Grenzfall - Hans G. Hirsch - E-Book

Grenzfall E-Book

Hans G. Hirsch

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Beschreibung

Wenn man das Leben in der DDR und auch in der BRD vor und nach der Grenzöffnung verstehen will, gibt dieses Buch eine abwechslungsreiche und gleichzeitig spannende Hilfestellung. Die Familien, die zunächst überhaupt nichts miteinander zu tun und auch räumlichen Abstand voneinander hatten, verknüpfen sich vor und nach dem Mauerfall 1989 durch ungeahnte Zufälle, die spannend beschrieben werden. Dabei kommt es zu einer rätselhaften Vergangenheitsbewältigung und sogar zu einem mysteriösen Mord - oder war es nur ein Unglücksfall, ein Missverständnis? Hintergrund und Ursache ist die Teilung Deutschlands nach Kriegsende 1945, durch immer mehr verstärkte Einsperrungen, sowie Grenzkontrollen, Stacheldraht, Minenfelder und abschließend durch den Mauerbau. Menschen können eine Mauer bauen! Aber es sind auch Menschen, die eine Mauer wieder einreißen können, wenn sie sich solidarisch verhalten und dabei sogar auf Gewalt verzichten. Die vier Familien in der Geschichte kommen aus Berlin-Köpenick (Ostberlin) und der Lutherstadt Wittenberg (Ostdeutschland), sowie aus Berlin-Charlottenburg (Westberlin) und Köln (Westdeutschland). Sie erleben die Zeit der Wende in ihrem eigenen Umfeld mit ganz besonderen Schicksalsschlägen, aber auch mit völlig ungeahnten Erfolgen. Schon ein kleiner Stein kann den Lauf eines Flusses ändern.

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für

Sarah Felix Niklas & Marie

Herzlichen Dank an Janina, Andy, Linda, Michael, Katharina und wie immer an Sybille

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Hauptpersonen im Roman

Samstag, 11. August 1990, Kleinmachnow, Brandenburg, Ostdeutschland

Mittwoch, 8. November 1989, Lutherstadt Wittenberg, Sachsen-Anhalt, Ostdeutschland

Donnerstag, 9. November 1989, Berlin-Köpenick, Ostdeutschland

Donnerstag, 9. November 1989, Berlin-Charlottenburg

Freitag, 10. November 1989, Köln-Sülz, Nordrhein-Westfalen, Westdeutschland

Freitag, 10. November 1989, Berlin-Köpenick, Ostdeutschland

Freitag, 10. November 1989, Lutherstadt Wittenberg, Sachsen-Anhalt, Ostdeutschland

Samstag, 11. November 1989, Berlin-Charlottenburg

Montag, 15. Januar 1990, Köln-Sülz, Nordrhein-Westfalen, Westdeutschland

Montag, 15. Januar 1990, Berlin-Köpenick, Ostdeutschland

Sonntag, 18. März 1990, Lutherstadt Wittenberg, Sachsen-Anhalt, Ostdeutschl

Sonntag, 18. März 1990, Köln, Nordrhein-Westfalen, Westdeutschland

Samstag, 12. Mai 1990, Lutherstadt Wittenberg, Sachsen-Anhalt, Ostdeutschland

Dienstag, 15. Mai 1990, Berlin-Köpenick, Ostdeutschland

Mittwoch, 16. Mai 1990, Köln-Sülz, Nordrhein-Westfalen, Westdeutschland

Samstag, 23. Juni 1990, Berlin-Köpenick, Ostdeutschland

Sonntag, 1. Juli 1990, Berlin-Charlottenburg

Sonntag, 8. Juli 1990, Lutherstadt Wittenberg, Sachsen-Anhalt, Ostdeutschland

Montag, 9. Juli 1990, Berlin-Charlottenburg

Montag, 9. Juli 1990, Köln-Sülz, Nordrhein-Westfalen, Westdeutschland

Dienstag, 10. Juli 1990, Berlin-Charlottenburg

Mittwoch, 11. Juli 1990, Tauberbischofsheim, Main-Tauber-Kreis, Westdeutschland

Mittwoch, 11. Juli 1990, Berlin-Charlottenburg

Donnerstag, 12. Juli 1990, am Vormittag, Main-Tauber-Kreis, Westdeutschland

Donnerstag, 12. Juli 1990, Köln-Sülz, Nordrhein-Westfalen, Westdeutschland

Donnerstag, 12. Juli 1990, Berlin-Charlottenburg

Donnerstag, 12. Juli 1990, Königshofen, Main-Tauber-Kreis, Westdeutschland

Donnerstag, 12. Juli 1990, Berlin-Charlottenburg

Donnerstag, 12. Juli 1990, Königshofen, Main-Tauber-Kreis, Westdeutschland

Freitag, 13. Juli 1990, Köln, Nordrhein-Westfalen, Westdeutschland

Freitag, 13. Juli 1990, Berlin-Charlottenburg

Sonntag, 15. Juli 1990, Köln-Sülz, Nordrhein-Westfalen, Westdeutschland

Sonntag, 15. Juli 1990, am frühen Morgen Königshofen, Main-Tauber-Kreis, Westdeutschland

Montag, 16. Juli 1990, West-Berlin

Dienstag, 17. Juli 1990, Wittenberg, Sachsen-Anhalt, Ostdeutschland

Dienstag, 17. Juli 1990, Berlin-Köpenick, Ost-Berlin

Dienstag, 17. Juli 1990, West-Berlin

Mittwoch, 18. Juli 1990, Wittenberg, Sachsen-Anhalt, Ostdeutschland

Donnerstag, 19. Juli 1990, Berlin-Charlottenburg

Donnerstag, 19. Juli 1990, Köln-Sülz, Nordrhein-Westfalen, Westdeutschland

Samstag, 21. Juli 1990, Berlin-Köpenick, Ostberlin

Samstag, 11. August 1990, Kleinmachnow, Brandenburg, Ostdeutschland

Samstag, 11. August 1990, Wittenberg, Sachsen-Anhalt, Ostdeutschland

Samstag, 11. August 1990, Köln-Sülz, Nordrhein-Westfalen, Westdeutschland

Samstag, 11. August 1990, Berlin-Köpenick, Ostdeutschland

Mittwoch, 3. Oktober 1990, Ost- und Westberlin

Samstag, 6. Oktober 1990, Olympiastadion Berlin

Epilog

Prolog

Die innerdeutsche Grenze zog sich auf einer Gesamtlänge von 1393 km mitten durch Deutschland. Sie trennte nicht nur die Ostdeutschen von den Westdeutschen, sondern auch zwei unterschiedliche politische, militärische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Systeme in Europa. Sie teilte 45 Jahre lang Städte und Dörfer, trennte Familien, Verwandte und Bekannte voneinander und prägte das Leben von Millionen Menschen … überwiegend im negativen Sinn.

In diesem Roman erleben vier Familien die Grenzöffnung und ihr ganz persönliches Schicksal, das teilweise miteinander verknüpft ist.

Titelbild und Rückseite zeigen Grenzsicherungsanlagen am Deutsch-Deutschen Museum Mödlareuth

Hauptpersonen im Roman

Familie aus Wittenberg (Ostdeutschland)

Herbert Schad Theresa Schad Ralph Schad Nora und Dora Schad

Familie aus Berlin-Köpenick (Ostberlin)

Maik Bauermann Mandy Bauermann Dieter Bauermann Jacqueline Bauermann

Familie aus Berlin-Charlottenburg (Westberlin)

Robert Zimmermann Johanna Zimmermann Andreas Zimmermann Isabel Zimmermann

Familie aus Köln (Westdeutschland)

Carla Held Heinz Held Jonas Held Linda Held

weitere Personen im Roman:

John Steinbeck, Buchautor Tom Joad, US-Bürger Woddy Guthrie, US-Folksänger und Menschenrechtler Erich Honecker, DDR-Staatsratsvorsitzender Lisa Burkert, Freundin von Theresa Schad Hans Dietrich Genscher, Außenminister BRD Egon Krenz, Generalsekretär des ZKs der SEDLothar Pianka, Freund von Dieter Bauermann Hans Mühleck, Freund von Dieter Bauermann Roland Conrad, Libero der U 18 von Union Berlin Uwe Bindewald, Fußballspieler, Eintracht Frankfurt Uli Stein, Torwart, Eintracht Frankfurt Fritz Stark, Bürger der DDR und IM Peter Fechner, DDR-Flüchting Herbert Neumann, Kollege von Maik Bauermann Johann Krebs, Geschäftsführer der Spedition Steiner Günter Schabowski, Politbüromitglied der DDR Elvis und Leo, Freunde von Jonas Held Walter Momper, Reg. Bürgermeister von Berlin Helmut Kohl, Bundeskanzler BRD Mario Wächter, DDR-Flüchtling Wilhelm Keitel, deutscher Generalfeldmarschall Adolf Hitler, deutscher Reichskanzler Eva Braun, seine Ehefrau Marlene Vogeltanz, Geschichtslehrerin in Köln Stephan Engels, Fußballspieler, 1. FC Köln/Fortuna Köln Tony Woodcook, Fußballspieler, 1. FC Köln/Fortuna Köln Heinz Flohe, Fußballspieler und Legende des 1. FC Köln Tim Janitza, Imobilienmakler, Berlin-Charlottenburg Jürgen Sparwasser, Fußballspieler, 1. FC Magdeburg Sepp Maier, Torwart, Bayern München Pierre Littbarski, Fußballspieler, 1. FC Köln Birgit Wirsching, Lehrerin in Wittenberg Thomas Haas, Metzgermeister in Wittenberg Hans Modrow, Vorsitzender des Ministerrates der DDR Lothar de Maizière, DDR-Ministerpräsident Michail Gorbatschow, Sowjetischer Staats- und Parteichef Felix Leon, Schüler in Wittenberg Crosby, Stills, Nash & Young, US-Musiker Harald Leber, Unpluggedmusiker Hans-Joachim Friedrichs, Tagesschausprecher in der BRD Hellmut Hartmann, Sprecher der Deutschen Bank, Berlin Karl Marx und Friedrich Engels, deutsche Philosophen Walter Ulbricht, Erster Sekretär des Zentralkomitees der DDR Willi Stoph, Vorsitzender des DDR-Ministerrates Kaiser Wilhelm II., letzter deutscher Kaiser Prinz Max von Baden, deutscher Kanzler Friedrich Ebert, Reichspräsident, Weimarer Republik Philipp Scheidemann, SPD Vorstandsmitglied Karl Liebknecht, Linker Sozialist und Marxist Gary Moore, Nordirischer Sänger und Gitarrist Veronika Fischer, Sängerin in der DDR und in der BRD. Lisa Stansfield, britische Sängerin Hans und Sophie Scholl, Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus Margot Honecker, DDR-Volksbildungsministerin Nadine Rumm, Kriminaloberkommissarin aus Köln; abgeordnet nach Berlin Otto Strecker, Lehrer in Berlin-Köpenick Clemens Wesslein, Kriminalhauptmeister in Berlin Matthias Volk, Kriminaloberkommissar in Berlin Jakob Fischer, Namensgeber für den Kölner KöbesDr. Hans-Jürgen Kunde, Forensiker, PD Berlin Jule Mirtschink, Polizeiobermeisterin, Tauberbischofsheim Kai Schreiber, Polizeihauptmeister, Tauberbischofsheim Alfred Müller, Metzgermeister aus Königshofen Dieter Zwirner, Mathematiklehrer aus Königshofen Helmut Balbach, Kriminaloberrat, Kripoleiter Berlin Jasmin Schulz, Staatsanwältin, Berlin-Charlottenburg Steve McQueen, US-amerikanischer Schauspieler Marie Luisa Schad, Ralph Schads Oma aus Königshofen Otto Schad, Ralph Schads Opa, sowie Anton (Toni) Schad Bruno Schott, Möbelhausinhaber in Tauberbischofsheim Roswitha Müllerschön, Schülerin aus Königshofen, sowie deren Eltern Die drei Jugendlichen vom Bahnhof Zoo, Berlin: Tomato-Joe, Ayala und Mr. Sunshine Der unbekannte Tote aus der Havel Theo Gries, Fußballspieler, Hertha BSC Maurice Banach, Fußballspieler, SG Wattenscheid 09/1. FC Köln Hans Söllner, Sänger und Liedermacher aus Bayern Ulrich Mohr, Polizeiobermeister, Tauberbischofsheim Dominique Faul, Kriminalkommissar, Kripo Zehlendorf Uwe Fürst, Sportheimwirt, Königshofen Roger Daltrey, Sänger der Band The Who Guido Deißler, Charlottenburg, Assistant Manager, McDonald’s am Zoo Walther Schlury, Wannsee, Restaurant Manager, McDonald’s am Zoo Martin Luther, Reformator aus Wittenberg Katharina Luther, seine Ehefrau Klaus Scheuermann, SEK-Beamter, Berlin Dieter Weinmann, SEK-Beamter, Berlin Siegfried Karrer, Polizeihauptkommissar, Berlin Garrincha, Brasilianischer Fußballnationalspieler Bob Dylan, Folkmusiker Otto Knörzer, Manager bei BMW, Berlin Marion Knörzer, Boutiqueinhaberin am Ku’damm, Berlin. Heinz Florian Oertel, DDR-Sportreporter Werner Hansch, BRD-Sportreporter Jean Löring, Präsident, Fortuna Köln Erich Rutemöller, Trainer, 1. FC Köln Bodo Illgner, Torwart, 1. FC Köln Horst Held, Hansi Flick und Falko Götz, Fußballsspieler vom 1. FC Köln Dirk Schlegel, Fußballspieler, BFC Dynamo Erich Mielke, Chef des DDR-Geheimdienstes für Staatssicherheit Thomas Allofs, Fußballspieler, Fortuna Düsseldorf Alfons Higl, Fußballspieler, 1. FC Köln Hans-Georg Moldenhauer, DDR-Fußballpräsident Andreas Thom, DDR-Fußballauswahlspieler Matthias Sammer, DDR-Fußballauswahlspieler Ulf Kirsten, DDR-Fußballauswahlspieler Walter Eck, Juniorentrainer, Union Berlin Tobias Heinrich, Sportlicher Leiter, Hertha BSC Karl-Heinz Tritschler, Bundesligaschiedsrichter

Charakterliche oder persönliche Übereinstimmungen mit verstorbenen oder noch lebenden Personen wären rein zufällig und nicht übertragbar. Die Personen des öffentlichen Lebens wurden lediglich in ihrer damaligen Funktion beschrieben und romantauglich umgesetzt!

Samstag, 11. August 1990, Kleinmachnow, Brandenburg, Ostdeutschland

Er schlich sich vorsichtig an das alleinstehende Haus. Nur noch diese alte, nahezu eingerissene DDR-Mauer überwinden, die erst vor kurzem zum zweiten Mal Geschichte geschrieben hatte.

Stellte aber kein Problem dar. Der Grenzturm war schon seit Monaten nicht mehr besetzt. Glücklicherweise.

Im Vorjahr fielen hier noch tödliche Schüsse.

Die Umgebung verlor sich in der Dunkelheit und machte ihn unsichtbar. Als hätte er es so geplant.

Nur leicht schemenhaft beleuchtete eine schmale Mondsichel die Silhouette ihrer eigenen Umrisse. Ihre stark dezimierte Strahlkraft reichte für die Erde in dieser Nacht nicht aus.

Die Dunkelheit hielt die Hitze, die tagsüber geherrscht hatte, noch krampfhaft fest.

Seine schneeweißen Hände zitterten. Doch er fühlte sich trotzdem auf der sicheren Seite.

Der Bungalow war schon seit etwa einer Woche unbewohnt.

Am Stammtisch im Gasthaus Wannsee hatten die älteren Dorfbewohner, die sich jeden Mittwoch in der Gaststätte von Zehlendorf trafen, davon erzählt. Dabei hatten sie sogar erwähnt, dass keine Alarmanlage in dem Haus eingebaut war.

Er war mehr zufällig in dem Gasthaus gewesen, wollte nur etwas essen und ein Bier trinken, denn das Betteln am Bahnhof Wannsee hatte sich gelohnt. Seine Einnahmen reichten gut dafür aus.

Gestern hatte er sich noch selbst davon überzeugt, dass die Alten in der Gaststätte keine Märchen erzählt haben.

Der exklusive Briefkasten war zwar außer ein paar Prospekten leer, aber bestimmt hatten die Eigentümer jemanden mit der Leerung beauftragt. Nahm er zumindest an.

Zur Sicherheit hatte er am Abend noch einmal über eine Stunde in Deckung hinter der alten Eiche gesessen. Alles war ruhig. Das Haus war zurzeit definitiv unbewohnt.

Jetzt stand er im Schutz der Nacht auf der Terrasse. Schaute durch das kleine Fenster in den großzügig ausgestatteten Wohnraum.

Die Stille, die ihn umfing, war so tief, dass sie schon fast gespenstisch wirkte.

Ein Schlag gegen das schmale Seitenfenster und er würde sich bedienen können. Das Haus stand mehr als hundert Meter von der nächsten Ortschaft entfernt. Keine direkten Nachbarn. Niemand würde ihn hören oder sehen können. Eine todsichere Sache.

Er brauchte dringend Geld.

Sein Puls stieg an. Mit vor Aufregung klopfendem Herzen hob er den großen Kieselstein hoch. Bereits nach dem ersten gezielten Schlag zerbrach die Glasscheibe in unzählige Splitter.

Eine spitze Scherbe prallte gegen seine rechte Hand, aber er fühlte keine Schmerzen. Blut tropfte auf die hellen Holzdielen. Er würde sie später mit dem Gartenschlauch, der wie gerufen neben der Terrasse hing, abspritzen. Sein Blut würde zwischen den Ritzen der Holzdielen verschwinden und sich im Wasser auflösen.

Er wollte keine Beweise zurücklassen. Drückte gegen die blutende Wunde und wartete noch genau fünfzehn Minuten.

Totenstille.

Kein Vogel sang.

Die Baumwipfel reckten sich geräuschlos in den Himmel, als würden sie den Atem anhalten.

Tief zog er die Nachtluft in seine Lunge.

Jetzt hatte er noch mehr als drei Stunden Zeit. Seine Armbanduhr zeigte genau 03.00 Uhr. Sonnenaufgang war heute um 06.21 Uhr.

Er griff durch die zersplitterte Scheibe, öffnete vorsichtig und völlig geräuschlos das Fenster.

Fühlte sich jetzt sogar befreit und spürte förmlich die Wende in seinem Leben. So wie bisher konnte es einfach nicht mehr weitergehen. Er musste etwas tun.

Hatte einen wichtigen Auftrag.

Musste ihn unbedingt erledigen.

Er hatte es ihr geschworen. Als er ihren Namen leise aussprach, lief ihm eine Träne über die Wange.

Aber um seinen Schwur zu halten, brauchte er mehr Geld.

Nur durch das Betteln konnte er sich keine Fahrkarte nach Köln kaufen.

Nochmals tief einatmend stieg er in den gepflegten und mit teuren Kunstwerken übersäten Raum. Schaute sich stolz um und nickte zufrieden. „Mein Problem dürfte ab sofort gelöst sein.“

Befreit machte er sich an die Arbeit.

Arbeit?

Ja, es war Arbeit … und seine allerletzte Chance … dachte er.

Neun Monate vorher

Mittwoch, 8. November 1989, Lutherstadt Wittenberg, Sachsen-Anhalt, Ostdeutschland

„Früchte des Zorns!

Ist von einem Amerikaner mit deutschen und irischen Wurzeln. John Steinbeck.“ Ralph Schad schaute seine Mutter lächelnd an, die unerwartet sein Zimmer betreten und ihn dann auch noch überraschend gefragt hatte, was er da gerade las.

„Keine Angst, Mutter, es ist weder Sex noch Crime!“

Theresa Schad hob stolz den Kopf. „Ob du’s glaubst oder nicht, ich kenne das Buch. Hat, als es rauskam, ziemlichen Wirbel verursacht. Gerade, weil damals in den 1930er Jahren viele hoch verschuldete Farmer in den USA aus Oklahoma aufgebrochen und Richtung Kalifornien gezogen waren, wo sie für sich und ihre Familien ein besseres Leben erwarteten. Das Wort wo habe ich jetzt absichtlich gewählt, da es Steinbeck, für mich etwas ungewöhnlich, in vielen Sätzen seiner Erzählung bringt. Aber nur in der wörtlichen Rede, soviel ich noch weiß.“

Ralph schaute seine Mutter ungläubig an.

Sie lächelte erhaben. „Das Buch ist ja fast schon hundert Jahre alt.“

Er zog kritisch die Brauen hoch. „Ja, aber es ist trotzdem noch aktuell und sogar ein bisschen mit unserer Familie zu vergleichen. Als ich zwei Jahre alt war, sind wir ja auch umgezogen. Nun, ich nehme mal an, ebenfalls um ein besseres Leben zu haben. Nur haben die Farmer damals in Amerika nicht so viel Glück gehabt wie wir.

Bin erst an der Stelle, wo der Großvater stirbt … ups, jetzt habe ich auch das Steinbeck-Wort wo genannt. Er bringt’s tatsächlich ziemlich oft in seinem Roman … und Steinbeck hat sogar den Nobelpreis für Literatur bekommen. Also nicht für das Wort wo, sondern für seine gesamten Werke. Das war, soweit ich es noch weiß, im Jahr 1962.“

„Und schon 1940 den Pulitzerpreis für das Buch, das du gerade liest“, ergänzte seine Mutter stolz.

Dann ging sie in sich und dachte laut nach. „Ja, und einer meiner Lieblingsmusiker, der amerikanische Freiheitskämpfer und Folksänger Woody Guthrie, hat sogar der Romanfigur Tom Joad eine Ballade gewidmet. Dieser Tom hatte in Steinbecks Roman aus Notwehr einen Mann mit der Schaufel erschlagen und musste deshalb ins Gefängnis.“ Theresa schauderte theatralisch. Dann überlegte sie. „Aber das hat jetzt überhaupt nichts mit unserer Familie zu tun. Soviel ich weiß, hat dein Vater bisher noch niemanden erschlagen.“ Sie überlegte und lachte dann laut auf. „Obwohl wir ja damals schon Hals über Kopf aus Königshofen weggegangen waren.“

Ralph sah seine Mutter streng an. „Ja, das glaube ich natürlich auch nicht. Aber vielleicht hat Vater etwas anderes angestellt, wovon wir nichts wissen, und musste deshalb fliehen.“

Theresa wischte den Einwand mit einer kurzen Handbewegung beiseite. „Ach was. Dummes Geschwätz. Dein Vater kann doch keiner Fliege etwas zuleide tun. Aber jetzt zurück zu Steinbecks Roman. Als dieser Tom dann auf Bewährung freigekommen war, zog er mit seiner Familie von Oklahoma nach Kalifornien.

Ist sogar teilweise mit den heutigen Flüchtlingsströmen zu vergleichen. Somit immer noch ein sehr aktuelles Buch … aber, dass du sowas liest?“

Ralph nickte stolz.

Theresa presste die Lippen zusammen und sah ihren Sohn eindringlich an. „Aber deshalb bin ich eigentlich nicht zu dir in dein heiliges Reich gekommen. Wollte den jungen Mann auch nicht in seiner Lektüre stören. Vater wird gleich nach Hause kommen. Wenn der Herr Sohn dann zum Abendessen pünktlich erscheinen würde.“ Sie sprach dabei mit einer Bestimmtheit, die keinen Widerspruch duldete.

Ralph nickte und grinste seine Mutter verwegen an. „Ich komme natürlich sofort, wenn Mutter Theresa ruft ...“ Dieses Wortspiel erlaubte er sich nur, wenn er wusste, dass sie gut drauf war.

Ihr verschmitztes Lächeln, das sie Ralph schenkte, gab ihm recht.

Die Familie Schad lebte bereits seit fünfzehn Jahren in der ostdeutschen Stadt Wittenberg.

Der Vater, Herbert Schad, hatte damals die Stelle im Martin-Luther-Museum bekommen. Unter vielen Bewerbern. Hatte er zumindest behauptet. Obwohl er ja ein Wessi war.

Mutter hatte sich im Lauf der Jahre einen Souvenirladen am Lutherhaus aufgebaut. Zwar ziemlich klein, aber er lief gut. Denn fast jeder, der nach Wittenberg kam, wollte sich ein Andenken an Martin Luther mitnehmen, der hier am 31.10.1517 seine fünfundneunzig Thesen an die Schlosskirche genagelt hatte.

Die Schads stammten ursprünglich aus Königshofen, einer kleinen Stadt an der Tauber im nördlichen Baden-Württemberg.

Ralph dachte oft darüber nach, wie sein Vater das überhaupt geschafft hatte. Er ging ja vom Westen in den Osten. Die Kuriosität des Ganzen war die, dass gerade zu der Zeit immer wieder Bürger vom Osten in den Westen geflohen waren. Dabei liefen sie sogar Gefahr, von den DDR-Grenzposten erschossen zu werden, oder zumindest langjährige Haftstrafen auf sich nehmen zu müssen. Vater machte somit genau das Gegenteil. Vom Westen in den Osten … aber es war ja bei ihm auch keine Flucht … oder doch?

Ralph selbst hatte nie an eine Flucht zurück in den Westen gedacht. Die Elbe war ihm lieber als die Tauber, obwohl er den Fluss im Main-Tauber-Kreis bisher nur auf Bildern gesehen hatte.

Er war zwar als erstes Kind der Familie Schad in Königshofen geboren worden, verbrachte aber seit seinem zweiten Lebensjahr seine Kindheit und Jugend in der ostdeutschen Stadt Wittenberg.

Später kamen noch seine beiden Zwillingsschwestern Nora und Dora dazu. Ralph war inzwischen siebzehn Jahre alt, Nora und Dora waren fünfzehn. Höchste Pubertätsgefahr! Übliche Zwistigkeiten und Zankereien, aber er war stolz auf seine beiden hübschen Schwestern. Würde es ihnen jedoch niemals so sagen. Sie sahen in ihm den großen Bruder. Er war ihr Beschützer.

Mit zwanzig Jahren würde er seinen eigenen Trabant bekommen. Der Trabi kostete 8500 Ostmark und hatte 26 PS. Ralph war damit zufrieden. Auch wenn er manchmal noch von einem Motorrad, einer MZ, träumte. Der Trabi reichte erst einmal. Die Kosten wollte sein Vater übernehmen. Ralphs Freunde würden staunen, denn in der DDR betrug die Wartezeit auf einen Trabant bis zu siebzehn Jahre. Ralph fragte nicht nach, warum es bei ihm so schnell ging. Dass seine Eltern schon seit vielen Jahren Mitglieder der SED waren, dürfte dabei schon eine Rolle spielen, … glaubte Ralph zumindest. Aber darüber machte er sich keine weiteren Gedanken, zumal Herbert Schad, als er noch im Westen gelebt hatte, auch Mitglied der SPD gewesen war. Die SED war ja ein Zusammenschluss der SPD mit der KPD.

Ralph war mit seinem Leben in Wittenberg vollauf zufrieden.

Ganz im Gegensatz zu vielen seiner Mitschüler der Erweiterten Oberschule in der Schillerstraße.

Es machte sich jedoch zurzeit ein immer stärker werdendes Aufbegehren der Menschen in der DDR bemerkbar. Einige seiner Freunde hatten sogar an den Montagsdemos in Magdeburg oder Leipzig teilgenommen. Ralph nicht. Er ging lieber an der Elbe joggen oder ins Kino.

Ralphs Eltern, Herbert und Theresa Schad, saßen jetzt schon über eine Stunde gebannt vor dem Fernsehgerät. Alles drehte sich um die eventuell bevorstehende Maueröffnung. Während ein DDRFernsehreporter der Aktuellen Kamera von der zehnten Tagung des Zentralkomitees berichtete und dabei besonders ausführlich von Schritten zur politischen Erneuerung als Aktionsprogramm der SED sprach, berichtete das Westfernsehen schon intensiv vom Zerwürfnis der DDR.

Das Ostfernsehen war ja eine staatliche Kommission. Die Berichte waren von der Regierung der DDR vorgegeben und sie mussten Erich Honecker gefallen. Erst dann konnten sie gesendet werden. Aber es wurde von Tag zu Tag immer schwerer, die Wahrheit zu vertuschen.

Theresa war begeistert von der aktuellen Entwicklung in der DDR und träumte bereits von einem vereinigten Deutschland.

Ost- und Westdeutschland, ein Land … eigentlich unvorstellbar. Nein, nicht eigentlich. Es war grundsätzlich unvorstellbar!

Nur Herbert wirkte gedrückt. Verlor sich in seinen Gedanken.

Er hatte damals fest daran geglaubt, dass er nur seinen negativen Erinnerungen entkommen konnte, wenn er Königshofen verließ. Eine neue Gegend, weit weg vom Main-Tauber-Kreis, würde ihn vielleicht irgendwann vergessen lassen, was dort geschehen war.

Ihn schauderte.

Er mochte nicht zurückdenken, geschweige denn zurückkehren, versuchte seine sich immer wieder aufdrängenden Gedanken wegzuwischen, versuchte sie zu überlisten.

Aber es gelang ihm nicht.

Wenn die Grenzen demnächst offen wären, würde seine Familie irgendwann den Wunsch haben, nach Königshofen zu fahren … und wenn es nur für einen Besuch wäre.

Aber er wollte diese Vergangenheitskonfrontation nicht mehr, wollte die damalige Zeit nicht mehr aufleben lassen. Für ihn waren die Mauer und der Stacheldraht sogar ein Schutzwall. Er hatte dafür ein großes Opfer gebracht. Hatte sogar die Verbindung zu seinen Eltern abgebrochen, was ihm sehr schwer gefallen war.

Er verließ seine Gedankenwelt wieder und sah Theresa kritisch an. „Es sollte doch alles so bleiben wie es ist!“

Sie schüttelte ungläubig den Kopf und schaute ihn dann mit einem eindringlichen, auffordernden Blick an. „Was ist los? Mensch, Herbert, Deutschland wächst vermutlich bald wieder zusammen. Die ganze Welt freut sich mit uns, und du, ausgerechnet du, willst das nicht? Wo wir unsere Wurzeln sogar im Westen haben. Jetzt verstehe ich aber gar nichts mehr.“

Er räusperte sich unsicher und sah gedrückt aus dem Fenster.

„Entschuldige, ist mir nur so rausgerutscht. Natürlich gehören wir zusammen. Trotzdem habe ich mich in Wittenberg immer wohl gefühlt und ich habe hier einen gut bezahlten Beruf.

Das alles kommt jetzt … nun, wie soll ich es ausdrücken, … etwas überraschend.“

Theresa überlegte. „Bisher sind wir ja wegen den ganzen Formalitäten nie in den Westen gefahren, aber jetzt, wo die DDR langsam zusammenfällt und die Grenzen vielleicht bald geöffnet werden, sieht es ganz anders aus. Hast du dir das mal überlegt, Herbert?“

Er schüttelte schnell den Kopf, als müsse er sich wieder in die Wirklichkeit zurückholen.

Fühlte sich miserabel.

Seine rastlosen Augen schauten unsicher auf seine Frau. „Ja, … schon, aber … im Moment geht es auf keinen Fall. Du weißt ja, die Arbeit, und überhaupt, du kannst ja deinen Laden nicht einfach zusperren.“

Theresa atmete aus und nickte anschließend enttäuscht.

Herbert schloss unsicher seine Augen. Wie ein zeitraffender Film spielte sich jetzt das damalige Geschehen in Königshofen vor ihm ab. Wie schon so oft.

Alles, was zu jener Zeit in seinem Heimatort passiert war, befand sich in einer Endlosschleife. Eine Rückkehr musste er unbedingt verhindern.

Theresa ließ aber nicht locker. „Klar, Herbert, es muss ja nicht sofort sein, aber vielleicht … irgendwann.

Dann würde ich einfach mal meine allerbeste Freundin fragen.

Lisa Burkert wäre bestimmt bereit, für eine Woche Kaufladen im Wittenberger Museumsshop zu spielen. Die gute Seele hat sich ja schon mehrmals angeboten.“

Herbert öffnete wieder die Augen, ließ sie unsicher spazieren gehen. Dann aber verfestigten sich seine Gedanken immer mehr. Er musste es unbedingt verhindern. Sein Fokus war jetzt wieder auf die richtige Entfernung eingestellt.

„Aber mach dir bitte keine allzu großen Hoffnungen. Ich habe mit Königshofen abgeschlossen. Man sollte doch die alten Zeiten ruhen lassen. Wir leben in Wittenberg und fühlen uns hier wohl. Außerdem sollte man die Zukunft als Geheimnis bewahren und nicht die Vergangenheit.“

Theresa ließ weiterhin nicht locker, konnte das Verhalten von ihrem Ehemann einfach nicht nachvollziehen. „Aber es wäre doch schön, wenn wir mal deine Mutter wiedersehen könnten … und unsere Kinder ihre Oma.

Bisher haben wir immer gesagt, dass wir beruflich nicht können oder wegen der komplizierten Formalitäten in der DDR einfach keinen Besuch wagen wollten, aber jetzt, wenn ...“

Herbert atmete tief durch. „Ja, aber man sieht es in meinem Beruf gar nicht gerne, wenn man Verbindungen in den Westen hat. Du weißt ja … unsere Stasi! Horch und Guck ist nun mal überall.

Theresa zog ernst die Brauen hoch. „Ja, das stimmt schon. Das Ministerium für Staatssicherheit ist hauptsächlich der Geheimdienst der DDR. Aber auch Ermittlungsbehörde für politische Straftaten. Vor allem jedoch Unterdrückungs- und Überwachungsinstrument der SED gegenüber der DDR-Bevölkerung. Dabei setzt es als Mittel neben der Überwachung, auch noch Einschüchterung, Terror und die so genannte Zersetzung gegen Oppositionelle und Regimekritiker ein. Das weiß ich alles!“

Herbert nickte seiner Frau übereinstimmend zu. „Wir wollen erst mal schauen, wie sich das Ganze entwickelt, dann sehen wir weiter.“ Dabei hoffte er inständig, dass die SED die für morgen angesetzten Demonstrationen in den Griff bekommen würde.

Er wusste aber schon jetzt, dass er nie mehr zurückkehren durfte. Nie mehr zurückkehren konnte. In seinem Kopf drehte sich alles. Er hatte das Gefühl, als würden die Fäden niemals abreißen, die alles irgendwie miteinander verbanden.

Bisher war es zwar gut gegangen, aber wie würde es weitergehen, wenn jetzt die Grenzen doch geöffnet werden?

Er schaute ungläubig auf das Bild von Erich Honecker, das immer noch in seinem Wohnzimmer hing.

Donnerstag, 9. November 1989, Berlin-Köpenick, Ostdeutschland

Für Dieter Bauermann kam die anstehende Grenzöffnung völlig überraschend. Sie hatten doch eigentlich alles. Gut zu essen und gut zu trinken. Die Eltern hatten Arbeit und er, Dieter, er hatte eine schöne Kinderzeit gehabt und genoss derzeit seine Jugend. Er wusste die guten Dinge zu schätzen, die ihm das Leben bisher geschenkt hatte.

Schon sechs Wochen nach seiner Geburt kam er in die sogenannte Krippe. Blieb dort bis zu seinem dritten Lebensjahr. Fühlte sich wohl unter den anderen Kindern.

Dann kam die Vorschulerziehung.

Dieter hatte erst viel später bemerkt, dass dort den Eltern die politische Erziehung abgenommen wurde. Sie waren eine gute Gemeinschaft und Genosse Honecker war ihr großes Vorbild. Sein eingerahmtes Bild hing in jedem Kindergarten, in jeder Schule. Wie hatte Honecker doch damals gesagt: „Erziehung zur sozialistischen Moral, das ist die Erziehung zur Liebe zu einem Vaterland, in dem die Väter und Mütter, die Werktätigen zum Wohle des Volkes die Macht ausüben. Das ist eine Erziehung zur Achtung vor den Menschen, vor ihrer Arbeit, zur Achtung vor dem Leben.“ Diese Worte hatte er zwar nie so richtig verstanden, aber alle Kinder klatschen zufrieden in die Hände, wenn sie Honeckers Zitate gehört hatten. Machten es der Kindergärtnerin nach. Dieter hatte sich zunächst immer unsicher umgeschaut, aber als alle anderen Kinder klatschen, hatte er auch mitgemacht.

Mit sechs Jahren kam er in die praktisch orientierte Polytechnische Oberschule Köpenick, wo er zwar Lesen, Rechnen und Schreiben lernte, aber auch hier wurde der Sozialismus als einzig mögliche Staatsform zelebriert. Alternativen gab es offensichtlich nicht. Der Kapitalismus wurde grundlegend abgelehnt. Wie alle anderen trat er den Jungpionieren bei. Blaue Hose, weißes Hemd und blaues Halstuch. Uniform? Ja, wir gehören zusammen!

Marschieren auf dem Schulhof, Fahnenappelle. Auszeichnungen und Ehrungen für herausragende Leistungen … im Namen der Partei. Sozialismus, soweit es nur möglich war.

In der vierten Klasse tauschte Dieter, wie seine Klassenkameraden auch, das blaue gegen ein rotes Halstuch. Er gehörte ab sofort der Freien Deutschen Jugend an, kurz FDJ.

Keiner seiner Klassenkameraden hatte sich getraut, nicht in die FDJ einzutreten. Man hatte die tollsten Geschichten gehört, über die damaligen Verweigerer, die es doch gegeben haben soll. Aber nicht in seiner Klasse.

Der Sozialismus war perfekt durchgeplant. Wer nicht in die FDJ eingetreten war, durfte nach der zehnten Klasse auch nicht zur Erweiterten Oberschule und wurde somit ebenfalls nicht zum Abitur zugelassen. Dieter machte alles mit und fand es gut. Er fühlte sich wohl im Kreise seiner Freunde, der großen Familie mit dem Kürzel DDR!

Aber war es tatsächlich eine Familie?

Natürlich hatte man später mitbekommen, dass es die Menschen in anderen europäischen Ländern, und besonders in Westdeutschland, besser hatten, dass sie freier waren und auch an der Kaufhalle nicht anstehen mussten. In der DDR kam es oft vor, dass es, wenn man nach langem Warten ganz vorne an der Verkaufstheke angekommen war, keine Wurst oder kein Fleisch mehr gab.

Ausverkauft! Auch das würde im Westen nicht passieren.

Aber Dieter war nicht unglücklich in seiner kleinen, heilen Welt.

Man musste sich halt am nächsten Tag noch einmal, und natürlich auch etwas früher, in die Reihe stellen. Dann bekam man, mit etwas Glück, seine gewünschten Waren ... meistens.

Und dann, für Dieter völlig überraschend, änderte sich alles und somit auch sein Leben. Plötzlich waren sie da, die Demos, die Unruhen.

Das Volk erhob sich, wehrte sich und ging auf die Straße.

Zeigte Stärke im Kollektiv. Friedlich!

„Die Mauer muss weg“, schrien sie in Leipzig und Berlin.

Und dann ging es plötzlich Schlag auf Schlag.

Ungarn soll die Grenzen schon geöffnet haben. In Prag hatte der westdeutsche Außenminister Genscher mitgeteilt, dass die Ausreise der DDR-Bürger möglich sei. Anlässlich der Feierlichkeiten des vierzigsten Jahrestages der DDR kam es in mehreren Städten zu erheblichen Protesten. Man feierte sich zwar noch selbst, aber es rumorte bereits stark in den Innereien der DDR. Die Sicherheitskräfte der Deutschen Demokratischen Republik reagieren teilweise brutal. Aber das Volk kämpfte weiter.

Friedlich und solidarisch.

Und dann war am 18. Oktober 1989 auch noch der mächtige Honecker von seinen Ämtern entbunden worden. Sein Nachfolger hieß Egon Krenz. Die Bilder in den Kindergärten und Schulen wurden ausgetauscht. Eine ungeheuerliche Bewegung machte sich breit. Tausende von Menschen flüchteten in die Prager Botschaft.

Am 7. November 1989 trat die DDR-Regierung sogar komplett zurück. Das SED-Politbüro sollte völlig umstrukturiert werden.

Die Deutsche Demokratische Republik in ihrer alten Form gab es mit einem Schlag nicht mehr.

Das Land kollabierte, brach wirtschaftlich, sowie auch politisch zusammen. Die einstigen Worte Honeckers zerplatzten wie eine Seifenblase und verloren ruckartig ihr Gewicht. Sollte Dieter jetzt noch an die Erziehung zur sozialistischen Moral glauben? Galten die Worte Honeckers, die ihm in seiner Kinder- und Jugendzeit tagtäglich eingetrichtert worden waren, überhaupt noch?

Es klatschte jedenfalls niemand mehr.

Heute war der 9. November 1989.

Dieter war inzwischen siebzehn Jahre alt. Er wusste nicht so richtig, ob er sich freuen sollte. Eigentlich schon. Aber es war doch seine Welt, die da eben zusammenbrach. Seine Kindheit und seine Jugend. Lachen oder Weinen lagen eng zusammen.

Er zweifelte immer mehr.

Lothar, sein bester Freund, schlug ihm mit beiden Fäusten kräftig gegen die Brust. „Mensch Dieter. Nun ist es amtlich. Wir sind jetzt genauso viel wert wie die Westdeutschen. Hast du schon gehört, Hans Mühleck, unser bester Freund, will im nächsten Monat in den Westen ziehen. Sein Vater hat dort einen Bruder. Die machen tatsächlich ernst. Wohnen dann im goldenen Westen.

Ich kann es nicht glauben.

Gehen einfach rüber … zu den Kapitalisten.

Es gibt keinen Schießbefehl mehr.

Der Stacheldraht wird niedergetrampelt; die Mauer eingerissen.

Wir werden ein gemeinsames Deutschland. Sensationell!“

In seinen Augen glänzte ein Fieber, das Dieter bei Lothar noch nie zuvor gesehen hatte.

Die beiden Jugendlichen liefen durch Köpenick im Berliner Osten, vorbei an den grauen, hohen Mietshäusern, die den Bewohnern von der Kommunalen Wohnungsverwaltung zugewiesen worden waren. Ein eigenes Bad war schon Luxus. Die Einrichtung war meist zweckmäßig, oft aber nur ungemütlich und schlicht.

Jedoch, es war Wohnraum. Man hatte ein Dach über dem Kopf.

Die DDR wollte für ihre Bürger Planwirtschaft und soziale Gleichheit. Die Miete sollte für jeden bezahlbar sein, kaum einem konnte gekündigt werden. Es war sogar in der Verfassung festgeschrieben, dass jeder DDR-Bürger Anspruch auf eine eigene Wohnung hatte. Das Einkommen sollte nicht über das Wohnen entscheiden. Niemand sollte auf der Straße leben. Vorrangig für die Größe der Wohnung war die Anzahl der Familienmitglieder.

Jedoch waren inzwischen viele Plattenbauten sanierungsbedürftig geworden. Innen und außen. Ein Zerfall drohte immer mehr.

Dieter und Lothar waren auf dem Weg zu ihrem Fußballtraining, spielten beide sehr erfolgreich in der U-18-Jugendmannschaft von Union, der Ostberliner Fahrstuhlmannschaft. Kaum war die erste Mannschaft in die Oberliga aufgestiegen, ließ der nächste Abstieg nicht sehr lange auf sich warten. Die Oberliga war vergleichbar mit der Bundesliga im Westen und somit die höchste Spielklasse in der DDR.

Aber Dieter und Lothar spielten ja noch in der Jugendmannschaft.

Wenn sie den Sprung in die Erste geschafft hatten, würde es mit der Union bestimmt besser werden. Davon waren die beiden fest überzeugt. Träumten oft davon. Den letzten Abstieg erlitten die Eisernen von Köpenick, wie sie stolz von den Fans genannt wurden, nach der Saison 1988/89.

„Übermorgen, am 11.11.1989, spielt Union auswärts gegen KKW Greifswald. Ich tippe auf ein Unentschieden.“ Lothar war sich mit seiner Prognose ziemlich sicher.

Dieter nickte zustimmend. „Ja, ein Unentschieden wäre okay.“

Er schaute Lothar dann aber verängstigt an, musste immer wieder an die derzeitige politische Situation denken. „Ich muss das alles auch erst mal verarbeiten. Mensch, wenn ich mir überlege, dass es die DDR plötzlich nicht mehr geben soll. Es war doch unsere Jugendzeit … unser Leben, unser Staat. Und jetzt, etwas ganz anderes, ein Neustart sozusagen … ich weiß nicht!

Natürlich waren wir nicht immer zufrieden, hauptsächlich mit unserer Politik, die uns vieles aufgezwungen hat. Aber wenn man sich an die Vorgaben hielt … Das geht mir jetzt alles viel zu schnell.“

Stumm, in ihren Gedanken versunken, liefen die beiden Freunde nebeneinander her.

In der Umkleidekabine der Eisernen gab es nur ein Thema. Jeder wusste eine Geschichte vom vermutlich bevorstehenden Mauerfall. Die Meinungen waren geteilt. Natürlich überwog zum größten Teil die Freude über ein bald vereinigtes Deutschland, über die Freiheit, in die ganze Welt reisen zu können. Manche nahmen sich sogar ausgelassen in den Arm und beglückwünschten sich gegenseitig. Tanzten hüpfend im Kreis.

Dieter und Lothar hielten sich bei den spontanen Feierlichkeiten zurück. Ihr Freund und der Torwart der U-18, Hans Mühleck, traute sich aber, seine Meinung kundzutun. „Alles war bei uns aber auch nicht so schlecht, wie ihr jetzt tut. Jeder hatte Arbeit … und zu Essen hatten wir auch immer. Wir waren doch eine große Gemeinschaft … eine solidarische Familie.“

Ein lautes Grölen war die Reaktion auf die laut ausgesprochenen Gedanken von Hans. Im Nachhinein hätte er sie vielleicht doch lieber für sich behalten sollen.

Der Libero der U-18-Mannschaft, Roland Conrad, baute sich bedrohlich vor seinem Torwart auf. „Und das sagt gerade einer, der im nächsten Monat schon im Westen wohnt!“

Hans senkte kleinlaut den Kopf. Er merkte, wie sich seine Gefühle verhärteten. „Da kann ich doch nichts dafür. Das war die Idee meines Vaters. Der wollte ...“, er zögerte kurz, dann sprach er es aus, „unbedingt zu seinem Bruder.“

Conrad nickte und zog die Achseln hoch. Jetzt war es zum ersten Mal still in der Umkleidekabine der Eisernen.

Plattenbauwohnung in Köpenick.

Dieter lief träge die Treppenstufen hoch. Der Fahrstuhl war defekt … seit ungefähr einem Jahr ... oder noch länger.

Erst das harte Training und dann diese verfluchten Stufen, die nicht mehr enden wollten. Aber er sah es sportlich. Wollte doch bald in der Oberliga spielen. Er überlegte. Wenn dann nach den Vorgaben des DFB in der BRD gespielt würde, könnte er sich ja tatsächlich einen Bundesligaclub im Westen suchen. St. Pauli, den 1. FC Köln, Waldhof Mannheim … oder sogar die Hertha in Westberlin. Immer mehr freundete er sich mit dem Gedanken einer im Raum stehenden Wiedervereinigung an.

In der DDR war es bisher so, dass die Staatsführung bis in die Vereine hineinregierte und mitbestimmte. Die Staatssicherheit, die Polizei und die Armee hatten ihre eigenen Vereine, und die Bezirkschefs der SED bestimmten ebenfalls mit. Die Kombinate, ein Zusammenschluss von wirtschaftlichen Großbetrieben, unterstützten die Oberligaclubs zusätzlich. Die Spieler konnten sich ihre Vereine nicht selbst aussuchen, sie wurden delegiert, es war eine Art moderner Leibeigenschaft. Aber das alles wäre mit dem Mauerfall endgültig vorbei.

Dieter blieb stehen und wiederholte laut. „Mensch ich könnte jetzt ja sogar in der Bundesliga spielen.“

Er kickte gegen eine leere Bierdose, die im Treppenhaus herumlag. Kommentierte sich dabei lautstark selbst: „Bauermann, der aktuelle Neuzugang des 1. FC Köln läuft allein durch, umspielt die gesamte Hintermannschaft der Eintracht und umkurvt auch noch den letzten Mann, Uwe Bindewald. Bauermann müsste schießen! Bauermann schießt und lässt Torwart Uli Stein mit einem platzierten Flachschuss nicht die geringste Chance. Tor, Tor, Tor. Hattrick durch Mittelstürmer Dieter Bauermann.

Sensationell, der junge Superstar aus dem Osten Deutschlands.

Der Wiedervereinigung sei Dank.“

Laut krachend öffnete sich die Tür im achten Stock. Der dicke Fritz Stark stürmte wutentbrannt ins Treppenhaus. „Was soll hier dieses Geschreie? Wir sind doch nicht auf dem Fußballplatz.

Wenn nicht sofort Ruhe ist, melde ich dich, Bauermann!“

Dieter ließ sich durch den dicken Fritz jedoch nicht einschüchtern.

„Wem wollen Sie das melden, Genosse Stark? Haben Sie es denn noch nicht mitbekommen? Die Mauer soll fallen. Schluss mit Sozialismus und Schluss mit melden. Horch und Guck gibt es demnächst nicht mehr. Bald sind wir frei!“

Der dicke Stark lief dunkelrot an und holte tief Luft. „Dann geh doch in den Westen. Besser heute als morgen. Solche wie euch brauchen wir sowieso nicht in unserem sozialistischen Arbeiterund Bauernstaat. Haut doch alle ab!

So wie dein Vater, der Landesverräter!“

Mit einem lauten Lachen schlug der Dicke kräftig die Tür zu.

„Wir haben mit dem Abendessen extra auf dich gewartet, Dieter.

Wasch dir bitte deine Hände und setz dich an den Tisch!“ Mandy Bauermann stand in ihrer gestreiften Schürze am Spülstein und drehte sich bei ihren Worten lächelnd zu Dieter hin. Seine kleine Schwester Jacqueline saß schon erwartungsvoll am Küchentisch.

Dieter nannte sie immer noch kleine Schwester, obwohl Jacqueline bereits sechzehn Jahre alt war, nur ein Jahr jünger als er. Ziemlich genau.

Mutti war ihr Lebensmittelpunkt. Der Fels in der Brandung.

Dieter schaute seine Mutter zufrieden an. Sie hatte ihr kräftiges, stahlgraues Haar am Hinterkopf zu einem dicken Knoten zusammengesteckt. Ihr Blick war ernst, aber gleichsam fürsorglich und gütig. Manchmal erkannte Dieter in ihren Augen den Schmerz und das Leid, das sie erfahren hatte. Aber sie wusste auch um ihre Stellung in der Familie. Hatte schnell erkannt, dass ihre Kinder, wenn etwas Gutes passiert war, fragend auf sie blickten, um zu erkunden, ob die Freude auch sie berührt hatte.

Zwangsläufig fühlte sie sich für alles verantwortlich, denn einen Vater gab es aktuell nicht im Hause, oder besser gesagt, in der Mietswohnung Bauermann.

Ihr Mann Maik hatte einen großen Traum. Er wollte in den Westen … zusammen mit seiner Familie.

Mandy arbeitete seit vielen Jahren in der großen Zuckerfabrik von Köpenick, Maiks Arbeitsplatz war schräg gegenüber ihrem Wohnhaus, beim Transportunternehmen Steiner. Sie hatte bei beiden Kindern nach nur sechs Wochen Mutterschutz ihre Arbeit in der Fabrik wieder aufgenommen. Dieter und auch später Jacqueline kamen somit schon sehr früh in die Kinderkrippe, was in der DDR völlig normal war.

Beim Tanz im Thüringer Hof zu Köpenick hatten sie sich kennengelernt und heirateten bald. Maik war damals vierundzwanzig, Mandy erst achtzehn Jahre alt.

Sie mussten heiraten. Ein Junge war unterwegs. Dieter.

Maik war so stolz auf seinen Sohn. Stolz auf seine kleine Familie.

Vor einem Jahr hatte Maik dann seinen lang gehegten Traum in die Tat umgesetzt. Aber mit der ganzen Familie fliehen? Das wäre leider unmöglich gewesen. Er hatte Mandy immer wieder erklärt, dass es einfach zu gefährlich sei … für die Kinder und natürlich auch für sie. Wie oft hatten sie über den goldenen Westen gesprochen. Über die Möglichkeiten einer Flucht in die Freiheit.

Erkannten aber gleichsam das Risiko. Besonders Mandy. Wollte die Kinder nicht in Gefahr bringen. Maik sollte deshalb vorausgehen. Allein. Das sei nicht so gefährlich. Er wollte drüben alles regeln. Dann sollten sie alle nachkommen, Mandy, Dieter und Jacqueline. So hatte es Maik geplant … hatte er es ihnen versprochen.

Vor über einem Jahr, am 1.9.1988, war er sehr früh aufgestanden.

Er hatte Mandy nach dem Frühstück flüchtig auf die Stirn geküsst, schloss vorsichtig die Eingangstür und lief quer über die Straße zum Transportunternehmen Steiner. So wie an jedem Werktag. Er arbeitete dort in der Buchhaltung und kannte alle Fahrer. Herbert Neumann, sein bester Freund, hatte mit seinem Skoda eine Tour nach Magdeburg. Erst vor drei Tagen lag der Transportschein auf Maiks Schreibtisch. Es war für ihn eine Kleinigkeit, den Namen Magdeburg zu löschen und mit der Schreibmaschine Braunschweig drüber zu schreiben. Er stellte sich dadurch seine eigene Ausreisegenehmigung aus. Die Grenzpolizisten würden die unterschriebenen und gestempelten Papiere kontrollieren und den Lkw passieren lassen, ohne dabei genauer hinzusehen. Das Wichtigste war der Stempel und die genehmigten Transportpapiere.

Maik hatte lange an seinem Plan gearbeitet. Eine winzige Kabine unter dem Fahrersitz war sein Versteck. Direkt über der Vorderachse des Skoda 706 MT. Dort würde ihn mit Sicherheit niemand entdecken. Es konnte einfach nichts schiefgehen.

Mandy schaute ihm damals am frühen Morgen noch lange nach, dann war er in der Firma verschwunden.

Es war das Letzte, was sie von ihrem Mann gehört und gesehen hatte. Danach kam nichts mehr. Kein Anruf, kein Lebenszeichen.

Nicht einmal eine Pressemitteilung über eine missglückte Flucht, die sie Maik hätte zuordnen können.

Nichts. Nur Leere.

Wochenlang. Monatelang.

Inzwischen war schon mehr als ein Jahr vergangen.

Mandy musste immer wieder an die Flucht des jungen Peter Fechner denken, die zwar schon einige Zeit zurücklag, aber jetzt, nachdem ihr Mann verschwunden war und sie nichts mehr von ihm gehört hatte, ging ihr diese Flucht nicht mehr aus dem Kopf.

Der Tod des damals achtzehnjährigen Fechner am 17. August 1962, der am letzten Grenzhindernis von einer Gewehrkugel getroffen wurde, erschütterte damals nicht nur Mandy, sondern die gesamte Welt. Der Junge lag schwer verletzt und stark blutend mindestens fünfzig Minuten vor der Mauer, bis endlich das Bergungskommando der DDR eintraf. Diesseits und jenseits der Mauer versammelten sich unterdessen immer mehr verzweifelte und protestierende Bürger.

Westpolizisten wagten es sogar, auf die Mauer zu klettern und dem schwer verletzten Fechner blutstillendes Verbandsmaterial zuzuwerfen. Aber man konnte dem jungen Mann nicht mehr helfen. Das öffentliche Sterben des jungen Peter Fechner im Todesstreifen entfachte eine weltweite Welle der Betroffenheit.

In dieser Nacht und in den folgenden zwei Jahren musste jeweils am siebzehnten August die Mauer von der Westberliner Polizei beschützt werden, da immer wieder Demonstrationszüge aus allen Teilen von Westberlin aufzogen, um an die Sinnlosigkeit der Grenze zu erinnern.

Fechner war postum zum Volkshelden geworden.

Es kam schon vermehrt zu den Sprechchören: „Die Mauer muss weg!“ Das Volk wehrte sich somit schon im Jahr 1962 gegen die Mauer, aber leider damals noch ohne Erfolg.

Mandy schaute ziellos aus dem Wohnzimmerfenster auf die umliegenden Plattenbauhäuser. Dann stöhnte sie laut auf und ging in die Küche. Zog den Kartoffeltopf vom Herd.

Überlegte.

Kein Vopo hatte sich bisher bei ihr sehen lassen.

Anfangs standen natürlich immer wieder inoffizielle Mitarbeiter der Stasi vor ihrer Wohnungstür. Aber Mandy blieb standhaft. Sie gab überzeugend an, dass sie nichts von einer Flucht ihres Mannes Maik gewusst habe. Auch ihre Kinder wurden mehrmals von der Stasi verhört. Aber Mandy hatte ihnen die Situation genaustens erklärt.

Sie war schon nach ein paar Tagen zur Polizeiwache gegangen und hatte Maik offiziell als vermisst gemeldet. Von Maiks Flucht erwähnte sie natürlich nichts. Widerwillig nahm der Vopo-Beamte die Anzeige auf.

„Wenn wir etwas von ihrem Mann hören, melden wir uns.“

Das war alles, was der drahtige Volkspolizist gesagt hatte.

Als Mandy die Polizeiwache verlassen hatte, rief der Polizeibeamte bei der Stasi an und führte ein kurzes Gespräch mit dem zuständigen Sachbearbeiter der Vermisstenstelle.

Nachdem er aufgelegt hatte, zerriss er die eben gefertigte handschriftliche Vernehmung von Mandy Bauermann und warf sie in den Papierkorb. Lächelte leise in sich hinein und widmete sich wieder der Berliner Zeitung, die noch aufgeschlagen vor ihm auf dem Schreibtisch lag. Die Überschrift lautete: Erneuerung der Gesellschaft bedarf erneuerter Partei.

Auch der Fahrer der Firma Steiner, Herbert Neumann, war seit diesem Tag nicht mehr in seiner Firma erschienen.

Der Geschäftsführer, Johann Krebs, war einmal bei Mandy gewesen. Er hätte keine Ahnung, was da passiert sei.

Der Lkw war bisher ebenfalls nicht mehr aufgetaucht. Herr Krebs hatte sie fragend angesehen und unschuldig beide Hände gehoben.

Er konnte ihr im Moment auch nicht weiterhelfen.

Mandy hatte ihn aus verängstigten Augen unsicher und hilflos angeblickt.

Inzwischen war ihre innere Leere wie eine Krankheit, die sie immer öfter überfiel. Wie eine Attacke, die ihr Herz aus dem Gleichgewicht brachte. Sie befürchtete das Schlimmste.

Aber sie hatte noch ihre Kinder. Daran versuchte sie sich jetzt aufzubauen … und an dem festen Glauben, Maik doch irgendwann wiederzusehen. Er hatte ihr in die Augen versprochen, dass er alles vorbereiten und sie dann nachholen würde.

„Man muss nur auf den richtigen Weg kommen und, das ist das Allerwichtigste, man muss davon überzeugt sein, dass es der richtige Weg ist. Nicht unschlüssig herumirren, sondern das Ziel sehen können und es auch wollen. Dann wird es schon klappen“, hatte er ihr noch am letzten Abend erklärt.

Inzwischen war mehr als ein Jahr vergangen. Offensichtlich hatte Maik den richtigen Weg noch nicht gefunden ...

Mandy schaute zu ihren Kindern. „Habt ihr’s mitbekommen?

Mit der Mauer soll irgendwas sein. Man soll demnächst ausreisen können. Überall hin. Sogar in die BRD.

Der Schabowski, unser Sekretär für Informationswesen, soll heute noch etwas darüber bekanntgeben.“

Mandy hatte ein ungewohntes Glitzern in den Augen.

Ihre Hoffnung auf ein Wiedersehen mit Maik flammte plötzlich auf. Sie durfte wieder hoffen und nicht nur träumen. Ihr gefror plötzlich das Herz, um aber im nächsten Moment noch schneller zu schlagen. „Schalte doch mal schnell Radio DDR I ein, Dieter!“

Ihre Stimme überschlug sich fast.

Er stand auf und drehte an dem abgewetzten Knopf des Radios.

Das alte Gerät knisterte. Dann holprige Worte: „Das trifft … nach meiner Kenntnis ... ist das sofort, unverzüglich."

Der Radiosprecher des Senders meldete sich jetzt und verkündete mit ungläubiger Stimme: „Politbüromitglied Günter Schabowski hat soeben in einer Pressekonferenz mitgeteilt, dass eine ständige Ausreise über alle Grenzübergangsstellen der DDR, … auch zur BRD, beziehungsweise nach Westberlin, erfolgen kann ... sofort!“

Nach einer für das Radio ungewohnt langen Pause sprach er dann weiter. „Man kann sofort ausreisen.“

Die Bauermanns schauten sich konsterniert an.

Dieter fand als erster wieder Worte. „Dann stimmt es doch. Beim Training von Union haben sie bereits schon so etwas ähnliches erzählt. Ich habe es aber nicht so richtig glauben können.“

Mandy dachte wieder an Maik. Sie lächelte unmerklich. Vielleicht würde noch alles gut werden und es käme bald zu einem Wiedersehen. Oder doch nicht?

Dann senkte sie wieder traurig den Kopf und schaute mit den zeitlosen Augen einer Statue auf den Tisch. Zweifel kamen auf.

Aber warum hat er sich bisher immer noch nicht gemeldet? Ob er überhaupt noch lebte? Das schlechte Gefühl saß zu tief.

Geistesabwesend biss sie von ihrer Käsesemmel ab.

In ihr war plötzlich erschreckende Leere.

Donnerstag, 9. November 1989, Berlin-Charlottenburg

Die Familie Zimmermann saß in Westberlin in der großen Hinterhofwohnung vor dem Fernseher.

Es lief die Tagesschau.

Günter Schabowski hatte gerade in einer Pressekonferenz etwas unsicher und eher beiläufig erklärt, dass die DDR ihren Bürgern künftig Reisefreiheit gewähren würde und dass dies sofort … unverzüglich möglich wäre.