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Ein gruseliges Bild: Auf einem Bierstädter Spielplatz sitzt eine Muslima und wiegt ein totes Mädchen im Arm. Schnell stellt sich heraus, dass die zweijährige Öslen keines natürlichen Todes gestorben ist. Doch die Mutter schweigt. Hat sie selbst etwas mit dem Mord zu tun? Polizeireporterin Maria Grappa erfährt, dass die junge Frau einige Zeit im syrischen Aleppo als Kämpferin der Terrorgruppe Islamischer Staat verbracht hat. Damit nicht genug, steht der Vater des Kindes, der gesuchte Terrorist Ali Mutas, in Verdacht, sich in einem Flüchtlingsheim unter falscher Identität zu verstecken und einen Anschlag zu planen. Bierstadts Stadtobere sind verunsichert und möchten die Vorkommnisse nicht an die große Glocke hängen, schließlich ist der religiöse Frieden in Gefahr. Aber ist das wirklich die ganze Wahrheit? Grappa beschleichen Zweifel, als sie herausfindet, dass es Geheimkonferenzen gibt, an denen nicht nur der umstrittene Imam Ahmad Sahin, der Großvater des toten Kindes und potenzieller Träger des Integrationspreises der Stadt, teilnimmt, sondern auch ihr Chef Berthold Schnack. Es kommt zum Eklat - ein Grund mehr, dass die Reporterin nun durchstartet …
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Seitenzahl: 250
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Gabriella Wollenhaupt
Grappa greift durch
Kriminalroman
© 2016 by GRAFIT Verlag GmbH
Chemnitzer Str.31, 44139 Dortmund
Internet: http://www.grafit.de
E-Mail: [email protected]
Alle Rechte vorbehalten.
Umschlagfoto: Aleksandar Mijatovic/123rf.com
eBook-Produktion: CPI books GmbH, Leck
eISBN 978-3-89425-196-3
Die Autorin
Gabriella Wollenhaupt arbeitete viele Jahre als Fernsehredakteurin in Dortmund. Ihre freche Polizeireporterin Maria Grappa hatte 1993 ihren ersten Auftritt. Mit Grappa greift durch stellt sie zum sechsundzwanzigsten Mal ihre Schlagfertigkeit unter Beweis.
Zudem hat sich die Autorin gemeinsam mit ihrem Ehemann Friedemann Grenz mit Blutiger Sommer auf einen Ausflug in den Vormärz und mit Schöner Schlaf in die Kunstszene begeben.
Personen
Abbas al-Sayed
scheint voll integriert
Carsten »Bärchen« Biber
macht sich nützlich
Hakim Chalid
sorgt für Bombenstimmung
Maria Grappa
greift durch
Simon Harras
bleibt sportlich
Friedemann Kleist
hat eine gute Idee
Ali Musa
will nichts als Rache
Wayne Pöppelbaum
beweist ein großes Herz
Duru Sahin
nimmt den falschen Weg
Elif Sahin
bestimmt ihr Schicksal selbst
Imam Ahmad Sahin
spielt falsch
Anneliese Schmitz
sorgt für Bodenhaftung
Berthold Schnack
muss Federn lassen
Susi, Stella, Sarah
sind nicht zu schlagen
Erkan Tercanli
landet im Paradies
Perihan Tercanli
liebt die Freiheit
Elisabeth Weiß
ist auf der Suche
Pedro Weiß
bleibt auf der Strecke
Margarete Wurbel-Simonis
weiß sich zu wehren
Und tötet sie (die Ungläubigen), wo immer ihr sie trefft, und vertreibt sie, von wo sie euch vertrieben haben. Denn Verführen ist schlimmer als Töten. Kämpft jedoch nicht gegen sie bei der heiligen Moschee, bis sie dort (zuerst) gegen euch kämpfen. Wenn sie aber (dort) gegen euch kämpfen, dann tötet sie. So ist die Vergeltung für die Ungläubigen.
Koran, Sure 2, Vers 191
Gott ist zornig über alle Heiden … Er wird sie verbannen und zum Abschlachten freigeben. Und ihre Erschlagenen werden liegen gelassen, sodass der Gestank von ihren Leichnamen aufsteigt, und es werden Ströme von Blut fließen.
Bibel, Altes Testament, Jesaja 34, 2–3
Der Islamist, der arme Wicht, die gute Laune kennt er nicht. Hat keine schöne Volksmusik, drum führt er gern Guerilla-Krieg. Vom Himmel tropft das Flugbenzin. Vom Minarett der Muezzin: Mit Mohammed und Allah, Tod Israel, Tod U.S.A.! Die Frau verhängt er gern mit Stoff, er betet mit Kalaschnikow. Das Polka-Tanzen fällt ihm schwer, drum bombt er gern im Nahverkehr.
Kabarettist Andreas Rebers ›Der Islamist‹
Der Anruf kam nachts
»Frau Grappa, du musst sofort kommen!«
»Was, jetzt?« Ich schaute auf die Uhr. »Es ist zwei Uhr nachts.«
»Trotzdem. Ich weiß nicht, was ich machen soll.«
»Gut.«
Katzenwäsche, ab ins Auto, losfahren. Anneliese Schmitz wohnte in einer ehemaligen Zechensiedlung. Kleines Häuschen, Nutzgarten mit Gemüse und Obst, die Gartenmöbel aus Europaletten stammten vom Vorbesitzer.
Ich drehte das Radio auf und öffnete das Dach. Schmusemusik in der Endlosschleife. Weltnachrichten. Menschen verließen in Massen die Kriegsgebiete im Nahen Osten. Randale vor Flüchtlingsheimen. Der Sommer war heiß und trocken.
Ein fetter Falter klatschte sich an der Autoscheibe zu Tode und hinterließ einen schmierigen Fleck.
Was war los mit Frau Schmitz? Die Erfinderin meiner Lieblingsmandelhörnchen mit den beiden Schokoenden hatte in den letzten Monaten abgebaut. Sie traute sich nichts mehr zu, haderte mit ihren Zipperlein und grübelte über den Sinn des Lebens nach. Und jetzt dieser Anruf.
Ich bog in die schmale Straße ein und fuhr langsam auf Frau Schmitzens Haus zu. Sie stand in der Tür und kam mir entgegen.
»Da bist du ja, Frau Grappa«, begrüßte sie mich. »Wie isses?«
»Na ja, wie man sich so fühlt, wenn man aus dem Bett geworfen wird.«
»Ging nicht anders. Komm!«
Ich folgte ihr auf einen schmalen Weg zwischen zwei Koloniehäusern. Rechts und links Gärten. Bewegungsmelder sorgten für Licht. Der Weg endete an einem Platz. Wippe, Klettergerüst und noch einiges, von dem Erwachsene glauben, dass sich Kinder gern damit beschäftigen. Spielen nannte man das.
»Psst!« Frau Schmitz deutete ins Dunkel. »Da hinten.«
Zunächst sah ich nichts, dann hörte ich ein gleichmäßiges Quietschen, wie von einem schlecht geölten Scharnier.
»Achte auf die Schaukel«, flüsterte sie. »Siehst du sie?«
Mit meiner Hand schützte ich meine Augen vor dem Licht einer Lampe, die mich blendete, und sah tatsächlich etwas: In dem Sand hinter einer Schaukel saß eine Gestalt, die jemanden oder etwas auf dem Spielgerät ins Schwingen brachte.
»So sitzt die da schon die ganze Zeit und reagiert nicht«, berichtete Frau Schmitz.
»Hast du sie angesprochen?«
»Ja. Ich hab gerufen, ob sie Hilfe braucht. Aber sie gibt keinen Mucks von sich.«
»Frau Schmitz, was um Himmels willen machst du mitten in der Nacht hier draußen?«, raunte ich, ohne die Gestalt aus den Augen zu lassen.
»Vollmond.« Sie deutete auf die blassgelbe Kugel über uns. »Ich schlaf da kaum. Also geh ich spazieren.«
»Hast du keine Angst, dass jemand im Busch lauern und dir eins überbraten könnte?«
Anneliese Schmitz schüttelte den Kopf. »Ach was. Die Neonazis, die sonst hier rumlungern, liegen vollgesoffen im Koma, und die Flüchtlinge in der Turnhalle müssen ab zehn ins Bettchen.«
Das Quietschen der Schaukel strapazierte meine Nerven.
»Komisch ist das schon.«
»Mein ich doch«, flüsterte sie.
»Ich geh da jetzt hin«, entschloss ich mich. »Du bleibst hier. Wenn irgendwas passiert, rufst du die Bullen. Hast du dein Handy dabei?«
Sie hatte. »Sei vorsichtig, Frau Grappa.«
Langsam bewegte ich mich auf die Gestalt zu. Der volle Mond gab mir Licht.
»Hallo!«, rief ich. »Kann ich Ihnen helfen?«
Die Person war eine Frau. Eine zierliche Gestalt, die ein Kopftuch trug. Sie war vollkommen auf die Schaukel konzentriert, stieß sie immer wieder von sich und wartete, bis sie zurückschwang.
Die Schaukel hatte eine Rückenlehne und zwei Armstützen, auf der Sitzfläche befand sich eine Art Sack. Ich ging langsam weiter, griff in die Kette und stoppte die Bewegung. Nein, das war kein Sack, das war ein Körper. Der Körper eines kleinen Kindes. Die Arme waren festgeschnürt. Der Kopf des Babys war nach vorn gefallen. Vorsichtig legte ich die Hand unter das Kinn. Die Haut des Kindes war kalt.
»Ruf die Bullen!«, schrie ich Richtung Frau Schmitz. »Und sie sollen einen Notarzt mitbringen.«
Zwanzig Minuten später tauchten Scheinwerfer den Spielplatz in gleißendes Licht. Frau Schmitz und ich saßen auf einer Bank am Rand des Geländes. Dort, wo gewöhnlich die Mütter sitzen und ihre lieben Kleinen beim Spielen beobachten.
»Dass du davon Fotos machen kannst«, krächzte die Bäckerin mit einem missbilligenden Blick auf mein Smartphone.
»Das ist nun mal mein Job«, verteidigte ich mich, »wenigstens so lange, bis Pöppelbaum kommt. Der ist unterwegs. Gerade du bist doch immer ganz wild auf solche Bilder.«
»Aber doch nicht bei Kindern!«
»Das Kind hab ich gar nicht geknipst. Oder doch?«
Ich schaute mir die Fotos an, die ich bisher gemacht hatte. Der Blitz hatte nicht immer funktioniert, sodass manche Bilder leicht körnig und unscharf waren. Ich hatte mit zitternden Händen einfach nur draufgehalten, ohne ein bestimmtes Motiv anzupeilen. Das Kind war nur ein dunkler Fleck und nicht als Körper zu identifizieren.
Die Frau mit dem Kopftuch hatte ich mehrmals abgelichtet, was keine Kunst war, denn sie hatte sich nicht gerührt, auch nicht, als die Polizei anrückte. Inzwischen war sie von Polizisten in einen Mannschaftswagen gebracht worden.
»Guck mal, wie jung die noch ist.« Ich hielt Frau Schmitz das Phone hin.
Sie betrachtete das Bild, schluckte und meinte: »Selbst ein halbes Kind. Ob sie die Mutter von dem Kleinen ist?«
»Ich hab keine Ahnung. Aber wir werden es bald wissen.«
»Sie trägt ein Kopftuch. Wird wohl eine Muslima sein.«
»Scheint so«, nickte ich.
»Ob sie das Kind umgebracht hat?«
»Frau Schmitz, ich bin keine Hellseherin. Es kann ja auch ein Unfall gewesen sein, eine Krankheit oder ganz was anderes. Warten wir einfach ab.«
Die Spurensicherer stapften in ihren weißen Schutzanzügen über den Platz und suchten das Gelände ab. Die Schaukel wurde abgehängt und in einem Plastiksack verstaut.
»Dass du mal vor mir an einem Tatort bist, ist ja wirklich der Hammer, Grappa.« Pöppelbaum war angekommen. Aus seinen Augenwinkeln winkte das Sandmännchen.
»Frau Schmitz war noch früher da«, erklärte ich.
»Hast du Fotos gemacht?«
»Klar. Aber sie sind nicht besonders gut geworden. Das Flutlicht hat einiges versaut.«
»Mit Photoshop krieg ich jedes Bild hin«, beruhigte er mich. »Wie geht das denn jetzt hier weiter? Ist ein Pressebulle da?«
»Nein. Um die Uhrzeit doch nicht. Der Einsatzleiter ist der kleine Dicke mit dem Schnäuzer. Er hat Frau Schmitz und mich schon vernommen. Die Presseinformation gibt es heute Nachmittag.«
Pöppelbaum machte die üblichen Aufnahmen von der Umgebung, den Polizisten und dem Notarztwagen.
Ich schaute auf die Uhr. Es war kurz vor vier Uhr, der Himmel erhellte sich schon.
»Können wir bei dir einen Kaffee kriegen, Frau Schmitz?«, fragte ich.
Professionell verformt?
Eine halbe Stunde später saßen wir am Küchentisch von Frau Schmitz. Niemand sprach. Mein Adrenalinspiegel sank spürbar und mir wurde erst jetzt klar, was wir eben erlebt hatten: Eine Frau schaukelte ein totes Kind.
Pöppelbaum kratzte mit dem Löffel den Boden des Kaffeepotts wund. Er sah auch nicht gerade frisch aus.
Frau Schmitz hüstelte. In ihren Augen standen Tränen. »Hab ich was falsch gemacht, Frau Grappa?«
»Wie kommst du denn darauf?«
»Wenn ich die Polizei gleich angerufen hätte? Und nicht dich. Dann hätte das Kleine vielleicht noch gelebt und gerettet werden können«, weinte sie.
»Nein«, widersprach ich. »Ich hab das Gesicht des Babys angefasst. Die Haut war kalt. Da war nichts mehr zu machen.«
Sie riss ein Blatt von einer Küchenrolle ab und schniefte hinein. Ich nahm mein Smartphone, blätterte die Bilder von der Frau auf und reichte der Bäckerin das Gerät.
»Hast du sie schon mal in der Siedlung gesehen?«, fragte ich. »Oder auf dem Spielplatz?«
»Nein, nie«, antwortete sie.
»Ich werde das Foto ein paarmal ausdrucken und dir vorbeibringen«, kündigte ich an. »Würdest du es auf dem Spielplatz rumzeigen und fragen, ob jemand weiß, wer die Frau ist? Vielleicht sind wir schneller als die Polizei.«
»Das kann ich nicht.«
Ich schwieg einen Moment verblüfft.
»Warum nicht, Frau Schmitz? Sonst bist du doch immer gern mit dabei, wenn’s um eine kriminalistische Recherche geht.«
»Lass sie in Ruhe, Grappa«, forderte Wayne Pöppelbaum. »Siehst du nicht, wie fertig sie ist?«
Ja, sie war fertig. Rot geweinte Augen, wirres Haar, tiefe Falten und eine aschgraue Gesichtsfarbe.
»Komm jetzt, Grappa, wir verschwinden«, befahl der Fotograf. »Hier gibt es nichts mehr zu tun.«
Wir verabschiedeten uns. Frau Schmitz blieb am Küchentisch sitzen.
Draußen sagte Wayne: »Feingefühl hast du ja nicht gerade, Grappa.«
»Du lieber Himmel«, rief ich aus. »Konnte ich ahnen, dass sie so darauf reagiert?«
»Du leidest an professioneller Verformung des Gemüts, Grappa. Du fühlst nicht mehr wie ein normaler Mensch.«
»Du kannst mich mal«, blaffte ich ihn an, stieg in mein Auto und startete den Motor.
Je weiter ich in den Süden der Stadt fuhr, desto rosafarbener wurde der Himmel. In einer Parkbucht hielt ich an und stieg aus. Hier war der Blick ins Ruhrtal besonders weit und schön.
Hatte Wayne recht? Hatte mein Job meine Empathie aufgefressen? Als Blaulichtreporterin des Bierstädter Tageblattes hatte ich einiges gesehen und erlebt. Lügner, Mörder, Serienkiller, Pharisäer, Ausbeuter und Teufel in Menschengestalt, aber auch seelische Krüppel, geborene Opfer und Psychopathen. Aber natürlich war ein totes Kind nachts auf einem Spielplatz etwas ungewöhnlich Schreckliches.
An Schlaf war nicht mehr zu denken. Ich lud die Fotos auf meinen Rechner und bearbeitete sie. Der Schärfe-Modus gab dem Gesicht der jungen Frau deutlichere Konturen. Das schwarze Kopftuch verhüllte ihre Stirn, die dunklen Augen wirkten dadurch noch größer. Sie war hübsch, hatte aber tiefe Schatten im Antlitz. Ich starrte das Foto eine Weile an. Was war auf dem Spielplatz passiert? Warum schaukelte eine junge Frau nachts ein totes Kind?
Fingerspitzengefühl
In der Redaktion lag die Einladung zur Pressekonferenz am Mittag. Der Text der Staatsanwaltschaft enthielt nur knappe Angaben, doch sie reichten, um ein bombastisches Medieninteresse auszulösen. Im Frühstücksfernsehen, im Internet und in den sozialen Medien wurde der Spielplatz gezeigt und eine Frau mit Kopftuch erwähnt, obwohl die Pressemitteilung keinen Hinweis auf eine Muslima gab.
Ich rief Frau Schmitz an. Sie bestätigte, dass sich Fernsehteams auf dem Spielplatz herumtrieben.
»Ich hab denen aber nichts gesagt«, behauptete sie. »Weiß man schon, wer die Frau ist?«
»Die Pressekonferenz kommt erst noch. Ich sag dir Bescheid.«
»Danke, Frau Grappa. Ich muss jetzt wieder. Hab schon dreißig Brötchen mehr geschmiert als sonst und auch der Kaffee läuft wie geschnitten Brot.«
In der Redaktionskonferenz berichteten Wayne und ich von unserem nächtlichen Ausflug. Ich legte einige Fotos auf den Konferenztisch.
Als Dr.Berthold Schnack das Bild der Frau betrachtete, meinte er: »Eine Muslima. Das braucht Fingerspitzengefühl. Sonst haben wir die Islamisten im Haus.«
»Ist das nicht übertrieben?«, fragte ich.
»Ich äußere ja lediglich meine Bedenken«, verteidigte er sich. »Menschen muslimischen Glaubens sind sehr empfindlich und reagieren aggressiv auf Berichterstattung, die ihnen nicht passt. Denken Sie an den Anschlag in Paris beim Satiremagazin Charlie Hebdo.«
»Und was genau bedeutet das für meine Arbeit?«, fragte ich.
»Bleiben Sie einfach hart an den Fakten, Frau Kollegin.«
»Ach so.« Ich gab meiner Stimme einen erleichterten Ton. »Fakten also. Ich lerne jeden Tag dazu.«
»Er meint doch nur, dass der Migrationshintergrund nicht überbewertet werden sollte«, mischte sich Bärchen Biber ein. »Auch deutsche Frauen bringen ihre Kinder um.«
»Halt die Fresse, du elender Schleimer«, brach es aus mir heraus.
»Ich muss doch sehr bitten!« Schnack schlug mit der Faust auf den Tisch. »Überdenken Sie Ihre Wortwahl, Frau Grappa. Und du, Carsten, solltest auch etwas vorsichtiger sein mit Unterstellungen. Noch ist ja nicht klar, wie das Kind zu Tode gekommen ist, oder irre ich mich?«
»Es ist ja gar nicht meine Story«, räumte Bärchen Biber ein. »Ich wollte nur helfen.«
»Wenn ich Hilfe brauche, rufe ich die 112 an.«
»Können wir jetzt zum Tagesgeschäft kommen?«, fragte Schnack in die Runde. »Womit wollen Sie denn unser kulturell affines Publikum beglücken, Frau Wurbel-Simonis?«
Die Kulturredakteurin nestelte an ihrer Muschelkette. Seitdem sie Urlaub in Kenia machte, beglückte sie die weiblichen Redaktionsmitglieder mit allerlei afrikanischem Kunsthandwerk. Mir hatte sie einen kleinen Nagelfetisch mitgebracht, dessen Gesichtszüge denen von Berthold Schnack glichen, ein Päckchen Nägel dazugelegt und aufmunternd gesagt: »Wenn er dich ärgert, schlag ihm einen Nagel in den Wanst. Dann geht’s dir besser.«
»Ein Bierstädter Fotograf zeigt seit heute seine Bilder in der Bürgerhalle. Er hat eine Woche in der Erstaufnahmestelle für Flüchtlinge verbracht und dabei sehr emotionale Momente eingefangen.«
»Hat er auch die Schlägerei letzte Woche fotografiert? Als die albanischen Flüchtlinge von den Syrern Schutzgebühren fürs Duschen erpressen wollten?«, fragte Schnack.
»Das weiß ich nicht«, entgegnete Wurbelchen. »Ich schlage eine Fotoreihe, ein Interview mit dem Fotografen und fürs Internet eine Diashow mit den besten Bildern vor.«
»Große Bilder sind schnell geschrieben«, nickte Sportredakteur Simon Harras. »Ich könnte den neuen BVB-Ankauf beim ersten Training beobachten. Exklusiv.«
»Sehr schön«, lobte Schnack.
»Was denn jetzt?«, fragte Mäggi Wurbel-Simonis.
»Beide Themen. Aber der Aufmacher ist natürlich der Leichenfund in Dorstfeld.«
Ein Ehrenmord?
Zahlreiche Übertragungswagen blockierten die Parkplätze und vor dem Eingang posierten mehrere Polizisten eines Spezialkommandos mit Maschinenpistolen im Arm. Pöppelbaum lichtete sie ab.
Ein Pressepolizist kontrollierte die Ausweise. Auch das war ungewöhnlich, denn eigentlich kannte man sich.
»Was machen denn die Spezialkollegen hier?«, fragte ich.
»Erhöhter Sicherheitsaufwand«, meinte er lapidar.
»Warum?«
»Stellen Sie Ihre Fragen dem Staatsanwalt, Frau Grappa.«
Das war deutlich.
Im Foyer vor dem Raum, in dem die Pressekonferenzen stattfanden, drängelten sich die Fernsehleute. Lampen setzten dunkle Ecken in grelles Licht.
»Stimmt es, dass ihr heute Nacht am Tatort wart?«, fragte ein Kollege vom Lokalsender.
»Wie kommst du denn darauf?«
»Hat mir ein Vögelchen gezwitschert«, grinste er. »Wenn ihr Fotos habt, zeigt sie mir doch mal. Vielleicht kommen wir ins Geschäft.«
»Kein Interesse«, meinte Wayne.
Wir schlenderten zu unseren Plätzen. Vor den Stuhlreihen waren Tische mit Namensschildern aufgebaut. Ich las die Namen. Alles alte Bekannte, außer einem: Aribert Langhans – der neue Polizeipräsident gab sich die Ehre. Frisch vom Schreibtisch im Ministerium ins Bierstädter Chaos mit Neonazis, besorgten Bürgern, Hooligans und Salafisten katapultiert. In den ersten Wochen nach seiner Ernennung sah man ihn nur mit eingezogenem Kopf durch die Flure des Präsidiums schleichen. Am wohlsten fühlte er sich bei den Häppchenorgien der Bierstädter Kommunalpolitiker.
Die Herren trudelten ein.
»Sie wissen ja bereits, dass es einen bedauernswerten Todesfall zum Nachteil eines Kleinkindes gibt«, begann Langhans. »In der Kürze der Zeit – die Leiche wurde erst vor wenigen Stunden gefunden – konnten wir noch nicht viele Fakten zusammentragen. Eine Sonderkommission wird gerade zusammengestellt, um den Fall so schnell wie möglich aufzuklären.«
Oberstaatsanwalt Fuchs übernahm. »Bei dem Kind handelt es sich um ein Mädchen im Alter von ungefähr zwei Jahren. Wie das Kind zu Tode gekommen ist, muss die Obduktion klären, die zurzeit stattfindet. Wir können aber davon ausgehen, dass der Spielplatz nicht der Tatort ist. Die Frau, die bei dem Kind angetroffen wurde, konnte noch nicht identifiziert werden. Sie scheint schwer traumatisiert und ist nicht ansprechbar.«
»Stimmt es, dass sie das tote Kind geschaukelt hat?«, fragte ein Kollege.
»Ja, die Zeugen sagten entsprechend aus. Die Leiche war mit hellblauen Kabelbindern, wie man sie in jedem Baumarkt bekommt, an der Schaukel fixiert. Es handelt sich um einen sogenannten Baby-Schaukelsitz mit Rückenlehne, der vom TÜV zertifiziert wurde und für Kinder im Alter bis zu sechsunddreißig Monaten geeignet ist. Von einer baugleichen Schaukel finden Sie ein Foto in der Pressemappe, die Ihnen gleich ausgehändigt wird.«
»Was unternehmen Sie, um die Identität der Frau zu klären?«, fragte ich. »Der Kleidung nach zu urteilen, handelt es sich um eine Frau mit Migrationshintergrund.«
Fuchs zögerte. »Ja, die äußerlichen Merkmale sprechen dafür. Wir haben die Festgenommene fotografiert und die Aufnahmen an die Islamischen Kulturvereine der Stadt und Mitglieder des Integrationsrates verteilt. Außerdem bitten wir alle Medien, das Foto zu veröffentlichen. In der Pressemappe finden Sie das Bild und die Fragen, die wir beantwortet haben möchten.«
»Könnte es sich um eine Art Ehrenmord handeln?«, fragte eine Kollegin. »Gewalt gegen Frauen, die sich den muslimischen Sitten nicht fügen, ist in diesen Kreisen ja nicht ungewöhnlich.«
»An Spekulationen möchte ich mich nicht beteiligen«, wehrte Fuchs ab.
»Vielleicht stecken ja auch Neonazis dahinter«, kam es von der Seite.
»Wie gesagt: Spekulationen!« Fuchs räumte seine Notizen zusammen. »Gibt es noch weitere Fragen?«
»Was soll das Spezialkommando vor dem Eingang?«, fragte Pöppelbaum.
Der Polizeipräsident meldete sich zu Wort. »Zurzeit findet hier im Haus eine Klausurtagung statt, an der auch Landespolitiker teilnehmen. Der Einsatz des Spezialkommandos bezieht sich auf diese Zusammenkunft und ist völlig normal.«
Wayne und ich sahen uns überrascht an. Spezialkommando und Klausurtagung? Das war keineswegs normal.
»Gab es denn Drohungen im Vorfeld?«, legte ich nach.
»Ich muss mich leider jetzt verabschieden«, ignorierte Langhans meine Frage. »Ich werde selbst auf der Klausurtagung erwartet. Meine Kollegin wird Ihnen jetzt die Pressemappen überreichen. Ich hoffe auf Ihre Hilfe, damit wir in dem Fall weiterkommen.«
Er erhob sich und verließ den Raum.
»Das war ja eine sehr professionelle Antwort«, raunte ich Wayne zu. »Eine wichtige Tagung, die geheim bleiben soll? Merkwürdig.«
Leider war Pöppelbaum in die Pressemappe vertieft und konnte meine Empörung nicht teilen.
»Guck mal.« Er reichte mir ein Foto. Es zeigte die Frau – diesmal bei Tageslicht. »Sie hat eine frische Verletzung an der Wange. Als ob man sie geschlagen hätte.«
»Wir müssen vor der Polizei rausfinden, wer sie ist. Frau Schmitz wird uns bestimmt helfen.«
Die Welt retten
Zwiebelsuppe nach Pariser Art. Die Ankündigung des Tagesgerichts im Bistro der Bäckerin ließ mir das Wasser im Mund zusammenlaufen. Wir orderten zwei Pötte.
»Das ist die Frau.« Ich legte Anneliese Schmitz das Foto hin. »Und hier sind Bilder von den Kleidern des toten Babys. Die Bullen tappen im Dunklen. Hast du die Frau wirklich noch nie gesehen? Sie muss hier aus der Gegend stammen, sonst würde sie den Spielplatz nicht kennen.«
»Nein, Frau Grappa. Ich geh da ja auch nur vorbei. Da sitzen doch meist nur Mütter rum und unterhalten sich über ihre Bälger. Was sollte ich mit denen denn bekakeln? Und Kopftuchfrauen sind sowieso selten in der Öffentlichkeit zu sehen. Du weißt doch, was in Dorstfeld los ist.«
Ja, das wusste ich. Selbst ernannte Neonaziordner patrouillierten in den Straßen und drückten Ausländern mindestens einen dummen Spruch rein. Juristisch nicht relevant. Sätze wie: Zurück in den Urwald, du Bimbo! waren noch die harmloseren Äußerungen.
»Hilfst du uns?«, fragte ich.
»Und wie?«, fragte sie – überhaupt nicht begeistert.
»Ich maile dir heute Abend das Foto von der Frau und du zeigst es auf dem Spielplatz herum.«
»Ich hab doch schon gesagt, dass ich das nicht will. Die Leute sehen das Bild sowieso im Fernsehen und im Internet und morgen auch in der Zeitung.«
»Es gibt viele, die weder Fernsehen noch Zeitungen noch die Nachrichtenportale im Internet benutzen. Besonders die bildungsfernen Ausländer«, erklärte ich. »Das haben wissenschaftliche Untersuchungen ergeben.«
»Und ich soll das jetzt wettmachen, Frau Grappa?«
»Vielleicht bringt es ja was. Tust du mir den Gefallen?«
»Na, meinetwegen«, kam es widerwillig zurück.
Bäckereifachverkäuferin Donka brachte die Zwiebelsuppe an unseren Tisch. Der Käse war leicht gebräunt und glänzte. Dazu gab es Bruschetta. Wayne und ich wandten uns dem Essen zu, Frau Schmitz neuen Kunden.
»Diese Tagung geht mir nicht aus dem Kopf«, murmelte ich. »Ich würde wirklich gern wissen, worüber die da tagen.«
Die Suppe war höllisch heiß und ich blies sie kühl.
Wayne zückte sein Handy und tippte eine Nummer ein.
»Hier Innenministerium«, hörte ich ihn sagen. »Ich bin der Referent des Staatssekretärs Müller. Könnten Sie mir den genauen Titel der Klausurtagung durchgeben wegen der internen Abrechnungen?«
Ich machte große Augen.
»Ja, danke. Ich warte.«
Wayne winkte nach einer Serviette und zückte einen Kuli. Dann schrieb er etwas auf. »Danke, Sie haben mir sehr geholfen.«
»Wow! Du bist gut!«, sagte ich.
»Ich weiß.«
Er reichte mir die Papierserviette. Ich las: Wie begegnen wir dem islamischen Terrorismus? Fakten, Analysen, Lösungen.
»Spannend«, stellte ich fest.
»Ist das nicht das Thema, mit dem sich dein abgetauchter Hauptkommissar zurzeit befasst?«
»Stimmt. Terrorismusbekämpfung. Einer muss die Welt ja retten.«
»Wer rettet die Welt?« Frau Schmitz hatte wieder Zeit für uns und war – wie immer – nicht neugierig.
»Grappas Verflossener.«
»Ach, der Herr Doktor«, seufzte Frau Schmitz und warf mir einen mitleidigen Blick zu.
Ich reagierte nicht und löffelte die Suppe.
»Schmeckt es denn, Frau Grappa?«
»Besser als in Paris!«, behauptete ich.
»Ich krieg von Zwiebeln immer Flatulenzen«, bekannte Pöppelbaum wenig später im Auto. »Nur mal so als Vorankündigung.«
»Na, toll. Das wird ja ein angenehmer Arbeitstag!«
»Ich kann nichts dafür«, grinste er.
»Es gibt Unterhosen mit Furzbremsen. Hab ich neulich gelesen. Erfunden in Japan.«
»Du spinnst, Grappa.«
»Keineswegs. Die Hersteller weben geruchsabsorbierende Keramikteilchen in den Stoff. Ich werde in der Redaktion mal für so ein Teil sammeln. Das kriegst du dann von uns allen zu Weihnachten.«
»Biest!«
Mein Handy klingelte. Auf dem Display war eine unbekannte Nummer zu sehen. Ich nahm das Gespräch an, doch es meldete sich niemand. Gerade hatte ich es wieder eingesteckt, als es erneut klingelte. Wieder war nichts zu hören.
»Ein unbekannter Verehrer, Grappa?«
»Ich kenne alle meine Verehrer.«
»Sind ja nicht so viele«, nickte er.
Ein drittes Klingeln. Ich drückte die Nummer weg. Kurz danach ertönte der Ton, der eine Nachricht auf der Mailbox anzeigte.
»Ich bin heute im Lande, können wir uns sehen?«, fragte eine bekannte Männerstimme.
Ich lächelte in mich hinein.
»Na, wer war das denn?«, wollte Wayne wissen. »Du siehst so verzückt aus.«
»Es war ja auch eine gute Nachricht. Sie kam von der Furzbremsenfirma aus Japan. Sie machen dir einen Sonderpreis, wenn du ihnen drei Unterhosen auf einmal abnimmst.«
Riesengroß und leer
Allein an meinem Redaktions-PC schickte ich Friedemann Kleist eine SMS: Ich bin ab 20Uhr zu Hause. Freue mich.
Natürlich wollte ich früher zu Hause sein, um mich etwas aufzurüschen und wenigstens das Bett frisch zu beziehen. Auch der Küchenabfall wartete auf seine Entsorgung.
Schnack hatte mir eine halbe Seite auf der Eins zugeteilt. Ich überlegte, wie ich die Story anlegen sollte. Eine emotionale Reportage oder ein trockener Faktenbericht?
Ich entschied mich für beides. Zuerst schilderte ich, was ich am frühen Morgen gesehen hatte.
Nachts auf dem Spielplatz –
Frau schaukelt totes Kind im Mondlicht
– so die Überschrift.
Eine Situationsbeschreibung unserer Reporterin Maria Grappa
Das sanfte Licht des Vollmondes macht die Szene noch unwirklicher. Da hockt eine schwarze Gestalt hinter einer Kinderschaukel, eingehüllt in einen langen Mantel, bedeckt mit einem Kopftuch. Sie greift nach dem kleinen Körper, der auf der Schaukel befestigt ist, gibt ihm einen Schubs und lässt ihn vor- und zurückschwingen. Die Scharniere des Spielgerätes quietschen. Ein Geräusch, das nicht zum Gezwitscher der Vögel im Morgengrauen passen will. Ich gehe auf die Schaukel zu und greife in die Kette…
Wayne kam zu mir und legte mir einige Abzüge auf die Tastatur. »Das ist meine Auswahl«, sagte er.
»Wie geht es deiner Verdauung?«, fragte ich.
»Alles noch im geruchsfreien Bereich«, grinste er. »Guckst du mal?«
Wayne hatte sich selbst übertroffen. Die Totale vom Spielplatz hatte er nachbearbeitet, die Kontraste verstärkt und die Farben weitgehend rausgenommen. Der Vollmond wirkte übergroß und erschreckend, die Konturen der Spielgeräte ragten bedrohlich in den Himmel und die Blätter der Sträucher, die den Platz säumten, glänzten speckig im Mondlicht.
»Das ziehen wir sechsspaltig über den Artikel«, sagte ich. »Wer da keinen Grusel kriegt, ist völlig stumpf. Und die Schaukel nehmen wir als Close-up.«
»Hier sind die Fotos, die du von der Frau gemacht hast. Ich finde sie sehr atmosphärisch, aber als Fahndungsfoto eignen sie sich nicht.«
Ja, er hatte recht. Sie waren sehr grobkörnig und erinnerten eher an den Kopf einer Skulptur. Die Augen der Frau waren riesengroß und leer. Ich nahm das Polizeifoto. Das war besser geeignet, die Festgenommene wiederzuerkennen.
»Was ist mit den Polizeifotos von den Kleidern des Kindes?«
Ich betrachtete sie. Schrecklich, sich vorzustellen, dass darin ein ganz normales kleines Kind gelebt hatte und dass es nun tot war. Ein rosa Kleidchen mit kleinen Sternchen, darunter ein Lineal für den Größenvergleich, das Etikett eines Billigklamottenladens, ein weißes Baumwollmützchen mit Bommeln und ein winziges Armbändchen aus Stoff. Zeugs, das man in jedem Babyartikelmarkt bekommt.
Mein Handy meldete sich mit einer SMS. Ich bin um 20Uhr da.
»Die Fotos von den Babysachen brauch ich nicht«, entschied ich. »Wir nehmen den Spielplatz, die Schaukel, die Polizeiabsperrung und die Frau. Der Rest ist Text. Und den schreib ich jetzt weiter.«
Den reinen Fakten widmete ich vierzig Zeilen. Wer kennt diese Frau?, prangte in großen Lettern über dem Foto.
Was die Unbekannte mit dem Tod des kleinen Mädchens zu tun hat, ist noch unklar. Die Polizei bittet um Hinweise, die zur Identifizierung der unbekannten Frau führen. Weiterhin werden Zeugen gesucht, die Beobachtungen rund um den Spielplatz gemacht haben.
Schnack las den Artikel gegen und hatte nichts zu meckern. In einer halben Stunde würde mein Artikel online sein – ohne Kommentarfunktion. Denn das Aussehen der Kopftuchfrau würde die um die deutsche Kultur besorgten Bürger auf den Plan rufen, die schon lange wussten, dass Ausländer für den Anstieg der Kriminalität verantwortlich waren. Auch Leser, die ihren Namen nicht preisgeben wollten oder sich einen Fantasienamen zulegten, ließen bei solchen Themen regelmäßig die Sau raus. Deshalb hatte der Verlag beschlossen, die freie Meinungsäußerung zu beschränken, um die Integration von Ausländern und den sozialen Frieden nicht zu gefährden.
Ich mailte Frau Schmitz das Foto der jungen Frau, wie ich es versprochen hatte. Dann konnte ich endlich meine Sachen packen und das Verlagshaus verlassen. Im Supermarkt kaufte ich noch einige Leckereien, von denen ich wusste, dass er sie mochte. Freust du dich etwa, Grappa?, fragte ich mich. Und wie, antwortete ich mir.
Rückkehr
Ein Glas Chianti classico glühte mich vor und das Essen befand sich griffbereit in der Kühlung. Ich schaltete den Fernseher ein. Der Regionalsender brachte einen längeren Bericht über das tote Kind und anschließend ein Interview mit dem Polizeipräsidenten, der zunächst nichts von sich gab, was ich nicht schon wusste. Ich wollte gerade auf den Aus-Knopf drücken, als Aribert Langhans behauptete, zahlreiche Hinweise auf die Identität der unbekannten Frau erhalten zu haben, die jetzt mit Nachdruck überprüft würden. Der Moderator hakte nach: »Bei unserem Sender haben sich Leute gemeldet und auf einen muslimischen Hintergrund hingewiesen. Gehen Ihre Ermittlungen auch in diese Richtung?«
»Ja. Deshalb stehen wir in Kontakt mit den Vorständen der muslimischen Gemeinden in NRW.«
»Die Frau und das Kind müssen doch irgendwo vermisst werden!«
»Ich denke, dass wir bald mehr wissen«, kündigte Langhans an. »Wir werden die Öffentlichkeit zeitnah informieren. Wahrscheinlich schon morgen.«
»Dann wissen Sie also schon Konkretes?«, ließ der Fernsehmann nicht locker.
»Geben Sie uns die Zeit, die wir brauchen«, sagte Langhans.
Das war’s. Die wissen also, wer die Frau ist, dachte ich. Ich schaltete meinen Rechner ein und ging auf meine Facebook-Seite. Natürlich wurde in vielen unterschiedlichen Gruppen über den Tod des Kleinkindes spekuliert. Viele Poster nutzten den traurigen Vorfall vor allem dazu, ihre Vorurteile gegen Ausländer zu wiederholen.
Im Vorgarten sprang der Bewegungsmelder an. Ich schaute durchs Fenster. Ein großer Wagen fuhr auf die Einfahrt. Endlich war er da.
Nach einer halben Stunde hatte ich das Gefühl, dass Kleist nie weggewesen war. Wir saßen gemütlich in der Küche, auf dem Tisch eine opulente Kollektion italienischer Antipasti und spanischer Tapas. Dazu Brot, Rotwein und Wasser. Mehr war zu einem schönen Abend nicht nötig.
Kleist war braun gebrannt und trug die Haare länger, als ich es gewohnt war. Die letzten Monate hatte er in den USA verbracht, um mit den dortigen Behörden den Antiterrorkampf abzustimmen.
»Die National Security Agency weiß doch eh schon alles über uns«, meinte ich. »Oder konntest du unseren amerikanischen Freunden noch was Neues erzählen?«
»Nicht wirklich. Und die meisten Aktionen, mit denen die NSA die Welt beglückt, sind hier in Deutschland ohnehin verboten. Aber es war schon interessant zu erleben, wie der Anschlag vom 11.September diese Nation verändert hat. Demokratische Rechte werden dem Antiterrorkampf bedingungslos untergeordnet.«
»Bleibst du jetzt in Deutschland?«
Er lächelte mich an. »Ja. Die nächsten Wochen sogar in Bierstadt.«
»Wie bitte?«
»Bin ich nicht willkommen?«
»Doch, ich verstehe nur nicht … weil…«, stotterte ich.
»Ich erkläre es dir später.« Er schaute auf die Uhr. »Es ist schon sehr spät. Ich werde dann mal fahren.«
»Fahren?«