Grazer Irrwege - Astrid Schilcher - E-Book

Grazer Irrwege E-Book

Astrid Schilcher

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Beschreibung

Emotionale Jagd nach einem Serienmörder. Alle Indizien deuten darauf hin, dass Lisa Schreiner, lang verschollene Jugendfreundin von Chefinspektor Sepp Semper, Selbstmord begangen hat. Doch der eigenwillige Semper will nicht an diese Theorie glauben und beginnt auf eigene Faust zu ermitteln. Die Spur führt ihn in die Esoterik-Szene, zu religiösem Fanatismus und gefährlichem Selbstoptimierungswahn. Als zwei Morde geschehen, ist die Suizidtheorie zwar vom Tisch, doch für das Team vom LKA Graz beginnt ein nervenzehrender Wettlauf gegen die Zeit. Kann ein weiterer Mord verhindert werden?

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Astrid Schilcher wurde 1971 in Graz geboren, studierte einige Semester Kunstgeschichte und Dolmetschen und hat ein abgeschlossenes VWL-Studium. Sie lebt in Graz, führt seit sechzehn Jahren gemeinsam mit ihrem Mann ein Consulting-Unternehmen und unterrichtet an diversen Fachhochschulen. Aus Interesse studiert sie derzeit PELP (Political, Economic und Legal Philosophy) an der Universität Graz. 2018 veröffentlichte sie ihren ersten Roman, dieses Buch ist ihr erster Krimi.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2022 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: mauritius images/Martin Siepmann/imageBROKER

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer

Umsetzung: Tobias Doetsch

Lektorat: Christiane Geldmacher, Bremberg, Textsyndikat.de

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-96041-988-4

Originalausgabe

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Lieber Sepp,

was, wenn du am Ende eines zwanghaften Selbstfindungstrips endlich fündig wirst und dir aus dem Abgrund des Spiegels nur Bedeutungslosigkeit und Leere entgegenstarren? Ich hab’s vermasselt, voll und ganz. Aber hey, ich hab Frieden geschlossen. Ich arbeite jetzt im Club Anonym. Du wirst es nicht glauben, Sepp, aber ich bin echt gut in Pole-Dancing. Eine Flasche Schampus kostet hier dreihundertsiebzig Mäuse. Ich krieg zehn Prozent, wenn ich meine Freier zum Trinken animiere. Ich weiß, was du jetzt denkst, aber so schlimm ist es gar nicht. Ehrlich.

Kannst du dich noch erinnern, wie wir früher über einer Flasche Wein oft »Entweder-oder« spielten? Beatles oder Stones? Wein oder Bier? Berge oder Meer? Stephen King oder John Irving? Du und ich, wir waren uns immer einig in den wichtigen Fragen der Menschheit. Auch wenn die Beatles die besseren Musiker sein mögen … Mein Gott, Sepp, wie lange ist das her? Ich hoffe, es geht dir gut! Wäre schön, dich wiederzusehen. Komm doch einmal im Club vorbei. Oder nein, tu das lieber nicht. Es wäre mir peinlich, wenn du mich so siehst. Ruf mich an und wir gehen einen Kaffee trinken, oder besser einen Weihnachtspunsch. Okay? Meine Nummer: 0676 47112412000.

Auf hoffentlich bald und frohe Weihnachten

Weihnachtsgrüße von einer Nutte

Chefinspektor Sepp Sempers Nase rebellierte noch immer gegen die picksüße Verheißung der Punschstände. Er registrierte die blinkenden, rotnasigen Rentiere auf den Balkonen entlang der Mur-Promenade und trug die ihm gemäß seiner Natur innewohnende Melancholie wie ein Schutzschild gegen die Weihnachtsstimmung vor sich her. Die Einkäufe für ein spätes Abendessen wogen schwer und zerrten an seiner rechten Schulter: Schweinslungenbraten, Karreespeck, Kartoffeln, Brokkoli, Schlagobers, rosa Pfefferkörner und eine Flasche Rotwein. Daraus würde er ein feines Schweinsfischerl im Speckmantel mit Pfeffersoße zaubern, den kräftigen rubinroten Zweigelt leeren und ein Buch lesen. Bulgakows »Der Meister und Margarita« und Nesbøs »Macbeth« lagen ganz oben auf seinem Stapel ungelesener Romane. Ein Mann mit einer exquisiten Flasche Wein und einer guten Lektüre war nie wirklich allein, tröstete er sich und versuchte, die Arm in Arm schlendernden Paare zu ignorieren.

Auch ihm war ein Jahrzehnt glücklicher Zweisamkeit vergönnt gewesen, das allerdings ein abruptes Ende gefunden hatte. Vor vier Jahren hatte ein betrunkener Autoraser seine Lebensgefährtin auf dem Zebrastreifen niedergemäht. Seither hielt er sich vom weiblichen Geschlecht fern. Weil es keine wie Christa gab, redete er sich ein. Weil er Angst hatte, sich wieder einzulassen und erneut ein geliebtes Wesen zu verlieren, behaupteten seine Handvoll Freunde. Die Wahrheit lag, wie so oft, irgendwo im Niemandsland der goldenen Mitte vergraben. Tatsache war, dass er jedes Gericht, das er für sich zubereitete, genauso wie seine Garderobe noch immer nach dem Geschmack seiner dahingeschiedenen Liebe auswählte. Oft diskutierte er sogar knifflige Fälle mit ihr, was ihm nicht selten eine richtungsweisende Erkenntnis bescherte. Aber davon erzählte Sepp Semper niemandem.

Die letzten Schritte führten ihn auf einem Anrainerweg entlang der Rückseite der Appartementanlage, in der er eine Erdgeschosswohnung mit Terrasse und Garten sein Eigen nannte. Das Bildschirmflimmern hinter den Fenstern verriet ihm, dass die meisten seiner Nachbarn gerade vor der Glotze saßen. Dass er als alleinstehender Mann keinen Fernseher besaß, sorgte regelmäßig für Unverständnis in seinem Bekanntenkreis. »Wozu? Um mir ›Tatort‹ anzuschauen?«, konterte er dann und erntete mitleidiges Kopfschütteln.

Sepp Semper hatte knapp die Hälfte seines Abendmahls verzehrt und sich gerade das dritte Glas Zweigelt eingeschenkt, als ihm beim beiläufigen Durchwühlen des Poststapels, wie üblich größtenteils Werbeprospekte, ein Briefumschlag mit aufgedruckten Christbaumkugeln ins Auge fiel. Kein Absender. Er kontrollierte die Adresse, um sicherzugehen, dass der Inhalt für ihn bestimmt war. Wer verschickte heutzutage noch Weihnachtspost? Und an ihn?

Mit dem Gabelzinken öffnete er den Umschlag und fingerte ein Billett hervor, dessen Front eine kitschige Schneekugel zierte, in deren weißem Flockengestöber ein lachender Weihnachtsmann seinen voll bepackten Schlitten lenkte. Sepp Semper war dankbar, dass es sich nicht um eine dieser nervigen Grußkarten handelte, die einem beim Aufklappen die Ohren mit Weihnachtsgedudel vergewaltigten. Zuerst registrierte er die schlampige, aber trotzdem unverkennbar weibliche Schrift. Als Nächstes wanderten seine Augen zur Unterschrift, die ihn sein Abendmahl fürs Erste vergessen ließ. Lisa? Mein Gott, das war über fünfzehn Jahre her. Er las die Karte einmal, zweimal, nahm einen Schluck Wein und las sie sicherheitshalber ein drittes Mal. Dann fiel ihm sein Schweinsfischerl ein, das mittlerweile bestenfalls noch lauwarm war. Er deckte den Teller mit einem feuchten Tuch ab und schob ihn in die kaum benutzte Mikrowelle. Der Dampf würde dafür sorgen, dass das Gericht schön saftig bliebe.

Nach dem Piep konzentrierte er sich erst mal auf den Verzehr seines Abendmahls. Eins nach dem anderen. Multitasking war für Sepp Semper der Todfeind der Effizienz. Er schichtete Teller, Besteck und Pfanne in den Geschirrspüler, schenkte sich ein letztes Glas Roten ein und wechselte von der Essküche ins Wohnzimmer. Nachdem er in seiner CD-Sammlung fündig geworden war und es sich auf der Couch bequem gemacht hatte, ließ er seine Gedanken auf bluesigen Pianoklängen und der rauen Asphaltstimme von Tom Waits in die Vergangenheit reisen:

Hey Charley

For chrissake

Do you want to know

The truth of it?

Lisa und er, die über zerklüftete Kreidefelsen und saftig grüne Hügel wanderten. Eine lachende Lisa inmitten flauschiger Schafe und kostümierter New-Age-Freaks auf den Spuren King Arthurs. Erinnerungsfragmente. Die Blasen, die sich durch den Zersetzungsprozess im Moor des Vergessens bildeten, stiegen nun in Form von Bildern in sein Bewusstsein auf. Seine beste Freundin und er hatten auf die wenig originelle Maturareise nach Kreta gepfiffen, waren stattdessen zu zweit nach Cornwall aufgebrochen, angezogen von der pittoresken Landschaft und dem keltischen Kulturerbe der englischen Grafschaft. Nach ihrer Rückkehr hatten sie beide im »Gambrinuskeller« gekellnert, um ihr Studium zu finanzieren. Ihm hatte es die Juristerei angetan, Lisa hatte sich von der Philosophie Antworten auf die existenziellen Fragen der Menschheit erhofft. Nach zwei Semestern wurde ihm klar, dass Recht und Gerechtigkeit oftmals durch den Graben der Moral getrennt waren, was ihn dazu veranlasste, sein Studium an den Nagel zu hängen. Während sein bester weiblicher Kumpel auf Soziologie umsattelte, begann er die zweijährige Basisausbildung, die den Grundstein für seine Polizeikarriere bildete.

Zwischen Lisa und ihm existierte der Funkenflug einer diffusen, jedoch unleugbaren elektrischen Spannung. Ein wohliges Knistern, das sich mangels nötigen Windstoßes nie zur lodernden Glut entfachte. Beide hatten rasch wechselnde Partner – nichts Ernstes –, aber nie etwas miteinander. Sepp Semper mochte Lisas Geradlinigkeit, ihre unbändige Energie und den Eifer, mit dem sie ihre Ziele verfolgte, auch wenn Letztere die Beständigkeit von Aprilwetter aufwiesen. Sie hörten dieselbe Musik, lachten über Monty Python und stritten über den Wahrheitsgehalt von Astrologie. Bis zu ihrem zweiundzwanzigsten Lebensjahr waren sie füreinander die Hüter ihrer wechselseitigen Geheimnisse und Träume gewesen. Dann lernte er bei einer Lesung im Literaturhaus, zu der Lisa ihn mitgeschleppt hatte, Christa kennen. Anfangs zogen sie noch gemeinsam um die Häuser, aber das wurde rasch weniger. Lisa schmiss aus heiterem Himmel alles hin, brach ihre Zelte in Graz ab und machte sich auf zu einer Yogalehrer-Ausbildung in Indien. Es folgten noch ein paar Ansichtskarten, bevor sie aus seinem Leben und schließlich auch seinen Gedanken ins Nirwana entglitt. Lisa, die ewig Suchende. Was war passiert, dass sie nun als Prostituierte im bekanntesten Nachtclub von Graz gelandet war?

Sepp Semper tastete nach seinem Handy, warf einen Blick auf die weißen Digitalziffern vor blauem Hintergrund, zwischen denen ein Doppelpunkt im Rhythmus der Zeit pulsierte. Zweiundzwanzig Uhr fünfzehn. Er legte das Smartphone wieder zur Seite. Zu spät für Telefonate.

Gefühle, die man selbst nicht versteht

Im Großraumbüro der Ermittlertruppe für Gewaltverbrechen floss der Filterkaffee in Strömen, während Christoph Leitner, mit dem Chefinspektor Semper seit beinahe zehn Jahren zusammenarbeitete, einen gewohnt knappen und präzisen Bericht über ihren aktuellen Fall ablieferte.

»Der Nachbar hat den Täter sowohl unter fünfzehn Fotos als auch bei der Gegenüberstellung eindeutig identifiziert. Auch wenn auf den Bildern der Überwachungskamera nicht viel zu erkennen ist, Franz Bauer hat kein Alibi, dafür aber ein handfestes Motiv. Das sollte reichen, um ihn der Tat zu überführen. Die Staatsanwaltschaft erhebt Anklage, für uns ist die Untersuchung somit abgeschlossen. Sonst steht momentan nichts an.«

»Der Strafverteidiger wird sicher schwere Geschütze auffahren, um Zweifel an der speziellen Glaubwürdigkeit der Zeugenaussage zu säen. Haben wir dem Staatsanwalt genug Munition geliefert, dass er darauf vorbereitet ist?«

»Arzt, introvertiert, dem Zeugen ist definitiv eine gute Beobachtungsgabe zu attestieren.«

»Herrschaftszeiten, Christoph! Die allgemeine Kredibilität der Person interessiert mich einen feuchten Dreck. Das solltest du mittlerweile schon wissen. Die Strategie der Verteidigung wird darauf abzielen, die spezielle Validität der Aussage anzuzweifeln. Wie fundiert ist die Wahrnehmung des Augenzeugen?«

»Entspann dich, Chef. Eine Lüge können wir ausschließen, und auch eine Wahrnehmungs- oder Gedächtnistäuschung sind mehr als unwahrscheinlich. Wir haben penibel darauf geachtet, dass sämtliche vorgelegten Fotos und bei der Gegenüberstellung präsentierten Personen die bekannten Tätermerkmale aufweisen und der Beschreibung ähneln. Beim vorangegangenen Foto-Screening waren Bilder aller Distraktpersonen dabei, genau wie du es immer predigst. Die Verteidigung kann also nicht behaupten, dass Franz Bauer bei der Gegenüberstellung nur identifiziert wurde, weil sein Gesicht als einziges von den Fotos her vertraut war.«

Der Chefinspektor nickte zufrieden. Aber Sepp Semper genoss nicht umsonst den Ruf, ein ausgemacht gründlicher und gewissenhafter Ermittler zu sein.

»Und die Aussage selbst?«, bohrte er weiter und wurde dafür mit einem Augenrollen bedacht.

»Wir haben den Zeugen aufgefordert, das Geschehen in unterschiedlichen Reihenfolgen darzustellen und jegliche suggestiven Einflüsse in der Abrufphase der Erinnerung tunlichst zu vermeiden. Ihm ist sofort klar gewesen, dass er ein Verbrechen beobachtet hat. Somit kann reduzierte Aufmerksamkeit in der Einprägungsphase ebenfalls ausgeschlossen werden. Das alles hast du mir ja bis zum Abwinken eingetrichtert.«

»Ja, ja. Veräppeln kann ich mich schon selbst.«

»Schlecht gelaunt?«

»Schlecht geschlafen. Wo steckt übrigens Kollege Steiner?«

»In der Lagergasse. Eine Frau hat ihrem Prostituierten-Dasein mit dem Strick ein Ende gesetzt. Ihre Kollegin und WG-Mitbewohnerin hat sie gegen sechs Uhr gefunden.«

Eine böse Vorahnung beschlich den unausgeschlafenen Geist des Chefinspektors und provozierte einen cholerischen Ausbruch: »Welcher Idiot hat diese Arschgeige und Null allein dorthin geschickt?«

»Hey, mach mal langsam!« Christoph Leitners Ärger war nicht zu überhören. »Der Idiot war ich. Notarzt und Streifenpolizei waren bereits vor Ort. Sie haben uns verständigt, um Fremdverschulden ausschließen zu können. Selbstverständlich habe ich selbst bei einem mutmaßlichen Suizid Steiner nicht solo, sondern zusammen mit Peter losgeschickt, und die Kollegen von der Tatortgruppe sind auch schon unterwegs. Wenn du ihm nichts zutraust, wird er sich nie weiterentwickeln.«

Sepp Semper bemerkte, dass sich die Körperhaltung seines engsten Vertrauten von lässig zu angriffsbereit gewandelt hatte. Aufgerichtet, mit gespannten Schultern und leicht vorgebeugt stand die Nummer zwei im Team vor ihm und taxierte ihn herausfordernd. Er rieb sich Augen und Nasenwurzel bis zur schamvollen Errötung. »Tut mir leid, Christoph, das war völlig unangebracht.«

»Schon gut. Meine Frau hat für schlafarme Nächte übrigens Baldriankapseln. Solltest du vielleicht auch mal andenken.«

»Danke. Botschaft angekommen.« Da auch sein Abteilungsinspektor ein bekennender Waits-Fan war, fühlte er sich bemüßigt, eine Liedzeile zum Besten zu geben: »Well, the night does funny things inside a man.«

»Ist letzte Nacht irgendwas passiert, was ich wissen sollte?«

Sepp Sempers Nein kam zu schnell, und er wusste sofort, dass es ungefähr so glaubhaft klang, als würde Keith Richards sich von Sex, Drugs und Rock’n’

Über der Sportwetten-Bar

Die Autofahrt durch den Bezirk Gries, einst Zentrum der Erotik-Clubs, heute Brennpunkt der Integrationsdebatte, führte die beiden Kollegen vorbei an Kebab-Läden, Handyshops, Ramschläden, asiatischen Supermärkten und einer Menge leer stehender Geschäftslokale. Sepp Semper wetzte in seinem Sitz hin und her, schaltete das Autoradio an und wieder aus und hing seinen Gedanken nach. Christoph Leitner war taktvoll genug, sich Fragen zu verkneifen. Angesichts des Verkehrsaufkommens am Griesplatz entwischte ihm jedoch ein Fluch, der den Chefinspektor aus seiner geistigen Versenkung aufschreckte.

»Tut mir leid, aber es ist immer das Gleiche hier. Völlig egal, zu welcher Tageszeit man unterwegs ist.«

Sein Vorgesetzter nickte und brach sein nachdenkliches Schweigen. »Erst vor ein paar Tagen ist mir ein Zeitungsbericht untergekommen, dass unsere Stadtpolitiker schon wieder an einem Konzept zur Neugestaltung des Platzes arbeiten. Diese leidige Diskussion verfolgt uns jetzt seit den neunziger Jahren. Architekturwettbewerbe, Bürgerbeteiligungen, nie umgesetzte Verkehrskonzepte. Bislang alles für die Fisch, der Platz ist nach wie vor eine seelenlose Transitroute für Autos und kein Platz für Menschen«, kommentierte er und erntete ein resigniertes Kopfschütteln.

Im Erdgeschoss des Wohnhauses in der Lagergasse befand sich eine heruntergekommene Sportwetten-Bar. Das Stiegenhaus war jedoch peinlich sauber, der scharfe Geruch von Salmiakgeist hing noch in der Luft. Sie bewältigten die vier Stockwerke zu Fuß. Oben angekommen, öffnete ihnen Markus Steiner im weißen Schutzanzug die Tür zu der loftartigen Dachwohnung. Die SpuSi war also bereits vor Ort. »Was macht ihr denn hier? Sagt nicht, die diplomierte Schwanzpoliererin ist die Tochter irgendeines Lokal-Promis.«

»Wie lange sind Sie jetzt bei uns, Herr Steiner?« Der schneidende Ton in Sepp Sempers Stimme verhieß nichts Gutes.

»Ziemlich genau sechs Monate.«

»Sechs Monate. Glauben Sie nicht, dass es langsam Zeit wird zu zeigen, dass Sie mehr draufhaben als Ihre dämlichen oder rassistischen Kommentare, mit denen Sie uns laufend beglücken?«

»Das war jetzt aber schon ziemlich hart«, tadelte Christoph Leitner, nachdem der junge Kollege mit einem hochroten Kopf verschwunden war.

»Mag sein. Aber dieser Spaßvogel ist für mich der Juckreiz im Teamorganismus.« Mit einem resignierenden Seufzer fügte der Chefinspektor hinzu: »Aber du hast recht, ich muss mit ihm klarkommen. Was haben sie uns in dem Gruppendynamik-Seminar beigebracht? Jede Rolle muss besetzt sein. Offenbar auch die der Krätze.«

Nachdem Christoph und er ebenfalls im Ganzkörperüberzug steckten, folgten sie, wie Seiltänzer einen Fuß vor den anderen setzend, dem mittels Kreidespray gekennzeichneten Pfad. Die Wohnung war sauber und einfach möbliert. Accessoires wie Blumenvasen, Kerzen oder farbenfrohe Wandornamente vermittelten den Eindruck, als hätten sich ihre Bewohner bemüht, sie so wohnlich wie möglich zu gestalten. Eine warme Rückzugsoase inmitten eines der gefürchtetsten Grazer Bezirke. Von einem Dachbalken, an dessen Unterseite eine Vorhangschiene montiert war, hing eine rote Gardine, die vermutlich als Raumteiler zwischen der gemeinschaftlichen Wohnküche und dem angrenzenden Schlafbereich fungierte. Der Chefinspektor bemerkte den Rest eines weißen, ebenfalls vom Dachbalken baumelnden Nylonseils und schob sich an den Kollegen vom Erkennungsdienst vorbei, die, bewaffnet mit Pinseln, Kontrastpulver, Spurensicherungsfolie, Pinzetten, Druckverschlussbeuteln und Fotoapparat, mit der Spurensuche und -sicherung beschäftigt waren.

Lisa hatte ihre brünetten, leicht rötlich schimmernden Haare immer lang und offen getragen. Auf einer Plastikplane lag eine Frauenleiche mit blondem Pagenkopf. Trotzdem genügte Sepp Semper ein Blick. Seine finstere Vorahnung war Realität geworden. Die abgeschnittene Schlinge hing noch um ihren Hals, ein dünner Streifen am Haaransatz verriet dessen Naturfarbe. Lisas zarter Körper war in ein übergroßes T-Shirt gehüllt. »Three lives left« stand darauf über einer Comic-Katze mit Pflaster, bandagierter Pfote, blauem Auge und zerbrochenem Skateboard. Neben der Leiche lag ein umgefallener Stuhl, dessen drei Brüder sich um den Esstisch gruppierten.

Kollege Steiner hatte sich mit einem Notizblock in der Hand neben Semper materialisiert. »Die tote Nutte heißt –«

»Lisa Schreiner, ich weiß.« Ein kurzes Räuspern, ein rascher Wischer mit dem rechten Handballen über beide Augen, dann hatte er sich wieder gefangen. »Ich kenne sie«, und als er sah, wie Steiner die Mundwinkel verzog, fügte er in scharfem Ton hinzu: »Von früher, Sie können sich Ihr süffisantes Grinsen also gleich von Ihrer blöden Visage wischen, bevor ich es tue.«

Jetzt war es am Leiter der Spurensicherung, sich zu räuspern. »Entschuldigung, wir werden die Tote nun entkleiden, macht bitte Platz.« Unter dem unförmigen T-Shirt kamen ein hellgrauer Baumwollslip und ein BH aus dem gleichen Material zum Vorschein. Definitiv nicht ihre Arbeitsunterwäsche. Den rechten Brustansatz zierte ein Tattoo. Der Chefinspektor vermutete, dass es sich bei der in Schwarz und Rotviolett gehaltenen Darstellung von rund vier Zentimetern Durchmesser um eine Lotusblüte handelte. Er sah zu, wie die Beamten vorsichtig die blasse Haut nach etwaigen Auffälligkeiten absuchten und Hände und Hals der Leiche abklebten, um Fasern zu sichern. »Oberflächlich finden sich keinerlei Anzeichen auf Fremdeinwirkung. Aber das ist Sonjas Expertise, nicht unsere. Wirklich sicher können wir erst nach der Obduktion sein.«

Peter Liebisch war inzwischen mit der für ihn typischen Unaufdringlichkeit zur Gruppe gestoßen und wartete auf einen Blick des Chefinspektors, bevor er seine Hornbrille mit dem Mittelfinger zurechtrückte und mit der Schilderung seiner Eindrücke begann: »Auf den ersten Blick gibt es auch keine Kampfspuren in der Wohnung. Das Glas und die halb leere Whiskeyflasche am Esstisch könnten auf Mut-Antrinken hindeuten. Abschiedsbrief haben wir allerdings keinen gefunden.«

Das war das Stichwort für den Ermittlungsleiter, die Aufgaben zu verteilen. »Ich will Sonja hierhaben, da wir Fremdeinwirkung nicht hundertprozentig ausschließen können. Peter, knöpf dir das Handy der Toten vor – und ihren Laptop, falls es einen gibt.«

Peter Liebisch war technisch eine Koryphäe und ein derartiger Nerd, dass Sepp Semper vermutete, er könnte sogar Elbisch auf Klingonisch übersetzen. Beim Auffinden von Indizien in der digitalen Welt konnte ihm niemand das Wasser reichen.

»Wer hat sie gefunden?«

»Ihre Mitbewohnerin, eine gewisse Lenka Kovac, sechsundzwanzig Jahre, stammt aus der Slowakei. Sie ist ebenfalls Prostituierte und hat die Leiche beim Heimkommen aus dem Club Anonym entdeckt, nach eigener Aussage ziemlich genau um sechs Uhr. Sie wartet in ihrem Schlafbereich am anderen Ende der Wohnung, hat vom Notarzt ein Beruhigungsmittel bekommen.« Markus Steiner bemühte sich um einen möglichst sachlichen Ton.

»Danke. Christoph, du und ich übernehmen die Vernehmung der Zeugin und warten auf Sonja. Herr Steiner, Sie nehmen sich bitte die restlichen Hausbewohner vor und finden heraus, ob jemand ausnahmsweise mal etwas gehört oder gesehen hat. Wir treffen uns alle wieder um fünfzehn Uhr im Büro zu einer ersten Lagebesprechung.«

Wie meine Schwester

Lenka Kovac hatte ihr privates Schlafreich mit einem sonnengelben Vorhang vom Rest der ungefähr fünfzig Quadratmeter großen Wohnung abgetrennt. Sie kauerte im Jogginganzug auf ihrem Bett, neben sich eine Packung Taschentücher, von denen zwei bereits zerknüllt waren. Es war offensichtlich, dass sie geweint hatte.

»Frau Kovac?«

Ein knappes Nicken.

»Ich bin Chefinspektor Semper vom LKA Steiermark, das ist mein Kollege, Abteilungsinspektor Leitner. Sind Sie in der Lage, uns einige Fragen zu beantworten?«

Sie zuckte nur mit den Schultern, was die beiden Kripo-Beamten als Ja interpretierten. Ein Stuhl mit rosa Kunstfell vor einer winzigen Frisierkommode bot die einzige Sitzgelegenheit im Raum. Stühle vom Esstisch zu holen hätte unweigerlich zu einer Diskussion mit der Tatortgruppe geführt, die jede noch so minimale Veränderung in der Wohnung genauestens dokumentieren musste. Somit blieben die Ermittler stehen.

Christoph Leitner zückte Notizbuch und Kugelschreiber, Sepp Semper verzichtete darauf. Erst jetzt nahm der Chefinspektor die fast schwarzen, ungewöhnlich wachen Augen der Frau wahr und fragte sich, wie sich diese in den Kopf einer Prostituierten verirrt hatten. Im nächsten Moment wurde ihm bewusst, wie albern und haltlos dieses Vorurteil war. Als erfahrener Ermittler wusste er nur zu gut, dass alle die Welt durch die Gitterstäbe ihrer Voreingenommenheit betrachteten, die sich oft als Bauchgefühl tarnte. Eine der größten Herausforderungen lag darin, die Verzerrfilter der geistigen Befangenheit zu erkennen, um sie bewusst ausblenden zu können.

Die restliche Erscheinung von Lisas Mitbewohnerin – schwarz gefärbte Haare, lange, mit neonfarbenem Lack und Strasssteinen verzierte Nägel und grelle, vom Weinen verronnene Schminke – entsprach neben der am Boden liegenden roten Reizwäsche hingegen dem Klischeebild. Trotzdem hatte die Zeugin etwas an sich, das dem Chefinspektor suggerierte, achtsam zu sein und ihren Worten genaues Gehör zu schenken.

»Erzählen Sie, was passiert ist«, kam er ohne Umschweife zur Sache. Notizen machte er sich während einer Erstschilderung nie, das lenkte ihn nur ab, die feinen Nuancen in Wortwahl, Stimme und Gestik wahrzunehmen.

Lenka Kovac berichtete, wie sie die Leiche ihrer Mitbewohnerin und Freundin aufgefunden hatte, als sie direkt vom Club Anonym heimgekommen war.

»Ich habe um fünf Uhr dreißig im Nachtclub Schluss gemacht, da war nichts mehr los. Für den Nachhauseweg brauche ich eine halbe Stunde. Das heißt, es muss um sechs gewesen sein – ein paar Minuten auf oder ab –, als ich Lisa so …«

Sie brach ab, presste ihre Lippen fest zusammen und schüttelte den Kopf. Nach ein paar Sekunden fuhr sie fort: »Beim Betreten der Wohnung habe ich mich gleich gewundert, dass bei Lisa noch Licht an war. Dann habe ich gesehen, dass irgendetwas vom Dachbalken hängt. Erst auf den zweiten Blick ist mir klar geworden, dass Lisa da … Ich bin zu ihr gelaufen, aber ich konnte nichts mehr … Ihre Zunge … Es war offensichtlich, dass sie tot war. Ich habe dann sofort die Polizei gerufen.«

Sie drehte ihren Kopf leicht zur Seite, richtete ihren Blick auf einen imaginären Punkt knapp unter der Zimmerdecke und ließ ihre langen Wimpern in rascher Folge auf- und zuklappen. Vermutlich versuchte sie so, die schmerzlichen Bilder wegzublinzeln.

»Frau Kovac«, redete Sepp Semper sie bewusst mit Namen an, um ihre Gedanken von dem grausigen Leichenfund wieder ins Hier und Jetzt zu holen, »würden Sie uns bitte Ihre Beziehung zu Lisa Schreiner beschreiben?« Seine betont ruhige und sanfte Stimme konnte nicht verhindern, dass die Zeugin in heftige Weinkrämpfe ausbrach und zwei weitere Taschentücher in einem feuchten Bausch endeten. Zwischen den Schluchzern und Schnäuzern waren die Worte »Freundin«, »großes Herz« und »ältere Schwester« zu vernehmen, worauf sich die Ermittler ihren Reim machen konnten.

»War Frau Schreiner in letzter Zeit verändert? Hatte sie Probleme?«, wollte Christoph Leitner wissen.

Semper bemerkte, wie die Freundin der Toten zu einem Nein ansetzte, dann aber innehielt. Die wachen Augen kamen wohl nicht von ungefähr. Vorsichtig hakte er nach. »Irgendwas lässt Sie zögern. Eine Kleinigkeit, die Sie beobachtet haben? Eine beiläufige Bemerkung? Eine winzige Veränderung im Verhalten von Frau Schreiner? Vertrauen Sie Ihrem Gefühl, Frau Kovac, jedes Detail könnte für uns wichtig sein.«

»Es ist nur so eine Ahnung«, begann sie zaghaft und kaute auf ihrer vollen Unterlippe. »Vor vier Tagen waren Lisa und ich gemeinsam an den Stangen. Die Tänzerinnen hatten gerade Pause, da machen wir das manchmal, um Freier zu ermuntern. Ein Mann tauchte auf, hat sich an den vordersten Tisch gesetzt. Er fiel mir auf, weil er irgendwie fehl am Platz wirkte, eher wie ein Priester, verstehen Sie? Lisa verschwand nach der Nummer sofort hinter der Bühne. Ich ging ihr nach, wollte wissen, was mit ihr los sei. Aber sie sagte nur, dass sie sich nicht wohlfühle und für den Abend Schluss machen wolle. Als er merkte, dass sie nicht mehr zurückkam, ist der Mann auch bald abgeschwirrt. Damals habe ich mir nichts dabei gedacht, aber jetzt …«

»Hat Frau Schreiner erwähnt, dass sie den Mann kannte?«

»Nein, aber es war offensichtlich, dass er wegen ihr da war. So was merkt man in unserer Branche.«

Untrüglicher Geschäftssinn einer Prostituierten – die beiden Ermittler glaubten ihr aufs Wort.

»Vorgestern ging Lisa auch früher als gewöhnlich, angeblich, weil sie sich mit jemandem treffen wollte. Das kam sonst nie vor. Gestern schien dann wieder alles normal zu sein. Es war wenig los, deswegen hörte Lisa schon kurz nach Mitternacht auf. Ich hatte noch einen Freier, danach wollte ich auch heimgehen. Dann kam plötzlich noch eine ganze Männertruppe. Junggesellenabend, da ist immer viel Marie zu machen. Private Table Dance, Whirlpool, Champagner, einige Nummern – also bin ich noch bis halb sechs geblieben. Als ich in die Wohnung kam … Ich verstehe nicht, warum sie …« Der Rest ging wieder in einem heftigen Weinkrampf unter.

»Als Sie die Wohnung betraten, war die Tür da abgeschlossen?«, wollte Christoph Leitner wissen.

Sie überlegte, schloss konzentriert die Augen und schüttelte den Kopf.

»War das üblich, dass Ihre Mitbewohnerin nicht abschloss?«

»Das kam schon vor. Die Tür lässt sich von außen nach dem Zufallen sowieso nur mit einem Schlüssel öffnen.« Sie rieb sich die rot geweinten Augen. »Ich bin müde.«

»Selbstverständlich. Eine letzte Frage: Die Schnur, mit der … also, das Tatwerkzeug … Haben Sie die zuvor schon einmal in der Wohnung gesehen?«

»Ja, das war unsere Wäscheleine.«

»Danke, Frau Kovac. Die Spurensicherung wird hier noch einige Zeit beschäftigt sein. Können Sie woanders übernachten?«

Nachdem sie dies bejaht und zugestimmt hatte, am nächsten Morgen zu einer ausführlichen Zeugenaussage aufs Präsidium zu kommen, organisierte Christoph Leitner, dass einer der Streifenpolizisten die junge Frau zur angegebenen Adresse der Freundin bringen würde.

Inzwischen war Sonja Adelmann, die Gerichtsmedizinerin, am Tatort eingetroffen und bereits in ihre Arbeit vertieft. Jede ihrer Bewegungen zeugte von Routiniertheit, immer wieder hielt sie kurz inne, um ihre Eindrücke in prägnanten Wort-Stakkati auf ihrem Diktiergerät festzuhalten.

»Gleitknoten dorsal im Nacken.«

»Keine Zyanose.«

»Totenflecken distal an den Extremitäten.«

Sie drückte mit der Kuppe ihres rechten Zeigefingers auf eine der Verfärbungen. »Lassen sich leicht wegdrücken.«

Geschickt hob sie mit einer Pinzette die Augenlider an.

»Keine Staublutung.«

Das warme Timbre ihrer Stimme bildete einen befremdlichen Kontrast zu den knappen, kühlen Fakten. Sepp Sempers Hände verloren sich in ungeduldigen Wanderungen zwischen Wange, Kinn und Hosentasche, aber er wusste nur zu gut, dass man Sonja Adelmann besser nicht mit voreiligen Fragen bei ihrer konzentrierten Tätigkeit störte. Endlich wandte sie ihm ihr apartes, leicht kantiges Gesicht zu.

»Der Tod ist zwischen ein und vier Uhr morgens eingetreten. Todesursache mit ziemlicher Sicherheit Sauerstoffmangel im Gehirn infolge des Erhängens. In diesem Fall handelt es sich um typisches Erhängen. Das Strangwerkzeug lag symmetrisch an Hals und Kopf, der Knoten befand sich im Nacken, und der Körper hing frei im Raum. Alle Blutgefäße am Hals wurden folglich gleichzeitig und komplett verschlossen. Daher gibt es keine Blaufärbung, keine Schwellung von Gesicht und Zunge und keine Blutungen in den Bindehäuten der Augen. Anzeichen auf Fremdeinwirkung erkenne ich auf den ersten Blick keine. Genaueres nach der Obduktion, sobald ich die Anordnung vom Staatsanwalt auf dem Tisch habe, so wie es sich gehört. Warum habt ihr mich überhaupt herbestellt?«

»Weil ich wollte, dass du dir vor Ort ein Bild machst. Du hast ein gutes Gespür –«

»Spar dir das Gesülze und komm mir ja nicht mit ›weiblicher Intuition‹. Spuck einfach aus, was du von mir willst, Sepp.«

Semper schätzte die direkte Art der Gerichtsmedizinerin. Um den heißen Brei herumzureden und Worte auf die Goldwaage zu legen ging auch ihm gegen den Strich. Wahrscheinlich, mutmaßte er, verstand er sich deswegen so prächtig mit Sonja Adelmann.

»Die Tote ist eine Jugendfreundin von mir, die ich seit über fünfzehn Jahren nicht mehr gesehen habe. Gestern ist aus heiterem Himmel eine Weihnachtskarte von ihr eingetrudelt. Sie wollte mich wiedersehen, einen Punsch trinken gehen. Ihre Nachricht klang nicht suizidal. Nostalgisch, ja, aber nicht lebensüberdrüssig. Ich bitte dich einfach, die Möglichkeit eines Gewaltverbrechens besonders im Auge zu behalten.«

»Verstanden«, war alles, was die Gerichtsmedizinerin dazu zu sagen hatte.

Der Leiter der Spurensicherung hatte die Unterhaltung mitbekommen und knurrte: »Dann haut endlich ab und lasst uns in Ruhe unsere Arbeit machen. Vielleicht finden wir ja was Aufschlussreiches.«

»Lass mich noch rasch einen Blick in ihr Schlafzimmer werfen, dann sind wir weg.«

Das säuberlich gemachte Bett nahm fast den gesamten Raum ein. Schubladen und Ablageflächen darunter nutzten den spärlichen Platz optimal aus und ließen den Raum aufgeräumt wirken. Die Tatortgruppe würde ihren Inhalt penibel dokumentieren. Eine Fototapete mit Waldmotiv an der Rückwand des Zimmers schaffte eine Illusion von Geräumigkeit. An der rechten Wand lehnte ein Spiegel, vor dem ein weißer Drehhocker stand. Die linke Raumseite war mit einer simplen, offenen Schrankkonstruktion aus weiß lackierten Spanplatten und Stahlrohren, wahrscheinlich Ikea, verbaut. Eine Stehlampe, ein kleines Bettkästchen mit Büchern und Leselampe darauf, das war’s. »Mr. Mercedes« und »1Q84«, typische Lisa-Kombo. Das Ganze wirkte ordentlich. Das Schlafzimmer von jemandem, der sein Leben im Griff hatte.

»Ein Suchbild, Sepp, findest du den Fehler?« Christas Stimme in seinem Kopf. Er schloss die Augen und ging den Raum nochmals im Geiste durch. Sie hatte recht, etwas fehlte. Er konnte nur nicht festmachen, was. Frustriert blies er die Luft durch die Nasenlöcher aus und verließ mit seinem Kollegen den Tatort.

Christoph Leitner legte den ersten Gang ein, umfasste das Steuer des Škodas in der Viertel-vor-drei-Stellung und richtete seinen Blick stur geradeaus. »Wohin jetzt, Chef?«

Ein knapper Anruf bei Roswitha Schneeberger, der kompetenten Abteilungsassistentin, und Sepp Semper hatte die Bestätigung, dass die in seinem Kopf abgespeicherte Adresse nach wie vor gültig war. »Heinrichstraße, da wohnen ihre Eltern.«

Ich lebe jetzt in Bali

Lisa und er hatten die Wohnung immer scherzhaft als »Upper Bourgeoisie auf hundertzehn Quadratmetern« bezeichnet. Während Christoph und er auf der Wohnzimmercouch Platz nahmen, suchten die Augen des Chefinspektors nach Veränderungen, aber abgesehen davon, dass die Streifentapete einer altrosa Wandfarbe gewichen war, konnte er keine entdecken. Lisas Eltern hatten sich gut gehalten. Die Haare etwas grauer, ein paar Falten mehr im Gesicht, aber ansonsten waren die aus den aktuellen visuellen Eindrücken geformten Bilder nahezu deckungsgleich mit den in seiner Erinnerung abgespeicherten. Bis auf die Augen. Wo einst ein Funke verschmitzter Lebensfreude inmitten eines Sees voll gelassenem Optimismus geblitzt hatte, fand er nach dem ersten Schock über die Todesnachricht nun ausnahmslos trüben Schmerz.

Sepp Semper überließ bei den ersten Routinefragen, die um den letzten Kontakt sowie das Verhältnis zwischen Eltern und Tochter kreisten, seinem Kollegen die Zügel. Nach und nach entfaltete sich in der repräsentativen Altbauwohnung eine tränengeflutete Geschichte von Entfremdung und Selbstvorwürfen. Es tat ihm weh, ihre Seelenpein mitanzusehen. Zu allem Überfluss spann Lisas Mutter auch noch eine alternative Realität unter der Überschrift »Wärst du doch unser Schwiegersohn geworden«.

»Wir haben uns immer gewünscht, dass ihr zusammenkommt. Du wärst gut für sie gewesen, hast sie immer geerdet«, offenbarte sie ihr Innerstes.

Unangenehm berührt, beeilte sich der Chefinspektor, das Gespräch auf die Biografie der Verstorbenen zu lenken. »Was hat Lisa eigentlich gemacht, nachdem sie nach Indien verschwunden ist?«

Rasch wurde klar, dass Herrn und Frau Schreiner nur wenige Details über die Stationen von Lisas Lebensweg bekannt waren. Die Eltern ahnten nicht, womit ihre Tochter zuletzt ihr Geld verdient hatte. Lisa hatte ihnen das Märchen von der »Event Hostess« aufgetischt, das beide nur zu gerne geschluckt hatten. Sepp Semper war gezwungen, ihre Illusionen brutal zu zerschmettern, sonst würden es die Medien tun.