Gottes Umzug ins Ich - Malte Nelles - E-Book

Gottes Umzug ins Ich E-Book

Malte Nelles

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Beschreibung

Gott ist nicht tot. Er ist umgezogen ins menschliche Ich. Die Folge hiervon ist die grundsätzliche psychische Überforderung des modernen Menschen, die ihren Ausdruck im drastischen Anstieg seelischen Leidens in der heutigen Zeit findet. Die gängige klinische Psychologie wird dem modernen Phänomen der psychischen Volkskrankheiten nicht gerecht, wenn sie deren Ursachen ausschließlich in der persönlichen Lebensgeschichte des Patienten sucht. Es sind unser kulturelles Erbe und der diesem entstammende Geist unserer Zeit, die das seelische Wohl und Leid des Einzelnen maßgeblich mitbestimmen. In diesem Buch geht Malte Nelles tieferen historischen und kulturellen Gründen für die heutige Situation des Menschen nach und versucht, nicht nur eine neue Perspektive für die Psychologie zu entwickeln, sondern ebenso Inspiration für persönliche Lebensfragen zu geben. Der Gottmensch, der wir geworden sind, ist neurotisch und damit reif für eine Therapie. In diesem Buch erzählt er seine Geschichte.

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EUROPAVERLAG

MALTE NELLES

GOTTES UMZUG INS ICH

EINE TIEFENPSYCHOLOGIE DES MODERNEN MENSCHEN

EUROPAVERLAG

1. eBook-Ausgabe 2023

© 2023 Europa Verlag in der Europa Verlage GmbH, München

Umschlaggestaltung und Motiv: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich

Redaktion: Franz Leipold

Layout & Satz: Robert Gigler, München

Konvertierung: Bookwire

ePub-ISBN: 978-3-95890-567-2

Das eBook einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Der Nutzer verpflichtet sich, die Urheberrechte anzuerkennen und einzuhalten.

Alle Rechte vorbehalten.

www.europa-verlag.com

Für meine Familie

Inhalt

Prolog: Ein Junge, der Gott suchte

Einleitung: Wo Gott war, werde Ich

Der Tod Gottes

Die humanistische Religion und das neue Paradies

Die kranke Seele des modernen Menschen

Die moderne Psychologie, eine Geisteslehre ohne Geist

Gottes Umzug ins Ich, die Neurose des modernen Menschen

Psychologie und Psychotherapie zwischen Natur und Geist

Psychologie als Geisteslehre

Wissenschaft sein oder die Neurose der Tiefenpsychologie

Seelisches Leiden an der Kultur

Das Sprechen der Phänomene

Der moderne Mensch, ein Kind Gottes

Die Veränderung der Wirklichkeit

Gottes Werk, die moderne Welt

Gottes Name: Ich bin ich

Gut und Böse – die Geburt des Absoluten

Die Religion der Totalisierung und Verinnerlichung

Erlösung oder die Erfindung der Zeit als Richtung

Machet euch die Erde untertan

Die Fleischwerdung des Geistes

Am Anfang war die Sünde

Gottes Umzug in Mensch und Welt oder die Erbauung des modernen Menschen

Wir sind alle Christen

Die neuzeitliche Prophetie der Selbstwirksamkeit

»Hier stehe ich« – Luthers Protest und Revolution

Die Religion der Moderne

Der moderne Gottmensch – Vernunft und die Erfindung des freien Willens

Der moderne Gottmensch – Gefühl und die Erfindung des Inneren

Die Verlegung des Paradieses ins Diesseits

Die Neurose des Gottmenschen

Das Leiden im Paradies und die Geistlosigkeit der Psychologie

Der Konflikt des Gottmenschen – Wirklichkeit und Ideal

Natur und Geist oder Entwicklungspsychologie und Neurose

Der geistesgeschichtliche Ursprung der Neurose

»Ich kann nicht anders« – die Neurose als Schatten der Freiheit

Die neurotische Fleischwerdung Gottes

Der Umzug des absoluten Gottes ins Innere

Der Geist im Individuum

Neurosen im individuellen Leben und in der therapeutischen Praxis

Vom Himmel auf die Erde – die Neurose in der Psychotherapie

Der Beginn der Neurose – ein Trauma?

Der Beginn der Neurose – eine Enttäuschung?

Die Reise auf die Erde oder psychologische Initiation in die moderne Wirklichkeit

Vom Absoluten zum Relativen (Exkurs in die moderne Kunst)

Das Ende der Zeit als Richtung

Vom Gefühl zur psychologischen Wahrnehmung

Die kindlichen Wurzeln der Neurose

Tiefenpsychologische Praxis: Ich und das andere in mir

Gottes Auszug aus dem Ich – die Psychotherapie des Gottmenschen

Der Gott der Unverfügbarkeit oder Gott ist, wo Ich endet

Die Differenz von Ich und Seele oder tiefenpsychologische Psychotherapie

Die Fiktion des wahren Selbst und religiöse Demut

Das Nichts oder vom Osten lernen?

Depression: der Zusammenbruch des Machers

Der Gott der Liebe

Göttliche Liebe und moderne Tristesse

Die Rettung der Erde

Die Versöhnung mit der eigenen Geschichte

Gottes Leben im Geist und der Aufbruch ins digitale Leben

Epilog: Ein neurotischer Mann

Danksagung

Anmerkungen

Der Autor

»Gott wird es mir verzeihen, das ist sein Beruf.«

Heinrich Heines angeblich letzte Worte

Trigger-Warning

In diesem Buch werden Gefühle verletzt, und es kommen jede Menge Mikro-, manchmal auch Makroaggressionen des Autors zum Ausdruck. Dies soll der Fall sein, da es in diesem Buch um Gefühle geht, genauer um die nicht selten neurotischen Gefühle des modernen Menschen. Auch die Inanspruchnahme der Traumatheorie, die unter dem Stichwort »Sensitivity Reading« in der Zensur nicht nur von Fachliteratur, sondern auch von Romanen eingesetzt wird, wird im Folgenden mit psychologischen Argumenten zurückgewiesen. Eine tiefenpsychologische Psychotherapie des zeitgenössischen Menschen, die in diesem Buch versucht wird, kann und darf nicht vor der abwehrenden Befindlichkeit des modernen Ich zurückschrecken, sondern ist der Bewusstwerdung des Geistes unserer Zeit verpflichtet.

Malte Nelles

Prolog:Ein Junge, der Gott suchte

Es war drei Wochen nach meinem 17. Geburtstag. Nach einer durchzechten Nacht, dem Genuss einer »Blubber«, die tragischerweise, weil es nichts anderes gab, mit Orangensaft gefüllt worden war, und einer dümmlichen Aktion, für die ich mich lange geschämt habe, wachte ich am nächsten Morgen auf und wusste, so kann es nicht weitergehen. Ich spielte zu der Zeit intensiv Basketball, und meine Mannschaft, in der ich eine nicht unwesentliche Rolle innehatte, hatte es bereits geschafft, aus der untersten Kreisliga in die zweithöchste Jugendliga aufzusteigen und dort um den Titel zu spielen. Zudem sollte ich demnächst auch für die erste Herrenmannschaft unseres Vereins antreten. Dies waren wichtige Wegmarken für mich.

Am betreffenden Morgen stand ich auf in tiefer Selbstverachtung für den dümmlichen Rausch, den ich mir geleistet hatte. Zwei Stunden später kam ein guter Freund vorbei. Noch fast im Vollrausch stemmte ich mit ihm Gewichte. Ich ging über jeden inneren Widerstand und fraß die Eisen, bis ich so zitterte, dass ich kaum ein Glas Wasser halten konnte. Mein Freund ging nach Hause, und ich begab mich auf den Hof, auf dem mein Basketballkorb stand, eine einfache Apparatur aus dem Versandkatalog, die mir mein tägliches Wurftraining ermöglichte. In einer selbst entworfenen Tabelle trug ich mit einem Kugelschreiber meine Treffer und Fehlwürfe ein. Ich hatte mir täglich ein strenges Programm von ca. 500 Würfen von verschiedenen, genau festgelegten Positionen auferlegt. Wenn ich bestimmte Trefferquoten nicht erreicht hatte, gab es ein »Strafprogramm«, z. B. die Auflage, einhundert Dreipunktewürfe zu treffen, bevor ich mich setzen und etwas trinken durfte.

Am Nachmittag ging ich auf den Basketballplatz im Ort. Niemand war da. Ich daddelte etwas mit dem Ball. Irgendwann fiel mir etwas Komisches an meiner Atmung auf. Ich fühlte einen kalten, frischen, aber auch subtilen Schmerz beim Inhalieren. Wenn ich tiefer einatmete, wurde der Schmerz stärker. Das Atemgefühl kam mir fremd vor, aber ich spulte weiter mein Programm ab. Am nächsten Tag und an den darauffolgenden wurde es schlimmer. Ein Aussetzen mit dem Training kam nicht infrage, aber nach drei Wochen Krankheit und beträchtlicher Verschlechterung beugte ich mich dem Drängen meiner Eltern und suchte einen Arzt auf. Dieser machte meinem Vater bei der Konsultation Vorwürfe, da meine Atemwege komplett vereitert seien, ich Fieber hätte und man nicht auf mich aufgepasst hätte. Alles ging so weiter. Ich wurde kränker und kränker, Diagnosen wurden gestellt und verworfen, die besten Ärzte wie auch alternativen Heiler und Naturmediziner konsultiert. Ich machte nun lange Pausen, weil es nicht mehr ging, spielte dann wieder. Ich schonte mich über Monate im Bett und soff dann in einer Nacht alle Rekonvaleszenz hinweg, bis ich wieder Schleim und Blut hustete, mich vor Atemschmerzen übergab und einfach nur dalag, auf meinem Kinderzimmerbett, dem Platz, der nun für viele Jahre das neue ungewollte Zentrum meines Lebens wurde.

Äußerlich ist meine Leidensgeschichte relativ einfach zu erzählen. Der Junge hat es einfach übertrieben. Er hat sein Immunsystem mit seinem Training heruntergewirtschaftet, hat sich zu einer falschen Zeit ein sehr unvorteilhaftes Bakterium eingefangen, hat die Infektion fürchterlich verschleppt, und sein Immunsystem hat das Gleichgewicht verloren. Chronische Müdigkeit, Infektanfälligkeit und ein bleibender Schaden der Atemwege bestimmten von nun an das Geschehen in seinem Körper. Spätestens seit »Long COVID« wissen wir mehr über derlei Fälle, die das schulmedizinische Denken und die üblichen Maßnahmen der medikamentösen Therapie überfordern.

Diese körperlich-materielle Geschichte war für viele Jahre die einzige, die für mich Geltung hatte. Auch der perspektivische Weg, den sie in sich trug, ein rettendes Medikament, ein operativer Eingriff oder die für mich erlösende Diagnose einer fürchterlichen Grunderkrankung (»vielleicht habe ich ja Krebs o. Ä.«) waren das Einzige, in das ich Hoffnung setzte. Eine andere Deutung der Zusammenhänge, eine »innere«, »geistige«, »seelische«, »psychologische« Geschichte, so etwas gab es für mich in der Zeit nicht. Für solch weibisches Geschwätz und esoterisches Gewese hatte ich damals nicht mehr als tiefste Verachtung übrig. Lieber auf ewig verdammt sein, als mich auf eine solche Scheiße einzulassen.

Dieses Buch ist das Resultat davon, dass ich mich am Ende doch mit all dem befasst habe und befassen musste, wovon ich nichts wissen wollte. Es ist aber auch ein Zeugnis über all das, was ich auf dem »Weg nach innen«, dem Hinabtauchen in meine unbewusste Beziehungs- und Innenwelt, die die mehr oder minder konventionelle Psychologie anbietet, auch nicht gefunden habe. Ich kam aus einem Elternhaus, das durch so manche Eigenheiten geprägt, in meinem Erleben am Ende aber von großer Liebe durchdrungen war und dem Wunsch und der Not, diese Liebe irgendwie zu erhalten. Ich habe, in diesem Sinne, einen »normalen« Familienhintergrund, wie er in eigener Ausprägung, aber ähnlichen substanziellen Fragen von Millionen Heranwachsenden meiner Generation durchlebt wurde. Die gängige klinische psychologische Erklärung meiner Probleme aus diesem familiären Hintergrund, meiner Biografie und meinen Kindheitserlebnissen kam und kommt mir noch heute verkürzt und nicht hinreichend vor für die Absolutheit, mit der ich mich und meinen Körper traktiert habe.

Mein Eifer, meine Rigorosität, meine Sehnsucht nach der Erfahrung des Absoluten, die mich ritten und in meine Seele strömten und jede vernünftige Einsicht in mir zermahlten, mein neurotischer Größenwahn, mich selbst und meinen Körper durch mein Training neu erschaffen zu wollen, die vollkommene Weigerung, aus meinen Erfahrungen zu lernen – sollen meine Eltern, meine Lebensgeschichte oder die gemütliche Kindheit auf dem Land, die ich verlebt habe, für all dies verantwortlich sein? Meine »Krankheit«, so nannte ich sie für viele Jahre, war nicht nur einfaches Kind der Umstände. Sie war ein eigenes Werk, ein Drama, an dem ich litt und das ich gleichzeitig selbst täglich von Neuem inszenierte. Mir ging es um das Eine, Große, Ganze. Im Spiel mit dem Ball und auch abseits davon im Leben suchte ich nur dies. In einem Alter, in dem meine Großväter an der Front im Schützengraben lagen, suchte ich auf dem Platz meine existenzielle Begegnung mit dem Schicksal und dem Einswerden mit der Schlacht des Spiels. Wenn noch irgendjemand von ihm gewusst hätte, hätte man auch sagen können: Ich suchte Gott. Doch er war nicht da. Kein Vaterland, keine Familie war zu verteidigen, keine Prinzessin musste gerettet werden. Alles Heroische war längst vorbei, nur noch eine leere geisteshistorische Form, durch die ich mit meinem Furor stolperte. Keine Heiligkeit lag mehr über dem Leben 1999, als all dies begann.

In meiner heutigen psychotherapeutischen Praxis, die sich nicht ohne die damaligen Geschehnisse entwickelt hätte, mache ich die Erfahrung, dass viele Menschen in den Symptomen, an denen sie leiden, »Gott suchen«. Diese Formulierung legt die vielleicht vermutete Befürchtung nahe, dass die Heilung nun darin läge, »ihn« zu finden. Nichts stünde mir ferner als eine religiöse Heilsbotschaft. Die Heilung von der Neurose, der »metaphysischen Krankheit« (Wolfgang Giegerich) liegt darin, Gottes Tod vollumfänglich in die Seele aufzunehmen. Erst durch diesen beherzten Schritt ins moderne Bewusstsein öffnet sich für manchen Menschen ein neuer spiritueller Bezug zum Göttlichen, dem unverfügbaren Wirken, das unserem Leben jenseits des Wollens unseres Ichs innewohnt. Meiner Neurose lag ihr eigenes Streben nach dem Absoluten inne. Heute begegnen mir viele vollkommen unreligiöse Menschen, in deren seelischen Symptomen, Erleben und Denken logisch der absolute Gott weilt. Wir suchen das Ganze, Eine, Absolute in der Zeit, in der nichts Letztes mehr gilt. Diese geisteshistorische Konstellation ist der Startpunkt einer Tiefenpsychologie des modernen Menschen.

Einleitung:Wo Gott war, werde Ich

»Es klingt nicht nur wie ein Märchen, es ist direkt die Erfüllung […] aller Märchenwünsche, was der Mensch durch seine Wissenschaft und Technik auf dieser Erde hergestellt hat, in der er zuerst als ein schwaches Tierwesen auftrat und in die jedes Individuum seiner Art wiederum als hilfloser Säugling […] eintreten muß. All diesen Besitz darf er als Kulturerwerb ansprechen. Er hatte sich seit langen Zeiten eine Idealvorstellung von Allmacht und Allwissenheit gebildet, die er in seinen Göttern verkörperte. Ihnen schrieb er alles zu, was seinen Wünschen unerreichbar schien – oder ihm verboten war. Man darf also sagen, diese Götter waren Kulturideale. Nun hat er sich der Erreichung dieses Ideals sehr angenähert, ist beinahe selbst ein Gott geworden.«1

Sigmund Freud

»Gerufen oder nicht gerufen, Gott wird da sein.«

Inschrift auf Carl Gustav Jungs Grabstein

Der Tod Gottes

Wer bestimmt, was in meinem Leben passiert? Noch vor hundert Jahren hätten viele Menschen intuitiv »Gott« geantwortet. Heute lautet die Antwort: »Ich«. Der einstmals Allmächtige in Bezug auf die großen Fragen meines Lebens bin nun ich.

Die Geschichte des modernen Menschen ist die des großen Gewinns der Freiheit: Freiheit von den Fesseln der Bevormundung durch Herrschende, Kirche und Tradition. Dem modernen Zeitalter liegt das mythische Versprechen zugrunde, dass das persönliche Leben nicht davon entschieden wird, wo und von wem wir geboren werden, sondern dass wir uns von unserer Herkunft lösen können und die Chance haben, zu jenem einzigartigen Wesen zu werden, das wir sind. Als moderne Menschen entscheiden wir selbst, wohin der Weg gehen soll.

Diesen Gewinn an Freiheit bezahlen wir mit einem Verlust: Im sicheren Bett der Tradition, die uns sagte, was richtig ist und wer wir sind, können wir nicht mehr ruhen. Die Wiederholung dessen, was gestern stimmte, ist in einer Welt, deren erste Charaktereigenschaft in ihrer fortwährenden Veränderung liegt, keine Option. Im Weltlichen haben wir unsere traditionelle Heimat unwiderruflich verlassen. Im Spirituellen haben wir Gott verloren. Der Vater, der einst schützend seine Hand über unser Leben hielt, von dem wir kamen und zu dem wir zurückkehrten, ist nicht mehr da. Übrig sind wir.

»Gott ist tot«, erkannte Friedrich Nietzsche prophetisch zur Mitte des 19. Jahrhunderts. Nietzsches zur damaligen Zeit noch ungeheuerlicher Satz ist für viele moderne Menschen zur Wahrheit geworden. Wir glauben heute nicht mehr an Gott und das, was in der Heiligen Schrift über ihn berichtet wird, sondern an die Befunde der Wissenschaft. Statt auf Gottes Willen zu vertrauen, sind wir aufgerufen, die Angelegenheiten in unserem Leben selbst in die Hand zu nehmen: persönlich in unserem Leben oder gemeinsam als Kollektiv bei Fragen wie der Klimakrise oder dem Umgang mit dem Coronavirus.

Die humanistische Religion und das neue Paradies

Den Preis des Gottestodes hat der Mensch gezahlt, da die Moderne ein neues Heilsversprechen gab. Sie hat den christlichen Mythos von der Erlösung von allem Leid durch das ewige Leben nach dem Tod ersetzt durch die Vision, das Paradies bereits zu Lebzeiten zu verwirklichen. Warum lebenslang warten und glauben, wenn wir eigenmächtig handeln können? Die Erlösung von Schmerz, Krankheit, einem schicksalhaften frühen Tod und willkürliche Bevormundung: Die Moderne gibt sich als die Religion, die dem Menschen das Wohl im Diesseits verspricht. Es war und ist dieser Glaube, gepaart mit der Erfahrung von den tatsächlich schier unglaublichen Wundern der modernen Wissenschaft, der die kirchliche Autorität ablöste durch den Glauben an den Menschen. Dass Gott auf diese Weise in der Moderne Mensch wurde, ist eine geschichtliche Entwicklung, in der sich ein tiefes Streben der christlichen Kultur offenbart. Dass die wissenschaftlich-humanistisch orientierte moderne Welt auf dem Fundament jener Kultur entstand, die man das christliche Abendland nannte, findet seine religiöse Entsprechung im Mythos von der Menschwerdung Gottes in Jesus.

Nicht weniges der modernen Prophezeiung ist bereits wahr geworden: Wir leben heute in einem Paradies, das sich Menschen in anderen Zeiten nicht hätten erträumen können. Nie war die Lebenserwartung höher, nie die Kindersterblichkeit niedriger; in Bezug auf die Ernährung leiden wir viel stärker unter den Problemen eines Zuviel statt an jenen des altbekannten Zuwenig. Dies gilt im 21. Jahrhundert nicht mehr nur exklusiv im Westen, sondern auch bereits für eine beträchtliche Anzahl von Menschen in Asien und mit größeren Abstrichen auch in Südamerika und Afrika. Selbst den Ärmsten, die das allgemeine Bild in den größten Teilen der Welt weiterhin prägen, geht es physisch zumindest besser als in allen anderen Epochen der Menschheitsgeschichte. Obwohl die Realität moderner Lebensverhältnisse dort noch weit entfernt ist, verfangen der Glaube daran und die Sehnsucht danach auch im globalen »Süden«.

Die Verheißung des modernen Lebens endet nicht damit, menschliche Grundbedürfnisse nach wirtschaftlicher Sicherheit und besserem Schutz vor Krankheiten zu verwirklichen. Ging es in anderen Zeiten darum, ein gottgefälliges Leben zu führen, seine vorgegebene Rolle als Frau oder Mann mit dem eigenen Einsatz zu füllen, so dient das heutige Leben der Erfüllung der Freiheit, das zu werden, was wir werden möchten und werden können. Und haben wir dabei nicht unglaubliche Fortschritte gegenüber unseren Vorfahren erzielt? Ein Blick auf unsere Herrschenden zeigt den Wandel: Ein schwarzer Mann als amerikanischer Präsident? Eine Frau, die 16 Jahre Deutschland regiert? Homosexuelle Minister? Weibliche Regierungschefs mit kleinen Kindern? Das ist alles nicht nur möglich, sondern bereits Zeitgeschichte.

Sie alle sind die Propheten des modernen Mythos, der seinen Ursprung in Thomas Jeffersons Streben nach Glück (»Pursuit of Happiness«) findet. »Werde, wer du sein willst« und der »American Dream« sind die Heilsbotschaften, die große Teile der Welt bereits missioniert haben und die weiter um die Seelen der Menschen buhlen. Sie haben bereits zwei Weltkriege, den Kalten Krieg, Wirtschaftskrisen, Pandemien, den islamischen Terrorismus und so viel mehr an Rückschlägen überlebt. Mit dem Klimawandel und der industriellen Erdverschmutzung, die ein direktes Resultat des modernen Lebens sind, steht die nächste Herausforderung ins Haus, aber dass der westliche Individualismus und das kapitalistische Wirtschaftssystem hierdurch grundsätzlich enden werden, ist nicht abzusehen (auch wenn dies politisch selbstverständlich gefordert wird). Im Äußeren erweist sich die humanistische Religion (Yuval Harari) als robust. Wissenschaftlicher Fortschritt und der Eintritt für eine »liberale Weltordnung« (ergo eine Weltordnung, die unseren Werten und Standards entspricht) gelten weiterhin als Universalmedizin für unsere kollektiven Probleme.

Die kranke Seele des modernen Menschen

Doch der vordergründige Siegeszug der modernen Lebensweise wirft einen dunklen Schatten. Wir leben in der besten aller Welten, das persönliche Glück ist die religiöse Währung unserer Zeit, doch noch nie gab es mehr Menschen, die an ihrem Glück verzweifelten. Die Depression ist die neue Volkskrankheit der modernen Welt. Sie ist die Krankheit der inneren, subjektiven Unglückserfahrung des modernen Ichs in einer Welt und Zeit, die das Gegenteil verspricht. Und sie ist nur ein Ausdruck des Seelenleids des modernen Menschen, dessen pandemisches Aufkommen schon Sigmund Freud und Carl Gustav Jung zu Beginn des 20. Jahrhunderts bezeugten. Das rastlose Grundgefühl des modernen Ichs offenbart sich in unseren Alltagsphänomenen: dem Tinnitus in den Ohren, wenn man kurz still wird; dem zwanghaften Griff nach dem Handy, auch wenn man es erst vor zwanzig Sekunden in der Hand hatte; dem Gefühl, dauerhaft zu suchen und nie zu finden, was wir ersehnen. Die humanistische Religion löst ihre Heilsversprechen für viele nicht ein. Statt Erlösung durch die neue Freiheit regiert der Stress, der neuronale Zustand des modernen Menschen schlechthin, die Seele. Anstelle äußerer Zwänge werden wir von einem inneren Druck durch ein Leben gehetzt, das uns stets vorauseilt und seine Regeln fortwährend ändert.

Im klinischen Bild ergeben die modernen Krankheiten des Inneren ein wildes Potpourri: psychosomatische Rückenleiden, Borderline-Störungen, sogenannte Aufmerksamkeitsstörungen, aufgrund derer Kleinkinder Substanzen verabreicht bekommen, die andere als Drogen nehmen, Süchte nach Zucker, Fett, Schlankheit, Fitnesstraining, Konsum oder Sex und mehr Selbstmorde als Verkehrstote in der vermeintlich besten aller Welten. Wo sich der Blick auf das einzelne Phänomen in den oftmals seltsamen, irrationalen Symptomen psychischer Erkrankungen zu verlieren droht, zeichnet die Schau des Ganzen ein unbestechliches Bild: Der moderne Mensch leidet an einer kranken Seele.

Es ist paradox: Wir leben, aus den Tiefen der Menschheitsgeschichte betrachtet, im Land, in dem Milch und Honig fließen. Doch mit jedem großen Entwicklungsschritt, den die moderne Medizin in der Behandlung physischer Leiden vollzieht, entstehen neue, tückischere Leiden, die weniger den Körper und immer stärker die Psyche betreffen. Es handelt sich hierbei um »Krankheiten«, die unser naturwissenschaftliches Weltbild auf den Kopf stellen, denn die Ursachen psychischer Symptome lassen sich nicht dingfest machen und verändern sich innerhalb weniger Dekaden. Von der Hysterie und Neurasthenie, die die frühen Psychoanalytiker behandelt haben, über Narzissmus bis hin zur Magersucht und Burn-out-Depression unserer Zeit. Jede Generation hat ihre eigenen psychischen Leiden. Die Krankheiten und Befindlichkeiten der Seele wandeln sich mit den Wandlungen des Zeitgeists. Sie sind die Kinder des Geistes, in dem wir leben.

Die moderne Psychologie, eine Geisteslehre ohne Geist

Wie ist dies möglich in der Zeit, die das persönliche Glück verheißt? Wie kommt es, dass die seelischen Leiden just zunehmen, je mehr wir das Leben ausdehnen und die physische Gesundheit verbessern? Antworten auf den Seelenzustand des modernen Menschen müsste die Psychologie geben. Diese ist, zumindest ihrem begrifflichen Ursprung nach, die Lehre vom Geist bzw. von der Seele.

Doch in ihrer wissenschaftlichen Form sind die klinische Psychologie und die auf ihr aufbauende Psychotherapie (die im deutschen Gesundheitssystem unter dem in die Irre führenden Titel »Verhaltenstherapie«2 firmiert) unhistorisch. Sie interessieren sich nicht für den Zeitgeist und die kulturellen Grundlagen des Seelischen, da dies nicht zu ihrer Forschungsmethode passt. Sie betrachten den Menschen mit den Mitteln der Naturwissenschaft: Statistische Modelle, neurowissenschaftliche Befunde und Wirksamkeitsforschung sind ihr Goldstandard. Das, was dem Menschen in der Psychotherapie zugemutet wird, eine Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte und den Wurzeln der persönlichen Existenz, vollzieht die akademische Psychologie nicht selbst. Die Frage, warum das Seelenleid ausgerechnet in der historischen Phase der Moderne nie gekannte Formen annimmt, wird nicht gestellt. Man interessiert sich für die über Jahrtausende konstante Biologie von Homo sapiens im Sinne seiner frühkindlichen Bindungsmuster, der neuronalen Struktur des Gehirns und entwicklungspsychologischer Prägungen. Das Tierwesen Mensch ist der Fokus. Das Kulturwesen kommt in der Theorie der akademischen Psychologie nicht oder nur am Rande vor.

Neben dieser an naturwissenschaftlichen Standards orientierten Psychologie gibt es eine zweite Richtung innerhalb der klinischen Psychologie, die zwar akademisch heute keine große Rolle mehr spielen darf, aber das öffentliche Bild der Psychologie weiterhin prägt. Die Tiefenpsychologie, also jene Lehre vom Inneren des Menschen, die durch Sigmund Freud begründet wurde, prägte das Denken über den Menschen im 20. Jahrhundert wie kaum eine andere Sichtweise. In der Geschichte der Tiefenpsychologie gibt es eine lange Tradition, die den Menschen nicht nur im Sinne seiner Gegebenheit als Kind seiner Eltern, sondern auch als Kind seiner jeweiligen Kultur und Zeit betrachtet hat. Neben Sigmund Freud, Erich Fromm und Wilhelm Reich hat vor allem Carl Gustav Jung daran gearbeitet, ein Verständnis der Psyche zu entwickeln, das sich nicht auf das moderne Individuum beschränkt. Jung, der Sohn eines Pfarrers, rang sein gesamtes Leben mit dem seelischen Erbe des Christentums. Er entwickelte Konzepte eines »kollektiven Unbewussten« und einer »objektiven Psyche« im Sinne eines uns kulturell vererbten Geistes, der den Rahmen für unser seelisches Erleben absteckt und in vielerlei psychischen Symptomen zum Vorschein kommt. Sein Erbe einer kulturell begründeten Psychologie wird heute – von der allgemeinen Öffentlichkeit und auch der breiteren psychoanalytischen Community weitgehend nicht zur Kenntnis genommen – von seinem »Schüler« Wolfgang Giegerich3 weitergeführt. Das Denken Giegerichs, der die Psychologie als geschichtliche, philosophische Disziplin begründet, ist der Referenzrahmen dieses Buches. Es geht um den Versuch, Psychologie als eine Geisteswissenschaft zu betreiben und die seelische Konstitution des einzelnen Menschen als individuellen Ausdruck jenes kollektiven Geistes zu verstehen, in dem wir eingebettet leben, fühlen, denken und handeln.

Der heutige Mainstream der Tiefenpsychologie hat sich von der Perspektive entfernt, psychische Probleme von Individuen (auch) als Ausdruck einer jeweiligen Kultur und Zeit zu begreifen. In den heutigen Lehrbüchern4 konserviert man einige allgemeine Einsichten der alten Meister und entfernt alles Sperrige, das nicht ins heute geforderte wissenschaftliche Paradigma passt. Das Ziel liegt nun auch hier, wie in der naturwissenschaftlich begründeten Psychologie, darin, eine »manualorientierte« Psychotherapie zu entwickeln. Jede Störung bekommt ihre spezifische Therapie (per »Manual«) vorgegeben. Die einstmals als »wild« imaginierte Seele (Georg Groddecks Verständnis des »Es«) wird zu einem berechenbaren System weniger Faktoren zurechtgestutzt. Das Lebendige und Unverfügbare in der Seele und im Geist haben keinen Platz in der wissenschaftlichen Theorie. Das Ergebnis dieser Entwicklung: Man denkt und macht, auch wenn die Überschriften unterschiedlich sind, fast überall dasselbe. Wer sich in eine Psychotherapie begibt, spricht dort gemäß dem gängigen und sich jederzeit bestätigenden Vorurteil lange und ausgiebig über seine Kindheit. Man versucht in der Therapie herauszufinden, wie man die oder der geworden ist, die oder der man heute ist, von der Hoffnung getragen, hierbei den Schlüssel für die Symptome und Probleme der Gegenwart zu finden. Der Gegenstand des Interesses ist das Individuum im Bezugsfeld seiner nahen und wesentlichen Beziehungen, seiner Lebensgeschichte und heutigen Lebenssituation. Das »Ich« ist das Alpha und Omega in der Psychotherapie.

Damit gibt sich die heutige tiefenpsychologisch orientierte Psychotherapie historisch als das, was sie in ihrem vererbten Selbstbild zu erhellen meint: Sie ist sich ihrer Geschichte unbewusst, denn Psychologie, im allgemeinsten Sinne als Erforschung des Inneren des Menschen, ist selbst ein Resultat der psychologischen Einnistung Gottes im Individuum. Erst als die Menschen für Antworten nicht mehr nach oben blickten, richtete sich der Blick in das neue Mysterium des »Inneren« und hob damit die Tiefenpsychologie aus der Taufe. Die Tiefenpsychologie verdankt diesem Mysterium ihre Existenz, leidet jedoch mit diesem Erbe heute daran, dass sie keine »wissenschaftliche Grundlage« hat. Der Blick ins Innere findet keinen Boden, sondern mündet ins existenziell Bodenlose.

Eine Tiefenpsychologie, die ihren Namen ernst nimmt, kann keine Naturwissenschaft sein und werden, denn ihr Wesen ist die bodenlose Tiefe der Seele und des Geistes. Eine naturwissenschaftliche Perspektive kann nicht erklären, warum in den letzten hundert Jahren mehr und mehr seelische Leiden der Menschen auf der Bildfläche erschienen. Deren tiefere Ursachen erklären sich nicht allein aus dem Naturwesen, das der Mensch nach wie vor ist, denn die DNA des Menschen entspricht noch fast völlig unserem Vorfahren, der vor 100 000 Jahren im Schoß von Mutter Natur um sein Überleben rang. Unsere Probleme mit dem Leben und uns selbst müssen einen anderen Ursprung haben als die relativ stabile Biologie des Menschen, die die akademische Psychologie als Grundlage hat. Sie sind ein Resultat »der Welt, in der wir leben«.5 Eine Tiefenpsychologie im Sinne einer Geisteslehre des modernen Menschen ist nicht in unserer evolutionär relativ statischen Natur, sondern in unserer dynamischen Kultur zu suchen. Und im Zentrum unserer Kultur liegt ein archimedischer Punkt, um den der Geist für lange Zeiten kreiste: Gott.

Gottes Umzug ins Ich, die Neurose des modernen Menschen

Der christliche Gott war über fast zwei Jahrtausende Quelle und Mittelpunkt unserer Kultur. Lange Zeiten drehte sich nicht die Erde um ihn, sondern er drehte die Erde bzw. spannte das Firmament mit Sonne und Sternen auf. Auch wenn der moderne Mensch des Westens dies heute nicht mehr wahrhaben mag und auf die Autonomie seiner persönlichen Wahl pocht: Kulturell sind wir alle Christen, ob mit Taufe oder ohne. Der jüdisch-christliche Geist, der unsere Kultur, Werte, Erziehung, Wissenschaft und Seelen, kurzum das Bewusstsein und die Welt des abendländischen Menschen erschaffen hat, ist größer und älter als unser persönliches »Sein wollen, was wir sein möchten«. Dieser moderne Anspruch, sosehr er der Fremdbestimmung des institutionalisierten Christentums entgegensteht, muss in der Tiefe selbst ein entwachsenes Kind des christlichen Geistes sein, denn er ist historisch seinem Schoß entsprungen.

Wenn wir mit Gott in einem theologischen Minimalverständnis die Kraft meinen, die das Schicksal der Menschen bestimmt, ist er nicht, wie Nietzsche seinen Zarathustra ausrufen ließ, »tot«, sondern er lebt fort im Glauben des modernen Menschen, nun selbst Schöpfer seines Lebens zu sein. Der Mensch ist Gott geworden, mit all den Nebenwirkungen, die dieses Erbe mit sich bringt. Wir tragen das Schicksal des Allmächtigen auf unseren Schultern und hegen es in unseren inneren und äußeren Ansprüchen: Ein neues Virus bricht aus, und wir wollen die Kontrolle behalten um jeden Preis, kämpfen gegen den Tod und opfern unsere heiligsten Freiheitsrechte und Gleichheitsgrundsätze. Den Klimawandel, den wir durch unsere Lebensweise hervorgerufen haben, meinen wir zu unseren Bedingungen regulieren zu können. Mein Körper, meine Beziehungen, die Weise, wie man mich sieht: Unser gesamtes modernes Leben vollzieht sich unter dem unbewussten Anspruch, »Was ich will, werde Wirklichkeit«.

Das Seelenleid des modernen Menschen ist die Folge von Gottes Umzug ins Ich. Der Glaube an den Menschen bringt die Überforderung mit sich, an der immer mehr Menschen scheitern. Wir befinden uns als moderne Menschheit in einer Krise unseres kollektiven Geistes, in dem unser Selbstverständnis im Verhältnis zur Schöpfung und gegenüber uns selbst zur Disposition steht. Je stärker der Glaube an die Machbarkeit unserer Ansprüche und Wünsche ausufert, desto tiefer vollzieht sich der Fall in die deprimierende Einsicht, uns in unserem Spiel mit den Göttern zu verheben. Dass mit dem »Transhumanismus« bereits ein neues Zeitalter geschichtlich auf uns warten könnte, verdeutlicht, dass die Krise des Menschen und des Glaubens an ihn selbst grundsätzlicher Natur ist.

All dem begegnen wir in der psychotherapeutischen Praxis. Im Alltagsbewusstsein unseres Lebens ist der Mensch als der Herrscher über das weltliche Sein gesetzt. In der Tiefe der Seele jedoch ringt der heutige Mensch um den Verlust Gottes außerhalb seiner selbst. Es ist nicht dem Zufall geschuldet, dass sich historisch parallel mit Gottes Ersetzung durch den Menschen ein neues Leiden etabliert hat, das symptomatisch nicht selten religiöse Züge trägt: Die Neurose, deren Existenz sich die Entwicklung der Tiefenpsychologie verdankt, ist die logische Folge von Gottes Tod und dem spirituellen Nihilismus, den dieser hinterlässt.

Denn was geschieht in der neurotischen Symptomatik? Eine Angst ist allmächtig, der Zwang, sich die Hände zu waschen, unwiderstehlich, die Idee der eigenen Großartigkeit ist nicht und niemals verhandelbar. Neurosen erkennen wir in der psychotherapeutischen Praxis phänomenologisch daran, dass im Erleben der Betroffenen etwas absolut unmöglich, prinzipiell undenkbar oder kategorisch ausgeschlossen ist.6 Nichts ist in dem betreffenden Lebensbereich relativ, wie alles andere in der heutigen modernen Welt, in der man sich sogar seinen Gott und sein Geschlecht eigenmächtig aussuchen kann. Die neurotische Symptomatik liegt im subjektiv erlebten Ausgeliefertsein an das Absolute. Die Angst, der Zwang, die Größenidee werden nicht mehr relativ, als eine Möglichkeit unter vielen, erfahren, sondern regieren die Psyche der Betroffenen kategorisch, absolut und prinzipiell. »Ich würde gerne anders, aber ich kann nicht« ist das Kapitulationsgeständnis des neurotischen Patienten in der Praxis. Freuds weiterhin aktuelle Formel hierfür: Das »Ich« ist nicht »der Herr« im eigenen Haus. Das Absolute, einstmals das Attribut Gottes, findet sich nun logisch in den neurotischen Symptomen moderner Menschen. Es war Carl Gustav Jung, der diesen geisteshistorischen Zusammenhang in der psychologischen Einsicht fand, dass »die Götter Krankheiten geworden«7 sind. Die Neurose ist als kollektiv auftretendes Phänomen im modernen Menschen die geisteshistorisch logische Folge von Gottes Umzug ins Ich.

Und nicht nur in der therapeutischen Praxis ringen wir mit dem Ende des Absoluten und dem Eintritt in ein erkenntnistheoretisches Zeitalter, in dem alles möglich, aber nichts mehr sicher oder klar ist. »Was ist die Wahrheit?« ist die große Frage in Zeiten von Fake News und Faktencheckern, Verschwörungstheorien und Mainstream-Medien, Weltrettern und Wutbürgern. In einer Zeit, in der offiziell freies Denken und eigenmächtige Entscheidungsfreiheit gelten, gibt es nur noch wenige gesellschaftliche und politische Tatbestände, bei denen wir uns nicht zu einer »Wahrheit« und Weltanschauung bekennen müssten: Für oder gegen die Corona-Impfung, für oder gegen die Waffenlieferungen an die Ukraine, für oder gegen das woke »Erwachen«, politische Korrektheit und die damit einhergehenden Ansprüche. Ob man dies persönlich mag oder nicht, der Weltgeist ist seit einigen Jahren auf Spaltung gepolt. Ein immenser Druck zum richtigen Bekenntnis herrscht, die Wiederkehr der Moral regiert die öffentlichen Diskurse, persönliche Reinheit ist das Gebot der Stunde. Wir suchen absolute Wahrheit in der Zeit, in der wir die Wahrheit für relativ erklärt haben. Wir rufen nach dem Letztgültigen, nachdem das Ewige, Allgültige, Heiligste »unter unsern Messern verblutet«8 ist. Es war die Entwicklung des Internets, die uns in die tatsächliche Anarchie einer Öffentlichkeit initiiert hat (jeder kann [anonym] alles sagen und behaupten), die von den postmodernen Philosophen nur gedacht wurde (»Anything goes« und Lyotards »Ende der großen Erzählungen«). Der Bumerang der heutigen Postfaktizität ist eine kollektive Geistesaufgabe, die nun vor unserer Haustür liegt. Sie bedarf einer psychologischen Antwort auf der Höhe unserer Zeit anstatt den moralischen Geboten, die die Twitterblasen der zeitgenössischen Polis bestimmen.

Im Jahr 2015 hat der Universalhistoriker Yuval Harari einen Bestseller vorgelegt über »Homo Deus«9, den Gottmenschen, dessen Existenz er in einer baldigen Zukunft erwartet. Als Psychotherapeut befasse ich mich in meiner Arbeit mehr mit der Gegenwart und Geschichte des Menschen und bin überzeugt, dass wir gar nicht nach vorne schauen müssen, um Homo Deus zu sehen. Er sitzt gerade da und liest beispielsweise dieses Buch. In unserem Bewusstsein, in der Weise, wie wir unser Leben bestimmen, wohin es sich zu bewegen hat, sind wir bereits Götter geworden. In der biblischen Vorherbestimmung der Gottesebenbildlichkeit ist das Streben bereits angelegt, dass der Mensch gottgleich wird. In der psychotherapeutischen Praxis begegnen wir dem Leiden der jungen Götter, die wir geistesgeschichtlich geworden sind. Wir finden sie in all den neurotischen Ansprüchen, die wir pflegen, und in der uns zuteilwerdenden Erfahrung der Wirklichkeit, dass sich die Welt am Ende doch nicht um uns dreht. Homo Deus ist in einer tiefen Selbstfindungskrise, denn es ist nicht leicht, ein Gott zu sein. Es wird Zeit, dass er seine Geschichte erzählen darf.

Psychologie und Psychotherapie zwischen Natur und Geist

»Der Geist hat seine Möglichkeiten zwar stets unter den Bedingungen des Daseins, aber er ist eigener unabhängiger Ursprung. Er ist durch Freiheit. Daher lebt er aus dem Selbstbewusstsein des Einzelnen.«10

Karl Jaspers

»Der Augenblick, in dem der Blitz der Kultur den Homo sapiens trifft, ist der Augenblick, in dem er sich vom Tier unterscheidet.«11

Reimer Gronemeyer

Psychologie als Geisteslehre

Die Psychologie ist ein seltsames Fach. Von ihrer wörtlichen Grundbedeutung her ist sie als Lehre bzw. Wissenschaft (Logos) der Seele bzw. des Geistes (Psyche) angelegt. Gleichzeitig meidet die heutige akademische Psychologie diese Begriffe ihres ursprünglichen Wesens. Wo einmal die Seele war, ist heute die Psyche, und Psychologie gilt als die Wissenschaft vom individuellen Erleben und Verhalten. Sprechen wir heute von Psychologie, ist damit im Alltagsverständnis das gemeint, was im »Inneren« des Menschen abläuft. Im Kanon der Wissenschaft gehört die Psychologie zu den empirischen Disziplinen. Ihr Wissen und ihre Forschung beruhen auf der systematischen Sammlung und Auswertung von Daten. Dies führt zu dem für Laien verstörenden Umstand, dass Psychologen im Studium nicht als Seelengelehrte, sondern vor allem als gute Statistiker ausgebildet werden.

Was die Psychologie von ihrem begrifflichen Wesen her eigentlich sein müsste, ist eine Geisteswissenschaft oder, mit Hegel gesprochen, eine »Psychologie als Geisteslehre«. Obwohl sie eine reichhaltige Geschichte und vielfältige Schulen hat, beschränkt sich die klinische Psychologie – von wenigen Ausnahmen abgesehen – fast gänzlich darauf, die menschliche Biologie zu erforschen. Ihre Forschungsmethode orientiert sich an der Empirie der Naturwissenschaften. Je nach Perspektive gilt ihr Erkenntnisinteresse Bindung, Kognitionen, Emotionen, Verhalten, Lern- und Entwicklungstheorien und neuerdings vor allem den neuronalen Schaltkreisen des menschlichen Gehirns, deren Erforscher den Anspruch formulieren, die Geheimnisse der Seele zu lüften. Die Antwort darauf, wo diese in den computertomografischen Aufnahmen zu finden ist, bleiben sie allerdings schuldig. Einiges an Interessantem und Wertvollem haben diese Forschungen für unser Verständnis des Menschen zutage gebracht, aber sie bleiben als Psychologie im Sinne einer Lehre von Geist und Seele merkwürdig einseitig oder wirken, in den Worten der Psychoanalyse Freuds, kastriert.

Als biologisches Lebewesen ist der Mensch ein hochentwickeltes Tier. Wie seine Artverwandten unter den Säugetieren erleidet er Traumata, Bindungs- und Entwicklungsstörungen in Reaktion auf schwerwiegende Lebenserfahrungen. Für das Verständnis vieler psychischer Leiden sind diese biologischen Grundlagen wesentlich, aber für eine Konzeption des Menschen als Gesamtwesen stellen sie nur eine Seite des Ganzen dar, denn ihnen fehlt das Menschliche am Menschen, das ihn von den anderen Säugetieren unterscheidet. Der Mensch ist das einzige Tier, das um seinen eigenen Tod weiß, an etwas glaubt und Religionen entwickelt hat. Er ist das einzige Tier, das freiwillig zum Mond flog, den Mount Everest bestieg und in den Marianengraben tauchte. Der Mensch ist das Tier mit Bewusstsein von sich selbst. Das unterscheidet den nackten Affen (Desmond Morris) von seinen Artgenossen.

Neben unserer biologischen Geburt in die physische Welt wurden wir alle in eine zweite Welt geboren: in den Geist, in dem wir leben, und aus ihm heraus in die Sprache, die wir lernen, die Familie und Gesellschaft, deren Werte wir vermittelt bekommen, und die Institutionen, die uns von der Kindheit bis heute begleiten. Sie alle sind Ausdruck und institutionalisierte Form unserer Kultur. Kultur bedeutet im Gegensatz zur Natur all jenes, was der Mensch geschaffen hat. Wenn das biologische Leben Mutter Natur ist, dann ist der menschliche Geist der Vater der Kultur. Die Inhalte dieses Geistes fließen in unsere Seele, wenn es hinsichtlich dieser existenziell gegebenen kulturellen Eingebundenheit überhaupt sinnvoll ist, von »meiner oder unserer« Seele zu sprechen, ohne dass, wie im biologischen Leben, eine schützende Haut, eine Grenze zwischen den Sphären unseres »Inneren« und der »äußeren« Umwelt existieren würde. Im kulturellen Geist sind wir von Beginn an mittendrin, und die Sprache von Innen und Außen ist nicht mehr als eine Metapher, die wir allerdings so wörtlich nehmen, dass wir damit umgehen, als gäbe es dieses »Innere« ganz faktisch. Dies mag für Nervenzellen im Gehirn gelten, aber wenn wir Ereignisse der geistigen Subjektivität wie Ideen, Gedanken und Gefühle betrachten, können wir ihre Heimat nur mittels theoretischer Grundannahmen im Gehirn lokalisieren. Letzteres heißt nicht mehr, als etwas zu vollziehen, von dem wir als moderne Menschen meinen, dass wir es eigentlich überwunden haben: Wir müssen daran glauben, dass all dies ein Epiphänomen der biochemischen Hirnprozesse sei. Der paradoxe Versuch der akademischen Psychologie, ein geistiges, nichtmaterielles Inneres, also Gefühle, Ideen und Gedanken, mit naturwissenschaftlichen Methoden aufspüren zu wollen, verfehlt deren Charakter. Es ist, um es in das Bild eines Umkehrschlusses zu kleiden, so, als wenn man versucht, den Klimawandel mit guten Gedanken und Gebeten zu bekämpfen. Es handelt sich beim Geist und bei der Materie um zwei Welten, die zwar aufeinander bezogen sind, die aber letztlich von unterschiedlicher Logik beherrscht werden. So tief die moderne Neurowissenschaft, die die Psychologie derzeit prägt, in die Funktionsweise des menschlichen Gehirns eindringt, so sehr bleibt sie den geistigen Gehalten des dortigen subjektiven Geschehens äußerlich. Wenn eine Mutter Glück empfindet, wenn sie ihrem Säugling in die Augen schaut, und wir dies mittels bildgebender Verfahren »sehen« können, werden wir über das CT-Bild nichts darüber erfahren, wie sie wirklich fühlt. Diese Grenze zwischen Geist und Materie bleibt für uns dasselbe wie für die alten Völker: ein Geheimnis.

Die moderne akademische Psychologie lokalisiert unser Denken und Fühlen nicht nur in unserem Gehirn und damit unserer körperlichen Gegebenheit, sondern grundsätzlich in uns als Individuum. Psychologie gilt allgemeinhin als die Lehre des Inneren des Individuums und folgt damit der liberalen Tradition in der westlichen Geistesgeschichte, den Menschen, die Gesellschaft und ihre Institutionen vom Einzelnen her zu denken. Denn sind nicht wir es ganz persönlich, die fühlen, denken und handeln? Kommt es in erster und letzter Instanz nicht auf uns persönlich an in Bezug auf die Fragen, wer wir sind, was in unserem Leben gilt und was wir hieraus machen? »Ich denke, also bin ich«, stellte René Descartes 1637 fest und legte hiermit die Existenz des Ichs als Grundsubstanz unseres modernen Menschenbildes fest. Auch der vormoderne Mensch fühlte, dachte und handelte, aber er erfuhr und beschrieb es anders. Ein Geistesblitz, erotisches Begehren, donnernde Wut – nicht er, sondern vielfältige Götter und etwas später der eine Gott oder sein Widersacher, der Teufel, waren hier am Werk. Descartes ist seit fast 400 Jahren tot, aber sein Geist lebt fort in der Weise, wie wir uns selbst als Individuen erfahren, ohne dass die meisten Menschen überhaupt seinen Namen kennen. Die Bestimmung des eigenen Lebens vom »Ich« aus ist keine Naturtatsache, sondern ein psychologisches Resultat der Geschichte unseres kollektiven Geistes.

Hierin liegt einer der Unterschiede des geistigen Lebens gegenüber dem biologischen Leben: Das Leben des Geistes braucht das biologische Leben des Menschen als Wirt, um entstehen zu können und seine Existenz fortzuführen, aber es lebt aus sich heraus über die Köpfe der einzelnen Menschen hinweg.12 Kein Kind muss die Sprache erfinden, sondern lernt sie aus einem uralten geistigen Fundus, der von Generation zu Generation vererbt wird. Die Sprache ist wie das ewige olympische Feuer. Sie wird weitergegeben und ist da, bevor wir da sind. All das Wesentliche unserer Werte, Wissensbestände und Religionen ist uns bereits »vorgelebt«. Wir erben den Geist, in den wir geboren werden, und in dem Moment, in dem wir ihn reflektieren können, sind wir schon so von ihm geprägt und durchdrungen, dass wir bereits lange ein Teil von ihm geworden sind. Der Vater, den wir kritisieren, sind wir in dem Moment, in dem wir unsere Stimme gegen ihn erheben, selbst schon geworden. Es gibt keine Außenposition gegenüber dem Geist, von dem aus wir ihn objektiv beobachten könnten. Daher scheiden die Prinzipien einer um »Objektivität« bestrebten naturwissenschaftlichen Forschung in seiner Untersuchung weitgehend aus. Wir sind als Beobachter Teil dessen, was wir beobachten.

Daher müssen wir bei einem Erkenntnisinteresse hinsichtlich des Geistes bescheiden und fragend beginnen und auf die Hoffnung endgültiger Antworten (z. B. in Form von gesicherten Fakten) verzichten. Möchten wir uns des Geistes bewusster werden, in dem wir leben, müssen wir bereit sein, die Wahrheit unserer Zeit, das, was wir für selbstverständlich halten, infrage zu stellen. Dies geschieht für den einzelnen Menschen u. a. in der Psychotherapie. Wer sich in einer wirklichen Krise befindet, kann nach ihrem Durchleben nicht mehr in das Selbstverständnis zurück, in dem er zuvor gelebt hat. In der Therapie lernt der Klient zu erkennen, dass die Art und Weise, wie er wahrnimmt, fühlt und denkt, nicht alternativlos ist, sondern durch seine persönliche Natur, seine Lebensgeschichte und den Zeitgeist, in dem wir leben, bedingt wird. Im besten Fall entsteht durch dieses Sehen eine neue Freiheit, und das, was ihm zuvor »normal« erschien, wird ihm im neuen Licht fremd. Wer persönlich ein wenig freier werden möchte, ohne der Illusion zu verfallen, dass absolute Freiheit möglich oder erstrebenswert wäre, kann sich nur darüber emanzipieren, dass er sich von dem allzu Selbstverständlichen und Vertrauten entfernt. Der Preis hierfür ist das Verlassen der gewohnten Wahrheit, in der man bis dato gelebt hat.

Eine Psychologie im Sinne einer Geisteslehre schaut auf das Leben des Geistes, das im größeren Ganzen unserer Kultur und Geschichte wirkt und uns im ganz Persönlichen durchdringt. Um es in einem einfachen Bild zu verdeutlichen: Das Interesse einer solchen Psychologie gilt nicht nur dem einzelnen Baum hinsichtlich seiner individuellen Geschichte und Gesundheit, sondern zunächst dem Wald, als dessen Teil er existiert. Wohlergehen und Leiden des einzelnen Baumes verstehen sich erst aus der Gesamtkonstitution des Waldes, dessen Wohl wiederum eingebettet ins Mikro- und Makroklima ist. In der Psychologie gibt es zwar seit einigen Jahrzehnten eine »systemische« Perspektive, die nicht am Tellerrand des Individuums endet, aber sie kreist in den meisten Ausprägungen weiterhin ausschließlich um die nahen sozialen Systeme derjenigen Personen, denen sie sich widmet. Die geistige Triebkraft von kollektiven Ideen, Weltbildern oder kulturellen Widersprüchen in der Entwicklung persönlicher Probleme und Perspektiven liegt dabei nicht systematisch im Fokus.

Die biologisch-natürlichen Grundlagen unseres Erlebens und Handelns sind die eine Seite unserer psychischen Existenz. Die andere Seite ist das geistige, »psycho-logische« Wesen in uns, aufgrund dessen wir uns überhaupt erst Mensch nennen können. Ohne Geist kein Mensch. Psychotherapie ist ihrem begrifflichen Wesen nach angewandte Geisteswissenschaft. Man spricht, sucht nach Bedeutungen, schaut, wie der Einzelne seinen Platz im Ganzen findet, so wie der Literaturwissenschaftler den Sinn von Texten zu ergründen sucht und der Historiker die Ereignisse der Geschichte deutet. Die vorrangige Methode des therapeutischen Dialogs ist die des »Verstehens« im Gegensatz zum naturwissenschaftlichen »Erklären« (Max Weber). Es geht um den Sinn des Zusammenspiels von Gefühlen, Wahrnehmungen, Gedanken und Ideen, und dieser erschließt sich nur aus der ihm eigenen, inneren, geistigen »Logik«, die anders ist als die Gesetze der Naturwissenschaft. Diese Logik ist subjektiv, manchmal widersprüchlich und folgt nicht dem einfachen Ursache-Wirkungs-Prinzip der empirischen Wissenschaft. Sie speist sich aus viel mehr Quellen als der des Individuums und seiner wesentlichen Beziehungen.

Wissenschaft sein oder die Neurose der Tiefenpsychologie

Eine wesentliche Rolle nehmen der kulturelle Geist und Methoden, die aus der Geisteswissenschaft stammen (z. B. Phänomenologie und Hermeneutik), in der Tiefenpsychologie ein. Die Tiefenpsychologie, also jene psychologische Richtung, die in der Tradition von Sigmund Freud, Carl Gustav Jung und Alfred Adler das Erleben und Verhalten des Menschen als Ausdruck unbewusster Seelenkräfte versteht, passt von ihrem Wesen her nicht ins naturwissenschaftliche Paradigma der akademischen Psychologie. Träume, Bilder, Archetypen, Komplexe, Fehlleistungen: Die Tiefenpsychologie befasst sich mit dem, was gerade nicht direkt auffindbar und messbar ist. Ihr gesamtes Interesse gilt der Tiefe der Phänomene, der Bodenlosigkeit der Seele, all jenem, was das »Ich« des Menschen, auch das »wissenschaftliche Ich«, nicht kontrollieren kann. Die Methode der Psychoanalyse zielt auf ein inneres Versinken in diese Bodenlosigkeit des Selbst, getragen von der Hoffnung, in der Tiefe etwas zu finden, was dem Ich an der Oberfläche in seinem Bewusstsein fehlt.

Die Tiefenpsychologie, ihrerseits die geistige Mutter so vieler jüngerer wissenschaftlich oder alternativ begründeter Therapieschulen wie z. B. der Schematherapie, der Gestalttherapie und der humanistischen Psychologie, aber auch des Familienstellens sowie unserer Arbeit mit dem Lebensintegrationsprozess,13 ist seit jeher eine moderne Mystik. Ihre Entwickler zog es im Laufe ihrer Wirkzeit viel tiefer und weiter als nur in die Erforschung und Therapie von Individuen. Freud schrieb in seinen letzten Jahren über Moses und die Ursprünge der jüdischen Religion, Jung forschte zeitlebens über Alchemie, interessierte sich für Mandalas und den kulturellen Urgrund des Seelischen. Weil vieles hiervon »spekulativ«, das heißt nicht falsifizierbar im Sinne von Karl Poppers Positivismus, im Falle Jungs sogar esoterisch war und somit fernab von heutigen wissenschaftlichen Standards liegt, behandelt man dieses spekulative geisteswissenschaftliche Erbe stiefmütterlich. Es stammt aus der Zeit, als die Tiefenpsychologie sich einem verengten, empiristischen Wissenschaftsverständnis noch widersetzte, als sie noch voller Wildheit, Mut und Leben war. Es ist mit dem Blick auf die heutige Tiefenpsychologie eine vergangene Zeit.

Die Tiefenpsychologie, deren Fokus auf dem Wirken von unbewussten inneren Konflikten von Individuen liegt, befindet sich seit ihrem Beginn in einem eigenen, oft verdrängten Konflikt. Sie ist, wie dargestellt, wesenhaft in Bezug auf ihre Theorien und Methoden Geisteswissenschaft. Ihr Erkenntnisgegenstand ist das nichtmaterielle und letztlich nicht messbare Wirken der menschlichen Psyche. Gleichzeitig waren ihre Entwickler – Freud, Jung und Adler – allesamt Ärzte und damit ausgebildete Naturwissenschaftler, die den selbstbewussten Anspruch vertraten, mittels ihrer Theorien gesichertes Wissen zu generieren, das naturwissenschaftlichen Standards entspräche. Es ging nicht um passende Modelle und Möglichkeiten, wie man die Psyche betrachten könnte, sondern (auch ganz persönlich untereinander) um den Streit, wie diese tatsächlich – in natura – beschaffen sei. Das schwer zu integrierende Elternpaar für das Kind der Tiefenpsychologie sind das medizinische Denken samt seiner naturwissenschaftlichen Prägung und der hiermit in Konflikt stehende (notwendigerweise spekulative, »bildhafte«) Zugang zum sphärischen Prinzip des Geistes, der Seele und des subjektiven Empfindens.