Grazer Zunder - Astrid Schilcher - E-Book

Grazer Zunder E-Book

Astrid Schilcher

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  • Herausgeber: Emons Verlag
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2023
Beschreibung

Ein Mörder verhöhnt die Polizei mit Gedichtzeilen. Dramatik pur in Graz. Im Grazer Stadtpark wird eine Tote gefunden, auf deren Körper ein Blatt Papier mit einer Gedichtzeile platziert wurde. Die Ermittlungen führen Chefinspektor Sepp Semper vom LKA Steiermark ins Uni-Milieu und in die Online-Dating-Welt. Und es bleibt nicht bei einer Leiche: Ein perfides Katz-und-Maus-Spiel beginnt, in dem Semper und sein Team in einem Strudel aus Demütigungen und Rache zu versinken drohen. Schließlich legen sie einen Köder aus – doch wird der Mörder ihn schlucken?

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Seitenzahl: 253

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Astrid Schilcher, Jahrgang 1971, studierte Kunstgeschichte, Dolmetschen und VWL. Sie lebt in Graz, wo sie gemeinsam mit ihrem Mann ein Consulting-Unternehmen führt und an diversen Fachhochschulen unterrichtet. 2018 veröffentlichte sie ihren ersten Roman.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2023 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: mauritius images/Aron M/Alamy/Alamy Stock Photos

Umschlaggestaltung: Conny Laue, Editorial Design &

Artdirection, Bochum, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer

Umsetzung: Tobias Doetsch

Lektorat: Christiane Geldmacher, Textsyndikat Bremberg

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-98707-122-5

Originalausgabe

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Die Hölle ist leer, alle Teufel sind hier.

William Shakespeare

Frust

Als ehemalige Prostituierte verfügte Lenka Kovac über eine feine Antenne für Sex-Dates. An Tisch vier ging gerade eines den Bach runter. Nicht munter wie die lauschige Forelle in dem komischen Lied, das sie an diesem Morgen auf Ö1 gehört hatte. Eher wie ein Papierschiffchen, das sich langsam mit Wasser vollsog und in dem die an das Tête-à-Tête geknüpften Hoffnungen auf Nimmerwiedersehen davontrieben. Zumindest aus Perspektive der aparten Brünetten, über deren Blick sich jener Schleier gelegt hatte, der dem Gegenüber die in fernen Galaxien verweilenden Gedanken verbergen sollte. Durch eine mechanische Drehbewegung ihrer rechten Hand entlockte sie den Eiswürfeln in ihrem beinahe leeren Aperol-Glas ein rhythmisches Klirren. Kein Rhythmus der Begierde, der auf- und abschwoll wie Ravels »Bolero«, sondern ein monotones Kling-Kling der Langeweile.

Lenka Kovac war sicher, die Frau mit den attraktiven Locken und leicht kantigen Gesichtszügen schon irgendwo gesehen zu haben. Nicht in dem Café, dessen Eigentümerin sie seit ein paar Monaten war. Sie hatte eine Gabe, sich die Gesichter ihrer Gäste einzuprägen, und dieses gehörte definitiv nicht dazu. Nachdem auch ein tieferschürfendes Graben in ihren Hirnwindungen kein Ergebnis brachte, gab sie auf und richtete ihre Gedanken stattdessen auf den Umsatz. Entschlossen schritt sie – in den nach Jahren in Stilettos noch immer ungewohnten Sneakern mit ergonomischem Fußbett – auf den Tisch zu.

»Was darf ich Ihnen an diesem herrlichen Sommerabend noch Erfrischendes zu trinken bringen?«

Aktives Anbieten, charmant, mit positiver Vorwegnahme, so hatte es ihr ihr Chef im Bordell eingebläut. Was sich schon in ihrem vorigen Job als wertvoller Tipp erwiesen und ihr für jede Flasche Schampus, zu der sie einen Freier animierte, dreißig Euro an Provision eingebracht hatte, funktionierte auch in ihrem Café. Meistens zumindest. Für einen Moment trafen ihre nahezu schwarzen Augen auf die rehbraunen der Frau, und Lenka Kovac glaubte, darin einen Funken von Wiedererkennen zu erspähen.

»Für mich nichts mehr«, entgegnete die Enddreißigerin entschieden und fügte an ihren Begleiter gewandt hinzu: »Aber danke für die Einladung. War mir ein Vergnügen.«

»Aber wollen wir nicht noch …?«

»Nein. Tut mir leid, aber zwischen uns herrscht einfach nicht genug Funkenflug.«

Lenka Kovac beobachtete, wie sich die Kinnlade des Mannes der Schwerkraft beugte, während die attraktive Frau trotz ihrer hochhackigen Sandalen mit sicheren Schritten über die Pflastersteine Richtung Kunsthaus davonschritt.

Verdammt noch mal, er hatte doch alles richtig gemacht. Keine Monologe abfeuern. Brav nach ihrem Beruf sowie ihren Wünschen und Träumen fragen. Zuhören. Blickkontakt halten. Genau, wie es ihm der vor Selbstbewusstsein strotzende Dating-Coach, der mit seinem markanten Kinn und den gebleachten Zähnen einer Aftershavewerbung entsprungen zu sein schien, geraten hatte. Gut, seine Gesichtszüge glichen eher einem verkürzten Ei als einem scharfkantigen Diamanten, aber deswegen brauchte ihn die blöde Funzen nicht so abzufertigen. Sein Körper wies zwar nicht die getonte Muskulatur einer griechischen Statue auf, aber er verdiente durchaus die Attribute fit und gepflegt. Zudem war er nett und mit einem Welpenblick ausgestattet, den Frauen, wie seine Schwester ihm wiederholt versicherte, süß fanden. Ryan-Gosling-Charme, wie sie es nannte.

Aber bitte, wenn die dämliche Nuss auf testosterontriefende Angeber hereinfiel, sollte sie mit denen glücklich werden. Sie hatte ihn nicht verdient. Er nahm den letzten Schluck von seinem Aperol. Nicht gerade sein Lieblingsgetränk. Er hatte sich seinem Date angeschlossen, um Gemeinsamkeit zu signalisieren. Das hatte er jetzt davon. Frustriert fingerte er einen Zehner und einen Fünfer aus seinem Portemonnaie und schob die Scheine unter den Fuß seines Glases, bereit, die Stätte seiner Niederlage schleunigst zu verlassen. Doch dann überlegte er es sich anders, steckte das Geld wieder ein und griff zum Telefon.

Wie die meisten Grazer, die nahezu täglich in der Innenstadt zu tun hatten, verschwendete auch Sonja Adelmann keinen Blick mehr auf den muschelförmigen Schwung der Murinsel oder die Silhouette des Uhrturms, die sich über die ziegelrote Dachlandschaft erhob. Sie war sauer. Nicht auf den bemitleidenswerten Langweiler, an den sie gerade vierzig Minuten ihrer Lebenszeit verschwendet hatte, sondern auf sich selbst. Was hatte sie nur geritten, ihr bewährtes Beuteschema über Bord zu werfen? Sie wusste doch, was sie wollte. Zumindest, wenn es um unverfängliche One-Night-Stands ging. In anderen Belangen zweifelte sie hingegen langsam an ihrem Urteilsvermögen. Die Gerichtsmedizinerin hatte die Kellnerin, Zeugin in einem eineinhalb Jahre zurückliegenden Mordfall, sofort erkannt. Mit der Erinnerung hatte auch er sich in ihren Gedanken breitgemacht – Sepp Semper, Leiter der Ermittlungseinheit Leib und Leben des LKA Steiermark. Damit waren die Chancen, dass das schwerfällige Date noch in prickelnder Horizontalakrobatik enden würde, endgültig dahingeschmolzen wie die Eiswürfel in ihrem Aperol.

Der damalige Fall hatte das gesamte Team an die Grenzen der physischen und mentalen Belastbarkeit gebracht. Nicht nur, dass sie es mit einem Serienmörder zu tun gehabt hatten; dessen erstes Opfer war auch noch eine Jugendfreundin von Sepp gewesen. Im Zuge der nervenaufreibenden Ermittlungen waren sie einander nähergekommen. Seither bekochte er sie regelmäßig, und sie unternahmen öfter mal etwas miteinander. Aber egal, ob Opernbesuch, gemeinsame Laufrunde oder die Erklimmung des Schöckls über die schweißtreibende Lifttrasse, jede dieser Unternehmungen endete mit einem sittsamen Links-rechts-Wangenkuss, verhasstes Signum der platonischen Natur ihrer Beziehung.

Es war offensichtlich, dass Sepp ihre Gesellschaft schätzte. Aber sein Interesse an ihr als Frau schien sich in Grenzen zu halten. Fand er sie nicht attraktiv? Oder trauerte er noch immer seiner tragisch verunglückten großen Liebe nach? Der tödliche Unfall mit Fahrerflucht lag mittlerweile über fünf Jahre zurück. Da sollte er langsam offen für Neues sein. Vielleicht war er ja bloß schüchtern. Obwohl: Er musste begriffen haben, dass sie an ihm interessiert war. Ihre Signale waren eindeutig.

Am Hauptplatz angelangt, hatte sie einen Entschluss gefasst – oder eigentlich zwei. Erstens würde sie hier noch nicht in die Straßenbahn Richtung Mariatrost steigen, sondern zu Fuß bis zur Station bei der Oper schlendern. Der Spaziergang würde ihr guttun, und vielleicht würde sie sich sogar noch irgendwo einen Drink genehmigen. Möglichkeiten gab es im Grazer Bermuda-Dreieck ja genug. Entscheidung Nummer zwei war weitreichender. Sie würde Sepp Semper einfach direkt mit ihren Gefühlen konfrontieren und damit den aufreibenden Mutmaßungen ein Ende setzen.

Als sie einen freien Zweiertisch unter der Sommerlinde am Tummelplatz erblickte, steuerte sie entschlossen darauf zu. In ihrem gelben Sommerkleid und den farblich abgestimmten Riemchensandalen mit Acht-Zentimeter-Absätzen zog sie die bewunderten Blicke nicht weniger Männer auf sich. Ihr Bedürfnis nach Gesellschaft war jedoch für diesen Abend gestillt, weshalb sie es tunlichst vermied, sich auf einen Augenflirt einzulassen. Sicherheitshalber verbarrikadierte sie den zweiten Sessel mit Menagen, Aschenbecher und Speisekarte und platzierte ihre voluminöse Handtasche als zusätzliche Schranke auf dem Tisch.

Ende Juni neigte sich die Blütezeit der Sommerlinde bereits dem Ende zu. Immer wieder rieselten die zarten gelblich weißen Objekte auf die Gerichtsmedizinerin herab, aber das störte sie nicht im Geringsten. Während sie ihren zweiten Aperol des Tages genoss, inhalierte sie den süßlichen Duft, den der prächtige Baum verströmte, und war dankbar, dass die Wüste aus Asphaltbändern und Pflastersteinen wenigstens in diesem Eck des Platzes durchbrochen wurde. Grüne Bastionen, die dem Versiegelungsfraß und der Gier von Bauherren trotzten, wurden in der Stadt leider zunehmend seltener.

Die dritte Getränkelänge hindurch ersann und verwarf sie eine Reihe von Formulierungen, die zwischen dem Chefinspektor und ihr für Gefühlsklarheit sorgen sollten. Weder ein komprimiert-direktes »Sepp, was wird jetzt mit uns beiden?« noch weitläufigere Offenbarungen, eingeleitet durch ein »Sepp, meine Gefühle für dich …«, fühlten sich richtig an. Genervt tastete sie in den Tiefen ihrer Handtasche nach der Geldbörse und schwenkte sie kurz über ihrem Kopf, um dem Kellner zu signalisieren, dass sie zahlen wollte.

Ihr Abgang, auch nach drei Aperol noch stöckelschuhfest, zog erneut einige männliche Aufmerksamkeit auf sich, aber diesmal registrierte sie die Kopfdreher nicht einmal. Den Blick stur geradeaus gerichtet, legte sie die dreihundert Meter bis zur Station der Straßenbahnlinie 1 in sportlichem Schritttempo zurück. Sie hatte Glück, schon nach zwei Minuten Wartezeit sah sie das grün-weiß lackierte Schienengefährt aus der Gleisdorfergasse in die Glacisstraße einbiegen. Als sie auf einem der mit orangefarbenem Stoff bezogenen Sitze Platz nahm und ein schrilles Klingelgeräusch die Abfahrt ankündigte, schwangen sich ihre Mundwinkel zu einem selbstzufriedenen Lächeln auf. Sie hatte die perfekte Formulierung für Sepp gefunden.

Stadtparkschicksale

Der Stadtpark und sie – das war Liebe auf den ersten Blick gewesen, als sie vor zwei Jahren aus beruflichen Gründen nach Graz gezogen war. Irgendwann hatte sie aufgehört, die Stunden zu zählen, die sie im Schatten seiner prächtigen Bäume vertrödelt hatte. Sie mochte die stolzen Eichen, die, wie in der Landeshymne angepriesen, ungebeugt vom Sturmwind und voll und grün von Saft die Augen der Städter erfreuten und ihnen Erholung vom Blick auf Asphalt, Autos, Beton und Baukräne boten. Aber auch die exotischeren Exemplare hatten es ihr angetan. Einer ihrer Lieblingsplätze war die Bank unter dem Japanischen Kuchenbaum in der Nähe des Musikpavillons, von der aus sie gerade das morgendliche Geschehen beobachtete.

An diesem Freitag lag über dem Stadtpark eine träge Friedlichkeit. Radfahrer auf dem Weg zur Arbeit, verschlafene Obdachlose, Druggies auf der Suche nach dem ersten High, sie kamen einander nicht in die Quere. Später fielen Studenten, Verliebte und Mütter mit ihren Kindern in den beschaulichen Junireigen ein. Sie schlug den mitgebrachten Schmöker am Lesebändchen auf und versuchte, sich in die Geschichte hineinfallen zu lassen. Die Sonnenstrahlen bahnten sich ihren Weg durch die hellgrünen, herzförmigen Blätter und tanzten in goldenen Flecken über die Seiten. Eine Freundin hatte ihr »Der Gesang der Flusskrebse« empfohlen, aber die vor Herzschmerz und Schmalz triefende Geschichte vermochte es nicht, sie mit ihren aus eindimensionalen Charakteren gesponnenen Handlungssträngen zu fesseln. Typische Frauenromane waren einfach nicht ihr Ding.

Gegen Mittag verlegte sie ihren Aufenthaltsort auf eine der um den Stadtparkbrunnen platzierten Bänke und machte sich daran, ein mit Hummus, getrockneten Tomaten und Avocados gefülltes Sandwich zu verspeisen. Während sie genüsslich kaute, wurde die friedliche Atmosphäre kurzfristig etwas aufgeladen. Zwei Mitdreißigerinnen in ärmellosen Business-Kleidern alterierten sich lauthals über das Ausländergesindel und proklamierten ihren Support für die FPÖ.

»Unseren Stadtpark haben sie uns weggenommen, anständige Einheimische verführen sie mit ihren Drogen, und wir sollen das kriminelle Flüchtlingspack auch noch mit unserem Geld durchfüttern!«

Manche nickten zustimmend, andere schauten betreten weg, nur ein Punk mit Gitarre tat singend seine Meinung kund:

»Bornierte Tussis, enger Geist,

der nicht denkt und auch nichts weiß.

Vorurteile, Fremdenhass und Wut,

an euren schicken Klamotten klebt Blut.

Rassisten und Faschisten sind unser Fluch.«

Sie schmunzelte. Nicht gerade ein Shakespeare-Sonett, aber jeder, wie er kann.

Nach dieser Episode verfielen Stadtpark und Besucher wieder in ihre Frühsommerlethargie, sogar die possierlichen Eichkätzchen, von den Grazern liebevoll »Hansis« genannt, ließen sich faul die Sonne auf ihre rotbraunen Bäuche scheinen. Sie war gerade im Begriff einzudösen, als der speziell gewählte Signalton ihr eine »It’s a Match!«-Benachrichtigung von Tinder ankündigte. Konditioniert von den Piepsern, Pings und sonstigen Tönen der Social-Media-Welt, konnte sie nicht widerstehen und kramte ihr Smartphone hervor. Zwar keiner ihrer Super-Likes, aber immerhin … Jetzt hieß es, Geduld zu haben und bloß nicht den ersten Schritt zu machen. Die Frau schloss die Augen, ließ sich von den Sonnenstrahlen eine zarte Tönung auf die Haut malen und überlegte, wie sie den Nachmittag verbringen wollte. Sie schwankte zwischen einem Spaziergang auf dem Schloßberg und anschließendem Drink mit Blick über die Dächer von Graz und einem Wechselspiel zwischen Shopping und Kaffeetrinken in der Innenstadt, als sich mit einem erneuten Handypiepen eine dritte Option eröffnete.

Ich bin neugierig auf dich. Was hältst du von einem Treffen? Ich könnte in vierzig Minuten im Café Promenade sein.

Mit diesem Tempo hatte sie nicht gerechnet. Doch ihr Zögern währte nur einen Wimpernschlag. Schon tippten ihre Finger die Worte: Okay. Freu mich auf dich.

Wie schon Oscar Wilde treffend bemerkt hatte: Versuchungen sollte man nachgeben. Wer wusste, ob sie wiederkehren würden. Außerdem trug sie unter dem luftigen Sommerkleid ihre neue champagnerfärbige Spitzenunterwäsche. Da wäre es doch eine Verschwendung …

Der vorgeschlagene Treffpunkt war nur einen fünfminütigen Fußmarsch entfernt. Da sie keinesfalls zu früh ankommen wollte, betrachtete sie noch eine Weile die von allegorischen Figuren getragenen Fische, aus deren Mündern sich das Wasser in munter plätschernden Fontänen in den Brunnen ergoss. Als sie sich nach einem Blick auf ihre Armbanduhr erhob, verspürte sie ein angenehmes Kribbeln im Bauch. Wenn sie gemütlich schlenderte, würde sie sich gerade so viel verspäten, dass es nonchalant, aber nicht unhöflich wirkte. Beim ehemaligen Blumenpavillon, der mittlerweile leider einem Lokal gewichen war, tauchte die Terrasse des Café Promenade in ihrem Blickfeld auf. Sie verlangsamte ihre Schritte noch weiter und scannte mit ihren grünen Augen die Tische. Da saß er. Sein Blick wanderte nervös zwischen seiner Armbanduhr und den Passanten auf der Erzherzog-Johann-Allee hin und her. Eine unvorteilhafte Kopfbewegung, die in ihr die Assoziation mit einer Taube weckte.

Inzwischen war sie weniger als fünfzig Meter von seinem Tisch entfernt. Nun erkannte auch er sie und winkte ihr zum Gruß. Sie konnte nicht genau festmachen, was es war, aber irgendetwas an seiner Ausstrahlung veranlasste sie, den Kopf zu schütteln und ihre Schritte zu beschleunigen. Nachdem sie das Burgtor Richtung Innenstadt durchquert hatte, fühlte sie sich gleichermaßen enttäuscht wie erleichtert. Spontan beschloss sie, sich mit einem Verwöhntag in der Stadt für das geplatzte Date zu entschädigen. Eine Pediküre mit anschließender Fußmassage wäre mal ein guter Anfang. Danach würde sie weitersehen.

Als sie kurz nach Mitternacht den Nachhauseweg antrat, lag ihr relativ unsicherer Gang nicht an der Höhe ihrer Absätze. Zu dieser Stunde hatten sich die Statisten auf der Freiluftbühne erneut gewandelt. Meist harmlose Jugendgruppen, einige weniger harmlose Dealer und zwielichtige Gestalten sowie betrunkene Nachtschwärmer beherrschten nun die Szenerie. Dazwischen fanden sich immer wieder sogenannte ehrbare Bürger auf dem Heimweg von einem Abendessen oder Kulturbesuch.

Als der Untergrund von Asphalt auf Schotter wechselte, verfluchte sie ihre Angewohnheit, die Strecke zwischen Hofgasse und Rechbauerstraße über nachts wenig frequentierte Seitenwege abzukürzen. Obwohl sie nur das Knirschen ihrer eigenen Schritte vernahm, hatte sie plötzlich das Gefühl, verfolgt zu werden. Die Dunkelheit bekam mit einem Male eine beklemmende Qualität, und sie beschleunigte ihre Schritte, soweit es der in ihrem Blut zirkulierende Alkohol zuließ, um die Schutzinsel des nächsten Laternenlichtkreises zu erreichen.

Als sie sich ihrer eingezogenen Schultern und ihres gesenkten Kopfes bewusst wurde, schnaubte sie verärgert.

»Sei nicht töricht«, tadelte sie sich und bemühte sich um eine selbstbewusstere Haltung. Irgendwo hatte sie einmal gelesen, dass potenzielle Täter unsicher wirkende Opfer bevorzugten.

Die Gestalt hatte sich wie aus dem Nichts materialisiert. Beinahe wäre sie mit ihr kollidiert. Obwohl die diffusen Ausläufer des nächsten Lichtkegels nur wenig Helligkeit spendeten, erkannte sie die Person sofort. Das Zusammentreffen war ihr peinlich, und sie brachte bloß ein nervöses »Oh, hi« über die Lippen. Als ein kräftiger Stoß gegen die Schultern sie rücklings ins Gebüsch beförderte und die Gestalt über ihr hockte, dachte sie noch, dass das ziemlich banale letzte Worte waren.

Stillleben mit Leiche

Das Gepiepe seines Handys riss Sepp Semper aus einem vertrauten Traumszenario, in dem er beim Versuch, Fenster und Türen seiner Wohnung gegen einen Eindringling zu verriegeln, den er zwar nicht sehen, dessen sinistre Präsenz er aber deutlich spüren konnte, viel zu langsam vom Fleck kam. Die Augen noch halb geschlossen, tastete er auf seinem Nachtkästchen herum, bis er den kühlen Kunststoff des Gehäuses unter seinen Fingern spürte. Er blinzelte dreimal kräftig gegen die Verschwommenheit des Displays an, bevor er Anrufer-ID und Uhrzeit entziffern konnte. »Steiner« und »05:10«. Diese Kombination verhieß an einem Samstagmorgen nichts Gutes.

»Ja, was gibt’s?«, fragte er knapp. Mitten in der Schilderung des jungen Kollegen war er bereits aus dem Bett gesprungen und hatte ein T-Shirt aus der Lade des Schranks gefischt. »Ich bin in zwanzig Minuten da. Verständigen Sie bitte auch Christoph.«

Warum mussten Leichen immer in aller Herrgottsfrühe auftauchen? Beim Ankleiden fiel ihm ein, dass er Sonja Adelmann ebenfalls am Leichenfundort haben wollte.

»Sepp, was ist los?«, meldete sich ihre schlaftrunkene Stimme nach viermaligem Klingeln.

Kurz und bündig umriss der Leiter der Ermittlungseinheit Leib und Leben die Situation und bat: »Wenn es dir möglich ist, hätte ich gerne, dass du dir das vor Ort anschaust.«

Die Gerichtsmedizinerin seufzte, klang aber bereits deutlich munterer, als sie einwilligte: »Okay, ich bin in einer Dreiviertelstunde da.«

Sepp Semper brummte zufrieden. Die Erfahrung hatte ihn gelehrt, dass die Untersuchung des Tatorts sich in zahlreichen Fällen als wichtiger als die Autopsie entpuppte. Er schätzte Sonjas Kompetenz und wusste, dass es ihre Arbeit erleichterte, wenn sie die Leiche im Kontext ihrer Umgebung betrachten und dadurch die Autopsie-Ergebnisse besser interpretieren konnte.

Als der Chefinspektor um halb sechs vom Radweg auf den Schotter der von Platanen und Stieleichen gesäumten Pécs-Allee abbog, wiesen ihm Scheinwerfer und Absperrbänder den Weg. Die Spezialisten der Tatortgruppe hatten ihre Arbeit bereits begonnen. Er lehnte sein Fahrrad gegen einen Baumstamm und nickte dem Kollegen Steiner zu, der damit beschäftigt war, Skizzen der Auffindesituation anzufertigen. Nachdem er Schutzanzug, Überschuhe und Einmalhandschuhe angelegt hatte, näherte er sich am markierten Pfad vorsichtig der Leichenfundstelle.

Die ausladenden Zweige der Zaubernuss verbargen das Opfer hinter einem Vorhang aus breiten, ovalen Blättern. Sepp Semper schob sie entschieden zur Seite. Seine Augen weiteten sich, bevor ein unkontrollierbarer Reflex sie wieder schloss und ihm ein »Verdammter Mist!« entfuhr. Er hatte in seiner Laufbahn schon genügend Mordopfer zu Gesicht bekommen, weshalb ihn die Schnittwunde am Hals, die ihm wie ein riesiger, obszön geschminkter zweiter Mund entgegenklaffte, wenig zusetzte. Vielmehr beunruhigte ihn das in Brusthöhe angebrachte weiße Blatt Papier, auf dem schwarze Druckbuchstaben eine makabre Botschaft formten:

BECAUSE I COULD NOT STOP FOR DEATH, HE KINDLY STOPPED FOR ME.

Die Kombination des augenscheinlich mit brutaler Wut ausgeführten Kehlenschnittes und eines ausgeprägten Sendungsbedürfnisses verhieß nichts Gutes. Im Fachjargon wurde eine derartige Nachricht als Calling Card bezeichnet. Sie konnte eine Menge bedeuten. Das Spektrum reichte von einer Verhöhnung der Ermittler über eine überhebliche »Fang mich doch, wenn du kannst«-Provokation von Serienmördern bis hin zu einem Hilferuf. In diesem Fall vermutete Sepp Semper hinter der Botschaft Arroganz und Rechtschaffenheit. Im schlimmsten Fall war die Mitteilung eine Demonstration der Macht des Täters, wieder töten zu können, und gleichzeitig eine Ankündigung, es erneut zu tun.

»Bitte nicht wieder ein Serientäter«, flüsterte er kaum vernehmbar. Da er nicht gläubig war, war ihm selbst unklar, an wen genau sich sein Flehen richtete.

Der Chefinspektor atmete tief durch und ließ seinen Blick im Zeitlupentempo von links oben nach rechts unten über die tote Frau wandern. Er registrierte die offenen Augen und die langen blonden Haare, die von den Spitzen bis in Wangenhöhe von Blut dunkel gefärbt waren, sowie das cremeweiße Blütenmuster auf dem orangefarbenen Kleiderstoff. Der obere Rand des karierten, mit einem Stein beschwerten Zettels hatte ebenfalls Blut aufgesaugt. Ein Ring und ein Armband machten beide einen teuren Eindruck, die Fingernägel waren kurz geschnitten, gepflegt und unlackiert, die Zehennägel leuchteten im Orange des Kleides aus nudefarbenen Peep-Toe-Pumps hervor.

Gleich einem Kunstbetrachter, der, nachdem er vom Pinselstrich bis zu figürlichen Details jede Einzelzeit aufgesogen hatte, nun die Gesamtwirkung des Gemäldes erspüren wollte, trat er drei Schritte zurück und ließ das Werk des Mörders auf sich wirken. Die Tote lag auf dem Rücken, die Körperhaltung erinnerte an ein verkehrtes C. Ihre linke Hand ruhte auf dem Hüftknochen, der rechte Unterarm war in einem Winkel von ungefähr neunzig Grad nach außen gedreht. Deutlich spitzer war der Winkel, den das rechte Bein bildete, wodurch der Schuhabsatz beinahe die Hand berührte. Das linke Knie war hingegen nur leicht gebeugt. Auf dieser Seite war das Sommerkleid über den Oberschenkel hochgerutscht, sodass die Spitzenunterwäsche hervorblitzte. Neben der rechten Hand lag eine Handtasche, die ebenfalls farblich auf den Rest der Kleidung abgestimmt war. Die vulgär anmutende Schnittwunde an der Kehle, das eingetrocknete Blut und die grobe Dreistigkeit der Nachricht bildeten einen eklatanten Kontrast zum beinahe harmonisch anmutenden Rest dieses Stilllebens.

In dem Moment begann ein Mitarbeiter der Tatortgruppe, assistiert von Markus Steiner, damit, den Inhalt der Handtasche in Plastikbeuteln zu sichern. Letzterer konnte es sich nicht verkneifen, jeden Gegenstand für seinen Vorgesetzten zu beschreiben.

»Jasmine Hiebler, vierunddreißig Jahre«, verkündete er in Richtung des Ermittlungsleiters, während er den Inhalt der Geldbörse durchstöberte.

»Eine abgerissene Karte für die Sechzehn-Uhr-fünfzehn-Vorstellung im Schubertkino. ›Thor: Love and Thunder‹.«

»Ihr Handy. PIN-Code-geschützt.«

»Ein Schlüsselbund mit drei Schlüsseln.«

»Ein Lippenstift.«

Nachdem auch noch ein Buch, eine Haarbürste, Wimperntusche, Augentropfen, eine Packung Taschentücher und ein Minischirm zutage gefördert und kommentiert worden waren, riss dem Chefinspektor sein ohnehin äußerst dünn gesponnener Geduldsfaden.

»Verdammt noch mal, ist das Mary Poppins, oder was? Steiner, bevor Sie den Tiefen der Handtasche noch einen Lampenschirm und einen Hutständer entreißen, kommen Sie lieber mal her und erzählen Sie mir, was Sie sonst herausgefunden haben.«

Markus Steiner gehorchte prompt. »Also, Chef, ich habe mal recherchiert. Die Botschaft ist Teil eines Gedichts von einer gewissen Emily Dickinson. Darin geht es, ähm, um den Tod. Oder besser gesagt um dessen Unvermeidlichkeit und die Ungewissheit, was genau beim Sterben passiert. Der Tod wird als Gentleman dargestellt, der die Kutsche ins Jenseits lenkt. Interpreten sind sich jedoch nicht ganz einig, ob Unsterblichkeit und Ewigkeit oder die dunkle Nichtigkeit des Todes thematisiert werden. Ach ja, das Gedicht stammt aus dem Jahr 1863.«

»Gut gemacht«, zeigte Sepp Semper sich von der Initiative seines Mitarbeiters beeindruckt. »Was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie die Szenerie betrachten?«

Der junge Kollege überlegte schweigend. Sepp Semper konnte förmlich hören, wie die Zahnräder hinter seiner Stirn sich angestrengt drehten und ineinanderklickten, um eine intelligente Antwort hervorzubringen.

»Die Menge an eingetrocknetem Blut deutet darauf hin, dass Fundort und Tatort ident sind.«

Angespornt vom zustimmenden Nicken seines Vorgesetzten, wagte er sich weiter aufs dünne Eis der Hypothesen hinaus. »Es gibt keine sichtbaren Kampf- und Abwehrspuren. Scheinbar war sie vom Angriff so überrascht, dass sie sich überhaupt nicht gewehrt hat.«

»Und die Nachricht auf ihrer Brust? Was fällt Ihnen dazu ein?«

»Ähm, dass der Täter gebildet ist?« Der anfänglich noch selbstbewusste Ton war nun einem zögerlichen Vortasten gewichen.

In dem Moment trat Christoph Leitner, die Nummer zwei der Abteilung, zu ihnen. Wie ein Scanner wanderte sein fokussierter Blick über die Szenerie. Auch nach einem Jahrzehnt der Zusammenarbeit war es dem Chefinspektor immer noch ein Rätsel, wie seine geschätzte rechte Hand es zu Wege brachte, um diese Uhrzeit mit exakt getrimmtem Dreitagebart und perfekt gestylten Haaren auf der Bildfläche zu erscheinen.

»Brutale Wut und eine Calling Card. Nicht gerade beruhigend. Ein nach Aufmerksamkeit gierender Narzisst?«

Sepp Semper stieg sofort auf das Mutmaßungsspiel ein. »Zufallsopfer oder geplant?«

»Für ein Zufallsopfer sieht mir das zu persönlich aus. Die beiden kannten sich.«

Der Ermittlungsleiter nickte. »Ich glaube allerdings nicht, dass der Täter ihre Begleitung war. Den Abend mit ihr zu verbringen und dabei die vorbereitete Nachricht schon in der Tasche zu haben, das ergibt einfach keinen Sinn.«

»Aber wie konnte der Täter wissen, dass sie hier vorbeikam? Ist er ihr gefolgt, oder hat er ihr aufgelauert?«

»Schwer zu sagen. Sonst noch etwas, Christoph?«

»Ich frage mich, warum sie in der Nacht allein durch den Park gegangen ist. Sie ist hübsch zurechtgemacht. War sie mit jemandem verabredet?«

Markus Steiner hatte das mühelose Gedanken-Ping-Pong des eingespielten Ermittlerduos mit weit aufgerissenen Augen verfolgt. Die rechte Hand wie ein Schüler erhoben, wagte er nun einen Beitrag. »Wenn sie eine Verabredung mit einer männlichen Person hatte, ist irgendwas schiefgelaufen. Ich meine, kein Mann würde sie sonst im Finstern allein durch den Stadtpark nach Hause gehen lassen, oder?«

»Guter Punkt.« Sepp Semper nickte dem jungen Kollegen anerkennend zu. Seit dieser nicht mehr versuchte, ihn mit blöden Sprüchen zu beeindrucken, entwickelte er sich langsam zu einem brauchbaren Mitglied des Teams. Er musste schmunzeln, als er sah, wie dessen Gesicht mit Stolz über das Lob geflutet wurde. Beinahe war er versucht, ihm den Kopf zu tätscheln und »Braver Markus« zu murmeln. Stattdessen nahm er sich vor, den Kollegen Steiner künftig stärker in den Gedankenaustausch zwischen ihm und Christoph einzubinden.

Aus den Augenwinkeln bemerkte er, dass Sonja Adelmann inzwischen eingetroffen war und sich für die Untersuchung der Leiche bereitmachte. Sie winkten einander zu, und obwohl der Chefinspektor der Gerichtsmedizinerin bei ihrer Arbeit nur zu gerne über die Schulter blicken und sie mit all den Fragen, die ihm auf der Zunge brannten, löchern würde, wusste er nur zu gut, dass er sich in Geduld üben musste. Sonja Adelmann hatte ihm und seinem Team ziemlich unverblümt klargemacht, dass man sie in ihrem konzentrierten Tun besser nicht störte, weshalb nun alle drei den Rückzug antraten.

Leitner und Steiner stapften Richtung Absperrung davon, um die ersten Schaulustigen auf Abstand zu halten. Semper beobachtete die Gerichtsmedizinerin aus gebührender Entfernung und bewunderte zum wiederholten Mal ihre professionelle Routine, bei der jeder Handgriff saß. Obwohl die Tatortgruppe die Auffindesituation mit Fotos festgehalten hatte, zog es Sonja Adelmann vor, aus unterschiedlichen Perspektiven ihre eigenen Aufnahmen zu machen. Danach hockte sie sich neben der Toten nieder und suchte deren Körper systematisch von oben nach unten nach Verletzungen und Totenflecken ab, wobei sie immer wieder innehielt, um die Ergebnisse auf ihrem Diktiergerät festzuhalten.

»… mehrere … kurz und schräg … saubere Schnittkante … äußere Jugularvenen … Arteria carotis … Larynx und Trachea …«

Der Chefinspektor konnte sich aus den aufgeschnappten Wortfetzen zwar einen groben Reim machen, war aber dennoch kribbelig, mehr aus ihrem Mund zu erfahren. Er nahm wahr, wie die Gerichtsmedizinerin in ihre Tasche langte. »Thermometer«, flüsterte er und nickte zufrieden, als er sah, dass er recht gehabt hatte. Um sich das nervenaufreibende Warten zu verkürzen, hatte er es sich zum Sport gemacht, zu erraten, welche Utensilien als Nächstes zum Einsatz kämen. Nachdem die Temperaturmessung von Leiche und Umgebung abgeschlossen war, tippte er auf eine Pinzette zur Überprüfung der Totenstarre an den Augenlidern und lag wieder richtig. Danach arbeitete sich Sonja Adelmann über die Kiefermuskulatur und die Sprunggelenke bis zu den Extremitäten vor, um sich nach abgeschlossener Rigor-Mortis-Dokumentation schließlich eingehend der Schnittwunde zuzuwenden.

»Lineal. Gewonnen.«

»Messsonde. Treffer.«

»Spatel. Daneben.« Statt sich den Fingernägeln der Toten zu widmen, entnahm Sonja Adelmann ihrer Tasche Bürste und Röhrchen für die Entnahme von Haut-, DNA-, Blut- oder sonstigen Umweltspuren und machte sich damit an der Halswunde zu schaffen. Danach begann sie unter Zuhilfenahme einer Schere, die Leiche zu entkleiden. Sepp Semper hatte fürs Erste genug gesehen. Hinter der Tatortabsperrung reckten Gaffer ihre Hälse und übten sich in abenteuerlichen Verrenkungen, um einen Blick auf das Opfer oder, noch besser, einen Schnappschuss zu ergattern. Die von der Tatortgruppe errichtete Barriere aus Bändern und Sichtschutzparavents machte ihnen jedoch einen Strich durch die Rechnung. Der Chefinspektor gesellte sich zu seinen Ermittlerkollegen, die sich am Rand des Tatorts platziert hatten.

»Wer hat die Tote eigentlich gefunden?«

Markus Steiner deutete auf einen jungen Mann in Laufkleidung, der im Heck eines Rettungsfahrzeugs Platz genommen hatte. »Sein Name ist Herwig Fritsch. Er hat die Leiche um vier Uhr zweiundvierzig bei seiner frühmorgendlichen Laufrunde entdeckt und sofort den Polizeinotruf gewählt. Ist ziemlich mitgenommen …«, fasste er nach einem Blick in sein Notizbuch zusammen.

»Gut. Ich werde ihm dann auch noch ein paar Fragen stellen, möchte aber Sonjas Erstbericht abwarten.«

Die Männer beobachteten, wie ein Pärchen, das versuchte, die Absperrung zu ignorieren, von der Tatortgruppe zurückgedrängt wurde.

»Wie die Aasgeier«, kommentierte Christoph Leitner mit einer Kopfbewegung in Richtung der Schaulustigen.

»Ich habe nie verstanden, was Menschen dazu antreibt, sich an Katastrophen zu ergötzen.« Sepp Semper schüttelte angewidert den Kopf.

»Was tut man nicht alles für Likes und einen Tag Social-Media-Ruhm.«

»Teilweise steht dahinter einfach ein natürliches Informationsbedürfnis im Zusammenhang mit der Schockbewältigung.« Sonja Adelmann hatte ihre vorläufige Untersuchung beendet und sich unbemerkt dem Ermittlertrio genähert. »Außerdem versichert man sich durch den hautnahen Kontakt mit dem Leid anderer der eigenen Unversehrtheit. Ist also bis zu einem gewissen Grad normales menschliches Verhalten. Krank ist allerdings der Drang, durch verstörende Fotos und Videos auf Facebook, YouTube und dergleichen Aufmerksamkeit zu bekommen und sich wichtig zu fühlen.«

»Die Unverschämtheit hat definitiv zugenommen«, konstatierte der Ermittlungsleiter und wurde reihum durch Kopfnicken bestätigt. »Was hast du für uns, Sonja?«

»Todesursache Verbluten aufgrund der Verletzungen von Halsschlagader und Jugularvenen. Die Schnittwunden sind eher kurz und schräg, keine lange, kontinuierliche Bewegung. Das legt nahe, dass ihr die Kehle von vorne durchgeschnitten wurde. Der Fundort ist mit Sicherheit auch der Tatort. Die aufgrund des hohen Blutverlusts schwach ausgebildeten Totenflecken am Rücken stimmen mit der Lage der Toten überein. Die Leiche wurde also nicht mehr bewegt. Außerdem konfluieren sie bereits, und in Anbetracht der Körpertemperatur und der noch nicht vollständig ausgeprägten Rigor Mortis würde ich erst mal schätzen, dass die Frau seit mindestens vier und maximal sieben Stunden tot ist.«

Christoph Leitner warf einen Blick auf seine Uhr. »Also zwischen dreiundzwanzig Uhr dreißig und zwei Uhr dreißig.«

»Hast du sonst noch was für uns, Sonja?«

»Weitere Verletzungen konnte ich keine feststellen, dafür aber blaue Flecken an beiden Seiten knapp unter dem Schlüsselbein. Es sieht aus, als ob sie gestoßen wurde. Etwa so …« Sie demonstrierte den Stoß an Sepp Semper, der einen Schritt nach hinten machen musste, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. »Alles Weitere nach der Obduktion. Kümmerst du dich um die Anordnung vom Staatsanwalt?«

Der Chefinspektor nickte. »Danke, Sonja. Dann machen wir mal hier weiter. Halt mich auf dem Laufenden.«

Die Gerichtsmedizinerin tippte sich kurz mit Zeige- und Mittelfinger an die Schläfe und machte sich daran, den Abtransport der Toten zu überwachen und sicherzustellen, dass dabei keine Spuren beschädigt wurden.

»Ich möchte mir noch selbst ein Bild vom Zeugen machen. Kommst du mit?« Nachdem seine rechte Hand mit einem Nicken zugestimmt hatte, wandte sich der Ermittlungsleiter an den jüngsten Kollegen im Team. »Wir treffen uns dann um halb elf zur ersten Lagebesprechung im Büro. Sie wissen, was Sie zu tun haben?«

Markus Steiner bewegte eifrig sein rundliches Haupt auf und ab. Nachdem sein Chef sich Richtung Rettungswagen aufgemacht hatte, zupfte er jedoch Christoph Leitner am Ärmel. »Also, ich trommle mal das Team zusammen und versuche, das soziale und berufliche Umfeld des Opfers zu erheben? Und Peter soll schauen, was er aus ihrem Handy herausholen kann?«

Der Abteilungsinspektor gab einen bekräftigenden Laut von sich, war sich jedoch unklar, ob er die Unsicherheit seines Kollegen amüsant oder enervierend finden sollte. »Roswitha soll sich einen Überblick über die finanzielle Situation des Opfers verschaffen. Das schadet nie. Und Markus, trau dich ruhig, eigene Entscheidungen zu treffen.«