss an die »philonische Entscheidung« begünstigte das Entstehen von zwei Problemen, die beide im Zentrum der Krise der westlichen Kirchen stehen:
1. Die Theologie hat nicht die richtigen optischen Instrumentarien, um die Umgebung der Kirche angemessen zu beobachten. Eine am Typus der philosophischen Theologie ausgerichtete Theologie (und Kirche) übersieht die mächtigen Praktiken und Kräfte der mythischen Religion in der gegenwärtigen Gesellschaft. Die Theologie ist in der Gefahr, systematisch zu übersehen, was Menschen bewegt und welche Kräfte durch sie leben.
2. Im Rahmen des Typus der philosophischen Theologie geriet in der christlichen Theologie und in den Kirchen die dramatische Lebendigkeit Gottes aus dem Blick. Gerät allerdings Gottes dramatische Lebendigkeit aus dem Blick, so gewinnt im Verbund mit einer inhaltlichen Entleerung eine Moralisierung des Protestantismus enorme Schubkraft. Ein letzter Grund und ein erstes Prinzip haben aber wenig, ja wohl gar nichts mit dem Gott Abrahams, mit dem Geist Gottes oder dem erwarteten Messias zu tun. Philosophen singen nicht.
Als Resultat sind die Kirchen weder in der Lage, die Krisen in und mit ihrer Umgebung angemessen zu erfassen, noch in der Lage, die eigene theologische Krise wahrzunehmen.
Eine Orientierung am Typus der philosophischen Theologie übersieht die Macht der Erzählung. Der Blick auf die Rationalität der philosophischen Theologie unterstellt den Menschen zu viel an Rationalität.
Was Menschen in den verschiedenen Bereichen ihres Lebens für wirklich, für möglich und für unmöglich halten, dies ist im Wesentlichen durch Erzählungen geprägt. Sogenannte letzte Gründe gründen sich nicht auf einleuchtende Gewissheiten. Sie wurzeln vielmehr in Erzählungen. Wer immer weiter nach Begründungen fragt, findet weder ein Fundament der Gewissheit noch letzte Gründe. Wer so fragt, endet irgendwann in einer Geschichte als Story.
Die am Typus der philosophischen Theologie orientierten akademischen Lehrer, Pfarrer und Kirchenleitungen übersehen zwei Aspekte, die die mythische Theologie zutiefst prägen: die Dramatik der Erzählung und die Kommunikation von Gefühlen. Brechen diese beiden Elemente in der religiösen Praxis auf, so rufen sie nachhaltige Irritationen hervor. Fehlen sie in der Theologie, so geschieht zweierlei – das Weltabenteuer Gottes wird in seiner Dramatik und Dynamik nicht angemessen erfasst und die kühle emotionale Bewegungslosigkeit des Glaubens lässt nach Alternativen suchen. Säkularisierung heißt auch: Dramatischere und gefühlsgesättigtere Alternativen bewegen die Menschen mehr.
In einer Mediengesellschaft zu leben, heißt für die Kirchen zunächst, in einer Erzählmaschinerie zu überleben. Das Denken und Erleben von Milliarden von Menschen wird wie nie zuvor in der Menschheitsgeschichte durch audiovisuell erzählte Geschichten geprägt – von den Abendnachrichten bis zu Fantasyfilmen, von Krimis bis Talkshows. Der Mensch war schon immer ein homo narrans, ein Geschichtenerzähler. Geschichten inspirieren und formen die Aspirationen von Menschen. Weil dem so ist, war das Erzählen von Geschichten schon immer eine Praxis der Machtausübung: der Macht der Deutung und Bestimmung von Wirklichkeit. Allerdings gab es noch nie zuvor in der Menschheitsgeschichte eine so vielstimmige wie multimediale, so tief beeindruckende wie machtvoll verohnmächtigende Erzählmaschinerie wie die Unterhaltungsindustrie und die Presse. Es wird nicht eine Geschichte, sondern es werden vielfältige Geschichten erzählt und dramatisch aufgeführt.
Wie jedermann beobachten kann, hat auch die Entwicklung des Internets die Erzählmaschinerien des Kinos und des Fernsehens nicht abgelöst, sondern machtvoll erweitert und umgebaut. Auch die fernsehabstinenten Jugendlichen genießen die Erzählmaschine Netflix. Und deren Algorithmen sind so entwickelt, dass die Konsumierenden unbewusst weiter in die Erzählmaschinen hineingesogen werden. Damit wird nicht nur eine hohe Kundenbindung erzielt, sondern auch eine weitere Vertiefung der Wünsche, welche Erzählungen man gerne hört bzw. sieht. Die Sehnsüchte der Zeit, aktuelle und daueraktuelle, werden so in die Erzählungen der Maschine aufgenommen.
Die Vorstellung, Philosophie sei »ihre Zeit in Gedanken gefasst« (Georg Friedrich Hegel), mag für die Vergangenheit zutreffend gewesen sein. In der multimedialen Erzählmaschinerie der gegenwärtigen Mediengesellschaften ist diese Vorstellung mit mehr als einem Fragezeichen zu versehen. Sie gilt nur in engen Grenzen. In der schwebenden Leichtigkeit des »als ob«, des »dort« und »kurzzeitig« Realen tauchen Menschen in Erzählwelten ein. Diese Welten sind dichtbevölkert von Wesen, bei denen die religiösen Aufklärer laut reklamieren: »Kann man nicht mehr glauben!« Aber was heißt hier glauben? Auch im niederschwelligen Realitätsmodus des »Als ob« des Fiktiven stellen Menschen dar und eignen sich Menschen an, was sie für »wirklich wirklich« halten.
Die medialen Erzählungen geben Mächten und Kräften einen Ausdruck. Wir beschreiben, formen, zähmen und entfesseln in Erzählungen die Mächte und Kräfte, denen wir erlauben, durch uns zu leben. Darum lebt in den Geschichten der Gewalt und ihrer Überwindung, in den Geschichten von Schuld und Rache, von der Suche nach Glück und der Erfahrung von Tragik die mythische Religion. Fern der im Gespräch entfalteten und in Schrift gefassten Vernunft lebt hier in der Kommunikation von Emotionen und im Medium bewegter Bilder die Religion der Dichter. Es ist diese Religion, für die der Philosoph Platon und viele christliche Theologen bis in die Gegenwart hinein nur Verachtung übrighatten. Der vielstimmige Chor der mythischen Religion ist äußerst polyphon. Moderne Gesellschaften sind in gesteigertem Maße Schlachtfelder im Kampf der Erzählungen. Wahrheit entscheidet sich meist daran, ob etwas Resonanz findet.
Siege im Kampf der Erzählungen sind nicht blutig, sondern resultieren im Schweigen derer, die nicht mehr erzählen können, weil sie nicht mehr gehört werden. Die moderne Gesellschaft vergisst und entledigt sich bestimmter Geschichten, indem sie aus dem Erzählhaushalt der Gesellschaft verschwinden oder zum Verschwinden gebracht werden. Auf einem Markt begrenzter Aufmerksamkeit und Zeit ersetzt Verdrängung Zensur. Was nicht kommuniziert wird, ist nicht mehr real. Säkularisierung ist auch der Problemtitel für die Niederlage der Kirchen im Kampf der Erzählungen.
Mit diesen Skizzen zu den multimedialen Erzählungen mythischer Religion soll nicht irgendeine Populärreligion auf den Sockel gehoben werden. Es ist wenig gewonnen, wenn sich Theologen der mythischen Erzählmaschine an den Hals werfen. Es soll auch nicht die so abenteuerliche wie triviale These vertreten werden, es gehe halt überall um »Sinn«. Es geht auch nicht um die denkerische Banalität, hier werde überall irgendeine »Transzendenz« erfahrbar. Auch der laute Ruf nach einer narrativen Theologie würde zu kurz greifen. Sicher ist nur: Dort finden sich mehr die aktuellen Herausforderungen für die Theologie als in den neuesten Publikationen von Jürgen Habermas, Alain Badiou oder Judith Butler. Eine ausschließlich dem Typus philosophischer Theologie folgende christliche Theologie findet in ihrer Zeit nur philosophische Herausforderungen. Sie ist weitestgehend blind für die Kräfte und Mächte, die in der Erzählmaschinerie dargestellt und sich angeeignet werden. Die aufgeklärte Theologie tappt damit in die Falle der Selbstüberschätzung der Philosophie und wird am Ende auch deren weitgehende Verachtung für das verrückte, unvernünftige, unmoralische und irgendwie irre Geschehen der mythischen Erzählmaschine teilen. Aber genau dort wird verhandelt: Wem ist zu vertrauen? Was sind die elementarsten Bilder für das Leben? Kampf? Solidarität? Liebe oder die Kombination aus Gruppe und Kampf? Wer setzt sich durch? Die Opfer oder die Täter, oder die Täter, die sich zum Opfer erklären? Siegt das Gute oder das Böse? Gibt es Gerechtigkeit? Und wenn ja, für wen, wo und wann? Gibt es Gutes, das nicht auch böse ist? Was ist in diesem Leben »wirklich wirklich«? Kann man dem Leben trauen? Wird es am Ende gut ausgehen oder lebt es sich unter dem Schatten der Tragik entspannter?
Wie kann nun die Kirche die Herausforderungen wahrnehmen, die ihr aus dieser mythischen Erzählmaschine entgegenkommen? Um ein Bild aus der Fotographie zu verwenden: Die Theologie kann hier mit unterschiedlicher Tiefenschärfe beobachten. Und: Sie kann mit einem Teleobjektiv oder mit einem Weitwinkelobjektiv beobachten. Sie kann auch ein Makroobjektiv verwenden. Sie kann sehr weit in die Details eines besonderen Filmes oder einer Serie wie »Game of Thrones« hineinzoomen und dann z.B. nach den Mustern von Kampf und Versöhnung fragen, oder filmische Verarbeitungen historischer Ereignisse wie der Französischen Revolution oder des Nationalsozialismus untersuchen. Sie kann aber auch mit einem Weitwinkelobjektiv arbeiten und nach den Erzähltechniken nach dem »Ende des Fernsehens« fragen, um das Weltbild der Medien zu erkunden zu suchen.
An dieser Stelle möchte ich mit einer mittleren Tiefenschärfe arbeiten und die These aufstellen, dass sich in den Erzählumgebungen der Kirche drei Grundkonstellationen, drei kulturelle Kräfte ausdrücken: ein Vitalismus, ein Neostoizismus, der zum Tragischen neigen kann, und verzweifelte Hoffnung. Wichtig sind bei der knappen, mit dicken Pinselstrichen vorgenommenen Skizze fünf Aspekte: a) Sie stellen alle drei mächtige Kräfte in der multimedialen Erzählmaschinerie dar und sind hierin eine Herausforderung für die Kirche in der Gegenwart. b) Sie haben alle ein gewisses Wahrheitsmoment. c) Sie sind in all ihrer Ambivalenz auch in der Kirche präsent. d) Sie sind mit der Kommunikation von Glaube, Liebe und Hoffnung zu konfrontieren. e) Am Ende des Tages sind diese Mächte und Kräfte nicht nur in den Erzählungen präsent, sondern in Praktiken, in Haltungen und in Entscheidungen des alltäglichen Lebens.
Um den Vitalismus zu verstehen, muss man nicht Friedrich Nietzsche lesen oder die Filme von Leni Riefenstahl schauen. Die Feier des starken und schönen Lebens durchzieht den Sport, die Werbung und die gesamte Wellness-industrie. In der Anti-Aging-Bewegung zeigt er eines seiner Gesichter.
Vitalismus heißt: olympisches Leben. Der Vitalismus feiert die Durchsetzung des starken Lebens. Auch die Coronakrise machte deutlich: Die Natur ist kein Höflichkeitswettbewerb, sondern Kampf. Selbstdurchsetzung, Selbstbehauptung, Selbstständigkeit, Fitness und Wettbewerb kennzeichnen die Dynamik des Lebens. Die Selbstlosigkeit in der einen Gruppe dient dem Kampf gegen die andere Gruppe. Im Kampf der Interessen in Politik, in Krankenhäusern, in Universitäten, im Beruf jedes Einzelnen, auch in der Kirche und auch zwischen den Teilbereichen der Gesellschaft ist der Vitalismus gegenwärtig. Im Grundsatz der Unternehmensberatung »Stärken stärken, Schwächen schwächen« findet er einen prägnanten Ausdruck. Die grundlegende Metapher des Lebens ist für den Vitalismus der Kampf. Die Verbesserung des Lebens als Durchsetzungsprozess ist sein Programm. Weil das Leben ein Kampf ist, gibt es auch Feinde. Der Vitalismus überwindet die Gegenmacht durch Macht und, wenn es nötig ist, Gewalt durch Gewalt. Der Vitalismus schreibt sich an einem wichtigen Punkt selbst Ehrlichkeit zu: Die Moral ist in Wahrheit eine Waffe im Kampf der Durchsetzung von Interessen. Die Rede von Werten und Moral verbirgt nur Interessen. Eros und Thanatos, die Liebe und der Tod, sind nicht die einzigen, aber zwei mächtige Felder, aus denen der Vitalismus seine Kraft zieht.
In vielen Weltgegenden ist bis heute die Familie der Ort, an dem sich vitales Leben in der Lebensweitergabe an künftige Generationen entfaltet. In den »Kindern und Kindeskindern« setzt sich das Leben gegen den Tod durch. So kann die Sexualität die Feier des sich entfaltenden Lebens sein. Eine Theologie und kirchliche Praxis, die die Schwellen und Abbruchkanten des Lebens puffert, kann in diesen Vitalismus integriert werden. Auch eine ökologische Ethik oder eine Beschwörung der Integrität des Lebens kann in diesen Rahmen eingepasst werden.
Ein großes Feld des Vitalismus ist die Wirtschaft. Die Idee und die Praxis eines entfesselten Kapitalismus hat eine schlichte Einsicht zur Grundlage: Regeln sind Fesseln. Ebenso Praktiken der Rücksichtnahme und der Solidarität. Nur eine ungehemmte Entfaltung der Kräfte und eine offene Durchsetzung der Interessen führen zur Entwicklung einer leistungsfähigen Wirtschaft und so zum Wohl der Menschen. Der Starke darf sich durchsetzen. Der Schwache darf zugrunde gehen. Genau dies wird vom Vitalismus als Lebensgesetz beschworen.
Vitalisten feiern radikale Diesseitigkeit und sind auf ihre Weise »der Erde treu«. Nicht zu vergessen: Vitalisten sind auch noch im Sterben Helden, die selbstbestimmt und frei sein wollen, im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte. Sie wollen ihr Leben in den Händen halten – auch noch im Tod als Handlung. Echte Männer fahren keinen Rollator, echte Frauen verlieren nicht die Kontrolle über ihren sozialen Nahbereich.
Selbstverständlich kann der Vitalismus auch in verfeinerten und »verpuppten« Formen auftreten. Die effektive Macht und Kraft der Selbstdurchsetzung kann sich hinter einer Selbststilisierung als einfaches oder gar multiples Opfer verbergen. Die Macht der Durchsetzung kann sich in einen vermeintlich fürsorgenden Paternalismus oder Maternalismus kleiden. Der Vitalismus kann sich unschuldig hinter Selbstverständlichkeiten und dem Common Sense verstecken: »Das ist doch so! Das machen wir immer so!« Der Vitalismus kann sich des Rechts bedienen, denn Rechte sind nichts anderes als legitime Interessen.
Als religiös-mythische Formation findet sich der Vitalismus mustergültig in den Gestalten der nordischen Religion. Über Filme, Kartenspiele, Festivals und andere Kommunikationsformen »sickert« die nordische Religion der Stärke, Ehre, der Fruchtbarkeit und des Stolzes, die der holländische Theologe Heiko Miskotte in den dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts in seinem Buch »Edda und Thora« so eindrücklich beschrieben hat, zunehmend in die Popularkultur der Gegenwart ein. Auch der Vitalismus kann sagen: Das Leben siegt! Aber welches? Und wie? Wann? Und wessen Leben?
In der Bundesrepublik sind Bahnhofsbuchhandlungen prägnante Orte des Neostoizismus, speziell die Sektionen zu Coaching, Selbsthilfe und Lebensberatung. Das schließt Universitätsbuchhandlungen nicht aus. In der Buchhandlung der Harvard University fand ich auf 30 Regalmetern ungefähr 1.300 Titel Beratungsliteratur. Diese Anzahl zeigt nicht nur einen Markt, sondern eine kulturelle Macht und Kraft.
Was ich Neostoizismus nennen möchte, findet sich in dem Bemühen, in einer mehr oder weniger chaotischen Welt wenigsten den Nahbereich einigermaßen unter Kontrolle zu bringen. Im Nahbereich kann es Ordnung, Ruhe, Selbstdisziplin und eine beherrschte Welt geben. In dem sozialen Nahbereich und seinen analogen oder digitalen Netzwerken leben geordnete Vertrauensbeziehungen. Hier kann es Gemütlichkeit in einer ungemütlichen Welt geben. Dieser Nahbereich ist gestaltbar, einrichtbar und im pointierten Sinne domestizierbar. Anders als im klassischen Stoizismus ist die »Welt da draußen« nicht mehr durch einen Logos geordnet, sondern eben chaotisch.
Dieser Nahbereich ist der Ort vernünftiger Klugheitskalküle. Die Aufmerksamkeit entkoppelt sich und sucht Distanz, wird auf die Sorge um das eigene Leben gelenkt. Darum kann sich der Neostoizismus als Bewährungsraum für Selbstverantwortung anbieten. Wichtig ist nur die Grenzziehung: Der Kälte draußen muss die gemütliche Wärme innen entsprechen. Innen ist der Raum, um sich selbst zu finden. Die moralischen Konflikte und die Gerechtigkeitssuche draußen werden durch die Frage nach dem Schönen gegenüber dem Hässlichen ersetzt. Der Mikrokosmos spiegelt dann eine Ordnung, die dem weiteren Kosmos abgeht. Achtsamkeit auf das eigene Leben und die nahen Umgebungen ist dann gefragt. Dieses Feiern der Kleinräumigkeit kann selbstverständlich mit Instagram, Twitter, Facebook und anderen Social Media medial und imaginär erweitert werden, aber es bleibt das Feiern des eigenen, bewältigbaren Lebens.
Anders als bei den klassischen Stoikern ist nicht die Emotionslosigkeit das Ziel, sondern die kontrollierte Ekstase. Nicht zu viel Empörung und nicht zu viel Tumult! Und: eine gute Work-Life-Balance! Sich in der Ruhe finden (Anselm Grün). Achtsamkeit üben!
Es muss nicht die IKEA-Gemütlichkeit sein. Für Technikbegeisterte gibt es die kleine Gegenwelt, in der die großen Technologiegiganten machen mögen, was sie wollen – solange der überschaubare Bereich der kleinen Gadgets und die smart-home-gesteuerte Heizung genug Wärme verbreiten.
Dieser kontrollierte Raum ist der Raum, in dem in Partnerschaften Liebe praktiziert und erfahren werden kann – so die mächtige Idee und bruchstückhafte Erfahrung. Es ist der Raum der Freundschaften, der Solidarität und des geteilten Lebens. Mit Weisheits- und Beratungsliteratur auf dem Regal, Klugheitskalkülen im Kopf und warmem Gemüt wird der Nahbereich zu einem Ort guten Lebens. Zu allen Zeiten des Christentums war der Stoizismus eine mächtige Alternative zum Christentum. Nicht wenige Theologien haben versucht, den Grundsatz einzuholen: »Keep calm and go on!« Die Grenze zwischen dem Glauben an eine göttliche Vorsehung für die eigene Kleinraumbewirtschaftung und dem Stoizismus war immer sehr porös.
Für die Welt jenseits der Familie, der Freunde und des Nahbereichs wird der Neostoizismus vielfach auch mit einer tragischen Weltsicht kombiniert. Hier neigt der Neostoizismus zum Fatalismus. Zu tief ist dann die Kluft zwischen der medial wahrgenommenen Not und den realen Handlungsmöglichkeiten. Der Dramatisierung der Bilder entspricht dann eine routinierte Distanzierung von ihnen – weil eben die weitere Welt doch eher einer Tragödie entspricht. Für diese tragische Weltsicht ist auch durch alle Sozialtechnologie kein echter moralischer Fortschritt zu erreichen. Die Konfliktlinien zwischen den Kräften bleiben immer die gleichen. Der Tragiker sieht deutlich: Alle Katastrophen des 20. Jahrhunderts waren dem Anspruch nach Weltverbesserungsprojekte, die in Wahrheit von Anfang an zum Gegenteil führten. Die Welt ist stets gefährdet, nicht nur durch die Bösen, sondern auch durch die, die sich in der jeweiligen Situation für die Guten halten. Dem nie endenden Schmerz und dem Terror dieser Welt kann daher nur durch den Aufbau einer kleinen Gegenwelt entkommen werden. Für den Tragiker gibt es nichts zu retten. Der Pessimismus der Tragik ist dann die andere Seite des kleinen Glücks. Konsequent zu Ende gedacht, mündet diese Haltung in ein »Lob des Fatalismus« (so der programmatische Titel des Buches des Theologen und Journalisten Matthias Drobinski).
Zu hoffen, gehört zum Menschsein. Auch dann, wenn zu hoffen eine Bestimmung der Existenz des Menschen ist, ist offen, ob die Hoffnung eine großräumig kulturell prägende Kraft ist. Trotz der Gefahren durch das atomare Wettrüsten und der damit verbundenen apokalyptischen Szenarien war die Nachkriegszeit und waren dann die Jahre »nach 68« von einer breiten gesellschaftlichen Hoffnung auf eine wirtschaftliche, soziale, kulturelle und nicht zuletzt eine humanitäre Entwicklung geprägt.
Die Utopien dieser Jahre verglimmen. Spätestens nach 9/11 liegt über allen Aufbrüchen ein Schatten. Die ökologische Krise lässt zunehmend von Utopien auf das Gegenteil umstellen. Hoffnungen richten sich nicht mehr auf Utopien, sondern auf das Verhindern von Dystopien, von Katastrophen. Die Hoffnungen auf eine handlungsfähige Weltgemeinschaft, eingeschrieben in die UNO und in internationale Vertragswerke, zerschellt immer wieder an den Klippen der Selbstdurchsetzung einzelner Weltmächte, an Interessenskonflikten und Korruption. Entwicklungsutopien, mächtig in den Jahrzehnten nach dem Ende des Kolonialismus, sind der Suche nach dem irgendwie Durchkommen gewichen. Flüchtlingsströme zeigen nicht zuletzt ein Sterben der Entwicklungshoffnung in den Heimatländern an.