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Freie Verse und unverhohlene Sinnlichkeit: Das zeichnet die Lyrik von Walt Whitman aus. Die "Grashalme" sind sein Hauptwerk und mit den Worten von Ralph Waldo Emerson: der »außerordentlichste Beitrag Amerikas zur Dichtung«. Auf Packpapier und alten Briefumschlägen skizzierte Walt Whitman im Alter von 21 Jahren seine ersten Verse. 15 Jahre später, im Jahr 1855, brachte er in selbstentworfenem Umschlag die ersten zwölf Gedichte heraus. "Leaves of Grass" sollte sein Lebenswerk werden, an dem er über vier Jahrzehnte hinweg arbeitete. Immer mehr Gedichte kamen hinzu, bis er wenige Wochen vor seinem Tod im Jahr 1892 die endgültige Fassung veröffentlichte. Von D. H. Lawrence und T. S. Eliot bis hin zu Tolstoi und Turgenjew – weltweit wurde Whitmans neue Art der Poesie begrüßt. Die über 400 Gedichte, die hier in einer Auswahl vorliegen, begründen die moderne amerikanische Lyrik und sind als Plädoyer für Demokratie und gegen Rassismus immer noch aktuell. – Mit einer kompakten Biographie des Autors.
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Walt Whitman
Reclam
1968, 2022 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Covergestaltung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH
Coverabbildung: shutterstock.com/Marionn
Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Made in Germany 2022
RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart
ISBN978-3-15-962062-6
ISBN der Buchausgabe 978-3-15-020690-4
www.reclam.de
Widmungen
Vom fischförmigen Paumanok geh ich aus
Gesang von mir selbst
Kinder Adams
Aus »Calamus«
Salut au monde
Gesang von der freien Straße
Ein Sang der Freuden
Gesang des Sandelholzbaumes
Aus »Wandervögel«
Aus »Seetrieb«
Aus »Vom Wegrand«
Aus »Trommelschläge«
Zum Gedächtnis des Präsidenten Lincoln
Aus »Herbstbächlein«
Aus »Geflüster vom himmlischen Tod«
Aus »Vom Mittag zur gestirnten Nacht«
Aus »Abschiedsgesänge«
Anhang
Zu dieser Ausgabe
NachwortZeitgenosse aller Jugend
Zeittafel
Ein Selbst sing ich; eine einfache abgesonderte Person;
Doch sprech ich das Wort Demokratisch aus, das Wort En Masse.
Die Physiologie sing ich vom Kopf bis zum Fuße;
Weder Physiognomie noch Geist allein sind der Muse preiswürdig; ich sage, weit preiswürdiger ist ihr die Gestalt in ihrer Gesamtheit.
Ich singe das weibliche ebenso gut wie das männliche Prinzip.
Das Leben, unermesslich an Leidenschaft, Puls und Kraft,
Fröhlich, zur freiesten Tätigkeit gestaltet nach göttlichen Gesetzen,
Den neuen Menschen sing ich.
Als ich mit stillem Sinnen
Zu meinen Dichtungen mich zurückwandte, und in Betrachtung lang verweilte,
Erhob sich mit zweifelvoller Miene vor mir ein Phantom,
Schrecklich in Schönheit, Alter und Kraft,
Der Genius der Dichter der alten Länder;
Und seine Augen wie zwei Flammen auf mich richtend,
Wies er mit seinem Finger auf so manche unsterbliche Dichtung
Und sprach mit drohender Stimme dies: »Was singst du da?
Weißt du nicht, dass es nur einen Stoff gibt für unsterbliche Sänger?
Den Krieg, das Geschick der Schlachten,
Und wie vollkommene Krieger herangebildet werden?«
»Sei es so«, gab ich zur Antwort;
»Auch ich, hochmütiger Schatten, singe den Krieg; und einen langwierigeren und gewaltigeren als irgendeinen sonst;
Mit wechselndem Glück wogt er in meinem Lied; mit Flucht, Angriff, Rückzug, verzögertem und ungewissem Sieg
(Der dennoch, denk ich, schließlich sicher oder so gut wie sicher ist) auf dem Schlachtplan der Welt,
Um Tod und Leben, Leib und ewige Seele.
Wohl! auch ich bin gekommen, den Sang der Schlachten zu singen,
Und auch ich fördere vor allem tapfre Krieger.«
In kabinenreichen Schiffen auf hoher See,
Wo grenzenloses Blau ringsum sich weitet,
Beim Pfeifen des Windes und der Musik der Wogen, der breiten, majestätischen Wogen,
Oder auf irgendeiner einsamen Barke, die auf dichtem Wogenschwall schaukelt,
Die fröhlich und vertrauensvoll weiße Segel bläht
Und den Äther durchschneidet mitten durch Funkel und Schaum des Tages, oder unter zahllosen Sternen zur Nachtzeit,
Da werd ich vielleicht gelesen, zur Erinnerung an das Festland, von jungen und alten Seefahrern,
Und erst völlig und ganz verstanden.
»Hier sind unsre Gedanken, Fahrt-Gedanken;
Hier ist nicht bloß das Land, das feste Land«, so mögen sie dann wohl sagen,
»Hier überspannt uns das Firmament; hier fühlen wir den Boden unter unsern Füßen schaukeln.
Hier fühlen wir den großen Pulsschlag endlos ebbender und flutender Erregung,
Unsichtbarer Geheimnisse Raunen, ahnungsvolle Einflüsterungen ungeheurer Salzflut, flüssig gleitende Silben,
Meerduft und leises Knarren des Tauwerks mit seinem melancholischen Rhythmus;
Den grenzenlosen Blick finden wir hier und den fernen verhüllten Horizont.
Ja, das ist das Gedicht des Ozeans.«
Drum zage nicht, mein Buch; erfülle deine Bestimmung;
Du, nicht ein Gedenken an das Land allein,
Sondern auch du eine einsame Barke, die den Äther durchschneidet; bestimmt, wer weiß wohin? doch stets in guter Zuversicht;
Ein Gefährte für jedes Schiff, das segelt, segle auch du;
Trage die wohlgeborgene Fracht meiner Liebe zu ihnen hin (meine geliebten Seefahrer! ja, für euch habe ich sie in jedes Blatt gefaltet);
Eile, mein Buch! Spreite dein weißes Segel, meine kleine Barke, hin über die ungeheuren Wogen.
Auf! Singe, segle, bring über das endlose Blau und zu allen Meeren von mir
Diesen Sang für alle Seefahrer und all ihre Schiffe!
Ich hörte, dass ihr etwas erheischet, dies Rätsel, die neue Welt zu erklären,
Amerika und seine athletische Demokratie:
So sende ich euch denn meine Gedichte, damit ihr in ihnen schaut, wonach ihr verlangt.
Ihr, die ihr feiert, was gewesen,
Die ihr die Außenseite erforschtet, die Oberflächen der Rassen und das Leben, soweit es sich aus sich selbst nach außen gesetzt hat,
Die ihr den Menschen behandeltet als Geschöpf der Politik, der Haupt- und Staatsaktionen, der Machthaber und Priester:
Ich, ein Bewohner der Alleghenies, handle von ihm, wie er ist nach eigenen Rechten,
Ertaste den Puls des Lebens da, wo es sich bisher nur selten aus sich selbst nach außen setzte (den großen Wert des Menschen, den er in sich selbst trägt);
Ein Sänger des Persönlichen, zeichne ich das, was erst im Werden ist,
Und entwerfe die Geschichte der Zukunft.
Dir, Urprinzip,
Du unvergleichliches, leidenschaftliches, gutes Prinzip;
Du starre, du unbarmherzige, süße Idee,
Todlos durch alle Zeitalter, Rassen und Länder hindurch:
Am Ende eines seltsamen dunklen Kampfes, eines gewaltigen Kampfes um deinetwillen
(Ich meine alle Kämpfe durch die Zeiten wurden in Wirklichkeit um deinetwillen gestritten, und sie werden im Grunde stets nur um deinetwillen gestritten werden):
Dir diese Gesänge, dir und deinem ewigen Vormarsch!
(Ein Kampf, o Krieger, nicht einzig um seiner selbst willen;
Weit, weit stand er in schweigendem Warten zurück, um jetzt in diesem Buch wieder vorwärtszuschreiten.)
Du Kreis der Kreise!
Du siedendes Prinzip! Du wohlbeschlossener, heimlicher Keim! Du Mittelpunkt!
Rund um deinen Begriff dreht sich der Kampf,
Mit all seinem zornigen und heftigen Spiel von Prinzipien
(Um zu gewaltigen Ergebnissen zu kommen für 3000 Jahre);
Diese Gesänge dir; – mein Buch und dieser Kampf sind eins;
Versunken in seinem Geist ich und was mein; wie um dich sich dreht der Streit,
Wie ein Rad sich dreht um seine Achse, so dreht sich unwillkürlich dieses Buch
Rund um deinen Begriff.
Ich traf einen Seher;
Er schritt durch Braus und Schau der Welt,
Der Kunst und Wissenschaft Gebiete, der Freuden und der Sinne,
Idole zu sammeln.
Nimm in dein Lied, sprach er,
Nicht so die kunterbunte Stunde und den Tag, noch Ausschnitte, noch Teile;
Vielmehr vor allem andren nimm als Licht für alles und als Anfangslied
Das von Idolen.
Ewig Beginn aus Dunkel,
Wachstum ewig und des Zirkels Rundung,
Ewig Gipfelhöhe und Versinken schließlich (sicher nur zu Neubeginn);
Idole! Idole!
Ewig Veränderung,
Ewig Wechsel der Stoffe, ihr Zerfall und ihre neue Einheit;
Ewige Werkstätten und göttliche Fabriken,
Die Idole ausströmen.
Sieh! Sei’s ich, sei’s du,
Sei’s Mann, sei’s Weib, Zustand, Bekannt oder Unbekannt:
Wir alle, scheinbar fester Reichtum, Kraft, Gebild der Schönheit:
In Wirklichkeit gestaltete Idole.
Vergängliches Gebild,
Substanz für eines Bildners Stimmung oder eines Weisen mühevollen Fleiß,
Des Kriegers, Märtyrers, des Helden Arbeit hat
Zum Vorbild sein Idol.
Und jeglich Menschenlebens
(Die Einzelteile genommen und hingestellt, kein einziger Gedanke ausgenommen, kein Gefühl und keine Handlung)
Weit oder knapp gefasste und aufaddierte Summe
Ist’s in ihrem Idol.
Der alte, alte Trieb,
Sieh! errichtet auf den früheren Gipfeln neue, höhere Gipfel
Von Wissenschaft und Neuzeit stets getrieben,
Der alte, alte Trieb: Idole.
Und allerjüngste Gegenwart,
Amerikas Betriebsamkeit, ihr trächtiger und verzwickter Strudel,
Von vereinten wie getrennten Stoffen für immer nunmehr tief entbindend,
Jüngste Idole.
Dazu Vergangenheit:
Von verschwundnen Ländern, alten Königreichen, jenseits der See,
Eroberern der Vorzeit, Feldzügen und Meerfahrten:
Eine Reihe von Idolen.
Dichtheit, Wachstum, Oberfläche,
Gebirgszug und Gelände, Fels und Riesenbaum,
Urzeitgeboren und in ferner Zukunft sterbend, langlebig, dann mal aufzuhören:
Ewige Idole.
Exaltation, Entrücktheit und Ekstase;
Das Sinnfällige ihr Geburtsschoß doch,
Das Rund mit seinem Triebe zu gestalten, gestalten und gestalten,
Das ungeheure Erd-Idol.
All’ Raum und alle Zeit
(Die Sterne, die furchtbaren Sonnenrevolutionen;
Sie schwellen auf und sinken, enden, erfüllen ihren längeren oder kürzeren Zweck):
Einzig gefüllt sie von Idolen.
Die stillen Myriaden,
Die unendlichen Ozeane, in die alle Ströme münden,
Die abgesonderten, zahllosen freien Identitäten, wie das Sichtbare,
Die wahren Realitäten: Idole.
Nicht dies die Welt,
Noch diese die Weltalls, noch sie alle Weltalls:
Sinn und Ende und des Lebens ew’ges Leben,
Idole! Idole!
Über deine Vorlesung hinaus, gelehrter Lektor,
Über alle deine Teleskope, deine Spektroskope, scharfsichtiger Beobachter, und über alle Mathematik,
Über des Arztes Chirurgie und Anatomie hinaus und aller Chemiker Chemie
Des Seienden Sein: Idole.
Unstetes oder Stetes:
Immer werden sein, immer sind gewesen, immer sind
Und schwingen Gegenwärtiges in Zukunft endlos
Idole! Idole! Idole!
Der Seher und der Sänger
Soll sie noch wahren und in höhere Stufen leiten jetzt,
Vermitteln jetzt der Demokratie und Neuzeit und soll ihnen deuten:
Gott und die Idole.
Und meine Seele, du!
Deine Wonnen, unablässigen Betätigungen und Begeisterungen,
Dein unersättlich Sehnen, schließlich doch gestillt, geschaffen, um gestillt zu werden,
Sind deine Weggeleiter: Idole!
Dein ewiger Leib,
Dein in diesem Leib verborgener Leib,
Der einzige Sinn der Kunstform und das wahre Ich und Selbst:
Ein Bild und ein Idol.
Deine wahren Lieder, die nicht deine Lieder sind,
Und nicht besondre Singweisen und nicht um ihrer selber willen sind,
Sondern aus dem Ganzen kommen und steigen bis zum Höchsten und fluten:
Ein volles und gerundetes Idol.
Für ihn, den ich singe,
Baue ich die Gegenwart auf die Vergangenheit
(Gleich einem immerdauernden, von seinen Wurzeln emporsteigenden Baum die Gegenwart auf die Vergangenheit),
Erweitere ihn mit Zeit und Raum und verschmelze die ewigen Gesetze,
Um durch sie ihn selbst zu seinem eigenen Gesetz zu machen.
Als ich das Buch las, die berühmte Biographie,
Sprach ich: Das also nennt der Autor ein Menschenleben?
Und in solcher Weise also wird jemand nach meinem Tode auch über mich schreiben?
(Als ob irgendjemand irgendetwas von meinem Leben wüsste,
Da ich selbst doch, wie ich oft bedenke, nur wenig oder nichts von meinem wirklichen Leben weiß;
Und nichts als ein paar Andeutungen, ein paar schwache, zerstreute Anhaltspunkte auf Umwegen
Hier für meinen eigenen Bedarf zu entdecken suche.)
Als ich meine Studien begann, gefiel mir der erste Schritt so wohl;
Die bloße Tatsache des Bewusstseins, diese Gestaltung, die Kraft der Bewegung,
Das geringste Insekt oder Lebewesen, die Sinne, Gesicht, Liebe;
Der erste Schritt schon, sag ich, erweckte mir Ehrfurcht und gefiel mir so wohl.
Rüstig rückte ich vor und wünschte, rüstig wohl noch weiter vorzurücken;
Doch steh ich nun und vertändle alle Zeit, dies alles in verzückten Liedern zu besingen.
Wie sie für das Erdendasein vorbestimmt sind (und periodisch auch erscheinen),
Wie wertvoll und fruchtbar sie der Erde sind;
Wie sie sich mit sich selbst zurechtfinden, ebenso gut wie mit irgendetwas anderem – so paradox ihr Zeitalter sich darstellt;
Wie die Menge auf sie reagiert, ohne sie doch zu erkennen;
Wie da in allen Zeitaltern in ihrem Schicksal etwas Erbarmungsloses liegt;
Wie alle Zeitalter sich in den Gegenständen ihrer Verehrung und Belohnung vergreifen;
Und wie derselbe unerbittliche Preis immer wieder gezahlt werden muss für denselben großen Kauf.
Den Staaten oder einem beliebigen von ihnen oder einer beliebigen Stadt der Staaten: »Widersetzt euch viel, gehorcht wenig!«
Einmal unbesehens gehorcht, heißt einmal völlig versklavt,
Einmal völlig versklavt aber, wird weder eine Nation, noch ein Staat, noch eine Stadt der Erde nachher jemals ihre Freiheit wiedergewinnen.
Auf Reisen durch die Staaten brechen wir auf
(Ja, durch die Welt von diesen Liedern getrieben,
Treiben wir hinfort zu jeglichem Land, zu jeglicher See),
Wir, willig alles zu lernen, alles zu lehren, alles zu lieben.
Wir haben beobachtet, wie die Jahreszeiten sich selbst entfalteten und vorübergingen,
Und haben gesagt: Weshalb sollte ein Mann oder ein Weib nicht ebenso tun wie die Jahreszeiten und ebenso sich entfalten?
Wir verweilen eine Zeit in jeder Stadt und jedem Flecken;
Wir ziehen durch Kanada, den Nordosten, das weite Mississippital und die Südstaaten;
Wir verhandeln in gleicher Weise mit jedem der Staaten;
Wir stellen Prüfungen mit uns selbst an und laden Männer und Weiber, uns zu hören;
Wir sagen zu uns selbst: Sei eingedenk, fürchte dich nicht, sei lauter, verkünde den Leib und die Seele,
Verweile eine Zeit und ziehe dann weiter; sei ergiebig, mäßig, keusch und magnetisch,
Und was du ergießest, wird dann wiederkehren, wie die Jahreszeiten wiederkehren,
Und wird genauso viel wert sein wie sie.
Hier, nimm diese Gabe;
Ich wollte sie für einen Helden, einen Redner oder Feldherrn aufheben;
Für einen, der dem guten alten Prinzip dienen würde, der gewaltigen Idee, dem Fortschritt und der Freiheit der Rasse,
Einem tapferen Tyrannenfeind, einem kühnen Rebellen,
Doch ich sehe, was ich aufbewahren wollte, kommt dir ebenso gut zu wie irgendeinem andern.
Der ich unerschütterlich und mit Gelassenheit in der Natur stehe,
Herr oder Herrin über alles, fest mitten im Bereich der vernunftlosen Dinge,
Beseelt wie sie, passiv, empfänglich, und wie sie in Schweigen,
Finde meine Beschäftigungen, Armut, Ruhm, Schwächen, Verbrechen weniger wichtig als ich glaubte;
Ich, an der mexikanischen See, oder in Mannahatta, oder in Tennessee, oder fern im Norden oder im Inland,
Ein Mann vom Fluss, oder ein Mann der Wälder, oder irgendein Farmer dieser Staaten, oder von der Küste oder den kanadischen Seen,
Ich, wo immer auch ich mein Leben lebe: oh, Zufällen gegenüber im Gleichgewicht zu sein!
Der Nacht, dem Sturm, Hunger, Spott, Unfällen, Niederlagen Widerstand zu leisten wie Baum und Tier!
Dort, wohin ich blicke, sehe ich jegliches Ergebnis und jegliche Glorie unter dem Zwang einer beständigen Notwendigkeit sich als in sich selbst zurückziehen und verhüllen;
Dorthin Stunden, Monate, Jahre – dorthin Handel und Wandel, Verträge, Einrichtungen und das Geringste;
Dorthin Getriebe des Alltags, Reden, Geräte, Politik, Personen und Güter;
Dorthin also auch wir, ich mit meinen treuen und stolzen Blättern und Liedern,
Gleich einem Vater, der, wenn er zu seinem Vater geht, seine Kinder mit sich nimmt.
Sieh, die grenzenlose See.
Über ihre gewölbte Fläche nimmt ein Schiff seinen Lauf, alle Segel gespannt, bis auf die Mondsegel,
Wie es dahineilt, mit flatternder Flagge oben in den Lüften, wie es stattlich dahineilt – tragen es unten vorwärts eifersüchtige Wogen
Und umdrängen es mit blitzendem Gekräusel und Schaum.
Ich höre den Gesang Amerikas; höre seine mannigfachen Hymnen;
Die der Werkleute; jeder singt die seinen, je nachdem, heiter oder ernst;
Der Zimmermann die seine, wenn er seine Bohle misst oder seinen Balken;
Der Maurer die seine, wenn er sich an seine Arbeit begibt oder Feierabend macht;
Der Bootsmann singt, was mit ihm und seinem Boot zu tun hat; der Matrose singt auf seinem Dampfboot;
Der Schuhmacher auf seinem Schemel, der Hutmacher auf seinem Stand;
Das Preislied des Sägemüllers, des Pflugknechtes auf seinem Morgengang oder auf seiner Morgenrast oder bei Sonnenuntergang.
Das wundersame Lied der Mutter oder des jungen Weibes bei seiner Arbeit oder des Mädchens beim Nähen oder Waschen;
Ein jeder singt das, womit er zu tun hat oder sie, und von nichts sonst;
Der Tag, was des Tages ist – und zur Nachtzeit die Kumpanei der jungen Burschen: fröhlich, herzhaft
Singt sie aus voller Kehle ihre kräftigen und melodischen Lieder.
Welcher Platz ist belagert und sucht umsonst die Belagerung aufzuheben?
Wohl! nach diesem Platz sende ich einen Befehlshaber, hurtig, kühn und unsterblich,
Und mit ihm Reiterei und Fußvolk und Artillerieparks
Mit Geschützleuten, den tödlichsten, die jemals ein Rohr abgefeuert haben.
Obgleich ich immer die Einheit singe
(Die jedoch aus Widersprüchen wird): So weih ich doch der Nation,
Lass ich in ihr doch den Aufruhr. – (O heimliches Recht der Empörung! O unauslöschliches und unentbehrliches Feuer!)
Schließt eure Tore nicht vor mir, ihr Bibliotheken;
Denn das, was auf euren wohlgefüllten Brettern fehlte und doch am dringendsten gebraucht wird, das bring ich!
Aus Kampf und Streit tauch ich empor und habe ein Buch verfasst:
Nichts seine Worte, alles sein Geist.
Ein Buch für sich, nicht verwandt mit den andern und vom Intellekt nicht begriffen,
Aber ein unausgesprochen Geheimes wird euch von jeder Seite entgegenschauen.
Dichter der Zukunft! Redner, Sänger, Musiker der Zukunft!
Nicht das Heute kann mich rechtfertigen noch Antwort geben auf die Frage nach meiner Bestimmung,
Wohl aber ihr, ein neues Geschlecht, eingeboren, athletisch, festländisch, größer als alle bisherigen.
Erhebt euch! Denn ihr müsst mich rechtfertigen!
Ich für mein Teil schreibe nur ein Wort oder zwei andeutungsweise für die Zukunft;
Nur für einen Augenblick tret ich hervor, um dann gleich wieder ins Dunkel zu tauchen.
Ich bin ein Mann, der dahinschlendert ohne völlig anzuhalten, der einen gelegentlichen Blick euch zuwirft und dann sein Gesicht wieder abwendet,
Der es euch überlässt, zu beweisen und zu deuten,
Und der die Hauptsache von euch erwartet.
Fremdling, wenn du im Vorbei mir begegnest und mit mir sprechen möchtest, weshalb solltest du nicht mit mir sprechen?
Und weshalb sollte ich nicht mit dir sprechen?
In dir, Leser, pulst Leben, Stolz und Liebe genauso wie in mir,
So seien dir denn diese Lieder geweiht.
Vom fischförmigen Paumanok1 geh ich aus, wo ich geboren wurde,
Wohlerzeugt und von einer vollkommenen Mutter erzogen,
Und nachdem ich manch ein Land durchschweift; ein Freund volkreichen Pflasters
In Mannahatta gewohnt, meiner Stadt, oder auf den Savannen des Südens
Oder gelagert als Soldat, mit Tornister und Gewehr; oder als Goldgräber in Kalifornien
Oder in Dakotas unwirtlichen Wäldern gesiedelt, Fleisch meine Kost, mein Trank vom Quell;
Oder zurückgezogen, um nachzudenken und zu sinnen in irgendeinem tiefen Versteck,
Vom dröhnenden Gewühl fernab Stunden seliger Entrücktheit verbracht;
Sah den frischen, freien Geber, den strömenden Missouri, den gewaltigen Niagara,
Die Büffelherden, die auf den Ebenen grasen, den zottigen, starkbrüstigen Bullen;
Boden, Felsen, des fünften Monats Flor; Sterne, Regen, Schnee mein Erstaunen;
Vertraut mit den Weisen der Spottdrossel und mit des Bergfalken Flug,
Und an jenem unvergleichlichen Abend der Hermitdrossel gelauscht in den Sumpfzedern:
Sing ich, einsam, jetzt im Westen und erhebe meine Stimme für eine neue Welt.
Sieg, Einheit, Glaube, Identität, Zeit,
Die unlöslichen Verträge, Reichtum, Geheimnis,
Ewiger Fortschritt, der Kosmos, und die Berichte der Neuzeit.
Dies also ist Leben!
Und dies also trat nach so viel Wehen und Kämpfen zutage!
Wie seltsam! Wie wirklich!
Unter den Füßen der göttliche Erdboden; über Häupten die Sonne.
Sieh, es dreht sich der Erdball.
In der Ferne gruppieren sich miteinander die Ahn-Kontinente,
Und in Nord und Süd die Kontinente der Gegenwart und Zukunft, mit dem Isthmus dazwischen.
Sieh, ungeheure pfadlose Räume!
Wie in einem Traum verändern sie sich, füllen sich schnell;
Zahllose Massen ergießen sich über sie hin;
Und schon sind sie bedeckt mit dem vorgeschrittensten Volk, Künsten und Institutionen, den ersten von allen, die man kennt.
Sieh, so wurde mir durch die Zeiten her
Eine unbegrenzte Zuhörerschaft bereitet.
Mit festem Taktschritt ziehen sie hin, nimmer machen sie Halt;
Scharen und Scharen von Menschen folgen einander; Amerikaner, einhundert Millionen;
Ein Geschlecht: Es spielt seine Rolle und schwindet;
Ein andres Geschlecht: Es spielt seine Rolle und schwindet in der Reihe,
Das Antlitz seitwärts gewandt oder nach mir zurück, um zu lauschen,
Mit Augen, die nach mir zurückblicken.
Amerikaner! Eroberer! Märsche der Menschheit!
Vorderste! Jahrhundertsmärsche! Libertad! Massen!
Für euch ein Programm von Gesängen!
Gesänge von den Prärien,
Gesänge von dem weithinströmenden Mississippi bis hinab zum mexikanischen Meer,
Gesänge von Ohio, Indiana, Illinois, Iowa, Wisconsin und Minnesota,
Gesänge, die vom Zentrum, von Kansas, ausgehen und von dorther gleichmäßig nach allen Seiten,
Gesänge, die mit endlosen Feuerpulsen zucken, um alles mit Leben zu erfüllen.
Nimm meine Blätter, Amerika; nimm sie, Süd, und nimm sie, Nord!
Heiße sie willkommen, überall; denn einzig sind sie deines Ursprungs.
Umschließt sie, Ost und West; denn sie möchten auch euch umschließen!
Und ihr Ahnen! liebevoll verknüpft euch mit ihnen, denn liebevoll verknüpfen sie sich mit euch!
Ich erforschte die alten Zeiten;
Saß zu den Füßen der großen Meister und lernte:
Jetzt, o wie wünschte ich, dass die großen Meister wiederkehren und euch lesen könnten!
Sollte ich dieser Staaten wegen das Altertum verachten?
Ei, sie sind ja die Kinder des Altertums und sollen es rechtfertigen.
Ihr toten Dichter, Philosophen, Priester,
Märtyrer, Künstler, Erfinder, ihr längst vergangenen Regierungen,
Ihr Sprachschöpfer andrer Gestade.
Nationen, einst mächtig, jetzt herabgekommen oder verödet:
Ich darf nicht weitergehen, bevor ich nicht mit Ehrfurcht euer Vermächtnis an uns anerkannt habe.
Ich habe es geprüft, und ich gestehe (nachdem ich mich einige Zeit darin umgetan), dass es bewunderungswürdig ist.
Ich meine, es kann gar nichts Größeres geben, und nichts kann jemals verdienstvoller sein.
Eine Zeit lang betrachtete ich es mit aller Aufmerksamkeit; dann aber ließ ich es fahren
Und stehe nun mit meiner Zeit hier an meiner eigenen Stelle.
Hier sind Länder mit Weib und Mann;
Hier sind die Erben und Erbinnen der Welt; hier ist lebenswarmer Rohstoff,
Hier ist die richtunggebende, frei ausgesprochene Geistigkeit,
Ewig strebende, die Krone der sichtbaren Erscheinungen,
Stillende, die nach langem gehörigem Warten jetzt wieder vorschreitet;
Ja, hier kommt meine Herrin, die Seele!