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Gregory Bateson (1904–1980) gilt als die Schlüsselfigur in der Entwicklung sowohl einer ökosystemischen Weltsicht als auch systemischer Therapie. Seine Texte zu Themen der Anthropologie, Biologie, Philosophie, Kulturtheorie, Kybernetik, Kommunikationstheorie oder Schizophrenieforschung gehören zu den einflussreichsten Arbeiten auf diesen Gebieten. Wolfram Lutterer liefert erstmals eine kurz gefasste und gut lesbare Einführung in das Gesamtwerk Batesons. Das Buch vermittelt nicht nur die Entwicklung und die wesentlichen Inhalte von Batesons Werk, der Autor macht auch deutlich, warum Bateson immer noch und immer wieder neu rezipiert wird.
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Seitenzahl: 173
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Wolfram Lutterer
Eine Einführung in sein Denken
Dritte Auflage, 2020
Mitglieder des wissenschaftlichen Beirats des Carl-Auer Verlags:
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Umschlaggestaltung: nach Goebel/Riemer
Satz: Verlagsservice Hegele, Heiligkreuzsteinach
Printed in Germany
Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck
Dritte Auflage, 2020
ISBN 978-3-8497-0348-6 (Printausgabe)
ISBN 978-3-8497-8233-7 (ePUB)
© 2002, 2020 Carl-Auer-Systeme Verlag und Verlagsbuchhandlung GmbH, Heidelberg
Alle Rechte vorbehalten
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Tel. +49 6221 6438-0 • Fax +49 6221 6438-22
Einleitung
1 Ethnologische Forschung
1.1 Neuguinea: Unter den Kopfjägern
1.2 Erste Strategien
1.3 Naven: Das Konzept der Schismogenese
1.4 Bali: Muster stabiler Gesellschaft
1.5 Lockeres und strenges Denken
2 Kulturvergleich
2.1 Kulturvergleich in Naven
2.2 Der Kontext des Lernens
2.3 Filmanalyse
2.4 Förderung von Moral
2.5 Wertmaßstäbe innerhalb vereinigter Nationen
3 Theorie des Lernens
3.1 Deutero-Lernen und Charakterbildung
3.2 Logische Kategorien im Prozess des Lernens
3.3 Rezeption und Kritik der Theorie
4 Theorie der Kommunikation
4.1 Das amerikanische System gegen europäische Systeme
4.2 Philosophische Annäherung
4.3 Wechsel der Paradigmen
5 Exkurs zur Kybernetik
5.1 Die Josiah-Macy-Konferenzen
5.2 Was ist Rückkoppelung?
5.3 Kybernetik bei Bateson
6 Pathologien der Kommunikation
6.1 Die Double-bind-Theorie
6.2 Fortführung der Double-bind-Theorie
6.3 Nachbemerkung zum Double-bind
7 Kybernetische Erkenntnistheorie
7.1 Unterschiede, die einen Unterschied machen
7.2 Die Definition von Geist
7.3 Bewusstsein als systematische Auswahl
7.4 Die Idee der Macht
7.5 Modus Gras
7.6 Das Muster, das verbindet
8 Religion
8.1 Wo Engel zögern …
8.2 Pathogenes Bewusstsein
8.3 Bateson als Hohepriester?
8.4 Batesons Schöpfungsmythos
9 Von den Kopfjägern bis zu kybernetischen Geistern
9.1 Vier Pathologien
9.2 Praxis des Denkens
Wozu systemische Theorie?Ein Nachwort zur zweiten Auflage
Biografie
Literatur
Über den Autor
Denkmodelle, welche die Wirklichkeit ausschließlich über Kausalität, also über Ketten von Ursachen und Wirkungen, erklären wollen, erweisen sich in immer höherem Maße als unzureichend. Man kann damit zwar (scheinbar) ohne weiteres Phänomene wie vom Baum fallende Äpfel erklären, wird aber beim Versuch einer Analyse der Komplexität belebter Welt kläglich scheitern. Die Reduktion komplexer Zusammenhänge, wie man sie beispielsweise bei der Zuweisung von Täter- und Opferrollen vollzieht, macht es zwar leicht, einen Schuldigen zu benennen, verdeckt aber derart den Blick für die größeren Zusammenhänge, dass ein solches Verfahren selten angebracht erscheint.
Nicht zufällig ist daher in der Mitte des 20. Jahrhunderts die Kybernetik entstanden, deren zentrales Anliegen in der Entwicklung eines Instrumentariums zur Analyse zirkulärer Prozesse bestand. Diese anfangs im Bereich der Neurophysiologie und den Ingenieurswissenschaften entwickelte Disziplin hat schon bald Eingang in die Sozialwissenschaften gefunden. Dort machte sie den Weg frei für ein verbessertes Verständnis menschlicher Kommunikation in ihrer Komplexität und in möglichen Paradoxien und Pathologien. Die damit zugleich erfolgende Entwicklung systemischen Denkens verdankt viel den Arbeiten des angloamerikanischen Anthropologen Gregory Bateson (1904–1980).
Dieses Buch dient zu einer Einführung in sein Denken und Werk. Es ist in neun Kapitel untergliedert, wobei das fünfte Kapitel einen Exkurs zur Kybernetik darstellt und das neunte Kapitel einige zusammenfassende Erörterungen enthält. Im Anhang findet sich eine kurze Biografie Batesons.
Die sieben Kapitel 1–4 und 6–8 folgen sieben wesentlichen Stationen in Batesons wissenschaftlichem Lebensweg. Sie reihen sich weitgehend chronologisch aneinander. Die erste dieser Stationen besteht in seiner ethnologischen Forschungsarbeit, die er von 1927 bis 1942 schrieb und die ihn zu einem Kopfjägerstamm nach Neuguinea sowie nach Bali führte. Batesons 1936 erschienenes Naven lässt schon viel von jenem Denken erahnen, das ihn später auszeichnet. Als zweites Kapitel sind verschiedene Studien im Rahmen des Kulturvergleichs gebündelt: Arbeiten, die insbesondere während des Zweiten Weltkrieges entstanden, als keine ethnologische Feldarbeit mehr möglich war, und die sich von einer Filmanalyse über Studien zur Moral bis hin zu einer ersten Fassung von Batesons Lerntheorie erstrecken. Diese Lerntheorie bildet aufgrund ihres für Batesons Werk grundlegenden Charakters auch den Inhalt des dritten Kapitels dieser Arbeit. Das nachfolgende vierte Kapitel skizziert Batesons 1951 veröffentlichte Kommunikationstheorie, die zugleich auch den Ausgangspunkt bildet für seine berühmte Double-bind-Theorie aus dem Jahre 1956, Gegenstand des sechsten Kapitels. Das siebte und achte Kapitel dienen zu einer einführenden Beschreibung seiner kybernetischen Erkenntnistheorie sowie seinen Analysen zu pathogenem Bewusstsein.
Diese Einführung in Batesons Werk steht parallel zu einer umfangreicheren Veröffentlichung zum Gesamtwerk Batesons unter dem Titel Auf den Spuren ökologischen Bewusstseins (Lutterer 2000). Sie bezweckt, dem Leser oder der Leserin, der oder die vielleicht durch die Beschäftigung mit moderner Familientherapie bzw. systemischer Therapie auf Bateson neugierig geworden ist, in einer kurz gefassten Einführung Bateson zugänglich zu machen. Dies wird zwar gewiss nicht die Lektüre von Kommunikation, der Ökologie des Geistes oder Geist und Natur ersetzen können, aber vielleicht macht diese kleine Einführung ja auch Appetit auf mehr.
Ich möchte an dieser Stelle noch darauf hinweisen, dass die gewöhnlich vollzogene Reduktion des Denkens Batesons auf Double-bind, Deutero-Lernen oder Metakommunikation ihm keinesfalls gerecht wird. Für ihn waren all diese Theorien immer nur Elemente einer ungleich breiter angelegten Sichtweise, deren er selbst sich erst in den späten Sechzigerjahren bewusst wurde. Damals, als die ökologische Krise erstmals breiteren Bevölkerungsschichten zu Bewusstsein kam, verdichtete er seinen erkenntnistheoretischen Entwurf zu einer kybernetischen Erkenntnistheorie, mit der er die drohende Selbstvernichtung der Menschheit in ihren geistigen Wurzeln zu ergründen suchte, Lösungsansätze zu einer veränderten Sicht der Stellung des Menschen in der Welt erarbeitete und dabei auch vor einer kybernetischen Rekonstruktion des Wesens der Religion nicht Halt machte.
Den gesamten Bereich von Batesons Beiträgen zur Wissenschaft hier darstellen und hinreichend analysieren zu wollen wäre vermessen und kann hier leider ebenso wenig geleistet werden wie an anderer Stelle. Sowohl Kommunikationstheorie als auch Double-bind-Theorie und Erkenntnistheorie wären gewiss jede für sich ausreichend Stoff für eine eigene Arbeit gewesen. Es werden also nur jeweils einige wesentliche Aussagen diskutiert werden können. Im Detail wird eine gedrängte Darstellung wie diese sicher immer zu kurz greifen. Dafür aber wird eine Gesamtdarstellung geliefert, die Aufschluss über ein Konzept gibt, das gleicherweise anwendbar wie auch theoretisch fundiert ist. Zugunsten des größeren Ganzen ergeben sich also Lücken im Detail.
Zitate im Text sind sämtlich in deutscher Übersetzung wiedergegeben. Wenn im Literaturverzeichnis kein Übersetzer angegeben ist, stammt diese von mir. Des Weiteren werden sämtliche Veröffentlichungen, an denen Bateson beteiligt war, ohne Rücksicht auf etwaige Ko-Autorschaft im Text unter Batesons Namen zitiert. Die Jahresangaben bei den Zitaten entsprechen dem Jahr der Erstveröffentlichung. Gedankt sei an dieser Stelle insbesondere dem Carl-Auer-Systeme Verlag für sein nachhaltiges Interesse an batesonschem Denken.
Bateson unternimmt drei größere ethnologische Forschungsreisen. Die ersten beiden führen ihn nach Neuguinea, wo er das Volk der Iatmul studiert, die dritte zusammen mit Margaret Mead nach Bali. Dort erstellen die beiden gemeinsam die erste umfangreichere fotografische und filmische Studie in der Ethnologie. Die Reisen haben zum Ziel, über das Studium fremder Kulturen Einblicke in die Prozesse sozialer Evolution und der Charakterbildung zu gewinnen.
In den Jahren 1929 bis 1934 verbringt Bateson einmal sechs und einmal 15 Monate bei den Iatmul, einem Kopfjägerstamm auf Neuguinea. Zuvor war er bereits für insgesamt 15 Monate bei zwei anderen Völkern in Neuguinea gewesen, den Baining und den Sulka; allerdings war es ihm dort nicht gelungen, Gewinn bringende Forschungsarbeit zu leisten. Dem ersten Aufenthalt bei den Iatmul folgt eine ausführliche Beschreibung des Stammes unter dem Titel Social Structure of the Iatmul People of the Sepik River (1932b u. 1932c).
Der zweite Aufenthalt, der zur Bekanntschaft mit Margaret Mead führt, hat nach einem längerem Ringen Naven zum Resultat, eine Studie, die in ihrem vollen Titel einen ersten Eindruck des darin vollzogenen Spagats vermittelt: Naven. A Survey of the Problems suggested by a Composite Picture of the Culture of a New Guinea Tribe drawn from Three Points of View (1936a). Das Buch soll aus verschiedenen Blickwinkeln die Kultur der Iatmul analysieren und zugleich die Gültigkeit der dabei entwickelten Theorien überprüfen. Bateson selbst nennt dieses Buch später „plump und unbeholfen, in Teilen beinahe unleserlich“ (1958a, p. 281). Der britische Ethnologe Radcliffe-Brown, Mitbegründer des sozialwissenschaftlichen Funktionalismus, bezeichnet dagegen Bateson in einer Rezension als „gewissenhaften und fähigen Denker“ und Naven „sehr entschieden [als] ein empfehlenswertes Buch für nachdenkliche Leute“ (Radcliffe-Brown 1937).
Die Iatmul werden von Bateson als ein „feines, stolzes, kopfjagendes Volk“ (Bateson 1936a, p. 4) beschrieben, das in großen Dörfern mit 200 bis 1000 Menschen lebt. Auch heute siedeln die Iatmul noch am Sepik, einem breiten Fluss in Neuguinea, der ihnen sowohl als wichtigste Nahrungsquelle als auch als Transport- und Kommunikationsweg dient.
Von seiner ersten, sechsmonatigen Reise bringt Bateson das Eingeständnis mit, am Verständnis der Struktur ihrer Lebensführung gescheitert zu sein (1932c, p. 432). Sein erster Bericht über die Iatmul behilft sich mit klassischer Gliederung in Umgebung, Religion, Riten, Sozialverhalten und Mythen. Dies ergibt einen bunten Bilderbogen, mit dem er allem Anschein nach nicht sonderlich zufrieden ist.
Im Rahmen dieser Beschreibung wird allerdings das grundlegende Muster einer zweigeteilten Lebensorganisation theoretisch fruchtbar gemacht: Die beiden Geschlechter sind im täglichen Leben fast vollständig voneinander geschieden. Während sich die Frauen um Haushalt, Kinder und die Nahrungsversorgung kümmern, verbringen die Männer den Tag überwiegend in den für Frauen verbotenen Zeremonienhäusern oder organisieren groß angelegte Jagden.
Die Zweiteilung nimmt einen noch breiteren Raum ein: Die Dörfer sind strukturell in patrilineale und matrilineale Hälften geteilt, außerdem besteht eine Trennung von Generationen und Altersklassen, die sich in einer alternierenden Reihe vollzieht. So sind die Großväter ihren Enkeln mehr verbunden als Söhne ihren Vätern. Brüder sind überdies gewöhnlich untereinander bei Streitigkeiten dahin gehend verbündet, dass der erste und der dritte gegen den zweiten und vierten stehen. Auch die Musik kündet von Zweiheiten: Auf den großen Bambusflöten spielen die Männer jeweils paarweise. Nach ein, zwei Tönen ergänzt die stimmlich versetzte zweite Flöte die Töne der ersten. Konträr ist auch das Verhalten der Geschlechter. Während die Männer ein stolzes, prahlerisches und aggressives Verhalten zur Schau tragen, verhalten sich die Frauen ruhig und unauffällig.
Es gibt eine besondere Zeremonie, die Bateson zunächst nur beiläufig erwähnt, und diese heißt Naven. Naven ist eine spezifische Handlung, die der Bruder der Mutter eines Kindes vollzieht, wenn das Kind zum ersten Mal eine gesellschaftlich relevante Handlung durchführt. Die Spanne derartiger Handlungen reicht dabei vom erstmaligen Fangen eines Fisches bis zur ersten Tötung eines Menschen (bei Jungen). Entsprechend der Bedeutung der jeweiligen Handlung, wird das Naven nur kurz in Gestalt einer Geste ausgeführt oder aber mit einem großem Fest gefeiert. Die Naven-Zeremonie erweist sich später in dem gleichnamigen Buch Batesons als ein fundamentales Charakteristikum für die Organisation und den Zusammenhalt der Iatmul.
Neben der Kopfjagd, die zur Zeit des Besuchs von Bateson aufgrund von Verboten der Regierung nicht mehr praktiziert wurde, spielen Mythen eine zentrale Rolle. Jeder der zahlreichen Clans verfügt über eigene Mythen, in denen die gesamte erfahrene Welt sinnhaft verbunden wird. Diese Mythen sind strukturiert über die Namen der Ahnen eines Clans. Etliche der Männer scheinen über die Kenntnis mehrerer tausend Namen1 und damit über entsprechend hohen sozialen Status zu verfügen. Die Mythen jedes Clans sind geheim und dokumentieren über Namensverflechtungen Beziehungen zur gesamten Welt: Fische und Gebrauchsgegenstände ebenso wie die Ursprünge des Volkes und der Welt.
Anfang der Dreißigerjahre ist die Kultur der Iatmul jedoch im Niedergang begriffen. So sorgen aus der Ferne zurückkehrende Dorfmitglieder mit ihrem Hohn und ihrer Verachtung für die alten Sitten und Gebräuche für eine deutliche Desintegration. Den vorgefundenen Status quo konstatierend, spricht Bateson den Vorteil der Physiker, Chemiker und Biologen gegenüber den Sozialwissenschaftlern an. Sie alle verfügen über Möglichkeiten der Kontrolle über das untersuchte Material. Der Ethnologe dagegen stehe nicht nur allein in der Fremde, er müsse auch nehmen, was ihm geboten werde, und angesichts einer sterbenden Kultur so viel wie möglich ansammeln und damit zugleich die Rolle eines Anatomen, Physiologen und Genetikers übernehmen (1932c, p. 439 f.).
Angesichts derartiger Probleme nimmt Bateson Zuflucht zur Biologie. Diese bot sich ihm in besonderer Weise an: Er hatte anfangs, einer Familientradition folgend, Biologie studiert, bevor er dann in die Ethnologie überwechselte. Sein Vater William Bateson war ein bekannter Genetiker, der an der Wiederentdeckung der mendelschen Vererbungsgesetze mitbeteiligt war und auf den sogar der Begriff Genetik selbst zurückgeht. Von Kind auf war der nach Gregor Mendel benannte Gregory umgeben gewesen von Feldern mit Versuchspflanzen und Fragen nach Symmetrie und Vererbung, so berichtet Batesons Biograph David Lipset (1980, p. 28 f.).
Er versucht also, biologische Vorgehensweisen auf die Ethnologie zu übertragen. Als erste mögliche Analogie diskutiert er dabei die Unterteilung in Struktur und Funktion. Strukturen sind in der Biologie gewöhnlich unveränderliche Phänomene, Funktion steht für Veränderungen über eine gewisse Zeitspanne hinweg (Bateson 1932c, p. 440). Die Unterscheidung aber, was im ethnologischen Kontext als unveränderlich und was als sich verändernd anzusehen ist, ist nur schwer zu treffen. Daher erwies sich dieser Versuch der Analogiebildung als schwierig. Auf weiterer Suche nach passenden Analogien in der Biologie versucht er sich auch mit der Übertragung der Begriffe Morphologie und Physiologie.
Bateson attackiert bereits damals althergebrachtes Wissenschaftsverständnis. In einem Vortrag scheint er für seine Klassifikation der Iatmul als totemisch gerügt worden zu sein, weil deren Verhalten nicht allen der an Totemismus angelegten Kriterien gerecht werde. Er macht sich darüber lustig: Die Festsetzung und Auflistung irgendwelcher ausgewählter Merkmale sei einigermaßen lächerlich, weil stets willkürlich. Dadurch entstehe dann das ebenso lächerliche Ergebnis, dass man in dieser Denklogik die Iatmul aufgrund zu 75 % erfüllter Kriterien als in demselben Maße totemisch bezeichnen müsse.
Um von dieser Willkür wegzukommen, schlägt er vor, die drei biologischen Typen der Äquivalenz in die Ethnologie umzusetzen: Homologie, Analogie und Homonymie (1932c, p. 447). Ihre mögliche Verwendung in der Ethnologie beschreibt er zwar in Social Structure of the Iatmul, weicht aber in Naven von diesem Vorhaben wieder ab. Dort bleibt zwar die Dreiheit der Untersuchungsarten erhalten, doch stellt sie sich dort als eine Unterteilung in Ethos, Eidos und Soziologie dar. Dabei steht Ethos für die Untersuchung affektiver Beziehungen (emotional als folgerichtig angesehenes Verhalten), Eidos für die Untersuchung logischer und struktureller Beziehungen (Verhalten wird als logisch folgerichtig begriffen) und Soziologie für das Verhalten der Individuen in Bezug auf die Bedürfnisse der Gruppe (Solidarität der Gruppe wird gefördert oder nicht).
Das Konzept der Schismogenese bildet den Anfang jenes Denkens, das Bateson auszeichnet. Es wird Mitte der Dreißigerjahre nach dem zweiten Aufenthalt bei den Iatmul entwickelt. Ansatz dafür ist die Analyse des ethologischen Kontrasts (Bateson 1936a, p. 171). Dieser stellt sich dar in Form von Unterschieden hinsichtlich des affektiven Verhaltens von Individuen innerhalb einer Gruppe, so etwa in unterschiedlichen gefühlsbedingten Handlungen der beiden Geschlechter.
In der von Bateson dabei eingenommenen Position wird vorneweg auf die Beschreibungen von Individuen als unabhängigen, monadischen Einzelwesen verzichtet. Da sich Haltungen nur im Verhalten offenbaren können, besteht die zu vollziehende Analyse in der Untersuchung von Beziehungen. Dabei gibt er beispielsweise die Beschreibung eines Menschen als „unterwürfig“ auf zugunsten einer relationalen, systemischen Sichtweise: In welcher Beziehung, d. h. zu wem verhält sich jemand unterwürfig?
Bei den Iatmul findet Bateson Unterschiede zwischen dem Verhalten von Männern gegenüber Männern, Männern gegenüber Frauen und Frauen gegenüber Frauen. Letzteres wird als kooperativ (1936a, p. 148) beschrieben und in Naven nicht in demselben Maße analysiert wie die anderen beiden Verhaltensmuster. Das Interesse gilt bereits hier Abweichungen, möglichen Pathologien und sichtbar dynamischen Phänomenen.
Die Männer stehen bei den Iatmul gewöhnlich in einer intensiven Konkurrenz. Auf das Prahlen des einen antwortet der andere mit Prahlerei, was den Ersten wiederum zu verstärktem Prahlen animiert, wobei sich das gegenseitige Prahlen gegebenenfalls immer weiter aufschaukelt. Dieses Verhalten bezeichnet Bateson als symmetrisch. Soweit es keine gegenläufigen, deeskalierenden Tendenzen gibt, entwickelt sich eine solche Interaktion auf einen Zusammenbruch hin – eine „progressive Differenzierung“ ereignet sich, ein Prozess, den er als Schismogenese bezeichnet (1936a, p. 175 f.). Die Beziehung zwischen Männern und Frauen ist hingegen von einem anderen Charakter. Dort steht dominantes Verhalten der Männer gegen unterwürfiges der Frauen. Die Situation ist komplementär und gleichfalls instabil und somit schismogen.
Wie kann es aber trotz derartiger Tendenzen Stabilität innerhalb einer Kultur geben? In Naven geht Bateson davon aus, dass kleinere Beimengungen des je anderen Schismogenesetypus diesen Prozess auszugleichen imstande sind (p. 193). Kooperatives, reziprokes und damit nichtschismogenes Verhalten wird zwar als vorhanden erkannt (1935b*, S. 109)2, aber als mögliches Bindemittel nicht weiter diskutiert.
Im Nachwort zur 20 Jahre später erfolgten Zweitauflage von Naven stellt er jedoch ebendies als einen deutlichen Mangel des Konzepts fest. Die sich ausgleichenden Vermengungen der schismogenen Strukturen seien zufälligen Charakters und somit nicht hinreichend, den Prozess auszugleichen und Stabilität zu erzielen (1958a, p. 287). Das Konzept sei damit fehlgeschlagen.
Die von Bateson angeführten Orte eines möglichen Auftretens von Schismogenese verdeutlichen allerdings trotzdem die Relevanz des Gedankens und werfen zudem ein Licht auf künftig von ihm verfolgte Fragen. Er zählt vier Bereiche auf: (1) in engen Beziehungen zwischen Individuen, (2) in der „progressiven Fehlanpassung“ neurotischer und präpsychotischer Individuen, (3) in Kontakten unterschiedlicher Kulturen sowie (4) in der Politik; internationale Rivalitäten sind symmetrisch, Klassenkampf komplementär (1936a, p. 186). Die letzten beiden Punkte werden von ihm in den Vorkriegsjahren und während des Zweiten Weltkriegs weiterverfolgt, die Ersteren umschließen bereits die Frage nach der Verursachung von Schizophrenie und münden in die mit Jürgen Ruesch erarbeitete Kommunikationstheorie sowie Batesons Double-bind-Theorie als neuer Sicht von Pathologien menschlicher Beziehungen ein.
Zur Aufgabe des Schismogenesekonzeptes führt auch die gemeinsam mit Margaret Mead unternommene Forschungsreise nach Bali. Grund der Reise ist die Hoffnung auf Erweiterung von Hypothesen über weltweit vorherrschende Temperamente (Lipset 1980, p. 149). Bateson äußert rückblickend, dass er das Gefühl hatte, dass „dieses Hilfsmittel [die Schismogenese; W. L.] der neuen Aufgabe unangemessen war“ (1949a*, S. 157).
Nachdem sich Bateson und Mead 1932 in Neuguinea kennen gelernt hatten, heiraten sie im Jahre 1936. Aus der Ehe geht eine Tochter hervor, Mary Catherine Bateson, die ihrerseits ebenfalls Anthropologin wird. Die Ehe von Bateson hat Bestand bis 1946 und wird 1950 geschieden.
In Bali verbringen Bateson und Mead mit kurzen Unterbrechungen fast zwei Jahre, 1936 bis 1938. Das Resultat der gemeinsamen Arbeit ist Balinese Character (1942a), ein richtungweisendes Werk innerhalb der Ethnologie. Statt verbaler Beschreibung wird die fotografische Analyse als Mittel der Darstellung gewählt. Insgesamt 25 000 Fotos werden gemacht und etwa 7000 Meter Film gedreht. Balinese Character ist das Resultat einer Auswahl von 759 Fotos. Im Übrigen äußert sich Bateson in mehreren Aufsätzen zur Kultur der Balinesen.
Die Balinesen sind in ihrer Lebenshaltung sehr verschieden von den Iatmul. Während die Iatmul ebenso wie Europäer zur „Maximierung einfacher Variablen“ wie etwa Wohlstand tendieren (1949a*, S. 176), ist derartiges Verhalten den Balinesen fremd. Mehr noch, der Aufbau intensiver emotionaler Spannung wird so weit wie möglich vermieden. In der Erziehung bedeutet dies das Einhergehen von Stimulanz mit Frustration. Bateson und Mead illustrieren dies anhand des Beispiels einer Mutter, die einen kleinen Flirt mit ihrem Kind beginnt, d. h. es „an seinem Penis (zieht) oder es sonst irgendwie zu zwischenmenschlichen Aktivitäten (reizt)“ (S. 162). Erregt sich aber das Kind, wirft seine Arme um den Hals der Mutter, schweift ihre Aufmerksamkeit wieder ab. Zeigt das Kind daraufhin Wut, amüsiert sich die Mutter darüber. Zugleich (Bedingung, Folge oder ohne weiteren Zusammenhang?) zeigt sich die balinesische Gesellschaft als eine „Ökonomie des Überflusses“.
Der Widerspruch, der sich im Ethos der Balinesen gegen den Ethos der Iatmul zeigt, reizt das Abstraktionsvermögen Batesons. Sein Blickwinkel weitet sich: Bali, die stabile Gesellschaft, wird verglichen mit der westlichen, instabilen Zivilisation (1937, p. 111 f.). Über die Beobachtung einer Kultur wie der balinesischen erhoffen sich Bateson und Mead mitten im Zweiten Weltkrieg Hilfe bei dem Problem einer zu errichtenden Nachkriegsordnung (1942a, p. XVI).
Der Gegensatz zwischen den Balinesen einerseits und der Europäer wie Iatmul andererseits lässt sich an zwei weiteren Merkmalen festmachen: So kultivieren Europäer und Iatmul schismogene Beziehungen, die sich mit einer romantischen