Grauzonen - Christian Sievers - E-Book

Grauzonen E-Book

Christian Sievers

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Beschreibung

Zwanzig Minuten hat Christian Sievers in einer «heute»-Sendung, um über das aktuelle Weltgeschehen zu berichten – und muss dabei erklären, zusammenfassen, weglassen. In diesem Buch erzählt er die Geschichten hinter der Nachricht. Gerade in den Krisengebieten dieser Welt stößt er auf Unerwartetes, Überraschendes, Verwirrendes: Humor neben Hass, Mut in der Katastrophe, Propaganda mit Augenzwinkern und Lügner, die den Wert der Wahrheit predigen. Eine verunsicherte Medienwelt steht vor der Herausforderung, all diesen Facetten der Story gerecht zu werden. Das Buch ist ein Blick hinter die Kulissen einer Nachrichtensendung und in den aufwühlenden Alltag von Krisenreportern. Es ist auch eine Liebeserklärung an den Nahen Osten, wo nichts geht und alles möglich ist.

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Seitenzahl: 282

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Christian Sievers

Grauzonen

Geschichten aus der Welt hinter den Nachrichten

 

 

 

Über dieses Buch

Zwanzig Minuten hat Christian Sievers in einer «heute»-Sendung, um über das aktuelle Weltgeschehen zu berichten – und muss dabei erklären, zusammenfassen, weglassen. In diesem Buch erzählt er die Geschichten hinter der Nachricht.

Gerade in den Krisengebieten dieser Welt stößt er auf Unerwartetes, Überraschendes, Verwirrendes: Humor neben Hass, Mut in der Katastrophe, Propaganda mit Augenzwinkern und Lügner, die den Wert der Wahrheit predigen. Eine verunsicherte Medienwelt steht vor der Herausforderung, all diesen Facetten der Story gerecht zu werden.

Das Buch ist ein Blick hinter die Kulissen einer Nachrichtensendung und in den aufwühlenden Alltag von Krisenreportern. Es ist auch eine Liebeserklärung an den Nahen Osten, wo nichts geht und alles möglich ist.

Vita

Christian Sievers (Jg. 1969) hat Rechtswissenschaften studiert. Seine journalistische Karriere begann er beim Radio; die Fernsehzuschauer lernten ihn als Moderator des ZDF-Morgenmagazins kennen und als Krisenreporter bei Großereignissen. Heute moderiert er die Nachrichtensendungen «heute» und «heute journal». Zuvor war er fünf Jahre lang Auslandskorrespondent des ZDF im Nahen Osten. Er twittert mit Leidenschaft und liebt im Urlaub Hotels, die ihr Frühstück bis nachmittags servieren.

Impressum

Erweiterte Neuausgabe, Februar 2024

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Januar 2018

Copyright © 2018 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Covergestaltung HAUPTMANN & KOMPANIE Werbeagentur, Zürich

Coverabbildung Umschlagabbildung: ZDF/Jana Kay

ISBN 978-3-644-40302-4

 

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

 

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www.rowohlt.de

«Anyone who isn’t confused doesn’t really understand the situation.»

– Edward R. Murrow

7.10.

Die Lichter der Landebahn kommen näher, dann setzt die Maschine auf, und die Bremsen quietschen.

In der Kabine brandet Applaus auf. Nicht das übliche Klatschen auf einem Charterflug, voller Begeisterung, weil jetzt der Urlaub beginnt. Es ist pure Erleichterung: Wir haben es geschafft. Gut angekommen, in einer Region, in der nichts mehr gut ist. Eine Region im Krieg, die die größte Bedrohung und die entscheidendsten Umwälzungen seit Generationen erlebt, eine historische Zäsur.

Sicher gelandet. Wenigstens das. Ich ertappe mich dabei, wie ich laut und lange mitklatsche.

Der Ben-Gurion-Flughafen von Tel Aviv ist Israels einziges echtes Tor zur Welt. Jetzt liegt er beinah komplett verlassen da. Ein Flugzeug ohne Aufschrift parkt am Terminal, ein paar Militärmaschinen stehen im Hintergrund. Praktisch alle großen Airlines dieser Welt haben ihre Israel-Flüge eingestellt, aus Angst um die Sicherheit von Besatzung und Passagieren. Die Israelis von «El Al» fliegen noch – «I stand with Israel» haben sie schnell auf Bordkarten und Plakate gedruckt. Und unsere kleine Airline aus Zypern wagt es ebenfalls. «Wir fliegen zu hundert Prozent nach Plan», hatte der Gepäckabfertiger in Larnaca stolz gesagt. Auch wenn die Piloten eine ungewöhnliche Anflugroute nehmen müssen, um den Raketen im Luftraum über Israel auszuweichen.

Dieses Land wird angegriffen. Nicht nur mit Raketen. Als wir in Tel Aviv landen, ist es gerade ein paar Tage her, dass Hamas-Terrortrupps aus dem Gazastreifen israelische Städte, Kibbuzim und ein Musikfestival überfallen haben und dort in unbeschreiblicher Bestialität mordeten. Über tausend Tote. Noch nie seit dem Holocaust sind an einem einzigen Tag so viele jüdische Menschen umgebracht worden. Allein dieser Satz lässt einem den Atem stocken – besonders, wenn man aus Deutschland kommt.

In der Reihe vor mir im Flugzeug sitzt eine Familie mit zwei kleinen Kindern, die im Urlaub in Rumänien war, jetzt seit Tagen über Mitteleuropas Flughäfen irrt und sich durch die überlasteten Hotlines der Airlines telefoniert, im verzweifelten Versuch, irgendwie nach Hause zu gelangen. «Danke, dass ihr gerade jetzt zu uns kommt, um zu berichten», sagt der Vater, «das bedeutet mir sehr viel.»

Ich muss schlucken, so wie es mir immer geht, wenn sich jemand nachdrücklich für etwas bedankt, das doch einfach nur mein Job ist. Wir werden solchen Dank in den kommenden Tagen häufiger hören, von Israelis, von Palästinensern. Es ist der dringende Wunsch, jetzt in aller Welt wahrgenommen zu werden. Es ist wohl auch die Vorahnung, dass dieser Krieg obendrein eine Schlacht um die Meinungshoheit werden wird – eine Schlacht, wie sie die Welt noch nie zuvor gesehen hat.

Es wirkt, als hätten sich alle festgelegt, entweder «für» die eine oder «für» die andere Seite zu sein. Mehr denn je sind Zwischentöne rar. Die eigene Meinung zählt, alle anderen Sichtweisen werden pauschal zurückgewiesen und in den sozialen Netzwerken mit wüsten Worten geradezu bekämpft. Viele sehen diesen Konflikt klassisch in Schwarz und Weiß. Dabei gilt speziell in Nahost: So einfach ist es nie. In einer lebenswerten Welt muss doch auch beides möglich sein: Trauern um die israelischen Opfer des Hamas-Terrors und Mitgefühl mit denen, die in Gaza auf der Flucht sind oder die unter den Ruinen ihrer Häuser begraben liegen.

Welche gewaltigen Anstrengungen Israels Regierung unternimmt, die öffentliche Meinung weltweit in ihrem Sinn zu beeinflussen, und warum Hamas keinen Krieg gewinnen will, sondern die Sympathien vor allem der arabischen Welt – auch darum geht es auf den folgenden Seiten. Und vor allem: Wie wichtig der unvoreingenommene, zweite Blick ist auf die Situation und auf die Menschen hinter den Nachrichten. Genau deshalb heißt dieses Buch «Grauzonen».

Ich habe fünf Jahre lang in Tel Aviv gelebt und von hier aus als Nahost-Korrespondent des ZDF über die Region berichtet. Ich habe bereits zwei frühere Gaza-Kriege miterleben und darüber berichten müssen, aber was ich jetzt vor Ort spüre, hat es nie zuvor gegeben. Da sind Trauer und Sorge, Wut und Angst. Alles gleichzeitig. Da sind mehr Fragen und weniger Perspektiven als sonst in einer Region, die ohnehin schon seit Jahrzehnten damit lebt, dass kaum etwas klar ist und morgen alles anders sein kann.

 

Die Straßen der sonst so lebenslustigen Metropole am Mittelmeer sind leer gefegt. Es ist still in dieser Stadt, die doch eigentlich niemals schlafen wollte. Wir sind in Rekordzeit vom Flughafen mitten im Zentrum von Tel Aviv und finden sofort einen Parkplatz. Jeder, der mal hier war, weiß: Schon allein das ist Ausnahmezustand.

Unser Hotel beherbergt eine Reihe von Familien, die ihre Häuser im Süden verlassen mussten: zu gefährlich ist der Raketenbeschuss, und noch immer ist nicht klar, ob sich weitere Terrorkommandos in der Nähe ihrer Heimatorte befinden. Die verstörten Menschen mit ein paar Plastiktüten als Gepäck müssen für ihre Zimmer nichts bezahlen. An der Rezeption steht ein Schild: «Liebe Gäste, wenn die Alarm-Sirene ertönt, haben Sie 1½ Minuten, um in einen gesicherten Raum zu gehen. Wenn Sie das nicht schaffen, können Sie auch im Treppenhaus warten.»

Überall bleiben die Geschäfte erst mal zu. Einige Polizeistreifen sind unterwegs, ein paar Hundebesitzer, die Gassi gehen. Ein Vater begleitet seine kleine Tochter zur Rutsche auf dem Kinderspielplatz, über seiner Schulter hängt ein Maschinengewehr. In der Luft liegt das dauernde Brummen der Aufklärungsdrohnen. Nur ein Weinladen hat geöffnet. Hier verkaufen sie Ablenkung. «Um ehrlich zu sein», sagt der Inhaber, «eine Menge Leute kaufen gerade Alkohol. Wodka, Bier, die ganze Woche schon.»

Wir bereiten unsere Berichte vor und eine ganze Sendung, das «heute-journal» live aus Tel Aviv. In der deutschen Botschaft findet eine Pressekonferenz statt, die ich nicht mehr vergessen werde. Anders als sonst, wenn auf solchen Veranstaltungen redselige Politiker ihre Botschaften verbreiten wollen, sitzen hier Menschen auf dem Podium, die alles dafür geben würden, wenn sie das nicht tun müssten.

Es sind die Angehörigen von Geiseln mit deutschem Pass, die von Hamas-Terrortrupps nach Gaza verschleppt wurden. Sie haben ausgedruckte Fotos dabei von ihren Töchtern und Söhnen, Müttern und Vätern, Omis und Opas. Lachende Gesichter. Glückliche Familien. Und jetzt? Der Schmerz, die Ungewissheit, diese lähmende Machtlosigkeit füllen den Raum. Im Publikum sitzen lauter hartgesottene Kriegsberichterstatter und ringen selbst um Fassung.

Dan Romann bangt um drei Mitglieder seiner Familie. Ich treffe ihn am nächsten Tag zufällig auf der Straße wieder. Man sieht ihm an, dass er kaum noch schläft. Kein Wort von Vergeltung oder Hass kommt aus seinem Mund, nur die stille Hoffnung, dass er seine Liebsten zurückbekommt. Woher nimmt dieser Mann seine Kraft?

«Nein! Nicht hier! Nicht in Israel», so fasst Dan Romann diesen Schock für das Land zusammen. Israel hat seinen Bürgerinnen und Bürgern immer ein großes Versprechen gemacht: dass sie hier sicher sind. Dieses Versprechen ist jetzt gebrochen. «Wir sind nicht so stark, wie wir dachten», sagt uns in Jerusalem der Historiker Tom Segev. Und dann wird er grundsätzlich: «Wir werden unsere Identität neu formulieren müssen.»

 

Am Abend ist Ehud Barak zu Gast in unserer Sendung. Der Mann polarisiert und ist gleichzeitig eine lebende Legende in Israel. Bis heute der höchstdekorierte Soldat seines Landes. Elitekämpfer. Teil von Geheimoperationen des Mossad. Ex-Generalstabschef. Ex-Verteidigungsminister. Ex-Regierungschef. Barak kommt ganz allein aus dem Fahrstuhl, ohne die hier sonst allgegenwärtigen Personenschützer. Ich wundere mich. Ein israelischer Kollege meint: «Er ist sein eigener Bodyguard.» Auch noch mit 81.

Barak ist kein Freund von Premierminister Benjamin Netanjahu, um es vorsichtig zu formulieren. Was er nach unserem Interview sagt, bleibt mir im Gedächtnis. Um selbst politisch zu überleben, werde Netanjahu einen langen Krieg brauchen, damit die Leute irgendwann vergessen, wie es dazu kam. Barak spricht von Komplettversagen bis in die höchsten Ränge von Armee, Geheimdiensten und Regierung. «Wenn Netanjahu künftig entscheiden muss zwischen zwei Optionen, wird er – vielleicht auch nur unbewusst – immer diejenige wählen, die den Krieg ausdehnt.»

Ob und wie Israel seine selbst erklärten Kriegsziele erreichen kann, scheint auch den Verantwortlichen nicht wirklich klar zu sein: Die Geiseln lebend befreien und gleichzeitig Hamas für immer vernichtend schlagen. Soldaten können gegen Terrortrupps vorgehen, gegen eine Ideologie im Kopf helfen sie nicht. Im Gegenteil. Es gibt Beobachter, die warnen: Für jeden getöteten Hamas-Anführer wachsen fünf neue nach.

Der Druck, unter dem Israels aktuelle Regierung steht, ist jedenfalls kaum zu ermessen. Und eines ist bereits klar: Die Israelis werden die Frage stellen, wie es so weit kommen konnte.

Eine Frage, die sich im Nahen Osten seit gefühlten Ewigkeiten stellt. Sie beschäftigt auch dieses Buch.

 

In unseren Tagen vor Ort nach dem 7. Oktober 2023, der sich in Seelen und Geschichtsbücher der Region eingebrannt hat, ist vieles noch unklar: Wie es den Geiseln geht. Wie viele Menschen genau die Hamas in ihre dunklen Tunnel-Gefängnisse verschleppt hat. Wie Israels Militäroffensive im Gazastreifen enden wird. Und wann. Und was die dortige Zivilbevölkerung bis dahin noch erleiden muss. Schon jetzt sehen weite Teile von Nord-Gaza aus wie eine apokalyptische Trümmerwüste, in der menschliches Leben unmöglich scheint. Schon jetzt ist die Lage für über zwei Millionen Menschen in dem winzigen Küstenstreifen kaum noch vorstellbar – und darunter sind eben nicht nur blindwütige Terrorführer, dazu gehören auch weltoffene Computer-Girls. Rührige Fanclubs der deutschen Fußball-Nationalmannschaft. Abertausende Familien, deren Wünsche und Ziele kein bisschen anders sind als unsere in Europa. An sie muss ich denken, wenn wir in den Abendnachrichten wieder «heftige Luftangriffe auf den Gazastreifen» melden und dazu Bilder zeigen von blutüberströmten Kindern und verstörten Vätern, die versuchen, die Anweisungen der israelischen Armee zu befolgen, und dabei feststellen müssen, dass es für sie in diesem abgeriegelten Gebiet keinen sicheren Ort mehr gibt. Eltern, die ihren Kindern keine Sicherheit mehr bieten können. Und keine Perspektive für die Zukunft. Auch ihre Geschichten gehören zum vielschichtigen Bild dieser Region.

 

Als ich «Grauzonen» 2017 geschrieben habe, war die aktuelle Situation fern, aber viele grundlegende Fragen bereits unübersehbar: über das Leben in Israel, einem Land, das sich mit über tausend Kilometer Zaun nach außen abgeriegelt hat. Über das Bedürfnis nach Sicherheit und die weltweit einmaligen Sicherheitsmaßnahmen. Und die spezielle deutsche Verantwortung für die Menschen dort. Wie nah kann man Israels Geheimdiensten kommen? Wie lebt es sich in Gaza und wie berichtet man von dort? Überhaupt: Welche Rolle spielen die Medien in einem Konflikt, der immer wieder eskaliert und dann die gesamte Welt beschäftigt?

Viele der Erlebnisse, mit denen ich versucht habe, darauf Antworten zu geben, sind immer noch aktuell und gültig. Selbst viele der handelnden Personen, vom Premierminister und Präsidenten bis zum Armeesprecher, sind noch dieselben.

Für einen Buchautor mag das ein Glücksfall sein. Für den Nahen Osten eher nicht. Aber zum differenzierten Bild dieser Region gehört eben auch: Sie ist viel mehr als Krieg und Hass. Sie bietet Kultur und Küche, Natur und Kreativität, und – ja – selbst in Zeiten, die zum Verzweifeln sind, finden sich Menschen, die Hoffnung haben und geben. Gerade ihre Geschichten will ich hier erzählen.

Verliebt in den Nahen Osten? Geht das? Mir ist es definitiv passiert.

 

Tel Aviv, November 2023

Stop!

Rumms. Die Anzeige im Aufzug sagt: 9. Stock. Die Ziffer blinkt: 7. Stock. Dann plötzlich: 10. Stock. Dabei hat sich der Lift kein Stück bewegt.

Stecken geblieben. Ausgerechnet an einem Ort, an dem es keine funktionierende Polizei gibt, keine professionelle Feuerwehr und an dem niemand auf die Idee kommen kann, den Störungsdienst zu rufen. Dort, wo in Deutschland der Alarmknopf wäre, ist ein kleines Loch in der Kabine, durch das man einen Finger stecken kann … und damit bestenfalls um Hilfe winken.

Stecken geblieben. In Gaza. Wir sind zu siebt in der stickigen Kabine. Neben mir steht der Kollege vom iranischen Staatsfernsehen, den sie im Erdgeschoss bereits komisch angeguckt haben, weil er so aussieht, als würde er das zulässige Gesamtgewicht ganz allein überschreiten. Der Mann schwitzt stark und ruft in die Runde: «Ich habe Platzangst.»

Ich hasse dieses Gebäude mitten im Zentrum des Gazastreifens. Die lokale Produktionsfirma, mit der wir seit vielen Jahren zusammenarbeiten, hat hier ihre Büros. 13. Stock, weil dort niemand anders einziehen will. Irrer Blick über diesen winzigen, geschundenen Küstenstreifen, der es seit Jahrzehnten regelmäßig in die Schlagzeilen der Welt schafft. Und Nervenkitzel inklusive, weil die Büros an zwei Seiten statt Fenstern einfach offene Löcher haben. So kann bei einer Explosion nichts kaputtgehen, und außerdem sehen Fernsehbilder aus dem 13. Stock ohne Fensterglas davor einfach besser aus. Ein spezieller Ort. Nur dass man halt vorher in den Aufzug muss.

Ein paar Mal habe ich das Treppenhaus benutzt. Es gibt kein Licht, und im fahlen Schein des Handy-Displays übersieht man leicht, dass sie beim Bau zwischen den einzelnen Etagen immer jeweils eine Stufe ein bisschen niedriger gemacht haben als die ande>ren. Es ist auch nicht das erste Mal, dass ich hier im Aufzug festhänge. Nur war sonst immer der Strom ausgefallen, und man musste einfach warten, bis irgendwo ein Notgenerator anlief. Aber jetzt ist alles anders. 9. Stock. 7. Stock. 10. Stock.

Ich spüre: Der iranische Fernsehmann ist nicht der Einzige mit Platzangst.

Gaza ist kein Ort für feste Pläne. Wer Überraschungen hasst, kommt hier nicht weit. In Gaza gibt es Gefängnisse aus Lehm und ohne Türen. Es gibt Zebras, die bemalte Esel sind, blutrünstige Islamisten und weltoffene Computer-Girls. Es gibt furchtbare Armut und bizarren Protz, keinen Alkohol, aber eine ordentliche Auswahl an Schwarzwälder Kirschtorten. Gaza ist eine Brutstätte für Gewalt und Terror – und samstags trifft sich am Strand ein rühriger Fanclub der deutschen Fußballnationalmannschaft. Die Menschen hier sind seit vielen Jahren von der Außenwelt abgeriegelt, aber auf den Straßen paradiert die neue Modellgeneration aus Untertürkheim und Ingolstadt. Und wenn es nachts um eins an der Hotelzimmertür klopft und eine Stimme befiehlt, man solle jetzt sofort ins Innenministerium der Hamas-Machthaber kommen, um einen Gefangenenaustausch zu filmen, dann kann das beides sein: eine Falle. Oder ein Scoop.

Wer als westlicher Reporter von sich sagt, er habe Gaza kapiert, hat entweder Gaza nicht kapiert – oder er lügt.

Und Gaza ist kein Spezialfall. Gerade in Nahost gilt der Satz des amerikanischen Fernsehnachrichten-Pioniers Edward R. Murrow: «Anyone who isn’t confused doesn’t really understand the situation» – wer nicht verwirrt ist, versteht die Lage nicht.

Im Grunde gilt das für den Journalismus insgesamt.

 

Wir leben in einer Zeit, in der immer mehr Menschen nach einfachen Wahrheiten suchen und – vermeintlich – einfachen Lösungen verfallen. Die klingen verführerisch, weil sie so klar formuliert sind, in Großbuchstaben und mit Ausrufezeichen. Aber sie setzen fast immer voraus, dass man die Augen vor der Welt verschließt, ausgrenzt und anmaßt.

Auch wir Journalisten lieben einfache Geschichten: Problem klar, Ursache offensichtlich, Schuldige benannt. Niemand schreibt gerne, was er alles (noch) nicht weiß. Ungereimtheiten senden sich schwer.

Doch je unmittelbarer die Verbreitungswege sind, je weniger technisch bedingte Verzögerung zwischen Nachrichten-Ereignis und Nachrichten-Konsum liegt, desto deutlicher wird: Wahrheit braucht Zeit. Erstens kommt es anders. Und zweitens als man denkt.

Für mich ist das die prägendste Erfahrung in meinem Beruf. Da will man die Welt so detailliert und wahrhaftig abbilden wie möglich und stellt fest: Diese eine Welt gibt es gar nicht.

Vielleicht hilft es ja, einige dieser Begegnungen, Überraschungen, Zweifel mal aufzuschreiben. Gerade in Zeiten, in denen ein Teil des Publikums selbst große Zweifel hat gegenüber «den Medien», in Zeiten, in denen wir und unsere Arbeit mehr hinterfragt werden denn je. Was an sich nichts Schlechtes ist. Denn damit gerät auch das Ergebnis der Arbeit von Journalisten in den Mittelpunkt, wird aufmerksam verfolgt und eingehend diskutiert – ob in der Küche bei einer Geburtstagsparty, in den Kommentarspalten im Netz oder auf der Podiumsrunde vor Publikum.

Dieses Buch ist keine grundsätzliche Auseinandersetzung mit dem Zustand der Welt, nicht mal eine mit dem Zustand des Journalismus. Darüber ist schon viel Schlaues geschrieben worden und mittlerweile auch eine Debatte entstanden, die wichtig ist – und noch lange nicht zu Ende.

Die nächsten Seiten sind vor allem eine Sammlung von Geschichten. Reportererlebnisse, die es nie auf den Sender geschafft haben und die mir trotzdem nicht aus dem Kopf gegangen sind. Die meisten Journalisten reden gerne und viel. Wer mich kennt, hat einige davon also bestimmt schon erzählt bekommen, alle anderen können sie jetzt nachlesen. Stellen Sie sich vielleicht eine nette Runde vor, beim zweiten Bier, es geht um die Arbeit der Medien, und dann sagt einer: «Hey, erzähl doch mal!»

Der Titel stand schon ganz am Anfang fest. Und wenn Sie eine Überschrift brauchen, einen Satz über das, was Sie erwartet, dann ist es ein Plädoyer für die Zwischentöne und die Zweifel. Grau mag nicht so sexy klingen wie Schwarz oder Weiß, es kommt der Wahrheit aber deutlich näher. Die Fähigkeit zur Differenzierung ist ja exakt das, was uns Menschen ausmacht. Die Schattierung, das Unvorhergesehene bestimmen unser Leben, ob wir wollen oder nicht.

Anders gesagt: Unsere wilde Welt ist voller Überraschungen. Das zu akzeptieren und damit umzugehen ist alles andere als einfach, sonst hätten die Populisten und Demagogen von vornherein keine Chance. Und manche Reporter auch nicht, die ihre Story bisweilen schon fertig haben, bevor sie das Haus verlassen.

Spontanität, Improvisation, Augenzwinkern – auf dem Gebiet können wir einiges vom Nahen Osten lernen. Frei nach dem alten Witz über den Rabbi, der in die Metzgerei kommt und auf ein (unkoscheres) Schwein zeigt: «Ich hätte gern ein Stück von dem Fisch dort.» Darauf der Metzger: «Das ist kein Fisch, das ist ein Schwein.» Der Rabbi lächelnd: «Mir ist egal, wie Sie den Fisch nennen, ich hätte gern ein Stück davon.»

Teil 1: Davor

Lass dich überraschen

Der Sommer 1993 ist heiß und verstörend. Im gerade frisch vereinten Deutschland brennen Wohnheime für Ausländer. Wo Hoyerswerda liegt, habe ich vor diesem Sommer nicht gewusst, noch nicht mal, dass es so einen Ort überhaupt gibt. Eine erfahrene Reporterin des Berliner Radiosenders RIAS2 nimmt mich mit. Der junge Kollege soll etwas lernen.

Hoyerswerda damals, das ist einer dieser Orte, an denen man spüren kann, was Perspektivlosigkeit bedeutet. Und was sie mit Menschen macht. Das zeigt sich auch heute noch, in schmuck herausgeputzten Städtchen, gerade im Osten Deutschlands, mit perfekt restaurierten Marktplätzen, in denen nach Ladenschluss die Ödnis zuschlägt. Denkmalgeschützte Fassaden allein bringen keine Lebensqualität. Soziale Hilfen vom Staat ersetzen nicht das Gefühl, gebraucht zu werden. Wenn der Schnellimbiss an der Autobahnausfahrt zum einzigen möglichen Treffpunkt geworden ist, lässt sich kaum verhindern, dass alle gehen, die mit ihrem Leben noch etwas vorhaben. Langeweile kann brandgefährlich sein.

Über Hoyerswerda liegt die Langeweile damals bleischwer. «Die Pumpe» ist am Ende. «Schwarze Pumpe», einst der größte (und wohl auch schmutzigste) Braunkohleveredelungsbetrieb der Welt, der mit Abstand wichtigste Arbeitgeber in der Region, hat die deutsche Einheit nicht überlebt. Ein Großteil der Menschen in Hoyerswerda hat schlicht nichts mehr zu tun.

Zu Hunderten stehen sie auf der Straße rund um immer gleiche «Wohnkomplexe», die man einfach durchnummeriert hat. Zwischen «WK 1» und «WK 10» ist die Stimmung gereizt. Jetzt entladen sich lange aufgestaute Ressentiments, der Hass bricht sich Bahn.

An einem düsteren Wohnblock, in dem noch zu DDR-Zeiten Vertragsarbeiter vor allem aus Vietnam untergebracht worden sind, spüre ich, wie die Situation ungemütlich wird. Die Menge skandiert, sie brüllt, und sie wirkt zu allem bereit. Den Vietnamesen steht das Entsetzen ins Gesicht geschrieben. Viele wagen sich nicht mehr aus dem Haus. Ihre Nachbarn sind plötzlich eine Bedrohung. Gute Nachbarschaft war das hier nie, die Familien aus Vietnam werden abfällig «Fidschis» genannt, man kennt sich nicht, hat jahrelang nebeneinanderher gelebt, und jetzt schimpfen die wütenden Bürger in unser Mikrofon: «Die Fidschis wohnen besser als wir, die schmuggeln Stereoanlagen und Fernseher, die machen das große Geld.»

Dann fliegt ein Molotowcocktail, wir rennen in ein Haus. Schnell in Deckung. Eine Wohnungstür geht auf, die vietnamesische Familie lässt uns hinein. Erst mal durchatmen. Dann gucken wir uns um. Der gesamte Flur vom Boden bis zur Decke: voller Kisten mit Fernsehgeräten und Unterhaltungselektronik.

Ich kann es nicht fassen. In meinem Kopf rotiert es. Was ist hier los? Was will diese verängstigte Familie aus Vietnam mit all den Fernsehern? Und: Wie sollen wir darüber berichten? Für die Gewalttäter vor der Tür würde unser Erlebnis die Bestätigung all ihrer Vorurteile sein. Aber deshalb einfach darüber hinweggehen? Einfach ausblenden, dass wir hier mitten in der Plattenbausiedlung auf ein bestens bestücktes Elektrowarenlager gestoßen sind? Das kann auch nicht die Lösung sein.

Ich habe zu diesem Zeitpunkt noch keinen einzigen Tag als hauptberuflicher Journalist gearbeitet und bin mittendrin in einem Dilemma, das mich überfordert.

Wir bemühen uns vor Ort, in der Hektik mehr zu erfahren, versuchen, die Situation einzuordnen, und verfluchen gleichzeitig den Zeitdruck und das Drängeln der Redaktion in Berlin, die immer neue Kurzberichte für die Nachrichten will. Texten, schneiden, live senden – es ist wie am Fließband. Für echte Recherche bleibt kaum Raum.

Noch so eine grundsätzliche Herausforderung im Journalismus: einerseits die Welt erklären wollen, andererseits generell viel zu wenig Zeit dafür haben.

Wir fragen herum: bei der Stadtverwaltung, bei Sozialarbeitern und der lokalen Zeitung. Langsam ergibt sich ein detaillierteres Bild: Die sogenannten Vertragsarbeiter aus Vietnam hatten von der DDR-Regierung einige Sonderrechte erhalten, an Integration war nie gedacht. Im Gegenteil: Kontakte mit der deutschen Bevölkerung sollten auf ein Minimum beschränkt bleiben. Gab es Konflikte, wurden sie von Betrieben und Staat unter den Tisch gekehrt. Ausländerfeindlichkeit durfte es in der DDR offiziell nicht geben. Die Vietnamesen wurden in speziellen Arbeiterwohnheimen untergebracht, manche verdienten sich in harter D-Mark etwas dazu. Offenbar hatte unsere Familie das genutzt, um nebenher eine Art Import-Export-Handel zu starten.

Sicher ein Fall für den Zoll. Ganz sicher: kein Grund für Gewalt. Selbst wenn jeder einzelne Wohnungsflur bei jeder einzelnen Familie aus Vietnam wie das Warenlager eines Elektromarkts ausgesehen hätte, kann das keine Begründung dafür sein, den betreffenden Menschen die Häuser anzuzünden. Aber es erklärt, wie Gerüchte entstehen und welch unheilvollen Weg sie nehmen – ganz besonders in einem gesellschaftlichen Umfeld, in dem Dialog nicht vorgesehen war und man einander immer aus dem Weg ging.

Aus dem Neid auf die anderen, aus dem Gefühl, selbst zu kurz zu kommen, aus dieser erdrückenden Langeweile kann eine furchtbare Mischung entstehen, Aggression und Gewalt.

Für mich war Hoyerswerda viel mehr als Aufnahmegerät bedienen und Berichte schreiben. Die Erlebnisse dort haben mir gezeigt, was Reporteralltag wirklich ausmacht: rauszugehen, vor Ort nachzusehen – und darauf gefasst zu sein, dass man Überraschungen findet, die unbequem sind. Gute Journalisten brauchen Mut, sich irritieren zu lassen. Ob man so etwas lernen kann? Ich habe mir damals vorgenommen, es zu versuchen.

Eine Nacht ändert alles

Niemand in meiner Familie ist Journalist. In Beliebtheitsumfragen landet der Beruf regelmäßig auf den letzten Plätzen, irgendwo zwischen Politiker und Gerichtsvollzieher. Wenn man meine Eltern und Großeltern gefragt hätte, wäre das Ergebnis wohl ähnlich gewesen. Als ich aufwuchs, kannte ich keinen einzigen Menschen, der «was mit Medien» gemacht hätte. Die Schülerzeitung im Gymnasium erschien manchmal monatelang gar nicht und dann in so mieser Druckqualität, dass außer den Lehrerwitzchen unten auf der Seite nicht viel zu erkennen war. Ich kann mich nicht erinnern, dass irgendjemand im Abi-Fragebogen als Berufswunsch «Journalismus» angegeben hätte. Aber gleich am Anfang meines ersten Praktikums bei einem Berliner Radiosender habe ich gemerkt: Das will ich weitermachen!

Vermutlich ging alles los mit einem Umzug. Aus Hessen nach West-Berlin. Aus einem ordentlichen kleinen Ort in der Nähe von Frankfurt in die «Mauerstadt». Berlin war damals, gegen Ende der siebziger Jahre, fast täglich in den Fernsehnachrichten von ARD und ZDF, die bei uns zu Hause verlässlich den Beginn des Abends markierten. Und es klang fast nie gut: Mauer, Insellage, Viermächtestatus.

Als mein Vater verkündete, wir würden nach Berlin umziehen, war der Rest der Familie dagegen. Was ist mit den Freunden, der Schule? Zu den üblichen Fragen kam noch eine weitere dazu: Wie kann man in einer eingemauerten Stadt leben, in der so viel zu passieren scheint, dass sie ständig Schlagzeilen macht?

«Wartet, bis ihr den Ku’damm seht, das ist die spannendste Straße der Welt» – diesen Satz meines Vaters habe ich noch im Kopf. Und meine Enttäuschung auch, als wir dann das erste Mal dort waren, einmal hoch und einmal wieder runter, und «die spannendste Straße der Welt» für mich erst mal auch nicht viel anders aussah als die Einkaufsstraßen, die ich kannte.

Berlin wollte entdeckt werden. Wer in den achtziger Jahren dort aufgewachsen ist, kennt die Geschichten: eine Stadt, abgeschnitten von ihrem Umland und gerade deshalb konzentriert auf sich selbst. Mit irrem Leben, mit Kneipen, die keine Sperrstunde kannten, wo nachts um drei mehr los war als in München, Hamburg und der hessischen Provinz zusammen. Eine Stadt, so groß, dass ihre Bewohner (im Westteil) eben nicht ständig im Schatten einer Mauer lebten. Die politische Situation war im Alltag kein alles beherrschendes Thema, und trotzdem war es in Berlin nie möglich, der Politik zu entgehen. Etwa, wenn Omi und Opa zu Besuch waren und sie «rübergucken» wollten, von den Aussichtsplattformen am Todesstreifen in Richtung Osten, über Stacheldraht, Minenfelder, Wachtürme hinweg, dort, wo heute Shopping-Center stehen. Wenn der Klassenausflug in den Ostteil schon am Bahnhof Friedrichstraße zu Ende war, weil ein Schüler seinen Pass vergessen hatte und von grimmigen DDR-Grenzern zum Verhör geführt wurde. Wenn jeder Urlaub mit stundenlangen Staus begann, gleich vor der Haustür, wo ein weltweit einzigartiger «Stauraum» mitten im Wald immer zu Ferienbeginn gefüllt wurde, damit Tausende Autos nicht den gesamten Verkehr in der Westberliner Innenstadt lahmlegten, weil sie an der DDR-Grenzkontrolle warten muss- ten.

Und natürlich begegnete einem die Politik immer dann, wenn die eigene Stadt in den Nachrichten war. Dann rief die Vermieterin der Ferienwohnung an, um zu fragen, ob man «angesichts der aktuellen Situation» überhaupt würde anreisen können. Und bayerische Freunde erkundigten sich nach den regelmäßigen Krawallen am 1. Mai besorgt, ob wir noch am Leben waren.

Meine Eltern hatten unsere Familienurlaube immer so geplant, dass ein paar Tagen irgendwo am Strand eine zweiwöchige Anreise voranging. Das Auto vollgepackt, mit Dutzenden Ausgaben der «Zeit» im Gepäck, die zu lesen meine Mutter übers Jahr «nicht geschafft hatte». Der Weg war das Ziel, im wahrsten Sinn. Neue Orte entdecken, neue Routen auskundschaften, neue Gerichte probieren – alles wichtiger als das Gefühl, endlich angekommen zu sein. Ich kann mich besser an die langen An- und Abreisen erinnern als an den eigentlichen Urlaub, und ich bekomme auch jetzt nach zwei Tagen im Liegestuhl das Gefühl: Da muss doch noch mehr sein, was es zu entdecken gibt.

Ich bin meinen Eltern bis heute wahnsinnig dankbar für ihre gelebte Neugier auf die Welt und für eine Kindheit und Jugend, in der keine einzige Frage jemals lästig erschien oder dumm oder unangebracht.

Als Beruf – so habe ich mir das immer vorgestellt – heißt so etwas: Journalismus.

Die entscheidende Weiche hinein in diesen Beruf stellt sich auf einer Party. Ich bin nicht als feiernder Gast dabei, sondern um zu arbeiten. Ein Veranstaltungssaal im Südteil von Berlin-Neukölln. Mit ein paar Kumpels zapfe ich Bier an einem mobilen Stand. Man kann uns mieten. Wir wollen ein bisschen Geld verdienen. Es ist der 9. November 1989.

Ein ziemlich ereignisloser Abend für uns, bis plötzlich die Tür auffliegt und ein Mann in Jeansjacke hereingestürmt kommt. Auf dem Kopf trägt er die Uniformmütze der «Grenztruppen der Deutschen Demokratischen Republik». Ich sehe ihn noch heute vor mir. Der Mann ruft: «Ich komme aus der DDR!», und dabei laufen ihm Tränen übers Gesicht.

Irgendetwas stimmt hier nicht: Ein Republikflüchtling wird auf seinem lebensgefährlichen Weg über Mauer und Stacheldraht wohl kaum einem Grenzer noch schnell die Mütze geklaut haben. Vielleicht ist der Mann selbst ein Grenzsoldat. Aber warum trägt er dann Jeansjacke zur Uniformkappe? Und wie – um Himmels willen – hat er es bis zu uns geschafft, in diesen Partyraum auf der anderen Seite der tödlichsten Grenze der Welt?

Von ihm selbst ist vor lauter Rührung nur wenig zu erfahren. Aber wir sind alarmiert genug, um einen Fernseher zu suchen, 1989, lange vor Handys und Eilmeldungen in Echtzeit. Die Garderobenfrau hat ein kleines Schwarz-Weiß-Gerät gegen die Langeweile. Hanns Joachim Friedrichs moderiert die «Tagesthemen» und schreibt an diesem Abend Fernsehgeschichte. So richtig viele Bilder gibt es nicht zu sehen, aber sein Satz «Die Tore in der Mauer stehen weit offen» haut uns um. Plötzlich ergibt alles einen Sinn: der Mann mit der Grenzermütze, die Freudentränen. Das hier ist Geschichte live, und jedem auf der Neuköllner Party ist es bewusst. Jetzt weiter Bier auszuschenken und so zu tun, als sei nichts passiert, kommt nicht in Frage – auch wenn wir dadurch unsere Jobs riskieren.

An diesem Abend habe ich zum ersten Mal dieses Bauchgefühl gespürt, das viele Reporter befällt und antreibt: zur richtigen Zeit, am richtigen Ort. Das ist das Beste, was passieren kann.

In dieser Nacht gibt es auf der ganzen Welt nur einen richtigen Ort: die Berliner Mauer, die jetzt niemanden mehr trennt.

Was dort passiert, verschwimmt später in der Erinnerung, vermischt sich mit ikonenhaften Pressefotos und Fernsehbildern. Ich weiß noch, wir haben den Partyausschank kurzum für beendet erklärt und sind mit unserem Bierlaster losgerumpelt zum Übergang Heinrich-Heine-Straße, zum Checkpoint Charlie, zum Brandenburger Tor. Dort lassen Scheinwerfer ein kleines Podest hell erstrahlen, eine Satellitenschüssel ist aufgebaut, wichtig aussehende Menschen mit Kopfhörern wirbeln umher. Tom Brokaw ist da, einer der legendären Moderatoren der US-Abendnachrichten, er macht seine komplette Sendung live aus Berlin. Der Mann war in der Stadt, hat die historische Dimension sofort erfasst und den Augenblick genutzt. Vom Brandenburger Tor aus sendet die Crew der NBC Nightly News live für Amerika, während viele Deutsche noch gar nicht mitbekommen haben, was da in ihrem Land gerade passiert.

Die Nacht endet für mich gegen acht Uhr in der Früh vor einem Zeitungskiosk am Hohenzollerndamm. Rund um das Häuschen hat sich eine beachtliche Warteschlange gebildet. Immer, wenn wieder ein Kunde an der Reihe ist, derselbe Satz: «Ich hätte gern alles, was Sie haben, bitte!» Die historische Nacht, festgehalten in riesigen Schlagzeilen. Ein Zeitungsbündel zum Vererben.

 

Der 9. November ändert alles. Im Großen und im Kleinen. Mir hat dieser Tag, und was daraus folgt, gezeigt, wie wichtig Zufälle sind, gerade im Berufsleben. Und wie unmittelbar eine Reporterkarriere abhängen kann von den Geschehnissen auf dieser Welt. Der Fall der Mauer, die deutsche Einheit – das war die größte Story einer Generation. Und meine ersten Versuche, im Journalismus zu landen, konnten dringend ein bisschen Schwung gebrauchen.

Mein Schülerpraktikum zwei Jahre zuvor bei RIAS2, Berlins meistgehörtem Radioprogramm, war alles andere als erfolgreich gelaufen. Rumsitzen, zuhören, Themen vorschlagen – was man als Praktikant halt so macht, wenn einen niemand braucht und niemand wirklich beachtet. Aber einfach aufgeben kam auch nicht in Frage. Nach dem Wochenende, an dem das Praktikum offiziell zu Ende war, ging ich einfach wieder hin. Pünktlich Montagmorgen. Die Gefahr, dass ich jemandem auffallen würde, war ja überschaubar. Und dann: Eines Tages, alle Reporter sind unterwegs, viele krank – endlich darf der Praktikant ran, für eine Straßenumfrage. «Was würden Sie tun, wenn Sie unsichtbar wären?» ist mein erstes journalistisches Werk. Mit dem Mikrofon in der Fußgängerzone dumme Fragen stellen – die Erfahrung prägt sich ein. Die meisten Passanten laufen wortlos vorbei. Manche schütteln genervt den Kopf, manche kommen kurz zurück, aber nur um zu fragen: «Wann wird denn das gesendet?»

Nach der Straßenumfrage der nächste Karriereschritt: das Berufsporträt. «Arbeitsalltag eines Müllmanns», «Arbeitsalltag eines Hotelpagen», «Arbeitsalltag eines U-Bahn-Fahrers» – über viele Monate decke ich die Redaktion mit meinen Versuchen ein, den Alltag anderer Leute zu beschreiben. «Man kann dabei eine Menge journalistisches Handwerkszeug lernen, gerade weil nichts Besonderes passiert» – mit diesen Worten gibt mir ein mitfühlender Redakteur das redigierte Manuskript zurück. Zwischen all seinen Änderungen in Rot ist von meinem Text praktisch nichts mehr zu erkennen.

Womöglich würde ich noch heute Berufsporträts machen, hätte sich mit dem Fall der Berliner Mauer nicht über Nacht etwas ganz Entscheidendes geändert: Plötzlich ruft die Redaktion an und fragt, ob ich arbeiten kann. Nicht mehr umgekehrt. In der Zeit nach dem 9. November gibt es so unfassbar viele historische Ereignisse und nie genug Reporter dafür. Jetzt spielt auch keine Rolle mehr, wie lange man schon dabei ist, wie alt man ist, wie viel Erfahrung man mitbringt. «Ein paar Berufsporträts hast du gemacht? Prima, fahr los, sie stürmen gerade die Stasi-Zentrale!»