Graswurzelglaube - Wolf-Andreas Liebert - E-Book

Graswurzelglaube E-Book

Wolf-Andreas Liebert

0,0
12,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Wo sprießen neue Formen des Religiösen?

Kirchenaustritte, enttäuschte Gläubige, kaum noch religiöse Sozialisation: Es scheint, als sei das große Zeitalter der Religion vorbei, vor allem in Mitteleuropa, wo der Einfluss des Christentums im Sinkflug ist. Wer noch religiös ist, steht fast per se unter dem Verdacht, rückwärtsgewandt und unmodern zu sein. Gleichzeitig zeigt sich, dass Religiöses in den unterschiedlichsten Bereichen unserer vermeintlich durchsäkularisierten Gesellschaft wieder auftaucht, sich Bahn bricht, gar wuchert und eine faszinierende Attraktion entfaltet und zwar völlig unabhängig von den kirchlichen Institutionen.

Genau damit begibt sich Kulturwissenschaftler Wolf-Andreas Liebert auf Tuchfühlung: Er beobachtet Massenveranstaltungen von Eckhart Tolle, analysiert quasi-religiöse Sprechweisen in der Politik und untersucht Spielarten spirituellen Erwachens. Am Ende steht eine differenzierte Schlussfolgerung: Das Zeitalter der Religion ist keineswegs vorbei, unsere entzauberte Moderne hat vielmehr den Boden dafür bereitet, dass das Religiöse neu und anders sprießen kann. Das ist Gefahr und Chance zugleich.

Ein Buch, das einerseits ein Plädoyer fürs Religiöse hält, das uns hilft, als Gesellschaft zusammenzuhalten, andererseits eine Warnung formuliert vor extremistischen Denk- und Sprechweisen und spirituellem Zerfall.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 210

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Kirchenaustritte, enttäuschte Gläubige, kaum noch religiöse Sozialisation: Es scheint, als sei das große Zeitalter der Religion vorbei, vor allem in Mitteleuropa, wo der Einfluss des Christentums im Sinkflug ist. Wer noch religiös ist, steht fast per se unter dem Verdacht, rückwärtsgewandt und unmodern zu sein. Gleichzeitig zeigt sich, dass Religiöses in den unterschiedlichsten Bereichen unserer vermeintlich durchsäkularisierten Gesellschaft wieder auftaucht, sich Bahn bricht, gar wuchert und eine faszinierende Attraktion entfaltet und zwar völlig unabhängig von den kirchlichen Institutionen.

Genau damit begibt sich Kulturwissenschaftler Wolf-Andreas Liebert auf Tuchfühlung: Er beobachtet Massenveranstaltungen von Eckhart Tolle, analysiert quasi-religiöse Sprechweisen in der Politik und untersucht Spielarten spirituellen Erwachens. Am Ende steht eine differenzierte Schlussfolgerung: Das Zeitalter der Religion ist keineswegs vorbei, unsere entzauberte Moderne hat vielmehr den Boden dafür bereitet, dass das Religiöse neu und anders sprießen kann. Das ist Gefahr und Chance zugleich.

Ein Buch, das einerseits ein Plädoyer fürs Religiöse hält, das uns hilft, als Gesellschaft zusammenzuhalten, andererseits eine Warnung formuliert vor extremistischen Denk- und Sprechweisen und spirituellem Zerfall.

Wolf-Andreas Liebert

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Aus Gründen der leichteren Lesbarkeit konnte eine gendergerechte Schreibweise nicht durchgängig eingehalten werden. Bei der Verwendung entsprechender geschlechtsspezifischer Begriffe sind im Sinne der Gleichbehandlung jedoch ausdrücklich alle Geschlechter angesprochen.

Siehe hier: Bülent Ceylan / Astrid Herbold, Ankommen. Aber wo war ich eigentlich? © S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2021.

Siehe hier, hier: Selections from The Power of Now and A New Earth, originally published in the English language by Namaste Publishing, © 1997 and 2008, Eckhart Tolle, reproduced in the German translation by arrangement with Namaste Publishing Inc.

Wir haben uns bemüht, alle Rechteinhaber ausfindig zu machen, verlagsüblich zu nennen und zu honorieren. Sollte uns dies im Einzelfall nicht gelungen sein, werden wir uns bemühen begründete Ansprüche zu erfüllen.

Copyright © 2024 Kösel-Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: zero-media.net, München

Umschlagmotiv: FinePic®, München

Innenteilabbildungen: Wolf-Andreas Liebert

Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

ISBN978-3-641-31535-1V001

www.koesel.de

Inhalt

Vorwort

1 Totgesagte leben länger

2 Die Saat des Himmels

3 Die Sache mit der Erleuchtung

4 Erwachen in der spirituellen Szene

5 Gefährliche Liebschaften: Politik und Religion

6 Gaia, Naturspiritualität und Dunkelgrüne Religion

7 Das reichhaltige Spektrum

Dank

Anmerkungen

Vorwort

Religiosität und Spiritualität sind seit Jahrtausenden aufs Engste mit dem Leben der Menschen auf der ganzen Welt verknüpft. Doch gegenwärtig scheint das Verhältnis des Menschen zur Spiritualität sehr widersprüchlich geworden zu sein: Auf der einen Seite kann man sich fragen, ob denn Glaube überhaupt noch eine Zukunft hat, wenn doch so viele Menschen aus den Kirchen austreten, die Zahl der Konfessionslosen steigt und die naturwissenschaftlichen Grenzen für alles Religiöse unüberwindbar scheinen. Auf der anderen Seite sehen wir in vielen Bereichen, dass Religiosität nicht verschwunden ist, sondern sich ganz unscheinbar dort zeigt, wo wir zunächst gar nicht an Religion denken. Kennen Sie nicht auch zumindest eine Person, die Yoga praktiziert, meditiert oder versucht, im Leben »achtsam« zu sein? Die Heilsteine bei sich zu Hause liegen hat oder Tarot-Karten legt? Oder die mit leuchtenden Augen erzählt, wie sie sich mit der Natur, den Tieren und Pflanzen und allem, was sie umgibt, verbunden und auf diese Weise getragen fühlt? Oder die mit allen kirchlichen und religiösen Traditionen gebrochen hat, aber der es ein Bedürfnis ist, ihr Kind taufen zu lassen? Diese spirituellen Pflänzchen finden wie Graswurzeln immer wieder ihre Wege, um wachsen zu können. Dieses offenbar alle Zeiten überdauernde, grundlegende Hingezogensein des Menschen zur Spiritualität nenne ich deshalb »Graswurzelglaube« – und davon handelt dieses Buch.

Warum ist das so? Dieser Frage gehe ich in den ersten beiden Kapiteln ausführlich nach. Es geht im Kern darum, dass Menschen aufgrund ihrer Fähigkeit zur Selbstreflexion zwei sehr unterschiedliche Erfahrungen machen können: Zum einen die Erfahrung von Einsamkeit, Unbedeutendheit und Isolation und zum anderen die Erfahrung von Eingebundenheit in etwas Größeres, Sinngebendes, das die eigene Person übersteigt. Aus diesen beiden menschlichen Grunderfahrungen erwächst bei vielen eine fortwährende Sehnsucht und Suche nach dem Eingebundensein und Aufgehobensein. Diese Sehnsucht kommt bei verschiedenen Menschen mehr oder weniger stark zum Ausdruck und kann durch ganz Unterschiedliches gestillt werden: Für die einen ist es die wöchentliche Yogastunde, die gelegentliche Meditation, der jährliche Weihnachtsgottesdienst oder das einmalige Gebet in persönlicher Not. Für die anderen ist es intensive, tägliche spirituelle Praxis, um zu »erwachen« oder »erleuchtet« zu werden. Im Kapitel »Die Sache mit der Erleuchtung« werde ich auf diese Jahrtausende alte Vorstellung näher eingehen.

Im Kapitel »Erwachen in der spirituellen Szene« zeigt sich dann am Beispiel von Eckhart Tolle, dass die Suche nach einem »Erwachen« auch den Kern der spirituellen Szene der Gegenwart ausmacht. Dabei gehört Eckhart Tolle keiner bestimmten, traditionellen Religion an. Er ist ein sehr erfolgreicher Buchautor und spiritueller Lehrer, der Tausende von Menschen begeistert.

Aber aus Religion entsteht auch viel Unheil, Religionen sind Anlass für Krieg und Gewalt. Man könnte über die Gewalt im Namen des Wahren, Guten und Barmherzigen verzweifeln und sich für das Ende aller religiösen Vorstellungen, Ideen und Einrichtungen einsetzen. Das wäre der Kampf im Namen des Atheismus und des Humanismus. Doch die religiös-spirituellen Graswurzeln scheinen unverwüstlich zu sein, wir können sie nicht ausrotten, sondern müssen mit ihnen leben und lernen, was und wie sie Gutes bewirken können. Offenbar hat jeder eine Art »spirituelle Empfangsstation«, doch sind die Frequenzen, auf denen gesendet und empfangen wird, verschieden. Und niemand ist gezwungen, irgendeine dieser Frequenzen oder auch nur die Empfangsstation zu nutzen. Aber egal, ob und wie wir diese nun aktivieren: Ob dabei etwas Gutes herauskommt, das steht auf einem anderen Blatt. Im Kapitel »Gefährliche Liebschaften: Politik und Religion« möchte ich dies beispielhaft zeigen. Es ist also nicht alles schön und friedfertig, was aus den Graswurzeln entsteht, und es ist nicht immer leicht zu wissen, auf welchen Wegen oder Abwegen man sich selbst gerade befindet.

Schließlich soll es auch um den Gegensatz von Religiosität und Spiritualität auf der einen Seite und Atheismus und Rationalität auf der anderen Seite gehen. Es handelt sich anscheinend um zwei unvereinbare Lebensentwürfe. Sie stehen einander wie zwei fremde Pole gegenüber: entweder – oder. Doch zwischen Polen spannt sich immer auch ein Spektrum auf. Und wenn wir von einem Spektrum ausgehen, dann müssen wir uns gar nicht für einen der beiden Pole entscheiden, sondern können unseren Platz im Spektrum suchen und finden. In diesem Buch will ich daher auch zeigen, dass sich ein Bedürfnis nach spiritueller Eingebundenheit und atheistischer Religionskritik nicht ausschließen. Dann müssen wir nicht mehr den Atheismus und die Wissenschaften gegen die Religion und das Spirituelle verteidigen oder umgekehrt, sondern können entdecken, welchen Platz beides in unserem Leben einnehmen kann.

So lade ich Sie ein, mit mir dieses unübersichtliche, wild bewachsene Gebiet neuer religiöser Strömungen zu erkunden und die ganz unterschiedlichen Zugänge wertschätzen zu lernen. Dabei werden einige Ansätze ausführlicher zur Sprache kommen als andere, denn mir geht es nicht darum, Religionen und religiöse Phänomene systematisch und vollständig zu beschreiben, sondern die Grundfragen der menschlichen Spiritualität und Religiosität zu stellen, und zwar in all ihrer Widersprüchlichkeit, in der sie sich in unserer Gegenwart zeigen.

Totgesagte leben länger

»Tja, der Gott, an den du nicht glaubst, ist sagenhaft gut zu mir gewesen.«

Dolly Parton1

Ist die Religion nicht einfach tot? Es vergeht doch kein Monat, in der wir nicht wieder von einer neuen Welle von Kirchenaustritten lesen. Und die Wissenschaften scheinen dies zu bestätigen, indem sie von einer zunehmenden Säkularisierung2 und dem Bedeutungsverlust der Religion in unserer Gegenwart ausgehen. Aber ist das wirklich so? Erscheint es uns vielleicht nur so, weil wir aus einer europäischen Sichtweise darauf blicken?

Schauen wir zunächst, wie die These einer immer weiter um sich greifenden Säkularisierung so einflussreich geworden ist.

Ein wesentlicher Faktor dafür war eine Reihe einflussreicher Denker, die den Untergang der Religion zugunsten einer säkularen Lebensweise behauptet und befürwortet haben. Für Karl Marx etwa war Religion das »Opium des Volkes«, eine Droge, mit der man sich Traumwelten vorgaukelte, um das Elend der Arbeitswelt aushalten zu können. Für Sigmund Freud war religiöses Erleben lediglich eine nicht bewusste, sehr frühe Kindheitserinnerung. Damit war Religion für ihn lediglich eine »Illusion«. Für den Soziologen Max Weber (1864 – 1920) führten Rationalisierung und Verwissenschaftlichung zu einem kollektiven Glauben an eine totale wissenschaftliche Erklärbarkeit der Welt, in der durch bloße Berechnung alles bis in die letzten Winkel menschlicher Regungen kontrolliert werden kann und jegliches magische oder religiöse Denken dadurch ausgeschlossen ist. Er nannte dies »Die Entzauberung der Welt«. Und schließlich gab Friedrich Nietzsche Gott selbst den Todesstoß: »Gott ist tot«, so lautet sein bekanntester und auch heute noch meist zitierter Satz. Aus diesem Denken entstand im 19. und 20. Jahrhundert etwas Neues: ein programmatischer Atheismus.

Natürlich gab es atheistische und verwandte Denkansätze schon viel früher, zum Beispiel bei den sogenannten »Skeptikern« in der Antike.3 Neu beim modernen Atheismus war nun jedoch die Programmatik, die mit aller Härte des wissenschaftlich geschulten Verstandes zeigen wollte, dass Religion in grundsätzlicher Weise belanglos, überholt und sogar von Übel ist und – wenn sie nicht von allein verschwindet – abgeschafft werden muss.

Dieser programmatische Atheismus hat sich mit dem wissenschaftlichen Denken und der Aufklärung verbunden, sodass diese heute wie untrennbar zusammengehörig wirken. Ein einflussreicher Protagonist dieses programmatischen Atheismus im 20. Jahrhundert war der Nobelpreisträger Bertrand Russell. Sein berühmter Vortrag aus dem Jahr 1927 »Warum ich kein Christ bin« muss damals für viele ein Weckruf gewesen sein:

»Die ganze Gottesvorstellung ist eine aus den alten orientalischen Despotien abgeleitete Anschauung. Es ist eine für einen freien Menschen völlig unwürdige Haltung. Wenn Sie hören, wie die Leute in der Kirche sich selbst erniedrigen und sagen, sie seien elende Sünder und das ganze andere Zeug, dann ist das einfach nur beschämend und eines Menschen, der sich selbst achtet, nicht würdig.«4

Drastische Worte, doch sprach Russell damit vielen Menschen aus der Seele, die sich selbst nun als Vertreter der Moderne auf der Seite der Zukunft wahrnahmen und die Religion im 20. Jahrhundert nur noch als vormoderne Schlacke eines ausgebrannten Christentums ansahen, die nach und nach vertrocknete. Die Säkularisierungsthese war der Ausdruck dieser humanistischen Fortschrittsutopie. Das Christentum wurde dabei – aus heutiger Sicht undenkbar – mit Religion insgesamt gleichgesetzt.

Die Annahme, dass die Religion in der Moderne keine Rolle mehr spielt, ist mittlerweile in der Wissenschaft sehr umstritten. Es hat sich vieles ereignet, was ihr eklatant widerspricht. Seit einiger Zeit denkt man deshalb darüber nach, ob dem Religiösen nicht doch mehr Bedeutung zukommt, als noch vor wenigen Jahrzehnten prophezeit. Und spätestens seit den Anschlägen vom 11. September 2001 durch die islamistische Terrorgruppe al-Qaida ist klar: Religion, in ihrer schlimmsten Ausprägung als politisch-religiöser Fundamentalismus und Fanatismus, ist wieder auf der Weltbühne präsent und wird auch nicht so schnell verschwinden. Für den Philosophen Jürgen Habermas ist klar, dass uns das in eine »postsäkulare Gesellschaft« katapultiert hat, in der wir das Verhältnis von Religion und Wissenschaft neu definieren müssen – auch wenn der Bedeutungsverlust der traditionellen christlichen Kirchen und die zunehmende Zahl von Menschen ohne Konfession in Europa unbestrittene Tatsachen sind.5

Zugleich wandelt sich auch die religiöse Kultur: Einerseits erhalten fundamentalistische Religionen aller Art weltweit Zulauf und nehmen starken Einfluss auf die Politik. Vielleicht denkt man hier zuerst an Theokratien wie die Islamischen Republiken Iran oder Pakistan, also Gottesstaaten, in denen Staat und Religion eine Einheit bilden, doch zeigen sich solche Tendenzen auch in demokratisch und wissenschaftlich geprägten Ländern wie Indien oder den Vereinigten Staaten.

In den Vereinigten Staaten hatte beispielsweise der ehemalige und jetzt wieder zur Wahl stehende US-Präsident Donald Trump einen religiösen Beraterstab einberufen, zu dem auch der radikale Evangelikale John Hagee zählte. Seine Tele-Gottesdienste bestehen aus einer professionell gemachten Mischung aus Lebensberatung, Heilungsritual und politischem Aktivismus. Bekannt wurde Hagee, als er Homosexuelle aus New Orleans für den Hurrikan Katrina, der die Stadt besonders hart traf, verantwortlich machte. Diese größte Naturkatastrophe in der Geschichte der Vereinigten Staaten bezeichnete er als Strafe Gottes für deren Homosexualität. Ebenso dankte John Hagee in einer irrwitzigen Logik Gott dafür, dass er Hitler erschaffen habe, denn das habe dazu geführt, dass der Staat Israel entstehen konnte, und dies sei die notwendige Voraussetzung, damit dann dort der seit zweitausend Jahren angekündigte Messias erscheinen könne. Dadurch würden dann auch alle dort lebenden Juden und Jüdinnen auf einen Schlag zum Christentum bekehrt.6 Zum »republikanischen Hauspastor« aufgestiegen, war er eine Zeit lang weniger gefragt, bis ihn die republikanische Trump-Herausforderin, die ehemalige Gouverneurin von South-Carolina und UN-Botschafterin Nikki Haley in den Präsidentschaftswahlkampf 2024 einband.

Andererseits entstehen neue, vielfältige Formen von Religiosität, die sich selbst gar nicht als religiös bezeichnen, aber viele Merkmale von religiösem Leben tragen. Manchmal nennen sie sich spirituell, manchmal geben sie sich aber auch keine bestimmte Bezeichnung. Beispiele finden sich überall im Alltag: Sie brauchen nur die Tageszeitung aufzuschlagen und können dort lesen, dass Fritz Wepper in seinem schwarzen Meditationskimono und seiner Mala begraben werden wollte, da dies »Symbole des Loslassens« seien. Eine Mala ist eine buddhistische Handkette, um die Anzahl der Mantren zu zählen ähnlich wie ein christlicher Rosenkranz. In der Spalte daneben sinniert Jimi Blue Ochsenknecht über höhere Mächte und Karma:

»Er wisse zwar nicht, ob man diesen Zustand ›religiös‹ nennen sollte. ›Aber ich glaube auf jeden Fall an etwas‹, sagte Ochsenknecht. Auch daran, dass es ›etwas Höheres‹ gebe, das uns beobachte.«7

Ochsenknecht spielte 2024 den Judas im österlichen RTL-TV-Spektakel »Die Passion«, sodass man zunächst PR-Motive hinter diesem Interview vermuten kann. Allerdings lässt sich sein Statement nicht nur auf Filmmarketing reduzieren, denn diese Art von einfachem, selbst verfasstem Bekenntnis ist typisch für unsere Zeit. In der wissenschaftlichen Statistik verbergen sich solche Einstellungen, wie sie auch Ochsenknecht äußert, dann in der wachsenden Gruppe der Konfessionslosen und werden damit unsichtbar.

Gegenwärtig gibt es eine kaum überschaubare Zahl informeller religiöser Netzwerke und Zirkel, die ein spirituelles Leben in weitgehender Unverbindlichkeit ermöglichen. Es herrscht die sogenannte »Selbstermächtigung des religiösen Subjekts«8, bei der Menschen ihren Glauben ohne Rückversicherung der religiösen Institutionen selbst zusammenpuzzeln.

Und nicht nur das, denn dieser individuelle Glaube wird dann als der »bessere« gegenüber den traditionellen religiösen Institutionen behauptet, häufig im Gestus emotionaler, empörter Abgrenzung oder Abwertung dieser Institutionen.9 Es gibt viele Menschen, die sich als »Erwachte« bezeichnen und sich als »Lehrer« anbieten. Ein Beispiel dafür ist der »spirituelle Lehrer« Eckhart Tolle, der Versatzstücke verschiedener Religionen und Traditionen zu einem eigenen Glauben zusammenfügt, um diesen dann den traditionellen Religionen »um die Ohren zu schlagen«. Tolle ist wie ein Symbol für die spirituelle Szene der Gegenwart, sodass wir uns in einem eigenen Kapitel damit beschäftigen werden.

Der neue informelle und unverbindliche Zugang zum religiösen Erleben hat aber auch die traditionellen Religionen verändert. Besonders auffällig ist dies beim Buddhismus, der sich im 20. Jahrhundert weit in die westliche Kultur geöffnet hat. Am bekanntesten sind dabei der Zen-Buddhismus und der tibetische Buddhismus, prominent vertreten durch ihr Oberhaupt, den Dalai-Lama. Im Kontakt mit der westlichen Kultur sind neue Formen entstanden, die das formalisierte buddhistische Klostersystem und das Bedürfnis nach einer informellen, lockeren Bindung zusammengebracht haben.

Elemente religiösen Erlebens finden sich z. B. auch im modernen ökologischen Denken und Umweltbewusstsein, insbesondere unter der sogenannten Gaia-Hypothese. Gaia ist in der griechischen Mythologie die Erdgöttin. Gaias grausame Geschichte wird dabei selten erzählt: Gaia empfängt nämlich in unbefleckter Empfängnis den Uranos, zeugt mit ihm Kinder, die sie vor ihm versteckt, da Uranos sie fressen will. Gaias Sohn Kronos befreit seine Geschwister, indem er seinen Vater kastriert. Seine Waffe ist eine unzerstörbare Sichel, die seine Mutter Gaia extra für ihn hergestellt hatte – wie so oft in der Antike lassen sich Götter und Göttinnen nicht eindeutig in moralische Kategorien wie Gut oder Böse einordnen. Im ökologischen Diskurs ist Gaia jedoch als nährende Erdmutter moralisch integer: Die Erde wird als ein selbstregulierendes System betrachtet, das durch menschliche Aktivität aus dem Gleichgewicht geraten ist. Zu diesem Gleichgewicht bzw. seiner Wiederherstellung gehören alle Lebensformen, also nicht nur Menschen. Daher geht dies häufig mit pantheistischen Vorstellungen einher. Der Pantheismus wurde insbesondere durch Goethe prominent und besagt, dass das Göttliche überall ist (»pan« bedeutet im Altgriechischen »alles«).10 Bekannt wurde diese Sichtweise durch populäre Filme wie »Avatar – Aufbruch nach Pandora«, was in der Religionswissenschaft sogar zu der Behauptung führte, dass sich hier eine neue, »Dunkelgrüne Religion«11 herausbilde. Dies werden wir im Kapitel 6 »Gaia, Naturspiritualität und Dunkelgrüne Religion« ausführlich behandeln.

Schließlich gibt es noch die Verbindungen von wissenschaftlicher und spiritueller Denkweise, sichtbar beispielsweise in Formen wie dem sogenannten MBSR-Achtsamkeitstraining12, das positive gesundheitliche Effekte haben soll. »MBSR« ist eine Abkürzung für »Mindfulness Based Stress Reduction« und kann übersetzt werden als »Stressreduktion durch Achtsamkeit«. Dieses Verfahren basiert auf klinischen Studien, die die positive Wirkung von buddhistischen Meditationspraktiken zeigen. Der Hauptvertreter ist Jon Kabat-Zinn. Das Konzept der »Achtsamkeit« (auf Englisch »Mindfulness«) hat sich davon ausgehend in vielen Lebensbereichen etabliert. Auch bei Yoga und vergleichbaren Formen wird diese ›eingebettete Spiritualität‹ akzeptiert, wenn der Nutzen für die seelische und körperliche Gesundheit ›bewiesen‹ ist. Im weiteren Sinne zählen auch die Versuche der sogenannten »Neurotheologie« hinzu, in der über Gehirnscans oder andere Methoden erforscht wird, was beim religiösen Denken und Meditieren physiologisch passiert und ob man so beweisen kann, dass davon positive Effekte ausgehen.

Was zeigen uns diese verschiedenartigen Facetten des Religiösen, die in ganz unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen auftreten? Wie es aussieht, wird sich wohl eher die These der Säkularisierung auflösen als das religiöse und spirituelle Leben. Fragen, die noch vor wenigen Jahrzehnten überflüssig erschienen, da man glaubte, Religion würde ohnehin verschwinden, stellen sich nun vehement wieder: Warum haben Menschen offenbar dauerhaft religiöse und spirituelle Bedürfnisse und Erfahrungen? Welcher Art sind diese in unserer Gegenwart? Welche Rolle können Religion und Spiritualität in der »postsäkularen Gesellschaft« einnehmen?

Wir werden auf diese Fragen noch genauer eingehen. Es lässt sich hier aber bereits feststellen: Menschen, die sich als spirituell bezeichnen, berichten generell von Erfahrungen, die sich als Erfahrung von Transzendenz beschreiben lassen. Transzendenz meint das Überschreiten (von lat. transcendere, überschreiten, übertreten) der Grenze des menschlichen, sinnlich Wahrnehmbaren in einen Bereich des »Übersinnlichen«. Transzendenz wird meist erlebt als Verbundenheit mit etwas Größerem. Diese Transzendenzen können unterschiedlich stark erlebt werden.

Wir können sie grob einteilen als Erfahrungen kleiner, mittlerer oder großer Intensität. Kleine Transzendenzen können Erlebnisse wie ›Flow‹, Resonanz, Verbundenheit oder Erhabenheit in und mit der Natur sein. Transzendenzerfahrungen großer Intensität wie ein Erwachen oder eine Begegnung mit Engeln stürzen das eigene Leben häufig grundlegend um, wie wir Selbstzeugnissen entnehmen können. Bleiben noch Personen, die von Transzendenz mittlerer Intensität berichten. Diese mittleren Erfahrungen dürften die Mehrzahl im großen Feld der Spiritualität und Esoterik ausmachen, da die betroffenen Personen hoffen, irgendwann einmal auch eine »große Transzendenz« zu erleben, eine endgültiges Überschreiten des menschlichen Bereichs, die den Suchenden zum Wissenden macht. Hierfür wird nicht nur ein Weg, sondern eine Unzahl von immer neuen Wegen auf dem Marktplatz der Erleuchtung angeboten, die genau an dieser Sehnsucht nach einer endgültigen Transzendenz ansetzen.

In den folgenden beiden Kapiteln geht es um die Beschreibung solcher Transzendenzerfahrungen: Es geht um die »Sache mit der Erleuchtung« und darum, wie Menschen – von der Antike bis zur Gegenwart – »erwachen«. 

Die Saat des Himmels

»Die Saat ist noch unbewässert, der Regen aber bist Du.«

Farīd-ad-Dīn ‘Aār13

In der Netflix-Serie Manifest verschwindet ein voll besetztes Flugzeug spurlos. Fünf Jahre später taucht es wieder auf. Im Erleben der Passagiere sind jedoch nur wenige Stunden vergangen. Die »Acht-Zwei-Acht-Passagiere«, wie sie nach der Flugnummer »828« genannt werden, haben in der Zeit nach ihrem merkwürdigen Flug unerklärliche Eingebungen, die sie »Callings« oder »Berufungen« nennen. Diese sind auf Anhieb nicht zu verstehen und müssen erst entschlüsselt werden. Die Eingebungen überkommen die Passagiere zudem ohne Ankündigung, sodass bei den Protagonisten des Films große Unsicherheit entsteht. Einige lernen, sich auf ihre »Callings« zu verlassen, selbst wenn sich deren Sinn nicht erschließen lässt. Häufig werden durch das Enträtseln und Befolgen der »Callings« Straftaten verhindert und Leben gerettet. Eine der Hauptfiguren, der atheistische Mathematiker Ben Stone, versucht, den tieferen Sinn dieser unerklärlichen Erfahrungen durch Recherche, Fakten und Modellbildung zu verstehen und erstellt riesige und komplexe Wissensnetze der Ereignisse und Personen. Andere 828-Passagiere sind mit den Eingebungen überfordert, sie werden wahnsinnig und isolieren sich oder versuchen gar, sich selbst zu töten. Auch die Umwelt ist nicht hilfreich, sie reagiert mit Unverständnis oder sogar feindselig. So wird zum Beispiel die junge 828-Passagierin Angelina Meyer wegen ihrer Eingebungen in einem Kellerverlies gefangen gehalten, und zwar von ihren eigenen strenggläubigen, christlichen Eltern. Die Eltern glauben, ihre Tochter sei vom Bösen besessen und sie müssten die Welt vor ihrer teuflischen Tochter beschützen. Die Charaktere sind verunsichert und wissen nicht, was dies alles zu bedeuten hat, und einige zerbrechen auch daran. Schließlich finden sie heraus, dass sie sich als Gruppe selbst organisieren müssen, um zu überleben, doch dieser Prozess erweist sich als schwierig und schmerzhaft. 

Religiöse Erfahrungen erleben die Betroffenen häufig ähnlich wie die Eingebungen in Manifest: Man weiß nie, warum sie die einen treffen und die anderen nicht, sie kommen ohne Ankündigung und können, wenn es sich um »große Transzendenzen« handelt, ein Weltbild radikal durcheinanderrütteln. Und wie in Manifest können Transzendenzerfahrungen von Menschen erlebt werden, die mit Religion nichts zu tun haben oder sogar erklärte Gegner einer Religion sind. In der Geschichte gibt es dafür viele Beispiele. Am bekanntesten ist wohl die historische Figur des Saulus, dessen radikale Wandlung in den deutschen Sprichwortschatz eingegangen ist: Jemand wird »vom Saulus zum Paulus«. Saulus war einer der brutalsten und unbarmherzigsten Christenverfolger. Mitten in einer seiner Christenjagden »umleuchtete ihn plötzlich ein Licht vom Himmel und er fiel auf die Erde und hörte eine Stimme, die sprach zu ihm«, wie es in der Apostelgeschichte 9, 3–4 heißt. Das war sein erstes »Calling«, wie die 828-Passagiere sagen würden. Im Wandlungsprozess selbst war Saulus nicht ohne fremde Hilfe überlebensfähig. Doch nach seiner Wandlung wurde der ehemalige Christenverfolger unter seinem neuen Namen Paulus zum wichtigsten Verbreiter des Christentums. Gott kümmert sich – so vermittelt es die Apostelgeschichte – nicht darum, ob jemand gläubig oder ungläubig ist, wenn er ohne Vorankündigung »ins Denken einfällt«, wie der litauisch-französische Philosoph Emmanuel Levinas schreibt.14 Nach den uns bekannten Überlieferungen aus Vergangenheit und Gegenwart machen viele Menschen ungewollt und unerwartet religiöse Erfahrungen. Wie im vorangegangenen Kapitel ausgeführt, können diese mehr oder weniger intensiv ausfallen, von einer großen Transzendenz und einer radikalen Änderung des eigenen Lebens bis hin zu einer unbestimmten Sehnsucht oder Gefühlen von Flow oder Harmonie.

Die aktuelle Diskussion um den Bedeutungsverlust von Religion erfährt eine neue Sichtweise, wenn wir einen Blick über die derzeitigen Probleme der christlichen Kirchen hinaus wagen: Sofort entdecken wir ein unendliches Gewusel an religiösem und spirituellem Leben, für das wir im vorangegangenen Kapitel einige Beispiele kennengelernt haben. Religion und Spiritualität sind auf unserem Planeten so vielfältig und unterschiedlich, dass es unmöglich erscheint, diese als Ganzes zu erfassen. Allein diese Vielfalt und der Reichtum an Spiritualität auf der Erde zeigt uns, dass damit offenbar einem menschlichen Bedürfnis entsprochen wird, das in jeder Zeit und Kultur immer wieder neu entsteht, in kleinen oder größeren Formen, über eine kürzere oder eine längere Zeitspanne, lokal begrenzt – wie etwa bei Stammesreligionen – oder lokal unbegrenzt wie bei den sogenannten Weltreligionen. Und bei all diesen Ausprägungen gibt es Berichte von solchen Erfahrungen, die eben nicht berechenbar sind, sondern wie »vom Himmel« zu fallen scheinen.

Können diese Erfahrungen aber auch wissenschaftlich erklärt und beschrieben werden? Und das, ohne sie zu »entzaubern«? In der Religionssoziologie ist es üblich, sich auf die Untersuchung der Funktionen von Religion in der Gesellschaft zu beschränken. Eben haben wir gerade eine solche Funktion besprochen, nämlich dass Religion helfen kann, solche ungewöhnlichen Erfahrungen zu integrieren und sinnvoll zu verarbeiten. Doch wenn wir dabei stehen bleiben, bleibt das Ganze eine »dünne Beschreibung«, wie der US-amerikanische Kulturwissenschaftler Clifford Geertz (1926 – 2006) schreibt. Formal ist so eine Beschreibung zwar korrekt, aber sie bleibt eben bloß eine äußerliche Beschreibung, bei der wir den ›Witz‹ verpassen, also das, worum es für die betroffenen Menschen eigentlich geht.15 Wir wollen deshalb nach Gründen suchen, warum Menschen für so etwas wie die Saat des Himmels, von der der persische Dichter Farīd-ad-Dīn Aār im Eingangszitat spricht, empfänglich sind. Dafür beschäftigen wir uns nun mit der Philosophischen Anthropologie. Bei ihr handelt es sich um eine interdisziplinäre Forschungsrichtung, die sowohl geisteswissenschaftliche als auch sozial- und naturwissenschaftliche Erkenntnisse einschließt. Kann sie uns darüber Auskunft geben, warum Spiritualität und Religion offenbar etwas zutiefst Menschliches sind?

Einer der Hauptvertreter der Philosophischen Anthropologie ist Helmuth Plessner (1892 – 1985), der Philosoph und Soziologe war, aber auch Medizin und Zoologie studiert hatte. Plessner entwickelte eine Theorie, die alle Formen des Lebens miteinander verbindet und in der sich menschliche Lebewesen nur durch eine höhere Komplexität von anderen Daseinsformen unterscheiden. Nach Plessner sind menschliche Lebewesen im Unterschied zu tierlichen Lebewesen mit einer doppelten Perspektive ausgestattet, die er »exzentrische Positionalität« nennt. Das Wort »exzentrisch« leitet sich von den lateinischen Wörtern »ex«, auf Deutsch »aus«, und »centrum«, auf Deutsch »Mittelpunkt«, ab. Menschliche Lebewesen besitzen neben der Wahrnehmung aus ihrer Mitte heraus also zusätzlich die Eigenschaft, sich wie von außerhalb der eigenen Mitte wahrzunehmen.16