Grabsharing - Inge Zinßer - E-Book

Grabsharing E-Book

Inge Zinßer

0,0

Beschreibung

Hoppla, schon belegt, denkt sich der Totengräber. Und was passiert, wenn dort, wo keine Leiche sein soll, eine Leiche ist. Die Polizei kommt und ermittelt. Die Kommissare Zondler und Aichele versuchen, dem Fall auf den Grund zu kommen. Wieso liegt die ehemalige Bürgermeisterin von Glückhausen in diesem Grab, und, vor allem, wer hat sie dort hineingelegt? Beliebt war sie nicht gewesen, wie die Ermittler bald in ihren Gesprächen feststellen. Allerlei Machenschaften kommen ans Licht. Die ehemalige Bürgermeisterin hatte wohl ein Projekt hinter dem Rücken des Gemeinderats eingefädelt. Nur langsam findet sich der eine oder andere Hinweis. Da braucht es manchen zünftigen Wirtshausbesuch der beiden Kommissare, bis sich schließlich erste Verdachtsmomente ergeben.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 230

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inge Zinßer lebt in Hochdorf, einer kleinen Gemeinde im Kreis Esslingen. Sie ist Buchhändlerin und war lange Zeit in verschiedenen Sortimenten tätig. Seit ein paar Jahren arbeitet sie nicht mehr in einer Buchhandlung, ist aber jede Woche dort zu finden – immer auf der Suche nach Schönem. Hauptsächlich nach besonderen Kinderbüchern für ihre sechs Enkelkinder. Für die schreibt sie auch kleine Geschichten oder hält deren Abenteuer fest.

»Grabsharing« ist ihr erster Kriminalroman.

Inge Zinßer

Grabsharing

Eine Kriminalgeschichte

Oertel+Spörer

Diese Kriminalgeschichte spielt an realen Schauplätzen.

Alle Personen und Handlungen sind frei erfunden.

Sollten sich dennoch Ähnlichkeiten mit lebenden oder

verstorbenen Personen ergeben, so sind diese rein zufällig

und nicht beabsichtigt.

© Oertel+Spörer Verlags-GmbH+Co. KG 2016Postfach 16 42 · 72706 Reutlingen

Alle Rechte vorbehalten.

Titelbild: fotolia ©VRD

Gestaltung: PMP Agentur für Kommunikation, Reutlingen

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-88627-768-1Besuchen Sie unsere Homepage und informieren

Sie sich über unser vielfältiges Verlagsprogramm:

www.oertel-spoerer.de

Plötzlich war es vorbei mit der morgendlichen Stille auf dem kleinen Dorffriedhof. Erst leise, dann immer lauter, hörte man Motorengebrumm und schon sah man einen kleinen Bagger, der einer Spinne mit hochgeklappten Beinen und langem Hals ähnelte, um die Kurve beim Leichenhäusle kommen. Die Vögel beschlossen, vorsichtshalber das Weite zu suchen und das Geschehen von einem sicheren Ast aus in einem der vielen Bäume zu beobachten. Sie kannten den Bagger bereits und wussten, dass bei dieser Arbeit auch ein paar fette Regenwürmer für sie abfallen würden, wenn sich die Maschine in die Erde fraß.

Der Mann, der neben dem Bagger herging und ihn vom Weg aus mit einem Hebel steuerte, konzentrierte sich mehr auf die kleine Straße als auf die Vogelschar. Vor einem Grab hielt er an, stellte die Maschine ab und schaute sich erst einmal gründlich sein heutiges Arbeitsgebiet an, wobei er des Öfteren die Stirn runzelte und missbilligend vor sich hin redete.

»Da bin i ’gschbannd, was des wieder wird. Hoffentlich stimmt der Plan und der liegt richtig rum.«

Es war nämlich so, dass die Angaben vom Rathaus an den Totengräber nicht immer sehr genau waren. Wie alles im Leben, so hat auch ein Friedhof seine Regeln. Beispielsweise liegt bei einem Familiengrab der Mann üblicherweise rechts und die Frau links. So wie in den meisten schwäbischen Ehebetten eben auch. Wie man es halt gewohnt ist. Zudem hat jedes Grab bestimmte Maße, die allerdings öfter durcheinander gebracht werden, als man sich vorstellen kann. Sei es, weil da ein Weg kreuzt oder weil der Frost das Ausheben besonders mühselig macht. Es gibt viele Gründe, wieso die Arbeit auf einem Friedhof immer wieder für Überraschungen sorgt.

Heute nun musste Ludwig, der hiesige Totengräber, das Grab für die Ehefrau neben ihrem vor nur anderthalb Jahren verblichenen Mann Otto Häberle ausheben. Die Magdalene hatte ihn nicht lange überlebt, aber so ist das manchmal bei alten Ehepaaren. Einer kann nicht ohne den anderen. Krank war sie nicht gewesen. Ihre Kinder dachten überhaupt nicht daran, dass der Abschied von der Oma so plötzlich kommen könnte. Dann bekam sie ein Schlägle und wurde unglücklicherweise zu spät gefunden.

Ludwig machte diese Arbeit noch nicht allzu lange, erst seit knapp zwei Jahren. Der alte Totengräber war in Pension gegangen, und nach langem Suchen hatte Ludwig sich schließlich bereit erklärt, dieses Amt zu übernehmen. Keiner will heutzutage so was noch machen, trotz der Maschinen, die die Arbeit doch sehr erleichtern. Der Tod ist halt weit weggerückt von den Menschen. Auch Ludwig hatte sich die ersten paar Male etwas gegruselt, wenn beim Aushub eines alten Grabes plötzlich ein Schädel vor ihm lag. Wobei das noch nicht das Schlimmste war.

Viel unangenehmer waren die berüchtigten Wachsleichen. Aber das war heute bei einem neuen Grab nicht zu befürchten. Auch wusste er über manches noch nicht so gut Bescheid. Sein Vorgänger hatte wahrscheinlich alle hier Begrabenen im Kopf auf einem Lageplan eingezeichnet gehabt, aber er als Neuer tat sich damit noch schwer. Diesen Otto hier hatte er nicht eingegraben. Er konnte sich nicht recht daran erinnern, wie das damals war. Vielleicht war er ja krank gewesen. Er hatte öfters mit seinen Bandscheiben Malheur. Dann sprang auch mal der alte Totengräber ein.

Wenn alles seine Richtigkeit hatte, lag der Mann also auf der rechten Seite und links daneben war das freie Plätzchen für die Frau. Ludwig wunderte sich etwas, weil die Erde irgendwie zu locker aussah. Der Grabstein, auf dem bis jetzt nur der Otto eingraviert war, war bereits gestern vom Steinmetz entfernt worden. Auch ein paar der Pflanzen waren schon ausgegraben und lagerten etwas weiter auf einem freien Feld. Das hatten sicher die Kinder der Familie Häberle gemacht. Schließlich konnte man die Blumen nach der Beisetzung der Mutter wieder einsetzen. Jeder normale Schwabe machte das so.

Er brachte seinen Bagger in Position und klappte die Stützbeine aus. Dann fuhr er mit dem Lastwagen an die Grabstelle heran. Den Container für den Erdaushub setzte er genau neben dem Grab ab. Als alles zu seiner Zufriedenheit vorbereitet war, stieg er in den Bagger und machte sich an die eigentliche Arbeit. Der Greifer biss sich in den Boden. Schaufel um Schaufel holte er aus dem Loch. Der Container war schon halb voll. Es ging wirklich auffallend leicht, gar nicht wie sonst im gewachsenen Boden. Ob da wohl schon mal einer aus Versehen die falsche Seite ausgehoben hatte? Wie gesagt, das konnte schon mal vorkommen.

Plötzlich hörte Ludwig einen dumpfen Ton. Nanu, das hört sich ja an, als ob da ein Widerstand ist, dachte er bei sich. Ja, es war der gleiche Ton, mit dem der Baggergreifer sonst auf einen alten Sarg stieß. An sich nichts Ungewöhnliches, außer, dass der hier nichts zu suchen hatte. Ludwig stieg aus dem Bagger, nahm den Spaten und ließ sich langsam in die Grube hinab. Dort scharrte er vorsichtig die Erde weg. Tatsächlich, da lag wohl einer.

»Heidablitz no amol«, murmelte er, »jetzt hab ich doppelte Arbeit! Warum können die nie aufpassen, wo sie die Leut hinlegen?«

Aber es half nichts, jetzt musste er eben die andere Seite aufmachen, damit die verstorbene Ehefrau halt ausnahmsweise rechts neben ihrem Gatten liegen konnte.

Vor sich hinbruddelnd machte er sich ans Werk. Als ob er nichts anderes zu tun hätte. Die Überzeit zahlte ihm wieder kein Mensch, da brauchte er gar nichts auf den Rapportzettel für die Gemeinderechnung zu schreiben. Die hatten eh gleich immer a domme Gosch.

Falls Ludwig gedacht hatte, dass es nun vorbei sei mit den Überraschungen für diesen Tag, so täuschte er sich. Und zwar gewaltig. Schon wieder ertönte der dumpfe Ton aus dem Grab. Ludwig erstarrte. Aber auch beim nächsten Baggerbiss hörte es sich nicht anders an. Er holte sogar ein Sargbrett mit den Greiferzähnen raus.

»Ja Himmelherrgottsgranatasauerei! Was isch au jetzt los?«

Der Totengräber stieg ratlos aus seiner Maschine, wischte sich den Schweiß ab und überlegte. Also, wenn links einer liegt, dann kann rechts niemand liegen. Oder umgekehrt. Denn das war eindeutig ein Doppelgrab, in dem laut Friedhofsplan bisher nur eine Person, und zwar männlich, lag. Also war einer zu viel. Die Frage war: Wer lag da drin und warum? Bestimmt nicht nur, weil einer dem hier ordentlich bestatteten Häberle Gesellschaft leisten wollte. Es half nix. Er musste Meldung auf dem Rathaus machen. Da werden die Damen auf dem Standesamt aber eine Freude haben, grinste der Ludwig halb in sich hinein. Blicken ließen die sich nie auf dem Friedhof, sie waren wohl etwas »sensibel«.

Auf derlei Befindlichkeiten konnte er jetzt aber keine Rücksicht nehmen, das war ein Fall für weiter oben. Er nahm sein Handy aus der Brusttasche seiner Arbeitshose und wählte die Rathausnummer.

»Ja, hier Ludwig. I steh grad aufm Friedhof und mach des Grab für die Frau Häberle. Des hoißt, i han’s macha wella. Aber da liegt scho oiner dren!«

Aus dem Hörer tönte Gemurmel.

»Noi, i han no net dem Alkohol zuagsprocha heit morga. Schee wär’s. Des isch mei voller Ernst. Sie müsset herkomma und bringet Sie am beschta gleich da Bauamtschef ond da Bürgermeister mit!«

Die Stimme am anderen Ende der Leitung versuchte wohl immer noch, den Totengräber zu beschwichtigen und das Gesagte ins Lächerliche zu ziehen, aber Ludwig blieb eisern dabei, dass die Oberen auf dem Friedhof zu erscheinen hätten, und zwar bald. Trotzdem würde es wohl eine Weile dauern. Es wäre wohl das Vernünftigste, die Wartezeit für ein Vesper zu nutzen, dachte er bei sich. Sein Magen knurrte eh schon eine Weile, da er noch nicht gefrühstückt hatte. Mal schauen, was ihm seine Brigitte heut eingepackt hatte. Aha, ein Brot mit Käse und einem Salatblatt, ein zweites mit Schinkenwurst und Senf. Nicht schlecht. Dazu ein stilles Wasser. Ludwig trank grundsätzlich kein Bier während der Arbeit, auch wenn ihm das keiner glaubte. Bier und Bauhof schienen von jeher zusammenzugehören, zumindest dachten das die meisten. Er nahm seine Vesperbüchse, suchte sich eine Bank in der Nähe. In aller Ruhe widmete er sich seinen Broten. Einige der zuvor verscheuchten Vögel näherten sich ihm in der Hoffnung auf ein paar Brösel. Ludwig war großzügig. Hin und wieder warf er ihnen ein Bröckchen Brot hin.

Es war noch recht früh am Morgen und er hoffte, dass nicht allzu viele fleißige Witwen mit Gießen auf dem Friedhof beschäftigt sein würden. Ihm stand heute nicht der Sinn nach einer Plauderei. Wer glaubte, auf einem Friedhof ginge es ruhig zu, der täuschte sich. Es war ein außerordentlich belebter Ort voller Begegnungen, Tratsch und Austausch neuster Informationen. Aber gestern hatte es ziemlich geregnet, sodass heut früh das Gießkannenschwenken noch nicht dringend erforderlich war. Ludwig konnte in Ruhe essen und trinken. Sein Blick ging dabei über den Friedhof. Er erinnerte sich an die Zeit, als sein Opa gestorben war und tagelang in der Schlafstube im Ehebett aufgebahrt lag. Kerzen waren angezündet worden. Die Verwandten und Nachbarn kamen vorbei, um ihr Beileid auszudrücken und den Verstorbenen noch einmal zu sehen. Am Beerdigungstag wurde der Leichnam in den Sarg gelegt und unter großer Mühe und Ächzen die steile Treppe heruntergetragen. Vor dem Haus stand ein Pferdegespann mit dem Leichenwägele. Darauf stellten die Träger den Sarg. Dann ging es unter Glockengeläut zum Friedhof. Das halbe Dorf hatte sich dem Trauerzug angeschlossen und ging hinter dem Wagen her. Es war eine Selbstverständlichkeit, bei Beerdigungen dabei zu sein, fast so etwas wie ein Fest. Damals war alles noch ganz anders gewesen als heute. Ludwig beendete sein Frühstück. Er packte die Vesperdose und die Flasche wieder in den Bagger. Eine gute halbe Stunde war seit seinem Anruf vergangen, als er endlich ein Auto vorfahren hörte und Türen zugeschlagen wurden. Vom Friedhofstor her näherten sich der Bürgermeister, der Bauamtsleiter und die junge Frau vom Friedhofsamt.

»Guten Morgen, Herr Ludwig! Was erzählen Sie uns da Merkwürdiges? Was ist hier los?«, begrüßte ihn Herr Walter, der Bürgermeister.

Ludwig erklärte den Herrschaften, was er vorgefunden hatte. Die Sache mit dem rechts und links liegen musste er zweimal erklären, denn so ein komplizierter Sachverhalt ist eben nur was für Kenner. Aber schließlich hatten die Rathäusler dann doch begriffen, dass hier einer zu viel im Grab lag.

»Und jetzt?«, fragte Herr Walter.

»Naja, jetzt müssen wir erst einmal zweifelsfrei feststellen, wer von den beiden da unten der verstorbene Herr Häberle ist. Dann geht es natürlich um die Identität der anderen Leiche. Wenn da überhaupt eine drin ist, denn bis jetzt sieht man ja nur zwei geschlossene Särge. Herr Ludwig, sind Sie sicher, dass da jemand drin liegt? Ich meine, haben Sie in die Särge reingeschaut?«, fragte Bauamtsleiter Geiger.

»Noi«, antwortete Ludwig, »aber bei dem einen Sarg hab i mit dem Bagger ein Brettle mit der Schaufel rausgrissa. Sie moinet, i soll do nunter und nochgucka?« Ludwig sah die drei vom Rathaus fragend an.

»Ja, das wäre sicher das Beste, bevor wir uns an die Polizei wenden, nicht dass wir uns noch blamieren. Also, bitte sind Sie so gut und schauen Sie in beide Särge«, meinte Herr Walter.

Das Fräulein vom Friedhofsamt sagte nichts, sie war noch kein halbes Jahr auf dem Amt und dann gleich so was. Unauffällig ging sie ein paar Meter zurück und schob sich ihren Schal vor die Nase. Man konnte ja nicht wissen, was da so rauskommt aus einem Grab, von wegen Leichengift und dergleichen. Ihr schauderte ein wenig. Den beiden Herren war sichtlich auch nicht ganz wohl, aber sie harrten tapfer aus, als Ludwig in das Grab hinunterstieg und sich mit Spaten und Brecheisen an den Deckeln der Särge zu schaffen machte. Man hörte Holz knirschen und brechen. Nach kurzer Zeit vermeldete der Totengräber, dass sich sowohl in dem einen als auch in dem anderen Sarg eine Leiche befände. Er kletterte schnaufend aus dem Grab heraus, wischte sich die Hände an einem Fetzen Stoff ab und wartete weitere Anweisungen ab.

»Ja und die Kinder von den Häberles, die muss man natürlich auch dringend benachrichtigen. Unter den Umständen können die ihre Mutter auf keinen Fall hier beerdigen. Was macht man denn da Herr Ludwig?«, fragte Herr Walter.

»Des woiß i au net so recht. I ruf mal dem Bestatter a, vielleicht ka ma se no a Weile aufheba, bis die Sach geklärt isch«, antwortete Ludwig.

»Tun Sie das, und ich ruf die Polizei an«, sagte Bürgermeister Walter und entfernte sich ein Stück mit seinem Handy.

Inzwischen hatten sich doch einige Friedhofsbesucher neugierig der Grabstelle genähert. Ein paar kleine Gruppen standen tuschelnd beieinander. Jeder wollte natürlich wissen, was denn da so Ungewöhnliches los war. Aber die Rathäusler hielten sich bedeckt und gaben keinerlei Auskunft. Auch an das offene Grab ließen sie keine Neugierigen. Nach geraumer Zeit rückten zwei Polizeiautos an. Es folgte die Spurensicherung und ein Leichenwagen. Das Gebiet wurde abgesperrt, damit man ungestört arbeiten konnte.

Ludwig musste mithilfe der Spurensicherung die zwei Särge ans Tageslicht holen. Es wurde viel fotografiert und abgesucht. Der Totengräber kam sich wrklich vor wie in einem Fernsehkrimi. Anschließend wurden die Särge in die Rechtsmedizin abtransportiert, um deren Inhalt genau zu untersuchen.

Ludwig wischte sich abermals den Schweiß von der Stirn. Diesen Tag würde er so schnell nicht vergessen. Er dachte nicht einmal mehr an seine Überstunden, die er keinem berechnen konnte. Nachdem er bei den Polizisten noch seine Aussage gemacht hatte, wie der Morgen abgelaufen war und wie er alles vorgefunden hatte, konnte er endlich Feierabend machen. Es war spät geworden. Er hatte tatsächlich den ganzen Tag auf dem Friedhof verbracht, war nicht mal zum Mittagessen heimgekommen, was recht selten vorkam. Der Friedhof war inzwischen leer, das Grab abgedeckt. Die Neugierigen waren auch verschwunden.

Langsam fuhr er seinen Bagger den Weg hinunter zum Friedhofstor hinaus. Unterwegs überlegte er, dass es beim Essen heute ein lebhaftes Gespräch geben würde. Er hatte seine Brigitte nur einmal kurz angerufen, um ihr zu sagen, dass er nicht heimkommen könne und dass es am Abend Interessantes zu berichten gab. Er war sich sicher, dass er schon sehnlichst erwartet wurde.

Nachdem der Bagger verschwunden war, kehrte Stille ein auf dem Friedhof. Sofort kamen die Vögel von den Bäumen und suchten in dem losen Erdreich nun endlich nach ihren Regenwürmern, auf die sie diesmal sehr lange hatten warten müssen.

Im Dorfwirtshaus war heute Abend mehr Betrieb als sonst. Um den Stammtisch saßen diejenigen, die fast immer da waren und eigentlich schon zur Möblierung gehörten. Dazu kamen noch etliche, die zwar regelmäßig, aber nicht so oft in den Hirschen kamen. Aber heute waren sie wohl alle mit dem gleichen Gedanken gekommen: Gab es schon was Neues von der geheimnisvollen Leiche im Häberle-Grab? Die Geschichte hatte sich wie ein Lauffeuer im Dorf verbreitet, so etwas Ungewöhnliches passierte nicht alle Tage.

Die Hirschwirtin war froh über die vielen Besucher. Sie stellte unaufgefordert den Hefezopf und den Kuchen vom ausgefallenen Leichentrunk auf den Tisch. Die Familie Häberle hatte ja schon alles bestellt gehabt für die Feier nach der Beerdigung ihrer Mutter. Jetzt war das alles übrig und zum Wegschmeißen doch viel zu schade.

Der Totengräber war allerdings nicht da und so waren die Informationen nur sehr spärlich. Man erzählte sich von der Polizei auf dem Friedhof, den Rathäuslern und dem Abtransport zweier Särge. Einer riss noch einen Witz über den verstorbenen Häberle, der wohl auch nicht im Traum daran gedacht hätte, noch einmal aus seinem Grab herauszukommen und eine Fahrt im Auto zu machen, zumal auch noch in die Pathologie. Es gab schließlich schönere Ausflugsziele. Keiner der Anwesenden hatte eine Idee, wer die andere Person sein könnte.

Der Maierle meinte, es sei ja schon sehr seltsam, dass es zwei Särge waren. Denn wenn einer eine Leiche loswerden wollte und verscharren, die legte er doch nicht vorher in einen Sarg. So was hatte man auch nicht parat in seiner Garage rumstehen, oder? Dem pflichteten die anderen bei. Sie dachten angestrengt darüber nach, ob man wohl einen Sarg bei einem Bestatter leer kaufen könne oder wie man an so was rankäme.

Der Bruntner merkte an:

»Ist doch heut alles kein Problem mehr. Schau einfach mal bei Ebay.«

Einer der Jüngeren hatte sein Smartphone dabei und griff die Idee sofort auf. Tatsächlich, da konnte man Särge kaufen, allerdings mehr so für Halloween oder Partyspäße. Aber immerhin.

Der Täter wäre ganz schön blöd, meinte dann der Bruntner aber, wenn er so vorginge, schließlich ließe sich so ein Kauf ganz einfach zurückverfolgen. Mit derlei Gedankenspielen verging der Abend sehr rasch, das Bier floss reichlich, die Stimmung war bestens, auch bei der Hirschwirtin, die an diesem Tag doch noch zu ihrem Umsatz kam.

Indessen herrschte bei der Familie Häberle naturgemäß pure Aufregung. Bürgermeister Walter hatte sie telefonisch von den Ereignissen auf dem Friedhof informiert. Sie waren alle sehr bestürzt. Die Beerdigung war fürs Erste abgesagt, die Verwandten wieder ausgeladen. Zum Teil wären sie von weiter her nach Glückhausen gekommen. Sie könnten ja nicht ewig in der Wohnung der Verstorbenen rumsitzen und warten, ob das noch was wird mit der Beerdigung oder nicht. Gerhard und Claudia, die beiden Kinder, die allerdings auch schon im reifen Schwabenalter waren, saßen beieinander und besprachen, wie es wohl weitergehen würde. Von Trauer war unter den Umständen allerdings nicht viel zu spüren, die Anwesenden waren merklich geschockt von dem Vorfall. Es herrschte aber auch eine seltsame, fast knisternde Spannung. So etwas erlebte man schließlich nicht alle Tage.

»Ja, also die Frau vom Friedhofsamt hat vorhin angerufen, dass mir die Bestattung verschieben müsset, bis das Grab wieder freigegeben ist. Des dauert so zwei, drei Tag. Oder aber mir könntet au a andere Grabstell aussucha, wenn uns des jetzt nemme so recht wär, weil da scho oiner dren glega isch. Was moinsch denn du Claudia?«, fragte Gerhard seine Schwester.

»Hmm, naja, a bissle komisch isch des scho. Andererseits könnet mir doch unser Mutter net oifach wo anders begraba, sie soll doch scho beim Vaddr liega, oder?«

»Des denk i eigentlich au. Ond außerdem, mit zwoi Gräber hemmer au no ’s doppelte Gschäft mit der Pflege«, bemerkte Gerhard.

»Do hosch wirklich recht«, pflichtete Claudia bei. So beschlossen sie, ganz pragmatisch denkend, die Beerdigung halt noch so lang rauszuschieben, bis das Grab wieder freigegeben wäre.

Gerhard rief dem Ludwig an, dann dem Bestatter. Letzterer versprach, die Verstorbene so lange in seiner Kühlkammer aufzubewahren. Damit war dieses Thema vorläufig erledigt.

Es wurde dann doch noch ein ganz netter Abend. Ein paar im Ort lebende Verwandte und Nachbarn kamen vorbei. Nach anfänglicher Betrübnis unterhielt man sich prächtig, wie meistens bei Beerdigungen. Fast konnte man vergessen, dass die Hauptsache ja noch gar nicht erledigt war.

In der Gerichtsmedizin in Stuttgart begann der Tag wie immer. Der Pathologe Erwin Holzinger trank erst mal einen großen Pott Kaffee und aß eines seiner zwei Brote, die er von daheim mitgebracht hatte. Es war unsicher, ob er später noch dazu kommen würde, denn die Damen und Herren von der Kripo hatten es immer so eilig. Danach widmete er sich seinen zwei Neuzugängen. Ein Studentle, das etwas bleich aussah, assistierte ihm.

Die Leiche des rechtmäßigen Grabbewohners Häberle war schnell identifiziert. Es war eindeutig, dass es sich um einen ordnungsgemäß bestatteten männlichen Leichnam handelte. Das auf dem Grabstein eingemeißelte Sterbedatum stimmte auch mit dem Verwesungszustand des Toten überein. Ganz anders sah es bei der zweiten Leiche aus. Erstens lag sie in einem billigen, rohen Sarg ohne jeglichen Komfort. Das heißt: ohne Vlieseinlage, kein Kissen, keine Zudecke. Der Sarg hatte auch keine Herstellerzeichen, er war nur ein Rohling ohne irgendwelche Besonderheiten. Die weibliche Leiche darin war nackt. Der Verwesungsprozess war zwar im Gange, aber noch lange nicht vollendet. Holzinger schätzte, dass die Frau ungefähr ein bis zwei Jahre tot war. Beide Toten hatten seiner Meinung nach ungefähr gleich lange in der Erde gelegen. Das Alter schätzte er zwischen vierzig und fünfzig. Die Todesursache konnte er auf den ersten Blick nicht erkennen, da musste er wohl etwas genauere Untersuchungen anstellen.

»Also guat, dann fanget mr halt an. Des dauert a Weile, i hoff, du hosch gute Nerva«, sagte er an sein Studentle gewandt. Er nahm das Skalpell zur Hand, dann machte er den ersten Schnitt. Dem Studentle wurde es zunehmend mulmiger.

An einem anderen Ort in der Landeshauptstadt saß Kommissar Zondler an seinem Schreibtisch, vor sich die noch dünne Akte mit der Aufschrift »Dorffriedhof Glückhausen«. Zur Abwechslung mal was anderes, dachte er bei sich. In letzter Zeit häuften sich die Drogen- und Messerstecherdelikte. Er war sehr gespannt, was sich hinter der harmlos klingenden Akte verbarg.

Eine Viertelstunde später klappte er den Ordner zu, verschränkte die Hände hinter dem Kopf und lehnte sich weit in seinem Stuhl zurück. Seine Denkerpose nannten das seine Kollegen. Interessante Sache. Das Dorf lag im Einzugsbereich von Stuttgart, noch etwas ländlich, aber bereits überschwemmt von Pendlern, die jeden Tag in die Landeshauptstadt und ihre Umgebung fuhren. Viele schätzten das sogenannte Landleben, kamen aber gar nicht dazu, es zu genießen, weil sie zwei Stunden am Tag in ihren Autos saßen. Einen richtigen Bezug zu ihrem Dorf hatten auch die wenigsten. Aber immerhin konnten die Kinder in einem überschaubaren Umfeld aufwachsen. Er würde es in Glückhausen also mit Einheimischen und Zugezogenen zu tun haben. Erst einmal musste er den Obduktionsbericht abwarten. Es würde nicht einfach sein, die Identität der Toten festzustellen, sie würde wohl kaum ihren Pass dabei haben. Im vorläufigen Bericht stand, dass die Unbekannte seit etwa zwei Jahren tot war. Zondler griff zum Telefonhörer, um mit seinem Kollegen zu sprechen, der momentan im Archiv zugange war.

»Aichele, wenn du wieder raufkommst, dann geh doch mal die Vermisstenlisten der letzten zwei, drei Jahre durch. Wir suchen eine weibliche Person, zwischen vierzig und fünfzig Jahre alt. Wir haben einen neuen Fall. Das wird dich bestimmt interessieren. Ich leg dir die Akte gleich mal auf den Schreibtisch.«

Dann setzte Zondler sich an seine Tastatur und suchte die kleine Gemeinde im Internet, um sich einen Überblick zu verschaffen. Schon praktisch, dass heutzutage jedes Kaff eine eigene Homepage hat, dachte er. Da weiß man doch gleich ein bisschen besser, mit wem man es zu tun hat. Er sah sich die offiziellen Rathaus-Seiten an, die Bilder der Bediensteten, dann klickte er weiter zu den Gemeinderäten. Es gab auch eine Seite für die Gewerbetreibenden und dann natürlich noch Kirchen und Soziales. Es war nichts Außergewöhnliches dabei, ein schwäbisches Dorf mit städtischem Einschlag wie so viele.

Sein Kollege Aichele war inzwischen wieder aufgetaucht und las die Akte. Wortlos suchte er dann im PC die Vermisstenliste der letzten Jahre. Er studierte sie sorgfältig. Über einen Zeitraum von zwei Jahren, den ihm sein Kollege Zondler genannt hatte, kamen einige in Betracht.

»Also, ich hab, grob gesagt, neun Vermisstenanzeigen, die halbwegs passen könnten. Die nehm ich mir am Nachmittag vor. Aber jetzt ist gleich Mittag, ich habe einen Riesenkohldampf und in der Kantine gibt’s heute Linsen mit Spätzle und Saitenwürstle. Hast du Lust mitzukommen?«

Da musste Zondler nicht lang überlegen. Heute früh war eh nix Gescheites im Kühlschrank gewesen und sein Magen meldete sich bereits seit einiger Zeit. Er schaltete den Bildschirmschoner ein und machte sich mit Aichele auf den Weg zum Mittagessen.

In der Pathologie war Essen momentan kein Thema. Der Chef hatte keine Zeit für solche Gedanken und das Studentle mochte lieber gar nicht daran denken. Doktor Erwin Holzinger war bestrebt, seinem Assistenten bei diesem, für ihn wunderbaren Beispiel möglichst viel beizubringen über den menschlichen Verwesungsprozess unter Luftabschluss und Wassereinwirkung.

»Also Benjamin, du siehst hier eine Leich, die zwar schon länger im Grab liegt, aber die Verwesung isch no net weit fortgeschritten. Das kommt vom Wasser und vom lehmhaltigen Boden. Beim Lehmboden kann das Wasser net abfließen und wenn’s halt viel Wasser auf einem Friedhof gibt, dann liegt man dort sehr viel länger, als in einem wasserdurchlässigen Boden. Wobei zwei, drei Jahre gar nix sind, teilweise isch des au nach fuffzehn Jahr no net verwest. Früher und wahrscheinlich auch noch heute hat man für den Friedhof den schlechtesten Acker genommen, weil man dort eh nix anbaute. Das waren dann meistens lehmige Böden. Und wenn man eh nur einmal an eine Grabstelle muss, dann isch’s au egal, wie lang der da unten braucht, bis er vergoht. Aber heitzutag hat man ein Grab halt bloß no so um die zwanzig Jahre. In einem richtigen Lehmboden ist das zu wenig. Nach den zwanzig Jahren wird das Grab aufgelöst und meistens wiederbelegt. Das bedeutet für den Totengräber, dass er öfters auf grausig gut erhaltene Leichen stößt. Der Sarg ist meistens auch noch ganz gut in Schuss, der schwimmt da unten sozusagen wie ein dichtes Fass. Drin liegt dann jemand im Anzügle oder Kleid, hat no die Socken an und am Skelett ist noch einiges an Fleisch.«

Der Student Benjamin wurde käsig. Er musste sich mit beiden Händen am Seziertisch festhalten.

»Ja, warum sind denn die Kleider noch erhalten?«

»Immer isch des net so, aber hauptsächlich in den Siebzigern gab’s viele Kunstfasern und die sind unverwüstlich, wenn ich da nur an die Nyltest-Hemden denke.«

»Ja, und dann, was passiert dann mit dem Toten und dem ganzen Zeug?«

»Da schwätzt koiner drüber. Zum Grünmüllplatz kann man des auf koin Fall brenga, wahrscheinlich kommt alles wieder nei ins Grab und wird zuadeckt. Aber zurück zu unserm Fall.«

Doktor Holzinger sprach in sein Mikro: »Weibliche Leiche, circa fünfundvierzig Jahre plus minus fünf. Körpergröße 1,70 Meter, Gewicht zirka fünfundsechzig Kilogramm, sportliche Erscheinung. Normaler Körperbau, dunkle Haare, vollständiges Gebiss, einige überkront, viele Füllungen, auf den ersten Blick keine sichtbare Verletzung. Verwesung nicht vollständig, am Brustkorb und Schultern fettartige Ablagerungen, typisch für sogenannte Wasserleichen, die im lehmhaltigen Boden im Wasser liegen.«

Doktor Holzinger machte noch zusätzliche Aufnahmen vom Gebiss. Einige Kronen und Füllungen konnten vielleicht doch noch bei der Identifizierung mithelfen. Dann schoben sie die unbekannte Tote vorläufig wieder zurück in ihr Kühlfach.

Zondler hatte eindeutig zu viel gegessen. Bei Linsen und Spätzle passierte ihm das jedes Mal. Nur dumm, dass er jetzt am Mittag und zudem im Dienst kein Verdauungsschnäpsle trinken konnte. Wenigstens war er allein in seinem Büro und öffnete stöhnend den Hosenknopf seiner zu eng sitzenden Jeans. Es wäre dringend nötig, wieder mehr Sport zu treiben und auch die üppigen Mahlzeiten einzuschränken, dachte er. Aber vom Vorsatz bis zur Tat war es eben manchmal ein weiter Weg.