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Bad Reichenhall, 1928. Die goldenen Zwanziger halten Einzug in dem mondänen Kurort und die Schwarzenbergs gehören mittlerweile zu den angesehensten Hoteliers-Familien der Stadt. Karl verwirklicht seinen Traum und eröffnet ein eigenes kleines Berghotel. Und auch ein weiterer Traum geht in Erfüllung: Er findet endlich seine große Liebe. Doch die Wahl seiner Verlobten stellt Anna auf eine harte Probe. Ist Karl blind vor Liebe?
Und nicht nur innerhalb der Familie gibt es Probleme: Der Krieg wirft seine Schatten voraus. Die Nationalsozialisten bestimmen mehr und mehr das öffentliche Leben. Werden die Schwarzenbergs diese schicksalhafte Zeit überstehen?
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Seitenzahl: 370
Cover
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Über dieses Buch
Über die Autorin
Titel
Impressum
Die handelnden Figuren
Bad Reichenhall, Königlich Bayerisches Staatsbad 1928 – 1930
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Bad Reichenhall, Königlich Bayerisches Staatsbad 1933 – 1934
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Bad Reichenhall, Königlich Bayerisches Staatsbad 1939
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Bad Reichenhall, Königlich Bayerisches Staatsbad 1944 – 1945
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Bad Reichenhall, Königlich Bayerisches Staatsbad 1950
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Bad Reichenhall, Königlich Bayerisches Staatsbad 1955 – 1956
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25
Epilog
Glossar
Danksagung
Das Erbe von Gullrock Hall
Der Sommer der Oliven
Mein kleines Café in Primrose Hill
Grandhotel Schwarzenberg – Der Weg des Schicksals
Grandhotel Schwarzenberg – Rückkehr nach Bad Reichenhall
Bad Reichenhall, 1928. Die goldenen Zwanziger halten Einzug in dem mondänen Kurort und die Schwarzenbergs gehören mittlerweile zu den angesehensten Hoteliers-Familien der Stadt. Karl verwirklicht seinen Traum und eröffnet ein eigenes kleines Berghotel. Und auch ein weiterer Traum geht in Erfüllung: Er findet endlich seine große Liebe. Doch die Wahl seiner Verlobten stellt Anna auf eine harte Probe. Ist Karl blind vor Liebe?
Und nicht nur innerhalb der Familie gibt es Probleme: Der Krieg wirft seine Schatten voraus. Die Nationalsozialisten bestimmen mehr und mehr das öffentliche Leben. Werden die Schwarzenbergs diese schicksalhafte Zeit überstehen?
Geboren und aufgewachsen in Bayern, verließ Sophie Oliver nach dem Abitur ihre Heimat, um zu studieren und die Welt zu erkunden. Mittlerweile ist sie zu ihren Wurzeln zurückgekehrt und lebt mit Familie und Hund auf dem Land. Sophie liebt die bunte Vielfalt, Schräges genauso wie Schönes sowie »all things British«. Ihre Lebensneugierde drückt sie in ihren Romanen und Kurzgeschichten aus, wobei sie sich darüber freut, in verschiedenen Genres schreiben zu dürfen.
Sophie Oliver
Der Beginn einer neuen Zeit
Originalausgabe
»be« – Das eBook-Imprint der Bastei Lübbe AG
Copyright © 2020 by Bastei Lübbe AG, Köln
Textredaktion: Dr. Ulrike Brandt-Schwarze
Covergestaltung: Birgit Gitschier, Augsburg unter Verwendung von Motiven © shutterstock: Nick_Nick | Yevhenii Chulovskyi | Hochzeiter | Alex Polo | Lukasz Szwaj | SK_Advance studio; © Trevillion Images: Lee Avision/
eBook-Erstellung: 3w+p GmbH, Rimpar (www.3wplusp.de)
ISBN 978-3-7325-6889-5
www.be-ebooks.de
www.lesejury.de
Anna Schwarzenberg, geb. Gmeiner, geschiedene Achleitner
Michael Schwarzenberg, Hotelier
Franziska Schwarzenberg, Tochter von Anna und Michael
Leonhard Achleitner, Salinenvorstand
Karl Achleitner, Sohn von Anna und Leonhard
Frieda Achleitner, Karls Tochter
Stanley Meyers, Geschäftsführer des Grandhotels
Adele Meyers, geb. Gärtner, seine Frau
Hedwig von Feil, Frau des ehemaligen Salinenmeisters
Katharina Bahlow, Hedwigs Tochter
Wolf Bahlow, Katharinas Sohn
Friedrich Bahlow, Katharinas Mann
Thomas Fischer, Kurdirektor
Augustine (Tine) Fischer, seine Frau
Georg Fischer, Sohn von Augustine und Thomas
Emma Fischer, Georgs Tochter
Hertha Loibl, geb. Zuck
Walter Loibl, ihr Mann
Grethe Loibl, ihre Tochter
Helene (Leni) Huber, Bauerntochter
Adi Huber, ihr Vater
Carolina Huber, ihre Mutter
William (Will) Harrison, US-Soldat
Sture Lund, Eintänzer im Grandhotel
Bad Reichenhall, Dezember 1928
Montag, den 31. Dezember 1928
Große Sylvesterfeier im Berghotel auf dem Predigtstuhl
Es spielt die in München bekannte, rassige, 5 Mann starke Jazzband
Jolly College Boys
Unter dieser Ankündigung im Grenzboten und im Badeblatt stand fett gedruckt das Wort »Stimmung«, mit einem Ausrufezeichen, und dahinter die Zeiten für die Sonder-Berg- und Talfahrten der Seilbahn in der Silvesternacht und am darauffolgenden Morgen. Ein Tisch im Bergrestaurant konnte unter der Telefonnummer 80 reserviert werden, die Platzkarten für die Gondel unter der 152.
Neben der Anzeige machten zahlreiche Plakate in der Stadt Reklame für die Veranstaltung. Was im Nachhinein nicht nötig gewesen wäre, denn alle vorhandenen Plätze waren innerhalb weniger Tage reserviert.
Seitdem die Predigtstuhlbahn am ersten Juli ihren Betrieb aufgenommen hatte, ruhten die Hoffnungen der Hoteliers und Gastronomen auf der Großkabinenseilbahn. Würde sie für den dringend benötigten Aufschwung sorgen? Das anspruchsvolle und vor allem zahlungskräftige Publikum wiederbringen, das sich vor dem großen Krieg Saison für Saison ein Stelldichein im vormals Königlich Bayerischen Staatsbad gegeben hatte? Kurdirektor Thomas Fischer und Michael Schwarzenberg, die den Bau der Bahn in die Wege geleitet hatten, hofften auf eine neue Art von Gästen, auf Sportler, Wanderer und Naturfreunde. Und der Lobgesang, den die Weltpresse auf die ebenso sichere wie rasche Beförderung den Predigtstuhl hinauf angestimmt hatte, schenkte den Bad Reichenhallern Hoffnung. Am meisten vermutlich Karl Achleitner, dem Betreiber des Berghotels, der ordentlich investiert hatte und für den es um nicht mehr und nicht weniger als die berufliche Existenz ging.
Anna Schwarzenberg trat aus dem Badezimmer und vor ihren Mann Michael. Sie trug ein bordeauxrotes Abendkleid, dessen Saum vorn bis zum Knie reichte und sich nach hinten verlängerte. Es war hochgeschlossen, mit einer zierlichen Schleife an der linken Schulter. Dazu passend hatte sie eine lange Perlenkette gewählt. Sie drehte sich einmal um die eigene Achse, um ihm die Rückenansicht nicht vorzuenthalten, denn dort fiel der Ausschnitt bis unter die Schulterblätter ab. Annas zu einem Bob geschnittenes Haar, das im Sommer die Farbe von Honig hatte, war in den Wintermonaten hellbraun geworden. Es harmonierte mit dem Stoff des Kleides, ihrer blassen Haut und den dunkel geschminkten Augen.
»Du machst mir eine große Freude«, sagte Michael mit Rührung in der Stimme.
Sie hielt inne und legte eine Hand an seine Wange. »Es war an der Zeit, ich weiß.«
Weit über ein Jahr war seit dem Tod von Mathias vergangen, seitdem hatte sie Trauer getragen. »Erst jetzt fühlt es sich richtig an, das Schwarz abzulegen. Den Schritt hinüber nach 1929 will ich zuversichtlich und in Farbe machen. Als hätte ich es überwunden. Selbst wenn ich niemals vergessen und noch weniger vergeben werde.«
Er küsste sie zart und flüsterte in ihr Ohr. »Das werden wir beide nicht. Für die anderen wird es scheinen, als blickten wir in die Zukunft, das setzt ein gutes Zeichen, Anna. Aber ein Teil unserer Herzen ist mit unserem Kind gestorben, und ich bin weit davon entfernt, die Sache auf sich beruhen zu lassen. Manchmal wünsche ich mir, ich wäre fähig, das zu praktizieren, was der Pfarrer jeden Sonntag in der Kirche predigt. Allerdings weiß ich, dass mir Vergeltung mehr Seelenfrieden beschert als Vergebung, so unchristlich das auch klingt.«
Sie umarmten einander und standen eine Weile schweigend im Salon ihrer Wohnung in der obersten Etage des Grandhotel Schwarzenberg. Michaels warme Handflächen fühlten sich angenehm beruhigend an auf der nackten Haut ihres Rückens.
Ein paar Stockwerke darunter wurde emsig gearbeitet, die Vorbereitungen für die große Gala zum Jahreswechsel liefen auf Hochtouren. In wenigen Stunden musste alles bereit sein.
»Ich habe ein komisches Gefühl, weil wir heute bei unserer eigenen Veranstaltung nicht dabei sein werden«, murmelte Anna, noch immer in Michaels Armen.
»Dazu besteht kein Grund. Stanley und Adele vertreten uns, das hatten wir doch abgesprochen. Er ist der Geschäftsführer, die Gäste mögen ihn. Der Abend wird reibungslos verlaufen.«
Über die Feiertage war das Grandhotel bis zum letzten Zimmer ausgebucht. Nach der Hyperinflation fünf Jahre zuvor hatten die Schwarzenbergs es durch Fleiß und fortschrittliche Ideen geschafft, das Haus zu einer neuerlichen Blüte zu führen. Langfristig sichern sollte diesen Erfolg unter anderem die Zusammenarbeit mit Bergbahn und Bergrestaurant. Den Jahreswechsel würden Anna und Michael erstmalig nicht in ihrem Hotel, sondern auf dem Predigtstuhl verbringen.
Obwohl sie deswegen nervös war, freute sich Anna auf die Feier. Mit vierzig Jahren konnte sie sich nicht daran erinnern, jemals selbst irgendwo zu Gast bei einer Silvesterveranstaltung gewesen zu sein. Es war das erste Mal.
»Franzi, bist du so weit? Wir wollen los«, rief Michael in Richtung des Zimmers seiner Tochter.
»Ja, sofort!«, kam es zurück. Die sechzehnjährige Franziska schnappte sich den Mantel von der Garderobe und kam etwas atemlos neben ihren Eltern zum Stehen. Blond, groß und mit den attraktiven Zügen ihres Vaters gesegnet, dem sie grundsätzlich in allen Belangen ähnlich war, wirkte sie an diesem Abend sehr erwachsen. Anna hatte ihr Kind noch nie in einem Abendkleid gesehen und musste schlucken. Unwillkürlich dachte sie an Mathias. Er wäre jetzt vierzehn. Nie würde sie ihn voller Mutterstolz in einem Anzug bewundern dürfen.
»Du siehst bezaubernd aus«, lobte sie die Tochter.
»Denk dran, kein Sekt, keine allzu wilden Tänze trotz Jazzkapelle und nur allerbestes Benehmen«, fügte Michael hinzu. »Die Leute werden darauf schauen, wie du dich verhältst, immerhin ist es deine erste Abendveranstaltung.«
»Ja, Papa. Aber ich habe doch schon einige bei uns im Hotel miterlebt. Recht viel anders wird es heute auch nicht werden. Ein Haufen aufgebrezelter Leut, die am Anfang alle steif tun und zu fortgeschrittener Stunde die Hosen runterlassen. Bildlich gesprochen«, fügte sie hastig hinzu. »Obwohl, bei manchen weiß man es nie ...«
»Franzi, dein Mundwerk ist wenig damenhaft. An diesem Abend sitzt unsere Familie oben im Berghotel auf dem Präsentierteller. Es kommen zahlreiche Prominente, also wird auch die Presse da sein. Mit Hosen runterlassen geht da sowieso nicht viel.« Er zwinkerte ihr verschwörerisch zu.
Im Winter war nach wie vor der Pferdeschlitten die praktischste Fortbewegungsmöglichkeit in Bad Reichenhall. Vor allem wegen des reichlichen Neuschnees der letzten Tage blieb das neue Mercedes-Benz-Automobil besser in der Garage. Da Michael aufgrund des Verlusts seiner Hand nicht selbst steuern konnte, hatte Anna gelernt, den Wagen zu fahren, um nicht immer auf den Chauffeur angewiesen zu sein. Der fungierte wiederum gleichzeitig als Kutscher für das Grandhotel Schwarzenberg und fuhr seine warm in Decken und Schaffelle eingepackte Herrschaft durch den Ort und über die steinerne Luitpoldbrücke zur Talstation der Predigtstuhlbahn.
Das schlichte, ganz im sachlichen Stil errichtete Gebäude tauchte durch Fackeln beleuchtet aus der Dunkelheit auf. Es wirkte wie ein moderner Tempel, und Anna fand, das war es auch irgendwie. Jedes Mal, wenn sie den Ort betrat, an dem die Gondel abfuhr, stiegen traurige Erinnerungen an das schreckliche Sommergewitter in ihr auf, in dem Mathias den Tod gefunden hatte. Damals hatte hier noch das Baubüro gestanden, nicht viel mehr als eine provisorisch zusammengezimmerte Hütte, in der sie bang ausgeharrt hatte, inniglich hoffend, dass Michael, Karl und Stanley ihren Sohn unversehrt im Wald dahinter finden würden.
Sie schüttelte den Kopf, um die unerwünschten Gedanken zu vertreiben. Dieser Abend gehörte der Familie. Die Trauer würde in einem kleinen Winkel ihres Herzens geduldig verweilen und sich später einen Weg zurück zu ihr bahnen, ohne dass Anna es verhindern konnte.
Zahlreiche Gäste warteten in Abendgarderobe und Zylindern, Pelzstolen und Capes darauf, von den rot-weiß lackierten, schwebenden Pavillons den Berg hinaufbefördert zu werden. Als die Schwarzenbergs an der Reihe waren und einstiegen, atmete Anna tief durch. Franziska griff nach ihrer Hand und drückte sie sanft, während die Gondel langsam über den nächtlichen Wald glitt. Je höher sie dem sternenklaren Himmel entgegenfuhren, desto stiller wurden die Leute, und schließlich verstummten alle gänzlich und genossen den grandiosen Ausblick, den das vom Schnee reflektierte Mondlicht ihnen bot. Verschneite Baumwipfel, dunkle Felswände und weit darunter die goldenen Lichter der Stadt.
Oben zeichneten sich die Linien des Hotels wie eine archaische Festung auf der Spitze eines schroffen Bergvorsprungs ab. Wiederum wurden sie von einer Reihe Fackeln empfangen, und ein roter Teppich wies ihnen den kurzen Weg von der Seilbahn hinüber zum Restaurant.
Der Veranstalter begrüßte jeden Gast persönlich mit Handschlag.
»Guten Abend, Mama«, sagte Karl Achleitner lächelnd. »Franzi, Michael. Schön, dass ihr gekommen seid, das bedeutet mir sehr viel.« Er beugte sich vor und küsste seine Mutter und die Halbschwester leicht auf die Wange.
»Alles sieht absolut zauberhaft aus. Ich bin stolz auf dich.« Anna merkte, wie gerührt ihre Stimme klang. Da stand er vor ihr, der lange Zeit verloren geglaubte Sohn. Mit einundzwanzig Jahren betrieb er nun Hotel und Restaurant auf dem Berg, hatte ehrgeizige Pläne und sah in seinem Abendanzug schick aus wie ein Mann von Welt. Sein Weg bis hierher war beschwerlich gewesen. Wäre es nach seinem Vater Leonhard gegangen, stünden sie allesamt nicht hier.
»Kommt dein Papa auch?«, fragte sie leise.
»Da bin ich mir ehrlich gesagt nicht sicher. Natürlich habe ich ihn eingeladen, aber er hat weder zu- noch abgesagt. Du kennst ihn, es wird ihm schwerfallen, über seinen Schatten zu springen.«
Anna haderte mit ihren Gefühlen, schämte sich für ihren Wunsch, Leonhard Achleitner möge der Veranstaltung bitte schön fernbleiben – für sie persönlich wäre das die weitaus angenehmere Situation. Karl hingegen lag bestimmt viel daran, seinem von Ehrgeiz zerfressenen Vater zu zeigen, dass auch der Sohn dabei war, etwas zu schaffen. Allein.
Im Herbst des letzten Jahres hatte Leonhard seine Drohung wahr gemacht und Karl aus der gemeinsamen Wohnung geworfen, da dieser sich beharrlich geweigert hatte, ein Ingenieurstudium an der Universität in München zu beginnen. Daraufhin hatte der Junge sich ein Zimmer in der Stadt genommen und seinen Unterhalt im Seilbahnbau verdient. Natürlich hatte Anna angeboten, ihn finanziell zu unterstützen, doch das hatte er rundheraus abgelehnt. Den Stolz hatte er von ihr geerbt, so viel stand fest.
Ein Kellner reichte ihnen Sekt von einem Silbertablett. Entgegen Michaels vorab groß angekündigtem Verbot erlaubte er auch Franziska, sich ein Glas zu nehmen. Danach stellten sie sich an die festliche geschmückte Bar im Restaurantbereich, von der aus sie beobachten konnten, wen Karl gerade begrüßte. An der Decke hingen Schneeflocken aus glitzernder Silberfolie, dazwischen goldene Ballons und Luftschlangen. Und auf allen Tischen stand Töpfchen mit grünem Klee, in denen eine Schornsteinfegerfigur steckte, drum herum gruppierten sich Glücksschweinchen aus Marzipan.
Anna dachte an den Tag zurück, an dem Karl zu ihr gekommen war, kurz nach Mathias‘ Beerdigung, in einer Zeit, zu der sie nichts als Schmerz gekannt hatte.
Es war das erste Mal gewesen, dass sie offen miteinander gesprochen hatten. Über die langen Jahre der Trennung und darüber, was zwischen ihnen zerbrochen war. Sie verstand seine Bitterkeit, spürte sie, als wäre es ihre eigene. Er musste sie allein überwinden. Vielleicht würde die Zeit ihm dabei helfen und ihre Geduld. Anna befürchtete, ihr Verhältnis zu Karl würde niemals einfach werden. Das hatte Leonhard mit spitzer Zunge vergiftet, und sie scheute sich davor, ihrem Sohn gegenüber diesen Verrat an seiner Liebe direkt anzuprangern, weil sie ihm nicht auch noch den Vater entfremden wollte. Die Annäherung vollzog sich langsam, in kleinen Schritten, mehr durfte sie nicht erwarten. Einer davon war es, ihm heute Abend zu zeigen, dass er für sie und die Familie derart wichtig war, dass sie ihrer eigenen Veranstaltung fernblieben, um an seiner Seite zu sein.
Die herzliche Begrüßung bestätigte Anna in diesem Entschluss.
»Schaut mal«, flüsterte Franziska ihren Eltern zu. »Ist das nicht Inge Lantschner, die gerade dem Karli die Hand schüttelt?«
Michael horchte auf. »Die Skirennläuferin aus Innsbruck? Tatsächlich. Sie hat überlegen die österreichischen Meisterschaften gewonnen, und ich wette, dass auch im kommenden Jahr niemand eine Chance gegen sie hat. Sie ist Weltklasse. Wer ist ihr Begleiter?«
»Seinen Namen kenne ich nicht, aber Adele und ich haben den Herrn in den letzten Tagen mehrfach in der Stadt gesehen. Sie hat gehört, er besitzt eine Firma, in der Ski hergestellt werden. Er ist ein Bekannter von Herrn Schwarz, du weißt schon, Sportartikel Schwarz.«
»Hm. Das macht Sinn.« Michael nickte Anna zu. »Es ist eine gute Idee von Karl, Wintersportler einzuladen und ebenso Unternehmer, die deren Ausrüstung produzieren. Bad Reichenhall mit seinen Bergen hat genauso viel zu bieten wie die Schweizer Dörfer, die derzeit in Mode sind. Wir sind auf dem besten Weg, uns ebenfalls als Wintersportort zu etablieren, und wer könnte dabei besser helfen als Karl, der selbst jahrelang in der Schweiz gelebt hat?«
»Mit wem sitzen wir am Tisch?«, fragte Franziska.
»Mit den Fischers. Ich glaube, sie bringen Georg mit.«
Franzi verzog bei dieser Information das Gesicht, und Anna war sich nicht sicher, ob es missbilligend oder gelangweilt war. Als kleines Mädchen hatte ihre Tochter gern mit dem Sohn von Tine Fischer gespielt, aber seitdem sie keine Kinder mehr waren, hatte sich die Begeisterung füreinander abgekühlt.
»Was ist? Ich dachte, ihr beide versteht euch. Wir haben extra vereinbart, dass er seine Eltern begleitet, damit du einen Tischherrn hast, den du kennst und der in deinem Alter ist.«
»Ach, aus Mitleid mit mir habt ihr den Georg verpflichtet, hier zu sein? Das wär aber nicht nötig gewesen. Der bildet nämlich sich eine Menge darauf ein, dass sein Vater Kurdirektor ist. Er meint, das macht ihn zu etwas Besonderem. Da täuscht er sich. Für mich ist er derselbe ungehobelte Bengel wie früher, der mich dauernd an den Zöpfen gezogen hat.«
»Na, na«, unterbrach Michael. »Aus dem Alter seid ihr wohl heraus. Erstens hast du mittlerweile kürzere Haare, und zweitens würde sich Georg nicht dafür interessieren, dich zu schikanieren. Wie alt ist er denn inzwischen?«
»Neunzehn.«
»Erwachsen, hm. Wann hast du ihn zuletzt gesehen, dass er einen derart miserablen Eindruck bei dir hinterlassen konnte?«
Franzi musste nachdenken. »Ich glaube, es war bei Tines Geburtstag.«
»Der ist im Februar. Zu der Zeit war Georg letztes Jahr im Internat, also gar nicht da. Daher dürfte das bald zwei Jahre her sein.« Und du warst damals im schlimmsten Backfischalter, fügte Anna im Geiste dazu. Das mochte die Behauptungen ihrer Tochter erklären.
»Er hat mich bei der Gelegenheit jedenfalls nicht beachtet und wie ein kleines Mädchen behandelt. Als ob ich nicht mehr gut genug für ihn wäre. Aber das ist jetzt egal. Einen Abend werde ich wohl in seiner Gegenwart überstehen. Es sind schließlich noch ein paar andere junge Herren da, die mich zum Tanzen auffordern können. Mir wird schon nicht langweilig werden.«
Ihre Eltern warfen sich einen vielsagenden Blick zu, den Franziska nicht bemerkte, denn sie nahm einen beherzten Schluck von ihrem Sekt. Zusammen begaben sie sich an den Tisch, und kurz darauf kam die Familie Fischer an.
Augustine trug ein petrolfarbenes Abendkleid nach der neuesten Mode und dazu eine Federstola in Safran. Sie war exakt ein Jahr jünger als Anna, und die beiden waren seit Langem eng befreundet. Auch wenn sie früher mehr Zeit gehabt hatten, diese Freundschaft zu pflegen. Als ihre Kinder klein waren, hatten sich die Frauen fast jeden Tag gesehen. Mittlerweile wurde der Nachwuchs flügge, und Anna war im Hotel eingespannt, sodass sie wenig Gelegenheit für private Treffen hatte. Umso intensiver genoss sie Abende wie diesen, bei denen all ihre Lieben um sie versammelt waren und die Stimmung heiter und unbeschwert war.
Der dunkelhaarige Georg sah seiner Mutter ähnlich, hatte jedoch nicht ihren blassen Teint, sondern die gesunde Gesichtsfarbe von Thomas Fischer geerbt, der schon bei den ersten Sonnenstrahlen braun wurde. Anna fiel auf, dass er seit ihrer letzten Begegnung nochmals weiter in die Höhe geschossen war, denn vor zwei Jahren hatte er seinen Vater noch nicht überragt.
Amüsiert beobachtete sie, wie Franzi und er sich recht distanziert begrüßten, einander aber unverhohlen musterten, sobald alle Platz genommen hatten.
»Ist es nicht fabelhaft, was Karl aus dem Restaurant gemacht hat? Wer hätte im Rohbau dieses Kastens gedacht, dass auf dem Berg eine schicke Perle entstehen könnte?« Augustine wies um sich. »Richtig elegant schaut es aus. Und die Idee, hier oben ins neue Jahr hineinzufeiern, ist grandios!«
»Ob das der Herr Salzmeier ebenso sieht, stelle ich hiermit infrage«, raunte Thomas und nickte unauffällig in Richtung Eingangsbereich, in dem Karl soeben seinem Vater förmlich die Hand schüttelte. Leonhard Achleitner trug zwar einen Abendanzug, allein sein finsterer Gesichtsausdruck passte nicht zu der heiteren Veranstaltung. Erstes Grau durchzog sein Haar, und zwischen den Augenbrauen hatte sich eine steile Falte eingegraben, die sich nicht mehr glätten mochte. Schmal war er geworden, fand Anna. Seine Wangen wirkten etwas hohl, oder lag das an der schummrigen Beleuchtung, die Schatten warf, wo normalerweise keine waren?
Leonhard Achleitner folgte Karl an ihren Tisch und begrüßte die Anwesenden. Natürlich würden sie alle zusammensitzen, als Familie und enge Freunde des Gastgebers. Ein Umstand, den Anna vorab nicht bedacht hatte, doch sie ließ sich nichts anmerken. Nicht einmal, als Leonhards prüfender Blick für einen langen Moment auf ihr ruhte. Alte Missbilligung glaubte sie darin zu erkennen, ein Ausdruck, mit dem er sie ansah, wann immer sie einander begegneten.
Das Essen wurde aufgetragen, und sie brachten sämtliche Gänge ohne Zwischenfälle hinter sich. Anna entspannte sich ein wenig. Vielleicht war es mittlerweile möglich, zivilisiert miteinander umzugehen. Sie würde das begrüßen.
Als die Jolly College Boys mit ihrer schwungvollen Musik einsetzten, forderte Georg Fischer Franziska sofort zum Tanzen auf, die sich zu Annas Amüsement nicht lange bitten ließ, sondern gleich erfreut aufsprang. Die Tanzfläche im hinteren Teil des Restaurants füllte sich im Nu.
»Ich gratuliere dir«, bemerkte Leonhard unvermittelt zu Anna. »Dein Plan geht anscheinend auf. So konntest du dich also von deinen Sünden Karl gegenüber freikaufen.«
Schlagartig verstummten die Gespräche am Tisch, und alle starrten den Salinenvorstand entgeistert an.
Karl fing sich als Erster wieder. »Wovon sprichst du, Papa?«
»Davon, dass deine Mutter mir in den Rücken gefallen ist, als es um eine vernünftige Ausbildung für dich ging. Eine, die dir eine sichere Zukunft ermöglicht hätte. Glaubst du, ich weiß nicht, von wem du das Geld für dieses Hotel und das Restaurant hast? Wer dafür gesorgt hat, dass du und nicht eine der großen Hoteliersfamilien von Bad Reichenhall den Zuschlag bekommen hast? Ein junger Bursche ohne finanzielle Eigenmittel, völlig unerfahren in dem Gewerbe? Korrumpieren hast du dich lassen, mein Sohn, und nun bist du ihr verpflichtet. Der Frau, die dich als Kind bei Fremden zurückgelassen hat, als wärst du lästiger Ballast, nur weil sie nicht schnell genug zurück zu ihrem Geliebten kommen konnte!«
Anna schnappte nach Luft, wollte protestieren. Glücklicherweise legte Michael sanft eine Hand auf die ihre und antwortete in ruhigem Ton. »Auf diese lächerlichen Vorwürfe gehe ich gar nicht erst ein. Wir wissen alle, wie es wirklich war. Aber natürlich haben wir mit Karl über die Möglichkeit eines Darlehens gesprochen, nachdem Sie ihn rausgeworfen haben, Herr Achleitner, und er auf sich selbst gestellt war und über die Runden kommen musste. Wir wussten, dass er die Investition, ein Berghotel zu gründen, niemals allein würde stemmen können, und ohne Eigenkapital bekam er auch keinen Bankkredit. Aber uns war klar, dass eine Einmischung von Anna und mir nur für böses Blut sorgen würde. Daher haben wir uns komplett aus der Sache herausgehalten.«
Leonhard schnaubte. »Sie glauben nicht ernsthaft, dass ich Ihnen das abnehme? Gerade Sie, Herr Schwarzenberg, sind bekannt dafür, unberechtigterweise einen Groll gegen mich zu hegen.«
Mit Schmerz im Herzen sah Anna auf Michaels andere Hand, auf die Prothese, die er seit dem Ende des letzten Krieges trug – in den er auf Leonhards Veranlassung hin hatte ziehen müssen. Aus reiner Böswilligkeit hatte ihr erster Mann erwirkt, dass Michael eingezogen worden war, seinen Tod billigend in Kauf nehmend. Jeder Groll gegen ihn war mehr als berechtigt.
»Das können Sie schon glauben«, sprang Thomas Fischer ein. Mit einem kleinen Lächeln im noch immer jungenhaft anmutenden Gesicht wirkte er geradezu provokant selbstsicher, und Annas Atem wurde ein wenig ruhiger. Sie musste sich nicht allein gegen Leonhard behaupten.
»Wissen Sie, ich halte große Stücke auf Ihren Sohn. Er ist ein kluger junger Mann mit visionären Ideen. Deshalb war ich es, der dafür gesorgt hat, dass er den Zuschlag für das Berghotel bekam, nicht Anna oder Michael. Und den Kredit hat er von mir persönlich erhalten und niemandem sonst. Alles wurde notariell abgesichert und ist rechtlich vollkommen in Ordnung. Im Gegensatz zu Ihnen glaube ich nämlich an Karls Erfolg. Und seine Mutter tut das ebenso.« Er nickte Anna zu, dann sah er Leonhard wieder an, sein Lächeln nun wie weggewischt. Sie wusste, es fehlte nicht viel, und sowohl Michael als auch Thomas würden die Geduld mit Leonhards impertinentem Benehmen verlieren. Was bildete er sich ein, an einem derart wichtigen Abend für seinen Sohn Streit vom Zaun zu brechen?
»Wenn du etwas mit mir klären möchtest, können wir das in einem anderen Rahmen besprechen, Leo. Nicht hier. Nicht jetzt. Die Silvesternacht gehört Karl.« Ihre Stimme klang eisig.
Michael erhob sich. »Lass uns tanzen, Anna.«
»Gern.«
Sie folgte ihrem Mann auf die Tanzfläche, Leonhards feindselige Blicke spürte sie förmlich im Rücken brennen.
»Wie kann er es wagen?«, flüsterte sie in Michaels Ohr. Gerade wurde ein langsames Stück gespielt, und er zog sie eng an sich. Der Zusammenklang von Kontrabass, Klarinette und Jazzbesen erinnerte an warmes Karamell und beruhigte Anna.
»Hast du bemerkt, dass seine Hände zitterten?«, fragte Michael. »Du weißt, wie sehr ich deinen früheren Gatten verabscheue, aber heute kommt es mir vor, als wäre er nicht er selbst. Vielleicht ist er krank und hat Schmerzen … nur so eine Vermutung. Das könnte ihn noch unausstehlicher machen als sonst.«
»Auch ich hatte vorhin den Eindruck, als wäre er auffallend schmal geworden.« Anna entspannte sich, ließ sich über die Tanzfläche führen und genoss die Momente der Nähe.
»Na ja, vermutlich nagt einfach nur die Boshaftigkeit langsam an seinem Aussehen«, flüsterte ihr Mann.
Sie musste kichern, schämte sich gleich darauf dafür und versuchte, sich zu beherrschen, was in einem Prusten resultierte.
Michael schob sie ein wenig von sich. »Schlimm genug, dass wir über Leonhard sprechen, während wir eigentlich romantisch tanzen sollten. Niest du mir jetzt auch noch ins Ohr?«
Anna lachte. »Nein, entschuldige bitte. Ich werde mich bemühen, ab sofort eine angemessen getragene Stimmung auszustrahlen. Ist die Musik nicht traumhaft? Wie ein Prickeln, das durch den Körper fließt.«
Er zog sie wieder näher und legte eine Hand auf ihren nackten Rücken. Seine Lippen streiften federleicht ihre Schläfe. »Dieses Kleid kannst du ruhig öfter tragen. Die fehlenden Stellen im Stoff gefallen mir.«
Sie schloss die Augen, gab sich den Rhythmus des Musikstücks hin und sog die Atmosphäre im Raum auf. Der Übergang vom alten zu einem neuen Jahr war immer etwas ganz Besonderes, anders als normale Dinnerpartys, Bälle oder Tanzveranstaltungen. Als sie die Augen wieder öffnete, sah Anna, dass auch Georg Franziska ziemlich eng in seinen Armen hielt. Die zwei hatten anscheinend alles um sich herum vergessen.
So viel zum ungehobelten Bengel, dachte sie. Erstaunlich, wie sich Ansichten innerhalb von drei Minuten drastisch ändern können.
Michael hatte die beiden ebenfalls im Blick und verzog die Mundwinkel.
»Lass sie«, flüsterte ihm Anna ins Ohr.
»Siehst du, wie er sie anschmachtet? Dafür ist unsere Franzi viel zu jung.«
»Hm. Denk daran, wie alt wir damals waren, als wir uns kennengelernt haben.«
Das brachte ihn zum Verstummen. Sie genossen die langsamen Takte, aber als die Musiker ein schnelles Stück anspielten, gingen sie gern auch darauf ein. Es war heiß im Raum, die Gesichter der Tänzer glühten, und allenthalben war Lachen zu hören. Ein voller Erfolg für Karl. Die Leute nahmen das neue Bergrestaurant an. Es würde sicher nicht das letzte rauschende Fest bleiben, das hier gefeiert wurde. Anna wusste, wie wichtig es war, einen guten Start zu haben. War ein Lokal einmal in Mode, war das die halbe Miete, und es galt die Gunst des Augenblicks zu nutzen. Dass Karl dies beherrschte, stand außer Frage. Besonders, was die verwöhnten Urlauber in Bad Reichenhall betraf, für deren Unterhaltung es eines speziellen Händchens bedurfte. Das hatte sie in vielen Jahren im Grandhotel Schwarzenberg gelernt, und ihr Sohn schien eine natürliche Begabung dafür zu haben.
Als die Jolly College Boys eine Pause machten, leerte sich die Tanzfläche, und auch Anna und Michael setzten sich zurück zu ihren Freunden. Karl wanderte von Tisch zu Tisch und kümmerte sich um seine Gäste. Leonhard hatte sich zu einem bekannten Politiker gesellt, der in einer Ecke des Raumes Hof hielt.
Franziska und Georg bekamen sie den gesamten Abend über wenig zu sehen, die beiden saßen mit anderem Jungvolk an der Bar, wenn sie nicht gerade tanzten, und unterhielten sich prächtig. Der Barmann mixte exotische Cocktails, die sogar bei den eingefleischten bayerischen Biertrinkern für Begeisterung sorgten. Zu fortgeschrittener Stunde wurden Canapés mit Fleisch, Käse und Fisch gereicht, Karl hatte an alles gedacht.
Kurz vor Mitternacht begaben sich die Gäste ins Freie und zählten zusammen die Sekunden, bis das Mitternachtsläuten unten im Ort einsetzte und zu ihnen heraufschallte. Ein buntes Feuerwerk begrüßte das neue Jahr, und Anna fragte sich, was 1929 wohl bringen würde. Bevor sie in Nachdenklichkeit abgleiten konnte, in eine Melancholie, die sie zum Jahreswechsel meist erwischte, ohne dass sie sich dagegen zu wehren vermochte, nahm Michael sie in den Arm.
»Ein frohes neues Jahr, mein Schatz.« Er strahlte sie an, küsste sie inmitten der Lärmmischung aus Geläut, explodierenden Feuerwerkskörpern und johlenden Menschen, bis ihr die Luft wegblieb. Die Fischers stießen mit ihnen an, und auch Franziska ließ sich wieder blicken, um ihre Eltern zu herzen.
Bald zogen sich die Gäste ins Warme zurück, um weiter zu feiern, allein Anna blieb noch einen Augenblick draußen, eingehüllt in ihren Mantel. Der viele Zigarettenrauch drinnen brannte in ihren Augen, und sie hatte das Gefühl, dass der Sekt ihr langsam zu Kopf stieg, daher wollte sie kurz durchatmen.
Zwischen der Bergstation und dem Hotel war ein Weg im tiefen Schnee geschaufelt, nicht mehr als ein Pfad, mit Schneemauern links und rechts, die sich hüfthoch auftürmten. Nach etwa zehn Metern gabelte er sich und verschwand in der Dunkelheit. Anna machte einige Schritte, bis sie den Fackelschein hinter sich gelassen hatte, und sah hoch in den glitzernden endlosen Sternenhimmel.
»Weißt du noch, wie wir früher zusammen hier heraufgestiegen sind? Ohne Seilbahn und Bergrestaurant und die ganzen Menschen?«
Sie fuhr herum. »Leo! Du hast mich erschreckt.«
Die Hände in den Hosentaschen, kam er auf sie zu, trug nur seinen Anzug, den Mantel hatte er offenbar an der Garderobe gelassen.
»Weißt du es noch?«, wiederholte er.
»Sicher. Es kommt mir zwar vor, als wäre es in einem anderen Leben gewesen, aber natürlich erinnere ich mich daran.«
Er stellte sich vor sie, versperrte ihr den Rückweg zum Restaurant.
»Als wir im Stadtrat darüber abgestimmt haben, auf welchen Berg die Bad Reichenhaller ihre Bahn hinaufbauen sollen, war ich nur deshalb für den Predigtstuhl, weil er mich an unbeschwerte Zeiten erinnert. Zuerst mit meinen Eltern, danach mit dir. Und nun ist alles verdorben, weil Karl einen auf Bergwirt machen muss und Essen serviert, anstatt was Anständiges zu studieren.«
»Mir ist kalt, Leo, dir bestimmt auch. Lass uns wieder hineingehen.«
»Das hat vorhin aber nicht so ausgesehen, als Michael dich abgeküsst hat wie ein hitziger Pennäler hinter dem Schulhof. Dabei ist es dir sicherlich heiß geworden, nicht wahr, Anna?«
»Bist du betrunken?«
»Kann schon sein.«
»Geh mir bitte aus dem Weg.«
»Ich bin noch nicht fertig.«
Wut stieg in Anna auf wie Sodbrennen, gallig und unerwünscht. Sie war es überdrüssig, Leonhards Launen ertragen zu müssen. Seit Jahren gefiel er sich in der Rolle des leidenden, gehörnten und verlassenen Ehemannes, dabei war er es gewesen, der durch Opportunismus und Ränkespiele ihre Ehe ruiniert hatte. Eine Ehe, die niemals hätte eingegangen werden müssen, wenn er nicht Intrigen gesponnen hätte.
»Am besten, du gehst nach Hause. Nicht, dass du dich wieder blamierst«, zischte sie ihm zu. »Weißt du noch, was beim letzten Mal geschehen ist, als du einen über den Durst getrunken hast? Die Hertha hat dich, Liebesschwüre schreiend, auf offener Straße zu Boden gerissen, weil du nicht mehr sicher auf den Beinen stehen konntest, und alle haben es gesehen.« Sie wusste selbst, dass dies die Tatsachen ein wenig strapazierte, zumal der Vorfall ewig zurücklag. Aber er provozierte sie, also wollte sie es ihm mit gleicher Münze heimzahlen.
Zu Annas Verblüffung lenkte er ein. »Erinnere mich nur nicht daran. Das entsetzliche Weib. Ich bin froh, wenn ich sie niemals wiedersehen muss. Du hast recht, ich sollte heimgehen. Lass mich dir nur noch rasch ein gutes neues Jahr wünschen, um der alten Zeiten willen.«
Er streckte ihr die Hand hin. Zögernd sah sie ihn an, unsicher, ob er es ernst meinte, dann ergriff sie sie. Sofort riss er Anna an sich, schob die andere Hand in ihren Nacken und presste seine Lippen hart auf die ihren. Er schmeckte nach Alkohol. Erinnerungen an den schrecklichsten Tag in ihrem Leben stürzten unkontrollierbar auf sie ein. Furcht und Abscheu packten sie, fester noch als Leonhard. Was, wenn er ihr wehtun würde? Er wusste doch, was man ihr angetan hatte, warum verhielt er sich derart grob? Ohne dass sie etwas dagegen unternehmen konnte, erstarrte sie, fühlte sich hilflos, bekam keine Luft mehr.
Plötzlich wurde er mit einem Ruck nach hinten weggezerrt. Blanke Wut stand in Michaels Gesicht, als er Leonhard einen Faustschlag versetzte, der diesen taumeln ließ.
»Die rechte Hand habe ich dank dir verloren, du Mistkerl, aber mittlerweile kann ich auch mit der linken zuschlagen!« Er spie die Worte geradezu aus. »Ich wusste, dass du mir irgendwann die Gelegenheit gibst, dir das zu beweisen. Wenn du meine Frau noch einmal anfasst, wird ein linker Haken nicht ausreichen, dann stehst du nicht mehr auf.«
»Soll das eine Drohung sein, Herr Schwarzenberg?« Leonhard wischte sich über die blutende Lippe.
»Das haben Sie absolut richtig erkannt, Herr Achleitner.«
Mit einem aufgebrachten Schnauben und ohne Anna nochmals anzusehen, stakste Leonhard auf unsicheren Beinen davon.
Zitternd stand sie in der Kälte, sah ihren Atem in stoßweisen Wölkchen vor ihrem Gesicht und war immer noch unfähig, sich zu bewegen.
Erst als Michael sie vorsichtig an den Schultern berührte, erwachte sie aus ihrer Starre. Sie warf sich in seine Arme, und er hielt sie fest.
»Ich war rechtzeitig da, Anna, ich hätte niemals zugelassen, dass er dir etwas antut.«
»Wie kommt er dazu, sich mir aufzudrängen? Als ob er von Sinnen wäre!«
»Betrunken ist er, mehr nicht, und ein alter Depp. Er sieht uns feiern, sieht, wie glücklich wir sind. Das erträgt er nicht. Ich hab es gewusst, er liebt dich noch immer, Anna.« Seine Stimme klang dunkel.
»Nein!«, rief sie. »Das ist keine Liebe, sondern verletzter Stolz, der langsam zu Besessenheit ausartet. Sobald er getrunken hat, ist er nicht er selbst.«
Anna wusste, dass er sich aus diesem Grund für gewöhnlich maßvoll hielt, wenn es um Alkohol ging. Ein gelegentliches Glas Bier, mehr gönnte er sich nicht, weil er es hasste, die Kontrolle zu verlieren. Sicher würde er sich morgen früh für das schämen, was er getan hatte. Doch war das keine Entschuldigung für sein Verhalten.
Mit dem Handrücken wischte sie sich über die Lippen, konnte ihn aber immer noch schmecken. Sie fühlte sich gedemütigt.
Michaels Mantel stand offen. Durch seinen Anzug hindurch spürte sie sein Herz wild pochen, seine Brust hob und senkte sich rasch. Er war ebenso aufgebracht wie sie.
»Ich hätte ihm am liebsten den Kopf abgerissen, als ich gesehen habe, wie er dich ... Eigentlich wollte ich dir Gesellschaft leisten, und dann komme ich aus dem Restaurant und gerade noch rechtzeitig. Das wird Konsequenzen für Herrn Achleitner haben.«
Sie ließ ihn los. »Das bringt doch nichts. Vergessen wir den Zwischenfall, und haken wir ihn als die dumme Tat eines Betrunkenen ab.«
»Das kann ich nicht«, knurrte er. »Und du kannst es ebenso wenig. Langsam ist das Maß dessen voll, was er sich ungestraft erlauben darf.«
»Leonhard ist mir egal. Ich werde weder mein Wohlbefinden noch das deine von ihm abhängig machen. Er ist schlicht und ergreifend nicht wichtig genug für uns, verstehst du? Wir lassen die Sache auf sich beruhen.«
»Wenn das dein Wunsch ist.«
Anna nickte grimmig und nahm Michael bei der Hand. Sie fror erbärmlich und wollte schnell wieder ins Warme.
Natürlich wäre ihr nichts lieber gewesen, als Leonhard zur Rede zu stellen, ihn anzuschreien. Doch würde das den Kuss nicht ungeschehen machen. Er hatte ihr seinen Willen aufgezwungen, sie seine körperliche Überlegenheit spüren lassen und ihr gezeigt, wie wenig er sie respektierte. Aber sie war keine siebzehnjährige Küchenmagd mehr und er kein Friedrich Bahlow. Er konnte ihr nicht wehtun. Leonhard Achleitner war für Anna ein armseliger, unbedeutender Mann.
Bad Reichenhall, Januar 1929
Obwohl er Anna versprochen hatte, den unerhörten Zwischenfall zu vergessen, dachte Michael ständig daran. Es hatte ihm einen Stich ins Herz versetzt, zu sehen, wie Achleitner seine Lippen auf Annas gepresst hatte. Vollkommen aufgelöst war sie gewesen, gezittert hatte sie – verständlicherweise, ihm war es nicht anders ergangen. Und nun sollte er tun, als wäre nichts geschehen? Einerseits konnte er nachvollziehen, dass sie nicht willens war, sich damit auseinanderzusetzen, und er respektierte ihren Wunsch. Andererseits bereitete es ihm Schwierigkeiten, seine Wut auf den Salinenvorstand im Zaum zu halten. Gut, dass Arbeit auf ihn wartete, die würde ihn ablenken.
»Morgen ist Heilig Drei König. Der Feiertag fällt dieses Jahr auf einen Sonntag. Wir haben einige Abreisen, danach ist es eine Woche lang ruhiger, aber ab dem Vierzehnten sind wir wieder ausgebucht.« Stanley Meyers hielt einen Notizblock, auf den er schaute, während er gleichzeitig mit einem Löffel in seiner Kaffeetasse umrührte. Er saß bei Michael im Büro, und die beiden besprachen die Hotelpläne für die nächste Zeit.
»Das heißt, falls du die kommenden Tage nicht hier wärst, würden wir trotzdem über die Runden kommen?«
»Ganz schwierig, natürlich. Wenn ihr euch ranhaltet, könntet ihr es vielleicht ohne mich schaffen. Gerade so.« Der Geschäftsführer des Grandhotels grinste seinen Chef und besten Freund an. In den vergangenen Jahren hatte der gebürtige Amerikaner die deutsche Sprache ausgezeichnet erlernt, seinen Akzent würde er aber nie verlieren. Dafür war er mit seinen bald sechzig Lenzen wahrscheinlich schon zu alt. »Warum? Was schwebt dir vor?«
Michael seufzte. »Ein Spezialauftrag. Ich möchte, dass du nach Berlin fährst. Nach Babelsberg, genauer gesagt, in das Filmatelier ...«
»... in dem Wolf Bahlow versucht, Fuß zu fassen?«
»Ja.«
»Was soll ich dort tun?«
»Nur deine Fühler ausstrecken, mehr nicht. Ich habe gehört, er hat vor, als Produzent in die Filmwelt einzusteigen. Und es interessiert mich, ob er damit schon Erfolg hatte. Ob es ein Projekt gibt, an dem er arbeitet, ob er Geldgeber findet und was er genau plant. Einfach alles, was du herausfinden kannst, ohne dass er von deiner Anwesenheit erfährt.«
»Revenge is a dish best served cold«, zitierte Stanley die Redensart auf Englisch. »Bist du nun so weit, um Vergeltung zu üben?«
»Ich denke ja.«
»Du weißt, dass du dich nicht besser fühlen wirst, wenn du dich an Wolf Bahlow dafür rächst, dass er deinen Sohn aus Boshaftigkeit auf den Berg geschickt hat, obwohl ein Gewitter drohte? Er war ein dummer Junge, dem wahrscheinlich nicht einmal bewusst war, dass er Mathias dadurch in tödliche Gefahr brachte.«
Das sah Michael anders. »Wenn du nicht fahren willst ...«
»Doch, doch, kein Problem. Ich schnuppere gern ein wenig Großstadtluft. Es ist zwar schön hier in den Bergen, aber Abwechslung schadet nicht.«
Sie beschlossen, weder Anna noch Stanleys Frau Adele den wahren Grund für die Reise zu nennen. Stattdessen behaupteten sie, es wäre notwendig, die bekannten Grandhotels in der Hauptstadt einer Inspektion zu unterziehen, um zu sehen, ob das Schwarzenberg auf aktuellem Stand war. Tatsächlich trug sich Michael mit Renovierungsgedanken, und Stanley würde sich in Berlin sowohl das Esplanade am Potsdamer Platz als auch das Adlon auf dem Boulevard Unter den Linden ansehen und hoffentlich ein paar neue Ideen mitbringen.
Stanley reiste am Dienstag ab und meldete sich bereits am Mittwoch telefonisch mit ersten Informationen. Das Adlon hatte es ihm angetan, er fand es grandios.
»Es geht zu wie in einem Taubenschlag«, erzählte er. »Ständig halten Automobile vor dem Portal, und Gäste reisen an und ab. Ich glaube, die haben eine ganze Armee von Kofferträgern, Rezeptionisten und Concierges. Das sind Dimensionen, Michael, die können wir uns in Bad Reichenhall nicht vorstellen.«
Wolf Bahlow hingegen lebte wenig glamourös in einem heruntergekommenen Zimmer in Berlin-Mitte. Seine Hauswirtin beschwerte sich bei Stanley darüber, dass er ständig mit der Miete im Verzug wäre und spätnachts oft noch Lärm machte. Gegen ein kleines Entgelt zeigte sie sich äußerst auskunftsfreudig. Im Studio in Babelsberg gab sich Wolf wohlhabend und weltmännisch, sammelte aber durch seine Art wenig Sympathien. Tagtäglich tauchte er dort auf, meist nicht vor mittags.
»Was macht er konkret?«, fragte Michael.
»Sich ziemlich wichtig. Keiner kann ihn leiden.« Stanleys Stimme klang abgehackt, die Verbindung war schlecht. »Ich vermute, er braucht dringend finanzielle Mittel, wenn er etwas auf die Beine stellen will. Eine Sekretärin von der UFA, die recht entgegenkommend war, weil ich mich als amerikanischer Investor vorgestellt habe, meinte, Wolf Bahlow plane seit einem Jahr einen abendfüllenden Spielfilm. Er hat allerdings keine Geldgeber, keinen Regisseur und keine Schauspieler. Die Dame vermutet – wie übrigens die meisten Leute, mit denen ich gesprochen habe –, dass er ein, wie heißt es doch gleich, ein Landei ist und vom Geld seiner Familie lebt, das ihm langsam ausgeht.«
Michael saß am Schreibtisch, hatte die Füße hochgelegt und nagte an seiner Unterlippe. Er überlegte. »Danke, Stanley«, meinte er dann. »Mach dir noch zwei schöne Tage im Adlon, wenn du magst.«
»Das ist nicht notwendig. Falls ich nichts mehr für dich tun kann, komme ich morgen mit dem ersten Zug heim. Ich vermisse Adele. Ach, übrigens – ich habe im Studio dabei zugesehen, wie ein Werbefilm gedreht wurde. Was hältst du davon, wenn wir so etwas über Bad Reichenhall aufnehmen? Groß aufgezogen, mit musikalischer Untermalung, als weltweite Lichtspielhausreklame? Darüber sollten wir dringend sprechen, sobald ich wieder zu Hause bin. Ich denke, das könnte uns viele neue Gäste bescheren. Reklame wird immer wichtiger.«
Nachdem sie aufgelegt hatten, dachte Michael daran, wie Stanley sich seinerzeit darum bemüht hatte, Adele Gärtner, die Hausdame des Hotels, für sich zu erobern. Seitdem sie verheiratet waren, kam es ihm vor, als würde sein Freund jene Zufriedenheit ausstrahlen, nach der er vorher unablässig gesucht hatte. Während ihrer gemeinsamen Zeit als Goldsucher in Kanada war Stanley Meyers ein unruhiger Geist gewesen, rastlos und stets auf der Jagd nach etwas, das er nicht zu benennen vermochte. In seiner Gattin hatte er es schließlich gefunden. Michael gönnte ihm das relativ späte Glück mit der deutlich jüngeren Frau von Herzen. Und gelegentliche Ausflüge wie dieser nach Berlin taten dem ehemaligen Abenteurer gut.
Im obersten Stock des Hotels, im großzügigen Apartment, das Familie Schwarzenberg privat bewohnte, fand Michael seine Tochter in ihrem Zimmer. Sie steckte halb im Kleiderschrank und kramte darin herum, dabei murmelte sie vor sich hin.
»Franzi? Was suchst du denn?«
»Meine Schneeschuhe«, kam die dumpf klingende Antwort aus dem Schrankinneren.
»Die sind auf dem Dachboden.«
»Tatsächlich?« Sie richtete sich auf und strich sich die schulterlang geschnittenen blonden Haare glatt. »Da kann ich ja lange herumwühlen.«
»Wenn du ein wenig System in dein Chaos bringen würdest, müsstest du überhaupt nicht wühlen. Sondern könntest auf einen Blick beurteilen, was du hast. Wofür brauchst du die Schneeschuhe eigentlich?«
»Karl macht mit einigen Gästen eine Wanderung oben in der Sonne auf dem Predigtstuhl. Das Wetter ist traumhaft. Ich möchte gern mitgehen. Er hat gemeint, das wäre in Ordnung.«
»Wer ist sonst noch dabei?«
Franziska wurde rot. »Die anderen kenne ich nicht. Außer Georg Fischer.«
Michael beschloss, diese Information unkommentiert zu lassen. »Du hältst dich bitte an deinen Bruder, Franzi. Versprich mir das. Der Karl kennt sich aus auf dem Berg, und ich will nicht, dass du dich in Gefahr bringst. Mag sein, dass die Sonne lacht und alles aussieht wie eine Märchenlandschaft. Aber unterschätze es nicht. So ein Schneebrett ist schnell ausgelöst, wenn man Dummheiten macht und ...« Er verstummte, wollte nicht klingen wie ein übervorsichtiger Vater, immerhin war sie kein kleines Kind mehr.
»Mach dir keine Sorgen, Papa. Du kannst dich auf mich verlassen.«
»Das weiß ich.« Er setzte sich auf Franziskas Bett und sah ihr dabei zu, wie sie herumliegende Kleidungsstücke aufsammelte und zurück in den Schrank räumte.
»Warum bist du heraufgekommen?«, fragte sie.
»Weil ich etwas mir dir besprechen möchte. Ich habe Stanley nach Babelsberg geschickt, um herauszufinden, was Wolf Bahlow treibt.«
Sie hielt mitten in der Bewegung inne, ließ die Bluse sinken, die sie auf einen Bügel hatte hängen wollen. »Er ist noch immer dort, nicht wahr?«, flüsterte sie. »Wie ich es dir gesagt hatte. Was hast du vor?«
»Ich habe einen Freund in Amerika kontaktiert. Der wird Wolf ein Angebot machen, das er nicht ausschlagen kann. Und dann haben wir ihn.«
»Warum, Papa? Das bringt uns Mathias nicht wieder. Wir müssen nach vorn schauen, dürfen uns nicht von Bitterkeit auffressen lassen. Ich vermisse ihn ebenfalls, aber meinst du wirklich, dass ‚Auge um Auge‘ der richtige Weg ist, um endlich deinen Frieden zu finden?« Sie setzte sich neben ihn und lehnte sich an seine Schulter.
Es war der einzige Weg, den er um jeden Preis zu Ende gehen würde. Egal wie lange es dauerte, was es kostete und welcher Entbehrungen es bedurfte.
»Wir waren uns doch einig, dass er nicht einfach davonkommen darf. Sag bitte deiner Mutter nichts davon, ich möchte nicht, dass sie sich aufregt.«
»Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht an Mathias denke. Er würde heute bestimmt mit auf die Wanderung gehen wollen und sich darüber freuen, bei den Großen dabei zu sein. Manchmal rechne ich damit, dass er jeden Augenblick hereinkommt. Geht es dir auch gelegentlich so? Als hättest du vergessen, dass er tot ist?«
Er schluckte. »Ja. Umso stärker spüre ich den Schmerz, wenn es mir dann wieder einfällt.«