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Louisa Schneider

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Beschreibung

Packende Reportage und hoffnungsvolles Plädoyer für Klimagerechtigkeit Die Journalistin und Klimaaktivistin Louisa Schneider ist in Schlüsselregionen unserer Erde gereist, an denen sich die Klimakrise entscheidet: In Brasilien brennt der Regenwald, in Senegal verschiebt sich der Monsun, in Kanada taut der Permafrostboden, in Grönland schmilzt das gigantische Eisschild und in Australien bleichen die Korallenriffe aus. All diese Natur- und Klimaveränderungen führen zu Kettenreaktionen in anderen Teilen der Welt. Man spricht von Klimakipppunkten: Louisa spürte die Hitze der Waldrodungen in Brasilien, sah in Senegal ganze Häuser und Strände verschwinden, hörte das Eis in Kanada und Grönland knacken und tauchte zum australischen Great Barrier Reef. Alles hängt zusammen: Kippen diese Systeme, könnte es ein Domino anstoßen und unser aller Leben drastisch verändern. Einen besonderen Fokus legt das Buch auf die Menschen vor Ort, die direkt von den Auswirkungen der Klimakatastrophe betroffen sind, aber durch hoffnungsvolle Projekte und Initiativen ihre Gemeinschaften und Natur schützen. Eindrücklich zeigt Louisa Schneider, welche Chancen wir jetzt haben, um uns endlich aus der systematischen Ausbeutung von Natur und Mensch zu befreien. Klimakipppunkte und Dominoeffekte: eine globale Katastrophe verhindern In diesem Jahrzehnt entscheidet sich, wie viele Katastrophen noch vermieden werden können, wie viele Möglichkeiten und Freiheiten wir in Zukunft noch haben werden und wie viele Kipppunkte überschritten werden. Die fundierten Texten von Louisa Schneider und eindrücklichen Bildern von Naturfotograf und Aktivist Markus Mauthe beleuchten auf verständliche Art und Weise die weltweiten Zusammenhänge. Ein sehr persönliches Plädoyer über Privilegien und Klimagerechtigkeit. Leidenschaftlich und hoffnungsvoll zeigt Louisa Schneider, dass es nie zu spät sein wird, um gegen die Klimakrise vorzugehen. Denn Grad~" jetzt haben wir die Möglichkeit, eine bessere Welt für alle von uns zu ermöglichen.

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Seitenzahl: 376

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Deutsche Originalausgabe

Copyright © 2024 von dem Knesebeck GmbH & Co. Verlag KG, München

Ein Unternehmen der Media-Participations

Zitat Seite 19: © Chico Mendes

Bildnachweis Bildteil:

© Markus Mauthe: Seiten 161, 162–163 Hintergrundbild, 162 oben, 163 unten, 164 unten, 167 oben, 168–171, 172–173 Hintergrundbild, 172, 174–175 Hintergrundbild, 174 unten, 175, 176

© André D’Elia: Seiten 162 unten, 163 oben, 164–165 Hintergrundbild, 164 oben, 166–167 Hintergrundbild, 166, 173 oben und unten, 174 oben

Projektleitung: Ellen Venzmer, Knesebeck Verlag

Lektorat: Dr. Julia M. Nauhaus, Lübeck

Gestaltung, Karten und Umschlaggestaltung: Favoritbüro, München

Umschlagmotiv: © Markus Mauthe

Satz und Herstellung: Arnold & Domnick, Leipzig

ISBN 978-3-95728-931-5

Alle Rechte vorbehalten, auch auszugsweise.

www.knesebeck-verlag.de

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Inhaltsverzeichnis

Informationen zum Buch

Informationen zur Autorin

Impressum

Mein größter Dank gilt Greenpeace Deutschland,die einer Idee Leben eingehaucht haben.

Ich danke meinen Kollegen Nick & Markusund meiner Familie, ohne deren Unterstützungich all das niemals gewagt hätte.

Und aus tiefstem Herzen danke ich André,der – in Tränen oder Lachen –immer an meiner Seite stand.Ich werde ewig dankbar sein für diese Reise,die mich nicht nur in die Arme dieser Welt,sondern auch in deine führte.

INHALT

VORBEMERKUNG

EINLEITUNG

Unsere Zeit ist grad°jetzt

EINS: BRASILIEN – IM AUGE DES FEUERS

Brennende Vögel in Mato Grosso

Zwischen Grillen, Politik und Großkonzernen

Boa Vista – ein Herz aus Gold schlägt nicht

Watoriki – willkommen bei den Yanomami

Der fallende Himmel

O futuro é indigena

ZWEI: SENEGAL – NICHT HILFE, SONDERN GERECHTIGKEIT

Gorée Island – Point of no return

Saint-Louis – das zukünftige Atlantis?

Diougoup – Teranga und das Paradies in der Hölle

Dinouar – Träume atmen auch unter Wasser

Die grüne Mauer – wenn die Wüste erblüht

Kedougou – ein Garten als Revolution

N’diob – Ikarus breitet seine Flügel aus

DREI: KANADA – TEERSAND IST DICKER ALS BLUT

Fort McMurray – Geld essen, Öl trinken

Divestment und Konzerne vor Gericht

Die Feuerwehrbrigaden – ein Lauffeuer der Hoffnung

»Mitten im Nirgendwo« trägt einen Namen

Inuvik – der Permafrostboden

Die Inuvialuit – zwischen Vergangenheit und Zukunft

VIER: GRÖNLAND – IM RHYTHMUS DES EISES

Saqqaq – ein Fenster in die Vergangenheit

Auf dünnem Eis

Gletscher-Gewitter

Ilulissat – ein Globalisierungsdrama

Kangia-Eisfjord – Mutter des Eises

Eine echte Zeitmaschine

Bären und Polarfüchse

Aaju Peter – die Glut einer Inuk

(Un)vergängliche Schönheit

FÜNF: AUSTRALIEN – KORALLENWELTEN UND WÜSTENGEISTER

Das Great Barrier Reef

The Forever Reef Project – im Zweifel für immer

Rote Erde – die Wangan und Jagalingou

Stopp Adani – David gegen Goliath

Der Widerstand von Waddananggu

You ain’t killing my vibe

SECHS: AKTIVE HOFFNUNG – WIR, DIE DOMINOSTEINE

VORBEMERKUNG

Wenn du zögerst, Klimabücher in die Hand zu nehmen, weil die Welt darin immer vor dem Untergang zu stehen scheint, dann darf ich dich beruhigen. Ja, zwar ist das Foto auf dem Cover genau so im brennenden Regenwald entstanden, aber die Geschichten, die ich dir in diesem Buch erzähle, setzen den Katastrophenberichten die Hoffnung entgegen.

Manchmal waren die Verhältnisse, denen ich auf meinen Reisen begegnete, tieftraurig, mal himmelschreiend ungerecht oder machten wütend – doch immerzu haben sie mich selbst tief berührt. Was sie wirklich alle verbindet, ist die Hoffnung. Meine Recherchereisen zusammen mit Greenpeace haben mich in Extreme geführt – zu den Waldbränden in Brasilien, zu zerstörten Häusern und Fluten im Senegal, auf knackendes Eis in Kanada und Grönland und bis in die Tiefen des Great Barrier Reef in Australien. Überall durfte ich auf unglaubliche Menschen treffen, die die Klimakrise nicht einfach hinnehmen, sondern die nicht aufgeben und die mir gezeigt haben, dass die Geschichte unserer Zukunft in unseren Händen liegt und wir nur mutig genug sein müssen, den Stift in die Hand zu nehmen, um sie zu schreiben. Sie zeigen, was aktive Hoffnung bedeutet – und wie viel Macht in ihr steckt. Durch diese Recherchereisen habe ich erkannt, dass wir weit davon entfernt sind, ohnmächtig zu sein. Wir sind nicht allein, wir sind viele; weltweit und überall arbeiten Menschen Hand in Hand für eine gerechtere Zukunft. Die Erfahrungen, die ich hier mit dir teile, haben mir gezeigt, wie drastisch sich Dinge verändern können, wie wunderschön die Welt ist und wie viel wir zu gewinnen haben, wenn wir uns zusammenschließen, kollektive Bewegungen ins Leben rufen und uns weigern, die Welt als unveränderlich hinzunehmen. Alles ist veränderbar.

Ich möchte, dass du, wenn du gerade dieses Buch in den Händen hältst, eines weißt: Es wird nie »zu spät« sein. Egal, wann du dieses Buch liest, ob zehn oder zwanzig Jahre nach der Veröffentlichung: Es wird nie zu spät sein, um zu handeln. Sicher, beim Klimawandel sind Zeit und Dringlichkeit unglaublich relevant. Es gibt nun einmal Kipppunkte und Zeitspannen, in denen wir handeln müssen, um unumkehrbare Schäden zu vermeiden. Aber es ist wirklich nie zu spät, um Schritte zu unternehmen, die unsere Welt ein klein wenig besser machen. Jedes kleinste Stückchen globaler Erwärmung, das wir verhindern, zählt. Jeder Bruchteil eines Grades, den wir aufhalten, kann Leben sicherer machen oder sogar retten. Das wird immer wichtig sein. Bitte hör nicht auf zu handeln. Du bist nicht allein. Du bist nicht machtlos. Lass dich nicht von diesen Gefühlen überwältigen, lass dich nicht von der Angst aufhalten. Bitte gib nicht auf.

Es ist, als hätte ich Hunderte Sonnenbrillen gleichzeitig getragen. Diese Brillen waren meine Privilegien. Sie alle trübten meine Sicht, verdunkelten meine Welt. Ich konnte nicht klar sehen und so viel an Diskriminierung, Unfreiheit und Ungerechtigkeit gegenüber anderen Personen schlichtweg nicht erkennen. Meine Privilegien haben mich bisher vor den schlimmsten Auswirkungen der Klimakrise geschützt. Doch all die wertvollen Erfahrungen, die ich machen und die beeindruckenden Menschen, die ich auf meinen Reisen kennenlernen durfte, haben mir eine Brille nach der anderen von der Nase gezogen. Ich weiß, dass immer noch viele Brillen da sind. Doch habe ich in diesem Buch alles darangesetzt, so viele wie möglich abzusetzen und die Sichtweisen derjenigen einzufangen, die unmittelbar und am härtesten von dieser Krise getroffen werden und an der Frontlinie kämpfen.

Ich werde in diesem Buch nichts romantisieren, ich werde sagen, wie es ist: Die Klimakrise ist die größte Bedrohung und Aufgabe, vor der die Menschheit jemals stand. Aber zugleich ist sie auch unsere bedeutendste Chance, um eine von Grund auf bessere Welt aufzubauen – fernab von unterdrückerischen Systemen des Kapitalismus, des Kolonialismus und des Patriarchats.

Meine Reisen waren ein wahnsinniges Privileg. Doch Privilegien sind Schlüssel zu Türen. Reflektieren wir unsere Privilegien, dann erkennen wir diese Schlüssel und können uns dafür einsetzen, Türen für andere zu öffnen.

Dies ist mein Versuch, eine weitere Tür aufzustoßen.

ANMERKUNG ZUR SPRACHE

»Globaler Norden« und »Globaler Süden«. Ich werde viel über die Unterschiede zwischen den Ländern sprechen, die diese Krise verursacht haben, und denen, die davon betroffen sind. Ich habe versucht, so genau wie möglich zu sein und die spezifischen Länder oder Regionen zu nennen, aber manchmal musste ich allgemeine Begriffe wie »Globaler Süden« und »Globaler Norden« oder lediglich »Westen« verwenden.

»Globaler Süden« ist ein Begriff, der auf Regionen wie Ozeanien, Südamerika, Asien und Afrika zielt und versucht, von dem negativen »Dritte Welt«-Label oder dem Begriff »Entwicklungsland« wegzukommen. »Globaler Norden« umfasst Länder und Gebiete wie Europa, Nordamerika, Russland, Australien, Neuseeland. Diese Begriffe beziehen sich nicht nur auf die geografische Lage, sondern umfassen außerdem Machtverhältnisse und wirtschaftliche Unterschiede. Die Bezeichnung »Globaler Süden« ist ein Ausdruck, den ich nicht verwende, um Menschengruppen zu verallgemeinern. Ich möchte hervorheben: Jedes Land und die dort lebenden Menschen haben ihre ganz eigene, wertvolle Geschichte und die verschiedenen Nationen und Völker haben unterschiedliche Erfahrungen. Ich verwende daher den Begriff, um die gemeinsame, meist koloniale, Vergangenheit dieser Länder als homogene Einheit zu kommentieren.

Black, Indigenous and People of Color (BIPoC). Ich verwende den Ausdruck »Black, Indigenous and People of Color«, um die kollektiven Erfahrungen mit strukturellem Rassismus zu betonen, die von Gemeinschaften im Globalen Norden und Süden geteilt werden, einschließlich schwarzer und indigener Bevölkerungsgruppen. Dieser Begriff hat definitiv Grenzen, dennoch möchte ich damit auch auf gemeinsame Erfahrungen von Gemeinschaften hinweisen, um auf sie näher eingehen zu können. Außerdem verwende ich den Begriff »globale Mehrheit«,1 um diesen Fakt zu verdeutlichen und die Tatsache, welche Kraft davon ausgehen kann, wenn wir uns dieses zahlenmäßige Verhältnis vor Augen führen.

Indigenes Volk. Auf meinen Recherchereisen hatte ich das absolute Privileg, von einigen indigenen Völkern eingeladen zu werden und von ihnen lernen zu dürfen. Indigene Völker weltweit sind durch Rassismus, Landraub und tödliche Gewalt bedroht und stehen an der Frontlinie der Auswirkungen der Klimakrise. Sie kämpfen teils seit Jahrhunderten um die Anerkennung ihrer Landrechte, den Schutz ihrer Kultur, ihrer Sprachen, ihrer eigenen Leben und um die Wahrung ihrer Selbstbestimmungsrechte.

Darum verwende ich in diesem Buch bewusst den Begriff »indigenes Volk« oder »indigene Völker«, um zu unterstreichen, dass die indigenen Menschen als Gemeinschaft unter völkerrechtlichem Schutz stehen oder stehen müssten. Die Bezeichnung des »Volks« verstärkt den Fokus auf ihre politische Stimme und ihren gemeinsamen Kampf.

Ich glaube, ich war lange Zeit nicht aktiv oder gar unpolitisch, weil für mich die Sprache in Büchern und anderen Medien schlichtweg unzugänglich war. Zu oft habe ich nicht verstanden, worüber gesprochen wurde, wenn nur mit Fachbegriffen um sich geworfen wurde. Ich habe in diesem Buch mein Bestes gegeben, um Verbindungen und Begriffe, Konstrukte und Systeme allgemein verständlich zu erklären. Ich weiß aber auch, dass ich damit an meine eigenen Grenzen stoße. Was ich sagen möchte: Ich versuche immerzu, mich aus meinem eigenen Kopf herauszudenken und in andere Köpfe hineinzuschlüpfen. Ich glaube, es wird viel zu häufig unterschätzt, wie machtvoll eine einfache, zugängliche Sprache ist, denn nur so können möglichst viele Menschen unsere Forderungen verstehen und selbst aktiv werden.

Ich freue mich sehr, dass du mit mir auf dieses Abenteuer gehst!

EINLEITUNG:

Unsere Zeit ist grad°jetzt

Es war ein viel zu heißer Spätsommertag am Münchner Hauptbahnhof und ich suchte nach meinem Gleis. Die Sonne stand schon tief und erfüllte die Hallen mit einem satten Orange, während Menschen anonym an mir vorbeizogen. Ich presste mein Handy so dicht ans Ohr, dass es wehtat, um die Worte zu verstehen, die mir den Boden unter den Füßen wegziehen sollten.

»Louisa, wir wollen, dass du mit Greenpeace auf fünf Recherchereisen gehst. Mit einem Team reist du zu fünf unterschiedlichen Klimakipppunkten: zum brasilianischen Regenwald, zum westafrikanischen Monsun im Senegal, dem Permafrostboden und den Borealwäldern in Kanada, zum grönländischen Eisschild und zu den Korallenriffen Australiens. Ihr werdet sowohl die Gefahren beim Überschreiten dieser Kipppunkte dokumentieren als auch die Schönheit unseres Planeten. Wir wollen mit diesem Projekt auf die Kipppunkte aufmerksam machen und darauf, wie alles zusammenhängt. Es steht so viel auf dem Spiel. Wir können keine Zeit mehr verlieren, die wir nicht haben. – Wir stecken im wichtigsten Jahrzehnt, um das Kippen der Klimakipppunkte zu verhindern!«

In diesem Jahrzehnt entscheidet sich, wie viele Katastrophen wir noch verhindern, wie viele Freiheiten und Möglichkeiten wir in Zukunft noch haben werden. Es ist enorm wichtig, die radikale Physik dieser Krise und unseres Planeten zu verstehen, um zu erkennen, wie dringend gehandelt werden muss.

Der Anruf kam von Christian, der bei Greenpeace arbeitet. Ich musste mich hinsetzen. Am Gleis waren alle Bänke besetzt, also streifte ich meinen Rucksack vom Rücken und setzte mich darauf. Mein Kopf sank in meine Hand. Trolleys rauschten laut an mir vorbei, während ich schweigend am Boden des Bahnsteigs saß und weiterhin das Handy dicht an meine Wange presste. Plötzlich eine Durchsage: »ICE von München nach Stuttgart – heute circa 15 Minuten später.« Ich machte mir um Verspätungen meiner Züge schon lange keinen Kopf mehr. Aber eine Verspätung schnürt mir immer wieder die Brust zu: Was ist, wenn wir nicht rechtzeitig handeln und Kipppunkte überschreiten?

Wir haben eine bestimmte Zeitspanne und ein Handlungsfenster, die uns angeben, wie viele Emissionen ausgestoßen werden können, bis wir erdklimatische Kipppunkte erreichen. Ganze 97 Mal wurde der Begriff »Kipppunkt« im IPCC-Bericht 20222, dem renommiertesten und angesehensten Klimabericht weltweit, aufgegriffen. Das Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) ist ein zwischenstaatliches Gremium, das sich aus Tausenden von Wissenschaftler:innen und politischen Entscheidungsträger:innen zusammensetzt, die Texte mit den aktuellsten und genauesten wissenschaftlichen Erkenntnissen über den Stand der Klimakrise erstellen und Prognosen für die Zukunft abgeben. Erst als ich mehr über die Kipppunkte lernte, verstand ich, warum sich die Klimakrise so grundlegend von anderen Krisen unterscheidet.

Kipppunkte sind kritische Punkte in unserem Klimasystem, die, wenn wir sie überschreiten, unser Leben plötzlich und rapide verändern werden. Ganze Systeme – seien es globale Klima- oder Ökosysteme – würden irreversibel kollabieren. Haben wir diesen Punkt erst einmal erreicht, gibt es kein Zurück mehr.

Stell dir vor, ein Kipppunkt ist ein Wasserglas. Normalerweise steht das Glas mittig und stabil auf einem Tisch. Das ist unser Klimasystem, wie es sein sollte. Durch voranschreitende Treibhausgasemissionen in unserer Atmosphäre wird dieses Wasserglas nun aber Stück für Stück ein bisschen mehr zur Tischkante geschoben. Irgendwann kippt es, es fällt zu Boden, zerbricht, das Wasser ist ausgelaufen und kann nicht zurück ins Glas.

Ein solches Wasserglas, ein Kipppunkt, ist der Amazonas-Regenwald. Durch zunehmende Klimaerhitzung wird der Regenwald immer trockener und dürrer. Irgendwann erreicht er einen kritischen Punkt, er kippt und verliert die Fähigkeit, sich selbst zu regenerieren: Der Regenwald würde sich unaufhaltsam in eine Art Savanne verwandeln. Wir würden die »grüne Lunge« unseres Planeten verlieren, einen gigantischen CO₂-Speicher – was die Klimakrise weiter beschleunigen würde. Diesen Punkt haben wir laut Wissenschaft wahrscheinlich bereits überschritten. Berichten zufolge stößt der Regenwald heute schon mehr CO₂ aus, als er selbst aufnimmt. Denn zusätzlich zur Erderhitzung wird der Wald durch Brandrodungen und hohe Abholzungsraten destabilisiert.

Das Paradoxe an der Klimakrise ist, dass sie sowohl schnelle wie auch langsame Veränderungen gleichzeitig in sich vereint. Mal verhält sich diese Krise wie ein Dieb, der unbemerkt, Stück für Stück, ein bisschen mehr unserer gewohnten Welt stiehlt. Der große Knall ist manchmal ganz leise wie das Insektensterben. Doch dann ist die Klimakrise wieder laut; mit einem Sturm, einer Flut oder einer Hitzewelle kann sie auch unsere Haustür gewaltsam eintreten. Das Überschreiten der Kipppunkte ist schnell und langsam, laut und leise zugleich.

Insgesamt kennt die Wissenschaft 16 solcher Kipppunkte. Vier davon sind bereits bei einer Erderhitzung von 1,5 Grad in akuter Gefahr zu kippen und wir kommen diesem Punkt sehr schnell näher. Dazu gehören das Abschmelzen des Grönländischen und Westantarktischen Eisschilds, der boreale Permafrostboden und die Warmwasserkorallenriffe. Allein das Verschwinden des Grönländischen und Westantarktischen Eisschilds würde einen Meeresspiegelanstieg von zehn Metern bedeuten.

Darum ist es so unglaublich wichtig zu unterstreichen: 1,5 Grad ist kein politisches Ziel, sondern eine physikalische Grenze. Es ist bereits ein enormer Kompromiss, der nicht weiter verhandelbar ist. Denn es kommt ein weiteres Problem hinzu: Überschreiten wir einen Kipppunkt, wird es umso wahrscheinlicher, dass wir andere Klimakipppunkte ebenfalls überschreiten. Es verhält sich wie ein Dominospiel, stoßen wir einen Dominostein an, könnten weitere umfallen. Fällt ein Glas, könnten weitere zerbrechen.3

Ding Dong – eine weitere Durchsage am Münchener Hauptbahnhof: »Der ICE 2019 von München nach Stuttgart – heute circa 30 Minuten später.« Wir können uns keine weitere Verspätung mehr leisten. Durch aktives Nichtstun sind wir überhaupt in die Lage gekommen, dass das Zeitfenster, in dem wir noch so viel gewinnen können, immer kleiner und kleiner geworden ist.

»Und? Was sagst du, Louisa?« Christians Stimme holte mich aus meinen Gedanken. Ich bat ihn, mir etwas Zeit zu geben, zumindest noch diesen Tag, um darüber nachzudenken. Ich war froh, dass ich schon auf dem Boden des Bahngleises saß, denn ich spürte, wie mein Körper zu zittern begann. »Ich weiß, es ist ein großes Projekt, ihr werdet in extreme Regionen reisen – aber du bist auch nie alleine unterwegs. Greenpeace ist immer an deiner Seite und wir haben ein gutes Team, mit dem du zusammen vor Ort sein wirst. Da ist zum einen Markus Mauthe, er arbeitet schon seit über dreißig Jahren als Naturfotograf und seit knapp zwanzig Jahren zusammen mit uns. Mit dabei ist auch Nick Platzer, er ist Videograf, und André D’Elia, Aktivist und Filmemacher aus Brasilien. Wir wollen und brauchen dich dabei. Melde dich später noch einmal bei uns.«

Wir legten auf. Als ich mein Handy in meine Tasche gleiten ließ, ertönte erneut eine Durchsage: »Der ICE von München nach Stuttgart fällt heute aus.« Ich sah hoch und blinzelte der Anzeigetafel entgegen, doch fand ich keine Alternative. Durch Verspätung bis zum Totalausfall. Ich stützte meine Arme auf die Knie. Wie oft hatte ich gehört, dass es »zu spät« sei, um noch etwas gegen die Klimakrise zu tun. Dass der Klimazug abgefahren sei, dass wir ja jetzt sowieso nichts mehr tun und deshalb auch einfach weitermachen können wie bisher. Aber das stimmt nicht, ermahne ich mich selbst. Ich kneife die Augen zu. Es wird nie zu spät sein, um zu handeln.

Auch wenn mein Herz pochte und meine Gedanken rasten; auch wenn ich in völlig unbekannte Regionen reisen würde und niemanden in meinem Team – weder Markus noch Nick noch André – kannte, sagte ich nur wenige Tage später zu. Denn dieses Projekt war Teil von etwas Größerem. Zu diesem Zeitpunkt konnte ich das nur erahnen, jetzt weiß ich es besser.

Mein Anspruch an dieses Projekt war es, nicht nur die Kipppunkte und Klimasysteme zu erklären, sondern ich wollte den Gesamtzusammenhang zeigen. Wir müssen unser Verständnis der Klimakrise und der Systeme, die sie verursacht haben, dringend neu gestalten. Wie kamen wir zu dem Punkt, dass wir ein so gefährliches Dominospiel angestoßen haben? Welche klimaschädlichen und zerstörerischen Industrien und Strukturen stecken dahinter, die Mensch und Natur gleichermaßen ausbeuten? Wie ist alles mit sozialen Ungerechtigkeiten verbunden und wie können wir uns endlich daraus befreien? Zu lange haben wir die Ökologie getrennt von intersektionalen Gerechtigkeitsfragen betrachtet, dabei sind sie schon immer untrennbar miteinander verbunden.

Um zu verstehen, wo wir ansetzen müssen, müssen wir genau hinschauen. Darum sind wir in Extremregionen gereist, wo die Zerstörung am sichtbarsten ist. Aber ich möchte keine Angst machen, im Gegenteil: Viel zu lange hat man versucht, Menschen durch erschreckende Bilder und düstere Zukunftsszenarien zum Handeln zu bewegen. Doch wie der Soziologe und Philosoph Nikolaj Schultz richtig diagnostiziert hat: »Panik ist ermüdend und Notwendigkeit ist langweilig.«4 Es braucht ein anderes Gefühl, das Menschen zum Handeln bewegt.

Anstatt einer Angst, die uns spaltet, die uns in Ecken drängt, und anstatt dass wir nur auf diesen einen Tag X warten, an dem »der Weltuntergang« da ist, brauchen wir eine Instanz, die sich der Angst widersetzen kann, ein Gefühl, das uns verbindet, das uns und die Welt umarmt: Es braucht die Hoffnung.

Wie meine Freundin und Kollegin Luisa Neubauer prägnant sagt: »Hoffnung ist harte Arbeit.«5 Sie fällt uns nicht einfach zu Hause auf der Couch in den Schoß. Hoffnung entsteht aus unserem eigenen Handeln. Hoffnung lebt dadurch, dass wir hinaus auf die Straßen gehen und hinein in die Welt, um alles dafür zu tun, dass wir uns aus diesen endlosen Konflikten, aus Umweltzerstörung und sozialer Ungerechtigkeit befreien.

Mir gibt das Konzept der Klimagerechtigkeit Hoffnung. Klimagerechtigkeit erkennt an, dass die Klimakrise weit entfernt davon ist, ein Gleichmacher zu sein – sie ist eher ein brutaler Verstärker von Ungleichheiten, die schon lange existieren. Diese Krise entsteht aus den gleichen Systemen, die Ungleichheit und Unterdrückung erst ermöglichen und verstärken; Systeme, die darauf ausgerichtet sind, eine globale Mehrheit zu benachteiligen, um eine kleine Minderheit zu bereichern. Diese Erkenntnis öffnet allerdings auch eine Tür: die Möglichkeit, sich der Klimakrise auf eine Weise zu stellen, die nicht nur das Schlimmste verhindert, sondern auch den Grundstein für eine bessere Zukunft legt. Wenn die Ursachen der Klimakrise so tief mit den Systemen verwoben sind, die Menschen und ihre Lebensgrundlage gefährden, dann bedeutet ihre Bekämpfung, dass wir alles verändern müssen – und zwar zum Besseren, für uns alle.

Während meiner Recherchereisen durfte ich verschiedenste Gemeinschaften und Lösungsansätze kennenlernen: Im ersten Kapitel begegne ich den indigenen Yanomami, die erfolgreich gegen Abholzung und Waldrodung im Amazonas-Regenwald in Brasilien vorgehen. Im Senegal erlebte ich aus erster Hand, was Anpassung und Mitigation bedeuten und welche lokalen Initiativen zur Schaffung von Gerechtigkeit und zum Schutz der Menschen beitragen. In Kanada und Grönland erkannte ich die wahren Verursacher der Klimakrise und sprach mit den Inuit. Schließlich besuchte ich in Australien die indigenen Wangan und Jagalingou, die einem mächtigen Kohlekonzern erfolgreich die Stirn bieten, ihr angestammtes Land verteidigen und trotz jahrzehntelangen Kampfes die Hoffnung aufrechterhalten.

Am Bahngleis mache ich mich auf die Suche nach dem nächsten Zug. Ich muss schnell nach Hause, meinen Koffer packen und mich bereit machen für eine Abenteuerreise um die Welt. Und tatsächlich, da gibt es einen Ersatzzug. Es gibt immer eine Alternative, flüstern meine Gedanken mir zu. Legen wir los, wir haben schließlich keine Zeit zu verlieren!

EINS: BRASILIEN – IM AUGE DES FEUERS

»Environmentalismwithout class struggleis just gardening.«

– Chico Mendes, brasilianischer Umweltschützer

An der Drehtür zischt mir die Klimaanlage eine letzte, nackensteifende Brise über den Hals, als ich auf den Parkplatz vor dem Flughafen stolpere. Hier bin ich also in Sinop, einer der größten Städte des Bundesstaates Mato Grosso, mitten im Herzen Brasiliens. Die Abendsonne scheint immer noch mit voller Kraft und schießt ihre Hitzepfeile auf den Asphalt. Ich bleibe stehen, um mich an das neue Klima zu gewöhnen, und blinzele zu Boden, als zwei Schuhe vor mir zum Stehen kommen. Genau genommen sind es zwei mit orangem Staub bedeckte Füße in Klettsandalen. Ich schaue hoch und sehe einem breit lächelnden, kahl geschorenen, ziegenbärtigen Mann entgegen. Ja klar – das ist Markus Mauthe.

Herzlich begrüßt er mich, nimmt mir meinen Rucksack ab und hievt ihn mit einem Schwung auf den Pick-up, wo André und Nick warten, bereit zur Abfahrt. Ich begrüße alle schnell, will das Team nicht aufhalten und ehe ich mich’s versehe, sitze ich mit Markus auf dem Rücksitz des fahrenden Wagens. Markus hatte ich zuvor nur an einem Nachmittag in Friedrichshafen getroffen, Nick und André sehe ich heute zum ersten Mal. Beide lächeln und nicken mir zu, als ich die Autotür zuziehe.

»Leute, wir brauchen noch Proviant. Heute wird ein langer Tag, ich muss die Abendsonne bis spät ausnutzen«, sagt Markus zu den Jungs und tippt nervös auf das Kameragehäuse der Nikon in seinem Schoß. Dann zückt er sein Handy und eine Landkarte leuchtet auf seinem Display mit lauter roten Punkten. »Das größte Feuer ist ziemlich genau zwei Stunden von hier entfernt.«

Ich werfe selbst einen Blick auf die Karte. Es ist eine Webseite der NASA, wo alle Feuer der letzten 48 Stunden weltweit vermerkt sind (schau mal hinein, es ist verrückt: https://firms.modaps.eosdis.nasa.gov/map/). Je größer der rote Punkt, desto größer das Feuer. Wenn man die Karte etwas herauszoomt, scheint es, als wäre das ganze Display durch all die roten Tupfen komplett rot gefärbt. Ein Display in Flammen. Wir zoomen wieder hinein. Der Punkt, also das Feuer, auf das Markus zeigt, ist riesig. Ich schlucke.

Wir halten kurz bei einem Supermarkt. Da ich nach der Ankunft keine Zeit hatte, meine weißen Sneaker und die Jogginghose gegen ein ansatzweise feuerfestes Outfit umzutauschen, ziehe ich mich nun auf der Supermarkt-Toilette um. Erst als ich mich bücke und nach meinen Schnürsenkeln greife, bemerke ich, dass meine Finger zittern. Mein Herz klopft bis zum Hals. Ich setze mich auf den Klodeckel. Ein und aus. Ein und aus, versuche ich in Gedanken meinen Atem zu beruhigen.

Als ich wieder auf den Parkplatz hinauskomme, sehe ich Markus mit aufgeklapptem Laptop im Wagen sitzen, während André und Nick sich an die Karosserie anlehnen und in ein tiefes Gespräch verwickelt sind. Jetzt mustere ich die beiden zum ersten Mal. Andrés blaue Augen kann man hinter der Sonnenbrille nur erahnen und seine schwarzen Locken liegen sanft über der Stirn. Als Filmemacher und Aktivist aus São Paulo engagiert er sich schon seit Langem mit seinen Filmen gegen den Bergbau und die damit einhergehenden Menschenrechtsverletzungen, vor allem an indigenen Menschen, hier in Brasilien.

Neben ihm steht Nick. Seine weichen Gesichtszüge spiegeln sein Gemüt wider. Er ist groß gewachsen und von kräftiger Statur, seine mandelbraunen Augen schauen gütig und meistens trägt er eine Kappe. Er hat Markus als Kameramann bereits durch Kamerun und Angola begleitet und ist ein absoluter Technikprofi. Als ich an ihnen vorbei ins Auto steige, spüre ich, wie ihre Blicke mich mustern. Erst jetzt wird mir klar, dass ich die einzige Frau im Team bin. Eigentlich war mir das völlig egal, aber jetzt denke ich plötzlich darüber nach. Doch schnell sollten sich all meine nervösen Grübeleien in Luft auflösen.

Brennende Vögel in Mato Grosso

Ich hocke hinten bei Markus, Nick ist Beifahrer und André sitzt hinterm Lenkrad. Wir biegen auf den Highway 163, während wir aus Sinop hinausfahren. Das Ende der Straße kann ich nicht ausmachen, es verliert sich irgendwo im Rauch, der hier überall schwer in der Luft liegt. Ich blicke durch das Fenster hoch in den Himmel. Selbst die Sonne sieht hier anders aus – die giftigen Nebelschwaden lassen ihren Feuerball krank wirken. Sie glüht magentarot und lässt den endlosen Asphalt flimmern.

Wir lassen die Stadt hinter uns zurück. Stunde um Stunde fahren wir durch dichten Rauch eine Strecke von mehreren Hundert Kilometern – ich versuche die ganze Zeit, gedanklich festzumachen, wie weit wir fahren. Ist es eine Strecke von Köln bis Hannover?! München bis Berlin?! Doch die giftige Schicht lichtet sich nicht. Draußen ziehen meilenweit ausschließlich braune Felder an uns vorbei. Ich habe so etwas noch nie zuvor gesehen. Ich hätte es mir nicht ausmalen können, wie sich hier Monokulturen an Monokulturen reihen, um so viel Ertrag wie möglich aus den Feldern zu pressen, bis der Boden keine Nährstoffe mehr zu geben hat. Mir wird schlecht. Wo bleibt die nächste Ortschaft? Wo sind Bäume und Menschen? Wo ist das Wasser? Brasilien ist fast 24-mal größer als Deutschland und so zieht sich der Highway endlos hin, wie die Blutbahn für extraktive Industrien, immer tiefer ins Herz des Amazonas.

Riesige Trucks überholen uns und wirbeln ungeheure Staubwolken hinter sich auf. André stoppt den Wagen, damit Markus schnell hinaushüpfen kann, um die vorbeifahrenden Transporter abzulichten. Er macht die Tür auf und ich muss husten, weil sofort ein Schwall des Rauchs in das Wageninnere hineinfliegt. Schnell schließe ich die Tür hinter ihm. Transporter, vollgestopft mit Soja und Mais, rollen an uns vorbei. Einer, dann zwei, dann wirkt es wie eine endlose Karawane, die niemals zum Stillstand kommt. Plötzlich folgt eine Reihe Lkws, auf denen mich durch Gitter, mit weit aufgerissenen Augen, Hunderte Rinder anschielen. Das sind die Waren, die hier im Bundesstaat Mato Grosso am häufigsten exportiert werden. Die gigantischen Schlachthöfe rieche ich schon aus mehreren Kilometern Entfernung. Der Gestank von Leder sticht in der Nase. Ich schaue weg und zur anderen Straßenseite. Dort sehe ich kümmerliche Reste dessen, was vielleicht einmal Regenwald gewesen ist. Dürres Geäst und Sträucher sind unter der dicken Staubschicht kaum zu erkennen. Ich bin verwirrt. Überall, wo ich jetzt braune Felder, angereiht an Schlachthöfen und Produktionshallen von Düngemittel sehe, musste doch einmal Regenwald gestanden haben?

Ich zucke zusammen, als Markus draußen brüllt: »Kacke! Was hab ich mir denn auch gedacht?!« Nick lacht auf dem Vordersitz. Er hatte Markus gewarnt, er solle in dem Rauch vorsichtig mit seiner Kamera umgehen, sonst würden sich die Partikel im Kameragehäuse absetzen. »Mist, Kacke noch mal!«, ruft Markus wieder. Jetzt lacht André mit, obwohl er durch das deutsche Gefluche nur erahnen kann, worum es sich handelt.

Ich nehme mein Handy heraus, doch haben wir nur noch sehr schlechten Empfang. Wir sind bereits zu weit entfernt von der letzten Ortschaft. Es dauert lange, bis die Seite von Google Earth vollständig lädt. Auf der Webseite gibt es die Funktion von Zeitraffern. Hier können Satellitenbilder von vor dreißig Jahren abgerufen werden. Ich stelle Sinop ein und starte den Zeitraffer. Tatsächlich: Noch vor fünfzehn Jahren war hier alles grün – alles Wald. Doch plötzlich frisst sich etwas wie ein Virus durch die grünen Flächen. Der Bildschirm verwandelt sich in ein braun geflecktes Mosaik. Wie kann es sein, dass wir alle seit Jahrzehnten von den enormen Waldbränden hören und sich immer noch nichts geändert hat? Und vor allem: Wieso wird dafür niemand zur Verantwortung gezogen? Immer mehr Fragen schießen mir durch den Kopf.

Markus springt zurück in den Wagen. Auf seiner schweißbedeckten Stirn hat sich der Dreck in der Luft in winzigen Klumpen abgesetzt. Bekümmert inspiziert er die Nikon in seiner Hand: »Die Kamera ist vielleicht bald hinüber durch den Staub, aber die Fotos sind echt wichtig. Das ist doch Wahnsinn, oder?! Habt ihr gezählt, wie viele Laster das waren? Wie kann bei so vielen Lkws, die täglich hier entlangrauschen, überhaupt noch etwas vom Planeten übrig sein?«

Als André das Lenkrad dreht, bleibt mein Blick plötzlich an etwas Glänzendem an seinem Handgelenk hängen. Es ist ein buntes Armband aus winzigen Perlen und Mustern, das sehr grazil und zerbrechlich aussieht. »So etwas habe ich noch nie gesehen!«, staune ich. »Ach das«, André schüttelt sein Handgelenk, »das ist ein Armband, das indigene Menschen in Brasilien gemacht haben, es ist eine Art Symbol der Solidarität mit ihnen. Ich trage es jeden Tag. Spätestens seit Belo Monte will ich alle wissen lassen, auf welcher Seite ich stehe.« Meine Augen mustern ihn über den Rückspiegel. Zögerlich frage ich nach: »Was genau ist Belo Monte?«

André zieht überrascht die Augenbrauen hoch. »Ach, davon hast du noch nie etwas gehört?«, fragt er verblüfft, doch dann sprudelt es nur so aus ihm heraus: »Belo Monte ist ein gewaltiger Staudamm, der zweitgrößte seiner Art weltweit. Er wurde 2011 im Herzen des Amazonas gebaut. Es war wie ein Dolchstoß. Sein Bau erforderte eine Umleitung des Xingu-Flusses, einer der lebenswichtigsten Wasserstraßen Brasiliens, und es kam zu schwerwiegenden und unwiderruflichen ökologischen Veränderungen, weil weitläufige Gebiete des uralten Regenwalds überflutet wurden. Aber Belo Monte gefährdete nicht nur empfindliche Ökosysteme, sondern er stellte eine gewaltige Bedrohung für indigene Völker dar, deren Leben untrennbar mit dieser Umgebung verbunden ist. Schätzungsweise 30 000 Menschen mussten daraufhin ihre angestammten Gebiete verlassen. All diese harten Realitäten habe ich in meinem allerersten Film gezeigt. Zwar konnten wir den Bau des Staudamms nicht aufhalten, doch mit dem Film konnten wir ganz viele Menschen informieren! Er hat eine ganze Welle der Empörung ausgelöst. Der Aufschrei war gigantisch! Aus ganz Brasilien kamen Menschen aus den Städten mit indigenen Völkern zusammen.« Er verstummt und es wirkt, als würde er alle Erinnerungen wie in einem Katalog durchfliegen. Doch während er nachdenkt, presst er plötzlich die Zähne aufeinander.

»Es hat sogar für so viel wirtschaftlichen und politischen Aufruhr gesorgt, dass mein Telefon bereits dreimal verwanzt wurde.« Telefon? Verwanzt? In welchen CIA-Film sind wir denn jetzt abgedriftet?, denke ich. Wegen seines sehr erfolgreichen Engagements wurde André bedroht und überwacht. Was würde ich tun, wenn ich so direkt gefährdet wäre? André hat trotzdem immer weitergemacht. Ich bin froh, dass Markus ihn ins Team geholt hat. Seine Expertise und langjährige Zusammenarbeit mit indigenen Menschen sind für uns unentbehrlich.

Ich beobachte wieder die Sojafelder, die schier endlos an uns vorbeiziehen. Ohne meinen Blick vom Fenster abzuwenden, rufe ich nach vorn: »Für mich ergibt all das gar keinen Sinn. Das ist doch eine unfassbare Arbeit, bis man hier mal etwas anbauen kann? Vom feuchten Regenwald zum Ackerland. Das will nicht in meinen Kopf.« Jetzt blicke ich über den Rückspiegel zu André, aber seine Miene bleibt unverändert. Für ihn ist dieses Vorgehen schon lange zur Normalität geworden. »Die Frage ist ja – was hat in unserem Wirtschaftssystem einen Wert? Hat grüner Regenwald einen Wert? Oder könntest du nicht die größten, massivsten, geradesten Bäume abholzen, zu Möbeln verarbeiten und verkaufen? Sind die mächtigsten Bäume, wir sagen auch Mutterbäume, erst einmal weg, fehlt dem Regenwald ohnehin die Balance und das Ökosystem kann sich nur schwer aufrechterhalten.«

Ich hake nach: »Wenn die großen Bäume geschlagen sind, was ist dann der nächste Schritt?« Diesmal antwortet Markus: »Schau raus – das ist der nächste Schritt. Es bleiben nur Geäst und Gehölz übrig, die mit großen Maschinen entfernt werden. Alles wird geschlagen, abgerissen und ausgerissen. Stück für Stück, Jahr um Jahr wird der Wald mit dieser Zerstörung immer trockener und lässt sich noch besser plattmachen, bis der Rest einfach abgebrannt wird. Dann sind die Flächen frei und du kannst anbauen, was du willst: Soja, Mais, Kautschuk, Palmöl, was auch immer.« André ergänzt mit einer erschreckenden Gleichgültigkeit: »Rinder nicht vergessen! Du kannst viele, viele Rinder halten.«

Die Sonne steht tief am Horizont und nach einer gefühlten Ewigkeit biegen wir vom Highway in einen Feldweg. Die Straße wird holpriger und sandiger. Zwar schwebt der Rauch überall um uns herum wie eine transparente Schicht, doch nur wenige Hundert Meter entfernt sehe ich riesige, dunkle Rauchschwaden über einem Waldstück aufsteigen. Der Ruß leuchtet orange und undurchsichtig. Wir fahren weiter, tiefer und tiefer in den Rauch hinein, bis wir irgendwann das Feuer fast direkt neben der Waldschneise entdecken, an der wir entlangfahren. André hält das Auto an einem sicheren Platz an, während Markus und Nick sich blitzschnell an die Ladefläche des Pick-ups begeben. Mit einer fließenden Bewegung zücken sie die großen, schweren Koffer, in denen das gesamte Filmequipment verstaut ist, und haben im Nullkommanichts Kameras, Stativ und Zubehör in der Hand, um den Hals und um die Hüfte geschnallt. Alle drei sind nun draußen am Arbeiten, ein eingespieltes Team, während ich noch im Auto verharre. Die Hitze spüre ich bereits durch die Glasscheiben hindurch und einen Moment lang möchte ich einfach nur im Wagen sitzen bleiben. Vielleicht ist all das nicht real, solange mein Körper diese Blechhülle nicht verlässt.

Irgendwann drücke ich dennoch zögerlich die Türklinke herunter. Sofort dringt das laute Knistern des Feuers an meine Ohren und Rußpartikel fliegen mir in die Augen. Erst einen Fuß, dann den anderen setze ich vorsichtig auf den trockenen Boden. Niemals hätte ich gedacht, dass ich einmal im Regenwald stehen würde – vor allem nicht im brennenden. Ich huste, doch der Qualm hat sich schon tief in meine Lunge geschlichen. Die Sonne ist untergegangen, aber es ist taghell, denn der Regenwald, in dem ich stehe, brennt lichterloh. Der Wald schluchzt laut, es zischt und knackt. Langsam gehe ich die lange Waldschneise entlang. Es müssen mehrere Hundert Hektar sein, die die Flammen um uns herum auffressen.

Ein unerträgliches Knirschen fährt durch die Luft und ein Baum fällt genau vor mir quer über die Schneise. Unter lautem Donner schlägt er auf und mit dem letzten Atemzug entweichen abertausend kleine Funken, die noch ein wenig durch die Nacht wirbeln, ehe sie verglimmen. Plötzlich spüre ich ein Stechen auf meinem Arm und schlage schnell den Funken aus, der mir ein paar Haare abbrennt. Ich muss hier raus, fährt es mir scharf durch den Kopf. Schnell drehe ich mich um und erkenne im Qualm vor mir eine Wildschweinfamilie, die wohl den gleichen Gedanken hatte. Laut quiekend rennen sie auf mich zu, doch als sie mich sehen, bleiben sie abrupt stehen und schießen dann genau wieder ins Feuer hinein. Bin ich etwa eine größere Gefahr?

Als ich nach einem Ausweg suche, bleiben meine Augen an einem Baum hängen. Unfähig, den Blick abzuwenden, beobachte ich, wie er von innen nach außen von den Flammen zerfressen wird. In seiner Rinde klafft ein großes, lang gezogenes Loch und während ich beobachte, wie das Feuer darin züngelt, sieht es aus, als würde der Baum schreien. Ich horche auf. Nein – da schreit wirklich etwas. Suchend wende ich mich um und blicke nach oben: Etwas Leuchtendes hetzt im Zickzack über den Nachthimmel. Ungläubig beobachte ich die Feuerkugel eine Weile, wie sie über mir schreiend zappelt, um dann, in aller Stille, vom Himmel zu fallen. Eine Hand auf meiner Schulter reißt mich aus der Situation. André schaut mir tief in die Augen. »Ja«, sagt er, »hier fliegen brennende Vögel.«

An den folgenden Tagen bleiben wir noch in Mato Grosso. Wir kommen vorbei an Berg- und Goldminen, riesigen Rinderfarmen und Ranches, Menschen mit Cowboyhüten und einer Prärie, die einst Regenwald war.

Als wir gerade dabei sind, eine weitere Brandrodung aus der Ferne zu dokumentieren, höre ich plötzlich, wie ein Truck auf uns zukommt. André dreht sich um und ist sichtlich angespannt. Schnell packen Markus und Nick ihre Kameras weg, legen sie ins Auto und führen eine geschauspielert lockere Unterhaltung. Erst sehe ich ihnen verständnislos dabei zu, doch dann verstehe ich allmählich. Auch wir, als europäisches Filmteam und Umweltschützer:innen, müssen uns in Acht nehmen.

Der Wagen hält neben uns, wirbelt eine braune Staubwolke auf und ein Mann steigt aus. Er trägt ein schmutziges Shirt, Schweißtropfen rollen von seiner Schläfe über sein faltiges Gesicht und hinterlassen eine helle Spur, während sie den Dreck von seiner Wange waschen. Sein Name ist José und es stellt sich raus, dass ihm einige der Waldflächen gehören, die jetzt in Flammen stehen. Fast unmerklich schüttelt er den Kopf, während wir eine Weile die Brände beobachten. »Die Feuer weiten sich immer mehr aus, man kann sie kaum noch kontrollieren«, erklärt José. »Hier ist alles so unerträglich trocken. Kein Wunder, dass alles abbrennt. Ein Funke, ein Windhauch und die Brände springen auf die umliegenden Felder über. Wie kann ich das nur eindämmen?!« Zu meiner Überraschung plaudert er mit uns, als wären wir alte Bekannte.

»War es hier immer schon so trocken?«, frage ich. José schaut mich mit kastanienbraunen Augen an. Ich erkenne, dass sein Augenweiß ebenfalls eine braune Farbe angenommen hat. Es wirkt, als wäre es verrußt. José denkt nach. »Mein ganzes Leben arbeite ich als Landwirt, aber vor allem in den letzten Jahren ist es heißer geworden. Ich glaube, seit der Wald nicht mehr da ist, fehlt der Regen und unsere Ernten fallen immer mickriger aus.« Er runzelt die Stirn, zückt sein Handy und beginnt, Fotos zu machen.

»Damit ich später Beweismittel habe. Sonst werde ich vielleicht noch beschuldigt, ich hätte die Brände gelegt«, erklärt er, doch ich verstehe nicht ganz. »Wer, glaubst du, steckt hinter diesem Brand?«, hake ich nach. José zuckt mit den Schultern: »Na ja, es können viele sein. Vielleicht war es diesmal mein Nachbar, der Besitzer vom Feld nebenan. Oft sind es Landwirte wie ich oder Landspekulanten, die die Flächen frei machen, um sie zu verkaufen. Aber was bleibt uns auch anderes übrig? Fallen die Ernteerträge immer kleiner aus, dann müssen wir mit dem Verkauf von Land das Überleben unserer Familien sichern.«

Während José immer noch Fotos von den Bränden macht, müssen wir weiter, denn Markus hat einen anderen dicken roten Punkt auf der NASA-Karte ausgemacht. Schnell verabschieden wir uns und fahren los. Doch im Auto plagen mich weiterhin Fragen. Es ergibt immer noch keinen Sinn. »All diese Brände können doch unmöglich Kleinbauern gelegt haben, oder?«, rufe ich zu André nach vorn. »Es ist, wie José gesagt hat, es können viele dafür verantwortlich sein«, antwortet er. »Aber ich finde, ein riesiger Problemtreiber ist die industrielle Landwirtschaft. Sehr oft sind es Großkonzerne, die sowohl die Zerstörung vorantreiben und die Kleinbauern in Armut drängen als auch indigene Völker bedrohen. Hast du mal zum Beispiel von Cargill oder Estrondo gehört?«

Tatsächlich hatte ich von diesen beiden Großkonzernen gehört. Der Agrarbetrieb Estrondo ist mit 305 000 Hektar größer als Luxemburg und steht häufig in den Schlagzeilen: Betrug, Landraub, Zwangsarbeit und immer wieder Gewalt gegen die einheimische Bevölkerung6 – die Liste der Vergehen ist lang. Recherchen von Greenpeace belegen zudem, dass Estrondo im ganz großen Stil Wald und Boden vernichtet. Mehr als hunderttausend Hektar Natur wurden seit dem Jahr 2000 abgeholzt, um Platz für Rinderfarmen, Mais- und vor allem Sojaplantagen zu schaffen.7

Das größte Märchen, das uns erzählt wird, ist, dass diese Art des An- und Abbaus von Soja notwendig sei, »um die Welt zu ernähren«. Dabei zeigt ein Blick auf die Lieferkette ein ganz anderes Bild: Das Soja landet nicht auf den Tellern von Menschen, sondern in den Mägen von Tieren. Nahezu 90 Prozent werden als Viehfutter für die Fleischproduktion verwendet.8 Zum Beispiel Cargill: Der Milliardenkonzern ist der weltweit größte Hersteller von Rinderhackfleisch und beliefert die Fast-Food-Ketten McDonald’s und Burger King genauso wie die Lebensmittelkonzerne Danone, Nestlé und Unilever. Wir produzieren weltweit so viel an Nahrungsmitteln, dass wir damit leicht die Weltbevölkerung ernähren könnten, doch stattdessen hungern Milliarden Menschen. Megakonzerne wie Cargill9 dringen immer tiefer in die Wälder vor und verdrängen gewaltvoll Kleinbauern sowie indigene Menschen, die in ihnen leben.10

Die Sonne glüht rot und schwer am Horizont, bald würde sie weg sein. Markus rutscht nervös auf seinem Sitz hin und her, er verliert die Geduld. »Wir gurken jetzt schon Stunden hier herum und nirgends ist das Feuer.« Ich halte kurz inne. Er hat recht, wo ist das Feuer? Es ist total absurd: Zwar wird der Rauch immer dichter und dichter, doch die Brandquelle ist nicht auszumachen. Sie scheint nah und fern zugleich. Ich habe schon lange die Orientierung verloren inmitten der monotonen Landschaft, dem Braun in Braun.

»Yes! Ich hab Empfang!«, ruft Nick auf dem Vordersitz. Für ein paar Sekunden können wir uns neu orientieren, bis das Signal wieder abbricht. Wir kommen an einer recht düsteren Szenerie vorbei. Es gibt vereinzelt ein paar wenige Farmen und Höfe, die über ihren Hofeingängen Rinderschädel hängen haben. Die Menschen, die dort wohnen, schauen uns argwöhnisch nach, als wir an ihrem Grundstück entlangfahren. So viel Besuch bekommen sie anscheinend nicht. Mir wird unwohl. Doch bevor ich etwas sagen kann, biegen wir schon in eine Schneise ein, flankiert von etwas, das man kaum noch als Wald bezeichnen kann. Lange Zeit kommen wir nur an Gestrüpp vorbei, bis sich plötzlich ein Platz vor uns lichtet. Ich beuge mich nach vorn und reiße die Augen auf, um die Kulisse besser zu erfassen. Was sich vor uns zeigt, kann ich nur schwer beschreiben. Ich schnappe nach Luft.

Meilenweit sehen wir abgeholzte Felder, auf denen in regelmäßigen Abständen Haufen aus Resten von Ästen, Baumstämmen und Blättern aufgetürmt sind und in Flammen stehen. Es müssen Hunderte sein. Selbst mit der Drohne, die Markus sofort losschickt, können wir nicht die gesamte Fläche mit all den einzelnen Feuerstellen ausmachen.

»Was zur Hölle ist das?!«, stoße ich hervor. »Das – das ist die Endstation«, antwortet André, ohne den Blick von der Szenerie abzuwenden. »Hier wurde schon über Monate, vielleicht sogar Jahre hinweg alles abgeholzt und ausgerissen. Was du siehst, sind die letzten Reste dessen, was einst Regenwald war. Bald werden hier Sojaflächen sein.«

Markus springt aus dem Wagen, läuft in die Nähe eines der Haufen und beginnt zu fotografieren. »Markus! Komm zurück!«, ruft André aus dem Fenster. »Wir sollten erst einmal das Areal sichern. Das brennt hier noch nicht allzu lange, es ist noch frisch.« Seine Finger tippen nervös auf das Lenkrad. Aber Markus scheint ihn nicht zu hören und fotografiert unbekümmert weiter.

»Markus! Ich mein’s ernst. Komm zurück ins Auto.« Doch Markus ist in seinem Element. Nur kurz dreht er sich zu uns um und versucht, uns zu beschwichtigen: »Fahrt ihr, ich bleib hier – holt mich nachher einfach wieder ab!« Dann macht Markus kehrt und verschwindet zwischen den Feuerhaufen.

Wir fahren an der Grenze des Gebiets entlang und erkunden die Brandfläche. Auf einer Seite umgeben uns die kahlen Felder mit den einzelnen Feuerhaufen, auf der anderen Seite steht ein intaktes Waldstück. Was war das? Verwirrt drehe ich mich um und schaue aus dem Rückfenster. Waren das zwei Motorräder am Wegesrand? Ich habe mich sicher geirrt, denke ich noch, als plötzlich nach der nächsten Abbiegung ein parkendes Auto neben uns steht. Unsicher sehe ich zu André, dessen Miene sich langsam verdunkelt.

»Wir sollten umdrehen, oder? Zurück zu Markus?«, frage ich zögerlich. Mein Herz schlägt schnell. »Ja«, antwortet er bestimmt. »Wir wenden.« Doch wir kommen nicht weit. Wir sind gerade um die nächste Ecke gebogen, als André mit einem heftigen Tritt auf die Bremse donnert. Der Sitzgurt schneidet in meine Kehle, ich ringe nach Luft. Sekunden vergehen, bis ich erkenne, wer da vor unserem Wagen steht.

Es sind fünf Männer, einige halten eine Machete in der rechten und einen Benzinkanister in der linken Hand, andere tragen eine Flinte. Alle haben ihre Gesichter unkenntlich gemacht mit Tüchern, die sie sich um Kopf, Mund und Nase gebunden haben, nur die Augen blitzen hervor. Niemand bewegt sich, weder sie noch wir. Wer ist ängstlicher? André starrt mit aufgerissenen Augen geradeaus, seine Finger sind so fest ums Lenkrad geschlungen, dass die Knöchel weiß hervortreten. »Fuck!«, stößt er hervor, als er blitzschnell den Rückwärtsgang einlegt und mit einem Zug den Wagen um 180 Grad wendet. Wir brettern davon, zurück und hinaus aufs Feld, wo wir Markus gelassen haben. André ruft mir zu: »Kurbel das Fenster runter! Hörst du weitere Motoren?!« Ich lehne meinen Kopf aus dem Fenster und tatsächlich – mehrere Motoren heulen hinter uns auf. Motorräder und Autos folgen uns. Alles passiert in Sekundenbruchteilen, aber es fühlt sich an wie eine Ewigkeit, bis wir Markus finden und fliehen. Doch wohin?! Es gibt nur eine Straße.

Die Sonne steht schon so tief, dass es sich nur noch um Minuten handeln kann, bis sie verschwindet und die Dunkelheit uns Schutz bieten wird. »Los! Fahr aufs Feld raus, direkt zwischen die Feuer!«, ruft Nick. Seine sonst so ruhige Stimme ist einem angsterfüllten Klang gewichen. Die Feuerhaufen sind zu unserem Glück deutlich größer als unser Wagen, sodass wir scheinbar von ihnen verschluckt werden.

»Los, los, los! Motor und Lichter aus!«, raunt Markus von hinten. Wir alle haben die Fenster unten und lauschen. Sie kommen. Das Röhren der Motoren wird lauter, lauter und lauter. Wie eine Horde Hyänen schießen sie in unsere Richtung. Ich schließe die Augen, ziehe die Beine so dicht wie möglich an meinen Körper heran. Ich will verschwinden, nur zurück. Die Motoren sind jetzt so laut, dass sie direkt neben uns zu sein scheinen. Doch gerade, als sie am lautesten sind, flachen die Geräusche plötzlich ab, werden leiser und verlieren sich irgendwann in der Ferne.