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Wenn dir die Liebe eine zweite Chance schenkt, ergreif sie!
Camilles perfektes Leben verwandelt sich von einem Tag auf den anderen in einen Scherbenhaufen. Ohne den geliebten Mann an ihrer Seite wagt sie einen Neuanfang, weit weg von der Heimat Albuquerque im Süden der USA. In Green Valley, einem traumhaften Weinanbaugebiet in der Nähe von New York, begegnet sie dem charismatischen Kyren. Es knistert sehr schnell zwischen den beiden und alles scheint perfekt zu sein. Bis Camille mit einem Mal klar wird, dass die Beziehung zu Kyren in dieselbe Richtung geht, die sie schon einmal erlebt hat und die sie am Ende alleine dastehen ließ. Eine Entwicklung, die ihr das Herz gebrochen hat.
In ihrer Angst macht sie einen Rückzieher und setzt damit alles aufs Spiel. Denn plötzlich geht es nicht mehr nur um sie und Kyren, sondern auch um die Vergangenheit.
Ein in sich abgeschlossener Liebesroman aus der Feder von Mareile Raphael mit tiefen Emotionen, Leidenschaft und Drama.
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Green Valley Love
Liebesroman
Von Mareile Raphael
Inhaltsverzeichnis
Titel
Copyright
Info
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
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Nachwort
Danksagung
Herzensprojekt
Impressum
COPYRIGHT
1. Auflage September 2022
Copyright © Mareile Raphael
Covergestaltung:Benisa Werbung (www.benisa-werbung.de)
Foto Mann: Kiselev Andrey Valerevich / Shutterstock
Foto Weingegend: Jag_cz / Shutterstock
Lektorat: Susanne Pavlovic (https://www.textehexe.com)
Korrektorat: Schreibservice More
Alle Rechte vorbehalten.
Unbefugte Nutzung, wie Vervielfältigung, Verbreitung, Übertragung oder Nachdruck – auch auszugsweise – nur mit schriftlicher Genehmigung der Autorin.
Personen und Handlungen sind frei erfunden.
Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Menschen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
INFO
Zum Buch:
Wenn sich dein Leben von einem Tag auf den anderen komplett ändert, kann ein Neuanfang die Lösung sein. Für Camille ist es so. Sie zieht in eine andere Gegend und findet dort eine neue Liebe.
Doch die Vergangenheit lässt sich nicht so einfach abschütteln.
Ein Liebesroman voller tiefer Gefühle, die prickeln wie Schaumwein.
Zur Autorin:
Mareile Raphael wurde im Norden Niedersachsens geboren und lebt dort bis heute.
Geschrieben hat sie schon seit ihrer Jugend, anfangs zumeist Kurzgeschichten. Der Mut für eine längere Geschichte kam erst 2014 und so entstand schließlich ihr erster Roman.
Informationen über die Autorin und ihre jeweils aktuellen Projekte findet man auf ihrer Facebook-Seite.
KAPITEL 1
~ Camille ~
Ein vorsichtiger Griff um meine Schultern, der mich näher zieht. Lippen, die einen Kuss auf mein Haar drücken. Ein vielsagender Seufzer.
Mir schießen die Tränen in die Augen. Wie so oft in den letzten Tagen.
Er ist weg.
Einfach gegangen.
Hat mich hier alleine zurückgelassen.
Was soll ich denn jetzt machen? Ohne ihn?
»Warum hat er das getan?« Meine Stimme hört sich fremd an. So zittrig, gedämpft, irgendwie tot. »Wie kann er mich alleine lassen? Ich habe niemanden mehr.«
»Hey, du bist nicht alleine, Camille. Ich bin doch hier und Jeffrey ist auch kaum noch von deiner Seite wegzudenken.« Marylins Antwort wird von einer festen Umarmung begleitet, die mich trösten soll. Aber sie tröstet mich nicht, nein, sie erstickt mich fast.
Eine von der Art, die ich in den letzten Tagen zu viel erhalten habe. Vor allem von Jeffrey.
Vorsichtig löse ich mich von meiner Freundin, stehe auf, atme tief ein. Marylin erhebt sich ebenfalls und sieht mich eindringlich an.
»Oder ist genau das dein Problem? Weil er immer da ist? Dich an Justin erinnert, mit allem, was er tut?«
Ich nicke zaghaft.
»Jedes Mal, wenn er mich berührt, möchte ich schreien, dass er mich nicht anfassen soll.«
Marylin streckt eine Hand nach mir aus, stellt aber keinen Kontakt her. Erst als ich ihr entgegenkomme, streicht sie mir über den Arm.
»Dann sag ihm das.«
»Ich kann nicht«, antworte ich leise.
Das bringe ich nicht übers Herz. Ohne Jeffrey wäre ich in den letzten Tagen verloren gewesen. Er hat mich aufgefangen, unterstützt, bei Entscheidungen beraten, sich um alles gekümmert. Und doch ist mir seine Nähe zu viel. Ich brauche Abstand.
Von ihm, von der Familie, von allem, was mich an Justin erinnert. Niemand kann mir das geben, was er mir gegeben hat.
»Wieso nicht?«, fragt Marylin und unterbricht damit meine Gedanken.
»Wegen der Situation. Ich kann mich doch nicht von ihm trösten lassen, ohne ihm etwas zurückzugeben.«
»Du schuldest ihm gar nichts.« In den Augen meiner Freundin blitzt es auf. »Ihm nicht und auch sonst niemandem. Du denkst jetzt an dich. Damit du mit dem Schicksalsschlag fertig wirst. Jeffrey wird das entweder verstehen oder es zumindest respektieren, basta.«
Marylins Blick wird milder. Sie lächelt mich an, als sie ihre Hand an meine Wange legt.
»Es tut dir vielleicht ganz gut, wenn du nicht jeden Tag Justins Zwillingsbruder um dich hast.«
Ja, sie hat recht und auch wieder nicht. Jeffrey ist das Ebenbild von Justin. Sie haben dasselbe Aussehen, das zuvorkommende Benehmen, ihre Wortwahl und Gesten ähneln sich – Zwillinge eben. Aber er wird nie an seinen Bruder heranreichen. Justins Ausstrahlung, sein Charme, die Präsenz bleiben einzigartig. Auch wenn Jeffrey von jeher danach strebt, wird er all das nie erreichen.
Er ist nicht Justin.
Er ist nicht mein Partner.
Er ist nicht der Mann, der bis vor wenigen Tagen mein Lebensinhalt war.
Er. Ist. Es. Einfach. Nicht.
»Für mich ist Jeffrey nur eine Hülle, die ausschaut wie Justin. Ich weiß das und doch tut es mir weh, ihn anzusehen. Weil ich mir dann nichts sehnlicher wünsche, als meinen Justin zurückzubekommen.«
»Genau das habe ich gemeint«, antwortet Marylin. Ihr Daumen streicht über meine Wange. »Das ist alles zu viel. Du siehst so müde aus. Willst du dich hinlegen?«
»Ich habe nicht mehr geschlafen, seit …« Die Worte bleiben mir im Halse stecken. Noch immer kann ich es nicht aussprechen. Werde ich es jemals können?
»Versuch es trotzdem. Schluck eine von den Tabletten, die der Doc dir verschrieben hat.« Behutsam nimmt meine Freundin mich in den Arm. Ohne großen Druck, mit einem Hauch Abstand zwischen uns. »Damit du schläfst und nicht wieder grübelst. Versprich es mir, Camille.«
»Ja.«
»Gut.« Erleichtert atmet sie auf. Sie löst sich von mir und schaut mich aufmunternd an.
Ich zwinge mich zu einem leichten Lächeln, damit ich ihr weniger Sorgen bereite.
»Du solltest dich auf den Nachhauseweg machen. Es war ein langer Tag. Ich verspreche, dass ich mich hinlegen werde.«
»Ich weiß, es ist schwer, Camille. Aber du schaffst das! Melde dich, wenn du etwas brauchst.« Sie haucht mir einen Kuss auf die Wange.
»Das werde ich. Danke.«
Sie lächelt mich an, dann wendet sie sich zum Gehen. Einen Moment später fällt die Tür ins Schloss.
Ich bin alleine. In einer Wohnung, deren Stille mich erdrückt. Eine Stille, die es nicht gab, solange Justin hier mit mir gelebt hat. Selbst wenn er nicht zu Hause war, füllte seine Aura jeden Raum, sodass ich ihn immer um mich gespürt habe. Jetzt ist das nicht mehr so. Er ist weg und mit ihm seine Präsenz. Ich vermisse ihn so sehr.
Ohne Tabletten werde ich nur wieder Albträume haben. Also nehme ich eine. Dann schnappe ich mir das Kopfkissen von Justins Bettseite, drücke es gegen meinen Bauch und setze mich auf die Bettkante. Auf dem Nachtschränkchen liegt der Prospekt, den wir letzte Woche bekommen haben. Ich greife danach.
Tränen steigen mir in die Augen. Ich hatte nicht mal Gelegenheit, Justin die Seite zu zeigen, die meine Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat. Mit der Fingerspitze streiche ich über das Bild. Es ist ein Traum. Nein, es war ein Traum. Einer, der geplatzt ist, von einem Tag auf den anderen. Ohne Justin hat er sein Flair verloren, obwohl es kaum etwas gibt, das ich mir jemals mehr gewünscht habe.
Dabei hatte ich mir bereits alles so schön ausgemalt. Wie ich es ihm schmackhaft mache. Vor allem, wie er darauf reagieren würde. Allein die Vorstellung davon verstärkt meine Tränenflut. Schniefend drücke ich sein Kissen an meine Brust, lege mich hin, ziehe die Beine an und gebe mich dem hin, was sich nun nicht mehr erfüllen wird. Aber träumen darf ich davon noch, das kann mir keiner nehmen – nicht mal Justin.
~~~
Ich habe an einem sonnigen Abend auf dem Dach des Appartementhauses alles vorbereitet …
Lächelnd zünde ich die letzte Kerze an und betrachte das Arrangement. Ja, alles ist perfekt, so wie Justin es von mir gewohnt ist. Das Besteck liegt mit exaktem Abstand zu den Tellern, die mittig auf den Tischsets stehen. Die Gläser weisen nicht eine Schliere auf und wurden ebenfalls genau ausgerichtet. Sogar jedes Blütenblatt, das von mir auf dem Tischläufer dekoriert wurde, hat einen festgelegten Platz, damit es ein stimmiges Bild ergibt. Die romantische Stimmung passt zu dem, was ich ihm vorschlagen möchte. Es ist Zeit für einen neuen Abschnitt in unserem Leben – einen aufregenden neuen Abschnitt.
»Camille?« Justins Stimme, die sich immer anhört, als hätte er ein Kratzen im Hals, holt mich aus der verträumten Betrachtung des Tisches.
Einen Moment später höre ich seine Schritte auf den Holzdielen, mit denen wir unseren Teil der Dachterrasse ausgelegt haben. Ein energisches Voranschreiten, das sein gesamtes Leben widerspiegelt. Er hat meine Nachricht also gefunden und sich gleich auf den Weg gemacht.
Lächelnd warte ich darauf, dass er um die Ecke des Dachaufbaus biegt. Und dann ist es so weit. Noch in seinem schönen dunkelgrauen Anzug, den wir letzten Monat zusammen gekauft haben, aber schon mit gelockerter Krawatte, kommt er in mein Blickfeld. Groß, stattliche Erscheinung, gut aussehend; mit einem liebevollen Blick, der nur mir gilt, mich in jeder Situation wärmt; und seinem einnehmenden Lächeln, das sich in einen erstaunten Ausdruck wandelt, als er den Tisch erblickt, marschiert er auf mich zu. Ich gehe ihm ein paar Schritte entgegen. Als wir voreinander stehen, schaue ich zu ihm auf.
»Hallo, Mr. Pearson, ich habe Sie vermisst.«
Er beugt sich zu mir herunter und drückt mir einen sanften Kuss auf die Lippen.
»Nicht so sehr wie ich Sie, Ms. Pearson.«
Unsere Finger verschränken sich, während die Blicke miteinander verschmelzen. Es kribbelt in meinem Bauch, so wie jedes Mal, wenn Justin mich berührt. So war es vom ersten Moment an und so ist es auch jetzt noch, obwohl inzwischen über fünf Jahre vergangen sind. Nur er löst dieses Prickeln aus, das in Windeseile durch meinen gesamten Körper rauscht.
Ein weiteres Mal legt er seine Lippen auf meine. Seine Zärtlichkeit lässt mir die Knie weich werden. Das Duell unserer Zungen ist herausfordernd, obwohl sie behutsam vorgehen. Dieser Kuss ist süßer als das Dessert, das ich für uns vorbereitet habe.
»Sag mal, habe ich etwa einen besonderen Tag vergessen?«, erkundigt Justin sich zwischen zwei Küssen. Bevor ich antworten kann, hat er meinen Mund jedoch schon wieder verschlossen. Noch einmal schmecken wir die Süße unseres Kusses, bevor wir uns atemlos voneinander trennen.
»Heute könnte ein besonderer Tag werden, doch bisher ist er es nicht«, sage ich. »Entschuldige, natürlich ist dies ein besonderer Tag, denn das ist ja jeder, den ich mit dir erleben darf.«
Ein Grinsen breitet sich auf dem Gesicht meines Mannes aus.
»Da hast du ja gerade noch mal die Kurve gekriegt, mon amour.« Seine Fingerspitzen streichen über meine Wange. »Und wie hast du dir die Krönung des Abends vorgestellt?«
Mit mehreren schnellen Wimpernschlägen schaue ich zu ihm auf. Prompt entfährt ihm ein Lachen.
»Dafür hättest du nicht so viel Aufwand betreiben müssen. Ein Candle-Light-Dinner auf dem Dach, mitten in der Woche, braucht es für so einen Wunsch nicht.« Er tritt einen Schritt zurück und betrachtet mich. Ich kneife unwillkürlich die Oberschenkel zusammen. »Wow, du siehst heiß aus, ma chérie. Dieses aufregende Kleid ist Anlass genug, um dich mit allen Sinnen zu verwöhnen.«
Mit einem glühenden Blick zieht er mich wieder zu sich heran.
»Gut zu wissen«, flüstere ich ihm zu, während ich mich strecke und sanft in sein Ohrläppchen beiße. »Vorher habe ich noch einen Vorschlag für dich. Aber zuerst wird gegessen.«
Justins Augen weiten sich. Ich erwarte den Versuch, mich umzustimmen. Doch er hält seine Neugierde im Zaum, ist wie immer bis in die letzte Faser beherrscht. Wieder einmal bewundere ich die Disziplin, die er dank seiner exzellenten Erziehung an den Tag legt. Mich würde die Ungeduld an den Rand des Wahnsinns treiben. Er jedoch umfasst völlig ruhig meine Hand und führt mich zum Tisch. Nachdem er mir den Stuhl zurechtgerückt hat, haucht er mir einen Kuss auf den Hals, der mich erschaudern lässt. Bevor er sich ebenfalls hinsetzt, nimmt er die Flasche des Circle Rieslings, den ich ausgesucht habe, und wirft einen prüfenden Blick aufs Etikett.
»Oh, unser Jahrgang«, stellt er mit einem Augenzwinkern fest. »Ein in allen Belangen sehr gutes Jahr, nicht nur für diesen Weißwein.«
Ich lächle vielsagend, ohne zu verraten, dass es noch einen anderen Grund gibt, warum ich gerade diesen Wein gewählt habe. Denn nicht nur der Jahrgang ist von Bedeutung, sondern vielleicht bald auch das Anbaugebiet.
Während des Essens unterhalten wir uns über den Tag. Justin erzählt von seinen geschäftlichen Terminen und erkundigt sich nach der Charity-Veranstaltung, die ich am Nachmittag zugunsten einiger städtischer Kinderheime abgehalten habe. Die Organisation hat viel Zeit und Mühe in Anspruch genommen. Ich bin immer noch ganz aufgeregt, weil der Erlös alle Erwartungen übertroffen hat.
Justin greift über den Tisch und drückt meine Hand.
»Es ist unglaublich, wie erfolgreich du das Projekt betreibst. Du verschaffst den Kindern eine liebevolle Betreuung und Zukunftsmöglichkeiten, die sie sonst nicht hätten. Ich bin stolz auf dich.«
Sein Lob bringt mich zum Strahlen. Im Gegensatz zu seiner Mutter, für die ich nie genug Einsatz bei den karitativen Aufgaben zeige, weiß er meine Arbeit zu schätzen. Mit ihm kann ich die Erfolge feiern, für die meine Schwiegermutter nur ein müdes Lächeln übrig hat.
Als ich nach dem für ihn so wichtigen Vertragsabschluss frage, verrät er mit stolzgeschwellter Brust, dass es zu einer Unterschrift unter dem Vertrag gekommen ist. Ich freue mich mit ihm, hebe mein Glas und proste ihm zu.
Was für ein fantastischer Tag, an dem wir beide einen Erfolg zu verzeichnen haben. Wir sind in bester Laune, genießen unser Beisammensein, das gute Essen, die laue Abendluft und die Ruhe um uns herum.
Als wir beim Dessert sind, beginne ich, dem Vorschlag entgegenzufiebern, den ich Justin unterbreiten will. Kaum habe ich den Löffel beiseitegelegt, atme ich tief durch und fahre mir mit der Zungenspitze über die Lippen. Justin beobachtet mich grinsend. Dann steht er plötzlich auf, tippt auf der kleinen mobilen Stereoanlage herum, bis ein bestimmter Titel gespielt wird, der mir einen wohligen Schauer über den Rücken jagt, und reicht mir mit einem Zwinkern die Hand.
»Sie spielen unser Lied. Darf ich um diesen Tanz bitten, mon amour?«
Mit einem festen Griff um meine Taille macht er die ersten Schritte. Ich schließe die Augen, lasse mich von ihm im Takt hin und her wiegen, genieße seine Führung, folge mühelos jeder Bewegung. Wir harmonieren einfach perfekt miteinander. So war es vom ersten Augenblick an und so wird es immer sein. Wir verstehen uns ohne Worte. Am Ende des Lieds bleibt Justin stehen, legt die Hände auf meine Hüften, und ich weiß: Es ist Zeit für die Enthüllung.
Ich berühre seine Wange, spüre die feinen Bartstoppeln an den Fingerspitzen, die sich seit der Rasur heute Morgen den Weg in die Freiheit gesucht haben.
»Es gibt da etwas, das ich dir gerne zeigen würde.«
Sanft löse ich mich von ihm und gehe zu dem Regal, auf dem die Stereoanlage steht. Unter einem Stapel Stoffservietten hole ich das Hochglanzprospekt hervor. Dann umfasse ich die Hand meines Mannes und führe ihn zum Tisch zurück. Nachdem er sich gesetzt hat, mache ich es mir auf seinem Schoß gemütlich, blättere zu einer bestimmten Seite und lege den Prospekt aufgeschlagen auf die Tischplatte. Justins liest den ersten Absatz der Anzeige laut vor.
»Erfüllen Sie sich jetzt den Traum von einer dreihundert Quadratmeter Wohnfläche umfassenden Villa inklusive zwei großzügigen Gästehäusern inmitten eines Weinguts am Seneca Lake im Bundesstaat New York.«
Ich warte den Moment ab, bis er wieder zu mir sieht.
»Es ist an der Zeit, Honey«, sage ich lächelnd. »Du, ich, dieses wunderbare Anwesen umgeben von Weinbergen und die Vollendung unserer Liebe.«
»Augenblick mal.« Eine Furche bildet sich über seiner Nasenwurzel. »Bist du etwa schon …?«
»Nein, natürlich nicht.« Kopfschüttelnd erwidere ich seinen Blick. »Glaubst du im Ernst, ich will mit Morgenübelkeit einen Umzug organisieren? Ich halte mich an unseren Plan: Erst suchen wir uns ein gemütliches Plätzchen in einem kleinen, beschaulichen Ort mit geringer Kriminalität und dann machen wir uns an die Familienplanung.«
Justin atmet hörbar aus.
»Und dieses Anwesen erfüllt all deine Erwartungen?«
Ich nicke begeistert.
»Es ist besser als alles, was ich mir jemals erträumt habe. Sieh doch nur. Das Grundstück liegt ideal. Etwas außerhalb der Stadt, in fußläufiger Nähe zum Seneca Lake. Man fährt durch die Weinberge zum Wohnhaus. Weiter hinten gibt es noch zwei Bungalows, die sich geradezu als Gästehäuser anbieten. Das Haupthaus ist groß und perfekt aufgeteilt. Wir hätten genug Platz, um Gäste zu empfangen, und jedes der Kinder könnte ein eigenes Zimmer haben.«
Justin zieht für einen Moment die Brauen hoch.
»Was ist?«, frage ich verwundert.
»Wieso steht das Thema Familie bei dir mit einem Mal so im Vordergrund?«
»Keine Ahnung.« Ich zucke mit den Schultern. Dann streiche ich ihm sanft über die Wange. Liebevoll sehe ich ihm in die Augen. »Vielleicht, weil ich nicht genug von dir bekommen kann und einfach alles von dir will. Ich möchte nicht nur den Heimkindern ein besseres Leben ermöglichen, sondern auch unseren eigenen ein perfektes Umfeld bieten.«
»Aber ich habe mein Versprechen noch nicht eingelöst, dir die Welt zu Füßen zu legen.«
»Das machst du doch jeden Tag, indem du mir deine Liebe schenkst.« Langsam senke ich den Kopf, bis sich unsere Lippen berühren. »Bitte«, murmle ich zwischen zwei Küssen.
Justin zieht sich ein Stück zurück.
»Mir gefallen deine Überzeugungsversuche. Also gut: Zeig mir auch den Rest.«
»Vom Prospekt oder von mir?«
Lachend drückt Justin mich eng an sich. Er streicht mein Haar zur Seite, küsst meinen Hals, lässt mich erschaudern.
»Vom Prospekt«, raunt er mir zu. »Mein Geschenk packe ich aus, sobald wir in der Wohnung sind.«
Ich versuche, das angenehme Ziehen in meinem Unterleib zu ignorieren. Ein weiteres Mal küsse ich ihn sanft, dann deute ich auf das Verkaufsangebot. Wir diskutieren jeden Aspekt und nach einer halben Stunde zeigt sich ein zufriedener Ausdruck auf Justins Gesicht.
»Du hast wirklich an alles gedacht. Trotzdem habe ich noch eine Frage. Nein, eigentlich sind es zwei.«
»Ja?«
»Erstens: Was ist aus Südkalifornien geworden? Dort gibt es auch sehr schöne Weinanbaugebiete.«
»Ja, ich weiß, dass wir immer Südkalifornien im Sinn hatten. Aber das hier …«, dabei tippe ich auf die Anzeige, »vereint alles, was wir uns erträumt haben: Die Weitläufigkeit inmitten von Weinbergen und ein großzügiges Haus, das perfekt für eine Familie ist. Vergiss die North Coast Region. Unsere Zukunft liegt am Seneca Lake auf genau diesem Grundstück. Das sagt mir mein Bauchgefühl.«
Prompt streichen Justins Finger über meine Körpermitte. Die zarte Berührung sorgt für ein Kribbeln, das mich aus dem Takt bringt. Ich räuspere mich und umfasse seine Hand.
»Der Circle Riesling, den wir zum Essen hatten, stammt übrigens von dort.«
»Das ist mir nicht entgangen«, erwidert Justin grinsend. »Okay, machen wir einen Termin zur Besichtigung aus. Es kann nicht schaden, sich die Gegend mal anzusehen. Sehen wir es als einen Wochenendtrip. Den schulde ich dir nach deinem großen Erfolg heute.«
»Oh, Justin, du bist der Beste.« Mit einem langen, leidenschaftlichen Kuss zeige ich ihm meine Dankbarkeit.
»Was ist die zweite Frage?«, erkundige ich mich.
Er grinst mich erneut an und schiebt mein Kleid hoch, um die Oberschenkel freizulegen. Seine Finger suchen sich einen Weg in Richtung meines Slips. Unwillkürlich halte ich den Atem an.
»Wir müssen viel üben, damit es schnell etwas mit dem Nachwuchs wird, sobald wir umgezogen sind«, raunt er mir zu. »Das bringt mich zu Frage zwei: Fangen wir sofort an?«
Bevor ich dafür meine volle Zustimmung zum Ausdruck bringen kann, verschließt Justin meinen Mund mit dem süßesten Kuss dieses Abends. Seine Zungenspitze fordert mich heraus, während die Finger zwischen meinen Schenkeln den Stoff zur Seite schieben, der den Ort verdeckt, an dem es bereits feucht wird.
~~~
Mit tränenüberströmtem Gesicht presse ich das Kissen fester an meine Brust. Ja, so wäre es gewesen, wenn ich die Gelegenheit für diesen Abend bekommen hätte.
»Oh, Justin, warum nur hast du uns nicht die Chance dafür gegeben?«
KAPITEL 2
~ Camille ~
Einige Monate später …
Ich hake einen weiteren Punkt auf meiner Liste ab. Dann wende ich mich Jeffrey zu, der seinen Kaffeebecher seufzend abstellt.
»Musst du das unbedingt machen? Ich halte das für keine gute Idee. Du, ganz allein, so weit weg.« Jeffreys Stimme klingt vorwurfsvoll.
Wie oft habe ich diese Frage in den letzten Wochen gehört? Ich kann es schon nicht mehr zählen. Niemand, wirklich absolut niemand aus meinem Freundes- und Bekanntenkreis scheint mir den Schritt zuzutrauen. Und jetzt fängt auch noch Jeffrey damit an. Man, das nervt! Wieso glaubt eigentlich jeder, dass ich vor Einsamkeit umkommen werde?
Weil ich schon ewig nicht mehr in allen Belangen auf mich alleine gestellt war, regt sich meine innere Stimme.
Genervt schüttle ich den Kopf. Nach einem tiefen Atemzug versuche ich, ruhig auf Jeffreys Äußerung zu antworten.
»Ich kann nicht hierbleiben. Wegen Justin bin ich nach New Mexico gezogen, für Justin habe ich hier in Albuquerque gelebt; es war Justins Wunsch, dass ich mich um die Wohnung kümmere; er hatte die Idee für meine Charity-Tätigkeit, sein Einfluss hat mir die Türen dafür geöffnet. Doch jetzt ist er nicht mehr an meiner Seite. Ohne ihn hat das alles keine Bedeutung für mich.«
»Das verstehe ich.« Jeffrey legt einen Arm um meine Schulter und zieht mich zu sich heran. »Aber muss es deswegen gleich ein anderer Bundesstaat sein? Noch dazu im Nordosten? Ein Haus in einem Ort, ach was sag ich: einem Kaff, in dem sich Fuchs und Hase Gute Nacht sagen? Was willst du denn dort ganz alleine machen?«
»Wenn ich gehe, kann ich Justin vielleicht hinter mir lassen«, antworte ich leise.
»Und das würden eine andere Wohnung oder eine neue Beschäftigung hier nicht schaffen?« Seine Umarmung wird fester. Der Kuss auf mein Haar lässt mich erschaudern.
Ich befreie mich aus seinem Griff und stehe auf. Jeffrey sieht mich ein paar Sekunden nachdenklich an, dann erhebt er sich ebenfalls. Als er den Arm in meine Richtung ausstreckt, weiche ich unwillkürlich zurück.
Nicht anfassen, möchte ich schreien. Aber ich bleibe stumm – wieder einmal. Nur mein Blick zeigt, was meine Lippen nicht formen können. Ich schaffe es nicht, ihm klipp und klar zu sagen, dass er nicht die Leere in mir ausfüllen kann, die sein Bruder hinterlassen hat. Niemand kann das.
»Hier werde ich nicht mehr glücklich«, erkläre ich.
»So einfach soll das sein? Weggehen und alles vergessen?« Jeffrey fährt sich durch die Haare, zupft die Strähne in der Stirn zurecht.
Ich muss den Blick abwenden. Justin hat das auf dieselbe Art und Weise getan. Die kleine Geste reicht aus, um dem Schmerz neue Nahrung zu geben.
»Glaub mir, du wirst die Traurigkeit mitnehmen«, spricht Jeffrey weiter.
Immer wieder schön, wenn man Freunde hat, die einen verstehen. Nur scheine ich davon überhaupt keine abbekommen zu haben. Stattdessen prophezeien mir alle, dass ich einen riesigen Fehler mache und noch unglücklicher sein werde. Ich seufze innerlich auf. Noch unglücklicher? Sie haben keine Ahnung. Ich bin bereits ganz unten, schlimmer kann es nicht werden. Oder doch?
Zweifelnd sehe ich meinen Schwager an, hoffe auf ein Fünkchen Verständnis, wenigstens ein aufmunterndes Wort. Vergeblich.
»Du solltest jetzt gehen, Jeffrey. Ich habe einiges zu erledigen.«
In seinem Blick steht das Angebot, mir zu helfen. Er tritt einen Schritt näher, wahrt allerdings so viel Abstand, dass ich nicht erneut flüchten will. Als er die Hände in die Hosentaschen steckt, sie regelrecht darin vergräbt, schüttle ich den Kopf.
»Ich muss das alleine tun«, sage ich mit einem aufgesetzten Lächeln. »Komm, ich bringe dich zur Tür.«
Dort angekommen lege ich die Hand auf die Klinke und wende mich ihm zu.
»Danke für deine Unterstützung in den letzten Monaten.«
Ein vages Lächeln zeigt sich auf seinen Zügen. Die Augen bekommen für einen kurzen Moment einen Glanz, den ich lange nicht mehr bei ihm gesehen habe.
»Ich bin immer für dich da, Camille, vergiss das nicht.«
Sekundenlang sehen wir uns an. Dann nicke ich, öffne die Tür und trete beiseite.
»Auf Wiedersehen, Jeffrey.«
***
Einige Wochen später lehne ich ein anderes Hilfsangebot, mich bei der Vorbereitung des Umzugs zu unterstützen, nicht ab. Es kommt von Marylin, die ich zur Begrüßung in die Arme nehme.
»Ich kann wirklich ein paar helfende Hände gebrauchen. Im Arbeitszimmer muss noch alles eingepackt, in der Küche die Lebensmittel aussortiert und im Wohnzimmer die Bilder in Luftpolsterfolie eingewickelt werden.«
Meine Freundin denkt kurz nach und entscheidet sich für das Arbeitszimmer. Dankbar sehe ich sie an. Ich habe gehofft, dass ich um diese Aufgabe herumkomme. Dort verbinde ich mit jedem Stift, den Justin und ich gemeinsam genutzt, jedem Notizzettel, ja, sogar jeder Büroklammer Erinnerungen an wunderbare Zeiten, in denen ich mich so lebendig gefühlt habe. Es ist schlimmer als in den restlichen Zimmern der Wohnung.
Zwei Stunden später ist der Raum nicht wiederzuerkennen. Anstelle von prall gefüllten Regalen macht sich Trostlosigkeit breit. Nur die Kartons, die fein säuberlich aneinandergereiht sind, lassen darauf schließen, dass hier mal Leben geherrscht hat. Ein sehr produktives, erfolgreiches Schaffen.
»Was ist mit diesen Sachen? Wenn ich das richtig sehe, sind das deine Studienunterlagen.« Marylin greift nach der gebundenen Ausgabe meiner Bachelorarbeit. »Bachelor in Medienwissenschaften. Faszinierend, dass du davon Ahnung hast. War auch nur ein Wort des Inhalts jemals hilfreich bei den ganzen Veranstaltungen, die du organisiert hast?«
»Charity hat sogar eine Menge mit guter Werbung zu tun«, entgegne ich.
Doch Marylin wischt mein Argument mit einer einzigen Handbewegung weg.
»Meiner Meinung nach hatten die ganzen guten Kontakte der Pearsons einen wesentlichen Anteil daran, dass die Partys, Spendensammlungen oder Versteigerungen so gut angenommen wurden. Helen Pearson schlägt man so schnell eben nichts ab.« Marylin klimpert mit den Wimpern und als sie den Kopf in einer kecken Haltung schief legt, bilden sich an ihren Augen Lachfältchen. Obwohl sie nur scherzt, steckt ein Fünkchen Wahrheit in ihrer Aussage.
Es stimmt, dass meine Schwiegermutter mit ihrer resoluten, aber dennoch freundlich-vornehmen Art viel dazu beigetragen hat. Doch ich habe ebenfalls einen Anteil am Erfolg und konnte einiges von dem umsetzen, was ich während des Studiums gelernt hatte. Allerdings wäre ich ohne Justins Einwirken niemals auf die Idee gekommen, mich ehrenamtlich für benachteiligte Kinder zu engagieren.
»Das alles kann sicher ins Altpapier, oder? Aus den Augen, aus dem Sinn – ganz nach deinem Motto.«
»Nein, die Studienunterlagen sind ein Teil meines Lebens. Die wirfst du nicht weg!«
Meine Freundin sieht mich mit weit aufgerissenen Augen an.
»Das alles hier«, dabei macht sie eine Handbewegung durch den Raum, »ist ein Teil deines Lebens und doch trennst du dich davon. Aber ausgerechnet den alten Kram willst du behalten? Da hast du bestimmt nicht mehr reingeschaut, seit …« Sie stockt kurz, spricht dann jedoch weiter. »Seitdem er dir damals über den Weg gelaufen ist.«
»Es war ein Fehler, niemals wieder hineingeschaut zu haben«, entgegne ich. »Deswegen will ich jetzt nicht den nächsten machen und die Studienunterlagen achtlos wegwerfen. Pack sie bitte zusammen mit den Schreibtischutensilien in einem Umzugskarton und stell ihn unter die Treppe. Den Rest holt Jeffrey nachher ab.«
»Apropos Jeffrey …« Marylin springt sofort auf den Namen an. »Was hält er eigentlich von deinem Ortswechsel?«
»Ist mir egal, was er davon hält. Es geht ihn nichts an. Er ist nur mein Schwager und selbst darauf könnte ich verzichten.«
»Stimmt«, antwortet meine Freundin mit einem Augenzwinkern. Den Punkt sieht sie genauso. Schließlich kennt sie Jeffrey ebenso lange wie ich und hat dieselbe Meinung über ihn. Eine Auffassung, die wir ihm allerdings nie gesagt haben. Er leidet schon genug darunter, der Zwillingsbruder des erfolgreichen, charismatischen Justin Pearson zu sein. Ein Bruder, mit dem er sein ganzes Leben lang nie Schritt halten konnte. Jeffrey hätten Marylin und ich keines zweiten Blickes gewürdigt, wenn wir ihm unabhängig von Justin begegnet wären. Ich brauche ihn nicht in meinem Leben, kann auf seine Ansichten verzichten, und Marylin teilt diese Meinung.
»Unwichtig«, murmle ich vor mich hin. Jeffrey liegt demnächst genauso hinter mir wie sein Bruder – auch wenn mein Verstand das in Bezug auf Justin noch immer nicht glaubt.
Nachdem ich am Abend die Haustür hinter Marylin geschlossen habe, schenke ich mir ein Glas Rotwein ein. Die Flasche des besonderen Circle Riesling aus der Gegend, in der ich mir mit Justin unseren Traum erfüllen wollte, habe ich im Weinregal absichtlich ignoriert. Davon würde ich keinen Tropfen herunterbekommen. Der trockene Rotwein mit der bitteren Note ist das Gegenteil des edlen Weißweins und deswegen die richtige Wahl.
»Cheers!« Ich hebe mein Glas in Richtung einer gerahmten Fotografie von Justin. Wehmut kommt auf und wieder einmal treten mir die Tränen in die Augen.
Der Moment, als ich das Foto geschossen habe, ist mir noch genau in Erinnerung. Es war in unseren Flitterwochen. Mein wundervoller Ehemann stand am Strand und schaute auf den Sonnenuntergang. Das Bild wollte ich festhalten und hob deshalb die Kamera an. Kaum hatte ich mein Ziel anvisiert, drehte Justin sich zu mir um. Auf den Lippen dieses charmante Lächeln, mit dem er mich bei unserer ersten Begegnung verzaubert hatte. Die Farbe seiner Augen entsprach exakt dem Blau des Meeres hinter ihm, die blonden Haare hatten durch das Orangerot der untergehenden Sonne einen goldenen Schimmer. Perfekter konnten sein Anblick und das Gesamtbild nicht sein. Bei seinem liebevollen Blick vergaß ich fast, auf den Auslöser zu drücken.
Was gäbe ich dafür, uns noch einmal zu diesem Moment zurückbeamen zu können. So viel Schönes könnten wir wiederholen, ein zweites Mal erleben, in vollen Zügen genießen. Ja, das würde ich tun: Jede Sekunde wahrnehmen, bis ins Letzte ausschöpfen und vor allem die entscheidende Situation ändern.
Doch es geht nicht. Ich muss nach vorne schauen, den Tatsachen ins Auge blicken. Mir bleiben nur ein Foto, ein Glas Wein, ein Zuprosten und die Hoffnung, dass ich diesen Albtraum irgendwann hinter mir lassen kann.
***
Zehn Tage später ist der Moment des endgültigen Abschieds gekommen. Nachdem ich mich ein letztes Mal mit den beiden Männern, die den Umzugswagen fahren werden, bezüglich der Zwischenstopps abgesprochen habe, wende ich mich Marylin zu und breite die Arme aus. Sie umarmt mich und drückt mich fest an sich. Eine Träne rollt über ihre Wange.
»Letzte Chance, es dir noch einmal anders zu überlegen«, schluchzt sie.
Im selben Augenblick fährt der Umzugswagen an. Ich sehe es als eine Bestätigung dessen, was ich vorhabe.
»Zu spät«, flüstere ich. Dann nehme ich den Kopf zurück, um meiner Freundin in die Augen schauen zu können. »Glaub mir, es ist richtig so. Ich muss hier weg. In den letzten Tagen hatte ich das Gefühl, dass mich jeder Zentimeter in Albuquerque an Justin erinnert. Er ist in dieser Stadt allgegenwärtig, so komme ich einfach nicht von ihm los. Es hemmt mich in jeder Hinsicht. Wenn ich hierbleibe, würde ich nur dasitzen und darauf warten, dass er zurückkommt.«
»Deine Schritte sind immer so krass«, schnieft Marylin. »Hätte es nicht gereicht, nach Santa Fe zu ziehen? Muss es gleich der Nordosten sein? Ich werde nie verstehen, wie du auf die Idee gekommen bist, dir ausgerechnet dort ein Haus zu kaufen? Gab es keine andere Möglichkeit, das Geld von Justin sinnvoll einzusetzen?«
Die Antworten bleibe ich ihr schuldig. Genauso wie ich sie allen anderen nicht beantwortet habe. Niemand weiß, welcher Traum ursprünglich hinter dem Umzug steckt. Es soll auch keiner erfahren. Das bleibt mein kleines Geheimnis. Justin und ich wollten immer auf ein Weingut umziehen. Irgendwann einmal. Aus dem »Gemeinsam irgendwann« ist ein »Alleine jetzt« geworden. Die Erfüllung eines Traums kann es trotzdem noch werden. Ein Traum, den ich nun alleine umsetze. Wenn ich schon auf ein Leben mit Justin verzichten muss, dann will ich wenigstens an dieser Idee festhalten und schauen, ob sie mich auch ohne ihn an meiner Seite glücklich macht.
»Ich muss los, schließlich liegt eine lange Fahrt vor mir.«
Marylin löst sich von mir und reibt sich übers Gesicht.
»Das ist zusätzlich so ein Punkt, der mir nicht gefällt«, grummelt sie. »Dass du die Strecke ganz alleine meistern willst. Spinnst du eigentlich? Es sind bestimmt über zweitausend Meilen. Das ist alleine viel zu anstrengend.«
Oh, es ist wirklich nötig, dass ich diese Gegend verlasse und mit ihr alle Leute, die mich als Justin Pearsons Ehefrau kennen. Hier traut mir niemand etwas zu, nicht einmal, dass ich eine längere Strecke mit dem Auto fahre.
Obwohl ich sauer bin, lächle ich meine Freundin an. Dann richte ich den Rücken gerade und hebe demonstrativ den Kopf. Dadurch bin ich ein klein wenig größer als sie, was mir in dem Moment guttut.
»Es sind nicht ganz zweitausend Meilen und ich kann das sehr wohl alleine«, sage ich mit fester Stimme. »Ich habe mir einen Streckenplan gemacht, der ausreichend Pausen vorsieht. In drei Tagen sollte ich in Green Valley sein, dann melde ich mich bei dir.«
»Oh nein«, protestiert Marylin prompt. Sie tippt mit dem Zeigefinger auf meine Brust. »Du wirst mich jeden Abend anrufen, damit ich weiß, dass alles in Ordnung ist.«
»Ich schicke dir zwischendurch immer mal eine Nachricht.«
Als meine Freundin erneut etwas einwerfen will, schüttle ich mit bösem Blick den Kopf. Sie schließt den Mund und senkt den Arm.
Gut so! Es ist nie zu spät, den Leuten zu zeigen, dass ich mehr als Justin Pearsons Ehefrau bin. Es war okay, solange er an meiner Seite war. Doch jetzt, ohne ihn, werde ich mein Leben auch alleine meistern.
Hoffentlich.
Ein letztes Mal nehme ich Marylin kurz in den Arm, drücke ihr einen Kuss auf die Wange und steige danach, ohne zu zögern, in meinen Wagen ein. Ich starte den Motor und winke ich ihr ein letztes Mal zu. Dann geht es los. Vor mir liegen knapp zweitausend Meilen sowie ein neues, komplett anderes Leben.
Ich kann es kaum erwarten!
KAPITEL 3
~ Kyren ~
Zufrieden lasse ich meinen Blick durch den Raum schweifen, in dem die Maschine vor sich hin brummt, die die Trauben von den Stielen trennt. Das Entrappen der Beeren geht gut voran, heute Abend werden wir die letzte Maische für diese Beerensorte ansetzen können. Noch zufriedener wäre ich allerdings, wenn ich endlich den Zuschlag zum Kauf der Davenport-Weinberge bekäme, um die Lese zu starten. Alles ist bereit, wir warten nur auf das Okay.
Warum dauert das alles so lange? Derek muss doch klar sein, dass wir das Abernten nicht ewig hinausschieben können. Sollen die Trauben an den Rispen vergammeln? Carla wird sich im Grab umdrehen, wenn ihre Beeren dieses Jahr nicht verarbeitet werden, weil Derek Hastings mir mein Gewohnheitsrecht nicht zugestehen will, solange die stille Versteigerung der Weinberge im Gange ist.
Zum Teufel mit dir, Bürgermeister Hastings.
Wer außer mir soll die Traubenlese denn durchführen? Die Beeren sind kurz vor der Reifung. Es wäre der beste Verschnitt für den Schaumwein, den ich seit Jahren produzieren will. Allein Carlas Weigerung, etwas anderes als einen Pinot-Qualitätswein aus ihren Trauben zu machen, hat mich bisher davon abgehalten. Aber jetzt, nach ihrem Tod, kann ich mir meinen Traum erfüllen. Nur der Zuschlag für die Davenport-Rebstöcke fehlt. So nahe war ich meinem Lebenstraum noch nie.
Verdammt, Derek, spring endlich über deinen Schatten!
»Kyren?« Die Stimme meines Vorarbeiters holt mich ins Hier und Jetzt zurück. Stirnrunzelnd wende ich mich Mike zu.
»Ja?«
»Es gehen Gerüchte um.«
»Gerüchte?«
»Harry hat da was in Bezug auf das Davenport-Grundstück gehört. Es soll verkauft worden sein. An stinkreiche Leute.«
Was?
Ich versuche, mich zu sammeln, atme erst mal tief durch. Das darf doch nicht wahr sein? Verkauft? Die Davenport-Weinberge? Nein, nein, nein.
Ein weiterer intensiver Atemzug, dann schüttle ich den Kopf.
»Die Frist zum Abgeben eines Gebots für die stille Versteigerung ist erst gestern abgelaufen. Wie kann das Grundstück da schon verkauft sein?« Ich wische das Gerücht mit einer Handbewegung weg. »Harry muss da was missverstanden haben.«
»Wenn du meinst. Willst du ihn selber fragen?«
»Nein, ich brauche Fakten aus erster Hand und werde daher direkt bei Derek Hastings nachhaken, wie weit die Sache mit der stillen Versteigerung ist. Er schuldet mir sowieso noch die Zusage für die Lese der Davenport-Trauben.«
Auf dem Weg zur Tür wird mir bewusst, dass ich Mike einfach so stehengelassen habe. Shit. Zerknirscht drehe ich mich noch einmal zu meinem Mitarbeiter um.
»Danke, Mike. Kannst du bitte alles für die Maische vorbereiten? Ich bin so schnell wie möglich zurück.«
»Zurück?«, wiederholt mein Vorarbeiter überrascht. »Wir wollten doch in einer Viertelstunde im Büro die Vorbestellungen durchgehen. Warum rufst du ihn nicht einfach an?«
»Weil man solche wichtigen Sachen persönlich klärt. Außerdem will ich, dass er mir in die Augen sieht, wenn er mir sagt, wer in diesem Jahr die Davenport-Beeren erntet.«
***
»Ungültig? Soll das ein Scherz sein? Wieso ist die stille Versteigerung auf einmal ungültig?« Schnaubend stütze ich mich auf Dereks Schreibtisch ab und starre ihn aufgebracht an.
Missbilligend erwidert er meinen Blick. So lange, bis ich mich wieder aufrecht hinstelle. Was allerdings nicht das Geringste an meiner Stimmung ändert.
Was zum Teufel ist hier eigentlich los?
»Möchtest du dich nicht hinsetzen?« Derek weist auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch. »Dann erkläre ich dir alles – in Ruhe.«
Nur widerwillig komme ich dem Angebot nach. Ich weiß, er wird mich zappeln lassen, solange ich so aufgebracht vor ihm stehe. Da wir seit Kindheitstagen befreundet sind, kennt er mich zu gut und ihm ist klar, wie erpicht ich auf die Davenport-Trauben bin. Was ich jetzt gar nicht gebrauchen kann, ist ein neuer Eigentümer. Die stille Versteigerung darf nicht ungültig sein. Das Höchstgebot wird von mir stammen, da niemand so viel für diese Weinberge hinblättern würde wie ich. Nicht einmal Olivier Dupont. Wenn die Gerüchte stimmen, wird er nicht genug Geld zusammenkratzen können. Darauf, die Weinberge zu übernehmen, habe ich jahrelang hingearbeitet. Das kann alles nicht vergebens gewesen sein. Über das Engagement und meine Ambitionen ist Derek im Bilde und dieses Wissen erlaubt es ihm, mich ein Stück weit in der Hand zu haben. Eine Position, die er genießt, das ist ihm deutlich anzusehen.
Ich muss ruhig bleiben, ihm keine Angriffsfläche bieten. Scheiße, wie soll das gehen, wenn er breitgrinsend vor mir sitzt?
Nach einem tiefen Atemzug lehne ich mich betont lässig auf dem Stuhl zurück.
»Also los, was ist mit der Versteigerung passiert, dass du plötzlich glaubst, sie für ungültig erklären zu müssen? Und viel wichtiger: Wann läuft die Frist für den zweiten Versuch ab?«
Ich wippe mit der Fußspitze auf und ab. Sobald Derek mit der neuen Frist rausrückt, leite ich alles in die Wege. Niemand, wirklich absolut niemand, nimmt mir die Chance auf die Pinot-noir-Trauben der Davenports.
Vorsichtshalber werde ich das Gebot noch aufstocken, falls mein Betrag durchgesickert sein sollte. Oder Dupont doch die Zusage für einen hohen Kredit von der Bank bekommen hat.
»Es wird keine neue Versteigerung geben«, erklärt mir da das gewählte Oberhaupt unseres Ortes.
Ich springe auf.
»Wieso nicht? Was soll das?«
»Kyren, setz dich wieder hin!«
Statt der Aufforderung nachzukommen, schiebe ich den Stuhl zur Seite und fange an, durch den Raum zu laufen.
Nein, nein, nein, das kann nur ein Scherz sein. Er will mich aufziehen. Mich hinhalten, meine Geduld testen. Gleich setzt er ein triumphierendes Lachen auf, verkündet, dass ich das Höchstgebot abgegeben habe, und klopft sich vor Freude über meinen Ausraster auf die Schenkel.
Doch nichts dergleichen passiert. Auch als ich stehen bleibe und ihn ansehe, erfolgt keine Reaktion. Ich verstehe überhaupt nichts mehr.
»Derek, lass den Scheiß. Du weißt, dass ich auf die Davenport-Weinberge scharf bin. Nun spann mich nicht länger auf die Folter. Ich gebe dir heute Abend im Gegenzug einen aus.«
»Setz dich wieder hin!«, wiederholt er ungerührt seine Aufforderung.
Er scheint es wirklich ernst zu meinen. Das macht mich unruhig. Hier ist doch was im Busch. Etwas, das ich offenbar erst erfahre, wenn ich wie ein treues Hündchen Dereks Befehl folge. Obwohl es mir mehr als widerstrebt, tue ich, was er will.
»Kyren, bleib ruhig, okay?«, sagt er, kaum dass ich sitze. »Wir mussten die Versteigerung für ungültig erklären, nachdem Carlas Anwalt uns einen Vertrag vorgelegt hat.