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Bei Margarethe Maria Sackmeier, genannt Gretchen, ist immer was los. Mit 14 fühlt sie sich zu dick. Mit 15 muss sie plötzlich ohne den Papa auskommen und ohne ihren Bruder Hänschen. Denn Gretchens Mama hat sich entschlossen, ihr Leben zu ändern und sich zu emanzipieren. Als Gretchen 17 ist, da lebt die Familie wieder zusammen. Aber jetzt hat Gretchen neue Probleme. Für wen soll sie sich entscheiden - für den Florian oder den Hinzel? Am liebsten würde Gretchen beide nehmen... Alle drei (bearbeiteten) Romane über Gretchen in einem Band: Lesespaß hoch drei!
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Margerethe Maria Sackmeier, Gretchen genannt, war vierzehn Jahre alt und hatte donaukieselgraue Augen, spanielbraune Haare und eine winzige Babynase. Sie war einen Meter und sechzig Zentimeter groß und wog vierundsechzig Kilo und dreihundert Gramm. Ob sie dick war, kann man schwer sagen, denn dick sein ist, wie vieles andere im Leben auch, eine ziemlich relative Angelegenheit. Im Turnsaal, zwischen der stangendünnen Evelyn und der zaundürren Sabine in ihren 36er-Gymnastikanzügen, kam sich Gretchen unheimlich fett vor; fetter als ein Kübel voll Gänseschmalz. Zu Hause, bei Papa, Mama, Hänschen und Mädi, fühlte sich Gretchen eher als ranke und schlanke Person. Denn gegen Papas Bauch, Mamas Hüften, Hänschens Fettbusen und Mädis Hamsterbacken war Gretchens gleichmäßig über den ganzen Körper verteiltes Übergewicht ein Klacks! Und die Zwettler-Oma, die so hieß, weil sie in Zwettl wohnte, und die Papas Bauch, Mamas Hüften, Hänschens Fettbusen und Mädis Hamsterbacken harmonisch in ihrer Person und Figur vereinte, behauptete sogar, Gretchen wirke richtig hager, schaue fatal nach hungrigem Kriegsende aus und gehöre ordentlich aufgefüttert.
Kein Mensch ist mit Begeisterung dick. Da machte auch Gretchen keine Ausnahme und deshalb fuhr sie leidenschaftlich gern nach Zwettl zur Zwettler-Oma, war gern zu Hause, mochte die Schule nicht besonders und hasste den Turnsaal inständig. Jahrelang hatte Gretchen zweimal die Woche, immer wenn »Turnen« auf dem Stundenplan gestanden hatte, am Morgen gar nicht aufstehen wollen. Ein Dutzend Englisch-Vokabel-Prüfungen hätte sie lieber über sich ergehen lassen als eine Stunde im Turnsaal! Als dann Gretchens Turnlehrerin vor einem Jahr ein Baby bekommen hatte und deshalb in Karenzurlaub gegangen war, begannen bessere Zeiten für Gretchen, denn die Ersatz-Turnlehrerin war eine naive und gutmütige Dame, die Entschuldigungen willig annahm. Gretchen ging da auch sehr schlau vor. Sie hatte erkannt, dass es nicht gut war, sich einmal wegen Schnupfen, einmal wegen Bauchstechen, dann wieder wegen Halsweh und das vierte Mal wegen der »Tage« vor dem Turnen zu drücken. Ein Bündel Leiden an einem so rosigen, strammen Mädchen wie Gretchen hätte auch die naivste, gutmütigste Turndame stutzig gemacht. Da war es schon vernünftiger, ein Leiden, nämlich die »Tage«, ordentlich auszubauen. Regelschmerzen, Regelstörungen, Regelverzögerungen, sogar eine leichte Eierstockentzündung über vier Wochen hin erfand Gretchen als Turnverhinderung. Natürlich funktioniert so etwas nur, wenn man zu Hause eine Mutter hat, die mitspielt. Gretchen hatte so eine Mutter. Gretchens Mama schrieb ohne Zaudern pro Woche zwei nette Entschuldigungsbriefe und wurde nicht einmal schamrot, wenn die Turndame am Sprechtag mit ihr Gretchens komplizierten und gestörten Unterleib besprach.
Zu Hause dann, wenn sie Gretchens Papa vom Sprechtag erzählte, entschuldigte sie den Schwindel damit: »Unsereiner weiß ja schließlich, wie das ist! Wir Fülligen haben eben Minderwertigkeitskomplexe! Und da sind wir nicht selber dran schuld! Eine schöne Mutter wäre ich, wenn ich da meiner Tochter nicht beistehen würde!« Und dann zog sie seufzend ihren langen Pullover die Hüften abwärts. Das war ein ewiger Tick von ihr. Hundertmal am Tag zog sie am Pullover. Darum waren die Pullover von Gretchens Mama an den Seitennähten auch gut zwei Handbreit länger als über dem Bauch und über dem Hintern.
»Speck verstecken!«, nannte Gretchens Papa grinsend diesen Pullover-Tick. Er versteckte seinen dicken Bauch nicht. Er trug ihn stolz über der Hose und gab kleine Stücke von ihm – zwischen den Hemdknöpfen – zur Besichtigung frei. Dafür hatte Gretchens Papa den Schnurrbart-Tick. Der Schnurrbart von Gretchens Papa war dick und kohlrabenschwarz und glänzend. Und der Tick war, dass ihn der Papa dauernd zwirbelte.
Beim Fernsehen, beim Lesen, beim Kreuzworträtsellösen, beim Reden und beim Zuhören, immer und überall fummelte er an den Schnurrbartenden herum und drehte sie zu harten, dünnen Zipfeln oder zu kleinen, zierlichen Sechsern.
Gretchens Bruder, das Hänschen, war zwölf Jahre alt und hatte auch einen Tick. Er fühlte sich nur wohl, wenn er den linken Zeigefinger im rechten Nasenloch hatte. Nicht einmal die hartnäckigste aller Volksschullehrerinnen hatte ihm diesen Tick abgewöhnen können. Dabei bohrte Hänschen gar nicht echt Nase, denn er holte nie irgendetwas heraus. Er bewegte den Finger in der Nase überhaupt nicht. Es war eher so, als wollte er das Nasenloch zustoppeln.
Mädi hatte keinen besonderen Tick. Es sei denn, man zählt Raunzen und Quengeln und Jammern zu den Ticks; aber da handelt es sich doch eher um Charaktereigenschaften. Wahrscheinlich war Mädi für einen echten Tick noch zu klein. Sie war erst sechs Jahre alt.
Gretchen selber hatte gleich mehrere Ticks. Sie liebte es, an ihren spanielbraunen Haarsträhnen herumzukauen. Sie drehte, vor allem während langweiliger Schulstunden, aus ihren Stirnfransen kleine Zöpfchen. Sie zog an den Fingern, so lange, bis die Finger knackten. Und sie kratzte sich am Bauch, obwohl der nicht juckte. Außerdem bemalte sie ihren linken Unterarm ständig mit Kugelschreiber, dass er aussah wie ein Skikurs-Gipsverband. Und sie schnüffelte. Das merkte sie selber gar nicht. Wenn sie jemandem aufmerksam zuhörte, zog sie die winzige Babynase kraus und schnupperte, als ob sie hinter einem verdächtigen und äußerst unanständigen Geruch her wäre.
Im Haus, in dem Gretchen wohnte, redete man von ihr und ihrer Familie nicht sehr liebenswürdig. Man sagte nicht: Die Familie Sackmeier. Oder: Die Sackmeiers. Man sagte: Die Säcke! Der Konni, der Sohn von den Sackmeier-Nachbarn, hatte das aufgebracht. Der Konni war unheimlich mager und fand dicke Menschen komischer als den lustigsten Witz.
Jeden Sonntag, Punkt neun Uhr, stand der Konni am Fenster, das auf den Parkplatz hinausging, weil er wusste, dass die »Säcke« Punkt neun die Sonntagsfahrt nach Zwettl, zur Oma, antraten. Kamen Gretchen, Hänschen, Mädi, Mama und Papa aus dem Haustor, rief er: »Schnell, schnell, sonst versäumt ihr die Säcke!« Und winkte seine Eltern zum Fenster her. Die kamen dann auch prompt und zu dritt bestaunten sie kichernd, wie Gretchen, Hänschen und Mädi in den kleinen Mini krochen, wie sich Papa und Mama vorn ins Auto zwängten, wie sich die Mini-Karosserie dabei senkte und senkte, und sie versicherten einander glucksend, dass so ein Mini ein Wunderauto sei, innen doppelt so groß wie außen. Jedes Mal rief Konnis Vater: »Wetten, dass die Sackfrau heute nicht durch das Mini-Türl reinkommt!« Und die Mutter vom Konni rief: »Sie steckt schon, sie steckt schon! Ihr Hintern ist breiter geworden!« Richtig traurig waren die drei, wenn der kleine blaue Mini zum Hoftor hinausfuhr.
»Ewig könnte ich den sechs Säcken zuschauen«, sagte dann der Konni. Er sagte »sechs«, weil er den riesigen Proviantsack, den Gretchens Mama voll gepackt hatte, auch mitzählte.
Aber von solchen Gemeinheiten ahnten Gretchen, Hänschen, Mädi, Mama und Papa gottlob nichts, wenn sie, geschichtet wie die Bücklinge in der Dose, Zwettl und der Oma entgegenbrausten.
Außer dem Übergewicht und den diversen kleinen Ticks sollte man von den Sackmeier-Säcken vielleicht noch erwähnen, dass sie sehr freundlich und lieb miteinander umgingen. Sogar die ewige Raunzerei und Quengelei vom Mädi ertrugen sie ohne viel Murren. Dass der Papa Egon hieß und im Büro einer Nudelfabrik angestellt war, ist vielleicht auch wichtig, und dass die Mama Elisabeth hieß und keinen Beruf hatte; wenn man »Hausfrau« nicht als Beruf nimmt.
Ja, und dann sammelte Hänschen noch Vogelfedern. Drei riesige Alben mit allerlei gefundenen Hühner-TaubenFasan-Wellensittich-Federn hatte er schon voll geklebt.
Das Mädi ging seit sechs Wochen in die Schule. Gern ging sie dort nicht hin. Und einen unerfüllten Wunsch hatte sie. Sie wünschte sich seit Jahren schon eine schwarze Katze. Gretchen las 60-Seiten-Romane mit Schicksalen aus dem Hochadel, aber in aller Heimlichkeit, weil sie sich deshalb genierte.
Und die Mama kochte schrecklich gern. »Mein Hobby ist Kochen«, sagte sie immer. Manchmal machte sie eine Torte aus drei verschiedenen Teigarten und füllte sie mit zwei verschiedenen Cremesorten und verzierte sie mit Marzipan und kandierten Kirschen. Ganz ohne irgendeinen Anlass machte sie das. Der Papa erschrak jedes Mal, wenn er so eine Torte sah, weil er dachte, er habe einen Geburtstag vergessen. Oder gar den Hochzeitstag. Was noch schlimmer gewesen wäre. Doch die Mama beruhigte ihn dann: »Ich hab bloß unheimliche Lust aufs Tortenbacken gehabt«, erklärte sie. Und dann machten sich sämtliche Sackmeiers über die Torte her, als hätten sie seit Tagen keine Nahrung bekommen.
Sonst, glaube ich, muss man von Gretchen und ihrer Familie nichts wissen, bevor die Geschichte richtig beginnt.
Wann eine Geschichte richtig beginnt und wo eine Geschichte richtig beginnt, ist schwer festzulegen. Denn immer gehört zu einer Geschichte auch etwas dazu, was schon vorher begonnen hat und was ganz wichtig ist. Vielleicht ist der kunsthonigsüße Blick, mit dem Tante Emma oft in Gretchens Kinderwagen hineingeschielt hat, wichtig. Vielleicht ist sogar der Blick, mit dem Onkel August seinerzeit in den Kinderwagen von Gretchens Mama geglotzt hatte, wichtig. Wahrscheinlich ist überhaupt alles wichtig! Aber einmal muss man ja irgendwo anfangen. Also fangen wir am Montagmorgen an. An dem Montag, wo am Tag vorher das Maturatreffen von Gretchens Mama gewesen ist. Das fünfzehnte Maturatreffen.
An diesem Montag, als Gretchen zum Frühstück in die Küche kam, tafelte die Mama nicht, wie sonst immer, mit Toast und Butter und Kaffee und Schinken und Käse. Sie hatte eine große Schale Tee vor sich auf dem Tisch stehen und schaute traurig in die Teetasse hinein, fast so, als läge auf dem Grund der Tasse ein kleiner toter Goldfisch, den sie sehr lieb gehabt hatte.
Gretchen beschmierte sich drei Semmeln mit Butter und Honig und rührte sich im Halbliter-Krügel Kakao an. Der Papa stand am Herd und schlug drei Eier in die Pfanne, in der sein Frühstücksspeck brutzelte. Die Frühstückseier briet sich der Papa immer selber. Er behauptete: »Die Mama kann das leider nicht. Bei ihr wird der Speck nie richtig knusprig. Speckeier sind das Einzige, was sie nicht kann!«
Hänschen und Mädi waren noch im Badezimmer. Man hörte sie laut um den besseren Platz am Waschbecken streiten. Der bessere Platz war der, wo die Badewanne stand. Da konnte man beim Waschen und Zähneputzen bequem auf dem Wannenrand sitzen.
Der Papa schaute auf die Teeschale von der Mama. Er fragte: »Hast du dir den Magen verdorben, Mama?« Aber die Mama gab bloß »Hmpf!« zur Antwort.
Wäre es Nachmittag oder Abend oder Sonntag gewesen, hätte sich der Papa sicher erkundigt, warum die Mama bloß »Hmpf« und sonst nichts sagte. Aber an einem Morgen, einem ganz gewöhnlichen Arbeitsmorgen, blieb dem Papa dafür leider keine Zeit. Er verschlang hurtig seine Speckeier, wischte sich den fettglänzenden Mund am Gläsertuch, schlüpfte ins Sakko und rief: »Tschüs dann, bis zum Abend!«, und lief aus der Wohnung.
»Hmpf«, murmelte die Mama hinter ihm her.
Gretchen hatte auch keine Zeit sich über die hmpfige Einsilbigkeit der Mama richtig zu wundern. Sie musste Mädi und Hänschen vom Waschbecken vertreiben und Schulzeug einräumen musste sie auch noch. Nicht einmal mehr Zeit blieb ihr den Christusdorn zu gießen. Das tat sie sonst jeden Morgen. So spät dran war Gretchen, dass sie mit offenen Schuhbändern aus der Wohnung lief und mit lose wallenden Spanielhaaren. Die waren sonst zu zwei Affenschwänzen vor den Ohren gebunden. So spät dran war Gretchen sonst nie. So spät dran war sie an diesem Morgen nur, weil sie gestern, ohne Mama, mit Hänschen, Papa und Mädi bei der Zwettler-Oma gewesen war. Die Mama war es immer, die rechtzeitig zur Abfahrt mahnte. Und weil die Mama gestern auf dem Maturatreffen gewesen war, hatte den Papa niemand gemahnt. Bis gegen zehn Uhr am Abend hatte der Papa bei der Oma und beim Onkel Emil gehockt und mit dem Onkel Emil das Leben beredet. Nach Mitternacht erst waren sie nach Hause gekommen. Gretchen war zwar im Auto eingeschlafen, aber ein Autoschlaf auf einer löchrigen Landstraße ist kein erholsamer, friedlicher Schlaf, so ein Schlaf ist eine Qual. Noch dazu, wo Mädi vom Rücksitz her dauernd quengelte und raunzte.
Gretchen lief die Straße hinunter, der Straßenbahnhaltestelle zu. Gretchen lief nicht gern. Nicht, weil sie dazu zu dick war; so dick war sie nun beileibe nicht! Wegen ihrem Busen lief Gretchen nicht gern. Der wackelte und schwabbelte beim Laufen auf eine Art und Weise, die Gretchen unangenehm war. Das heißt: Sie spürte ihn. Sie merkte, dass er da war! Und ein Körper soll, fand Gretchen, so sein, dass man ihn gar nicht spürt. Die Mama hatte Gretchen gegen dieses Busengefühl einen Büstenhalter angeraten. Doch für Gretchen gab es keinen Büstenhalter! Weil Büstenhalter schrecklich simpel und einfallslos gebaut sind. Es gibt kleine mit winzigen Körbchen. Und es gibt große mit großen Körbchen. Bis zu Handballgröße kann man die Körbchen haben. Aber immer gilt da der Grundsatz: je breiter, desto tiefer. Für Gretchen-Brüste, sehr breit, aber ziemlich flach, war in den Geschäften nichts zu holen. Und Gretchen hatte es auch satt, an der Hand der Mama von Miederwarenverkäuferinnen kopfschüttelnd besichtigt zu werden. Da hielt sie lieber noch das Busen-Schwabbeln aus. Und lief eben so wenig wie möglich.
An der Straßenbahnhaltestelle merkte Gretchen, dass sie einen Kniestrumpf verkehrt herum anhatte. Die Kniestrümpfe waren grünblau geringelt. Das waren sie zwar auf der Innenseite auch, aber da, wo die Farbe wechselte, hingen zwei fransige Fäden aus dem Gestrick und das sah hässlich aus. Außerdem merkte Gretchen noch, dass es später sein musste, als sie befürchtet hatte, weil die Straßenbahn, die gerade kam, fast leer war. Und leer wurden die Straßenbahnen immer erst ein paar Minuten vor acht Uhr, wenn keine Kinder mehr zur Schule fuhren.
Gretchen stieg in den hinteren Wagen. Der war ganz leer. Ein Wagen ohne Schaffner war das. Gretchen versuchte, während die Straßenbahn die Hauptstraße entlangbimmelte, auf den großen Uhren, die über etlichen Geschäften hingen, die genaue Zeit festzustellen, doch leider nahmen diese Uhren die Zeit nicht sehr genau. Und beim Zuspätkommen kommt es ja auf die Sekunde an! Gretchen ärgerte sich, weil sie ihre Armbanduhr zu Hause, im Badezimmer, hatte liegen lassen, und Gretchen wurde nervös. Sie angelte sich eine Haarsträhne in den Mund und kaute daran, zog an den Fingern, dass sie knackten, und schnüffelte, obwohl sie niemandem zuhörte.
Wenn sich die Schulglocke nach der Uhr über dem Hutgeschäft richtete, würde Gretchen gerade noch zurechtkommen! Wenn sich die Schulglocke aber nach der Uhr über dem Uhrmacherladen richtete, dann war Gretchen um gut fünf Minuten zu spät dran! Gretchen gab der Uhrmacher-Uhr die besseren Chancen.
Zuspätkommen war für Gretchen fast so schrecklich wie im Turnsaal herumhopsen. Weil es beim Zuspätkommen in der Klasse mucksmäuschenstill war und einen alle hochinteressiert anschauten. Und Gretchen wurde nicht gern angeschaut! Schon gar nicht dann, wenn sie einen Kniestrumpf verkehrt herum anhatte.
Aber das Kniestrumpf-Problem wenigstens, das war aus der Welt zu schaffen. Gretchen schlüpfte aus dem linken Schuh, zog den Kniestrumpf aus und drehte ihn um. Gerade als sie damit fertig war, blieb die Straßenbahn an einer Haltestelle stehen, die Türen schnappten auf und durch die vordere Tür, gleich neben Gretchens Sitzplatz, kam der Florian Kalb hereingekeucht. Gretchen ließ vor Schreck den Kniestrumpf fallen, mit nacktem, hochgehobenem Beinchen saß sie da und starrte den Florian Kalb an. Der Florian Kalb ging mit Gretchen in die Klasse. Er war ziemlich groß und ziemlich hübsch und konnte oft ziemlich gemein sein. Und was wohlbeleibte Menschen betraf, hatte er ungefähr dieselbe Einstellung wie Konni, der Nachbarknabe; er fand sie komischer als den lustigsten Witz.
Die Wagentür schnappte zu, die Straßenbahn fuhr los, der Florian Kalb verschnaufte zuerst, doch dann lachte er los wie eine tollwütige Hyäne und zeigte mit ausgestrecktem Arm auf Gretchens nacktes, rosiges, rundes Bein.
»Das ist ja einsame Spitze«, kreischte er. »Sie zieht sich erst in der Bimbim an! Das find ich, ha, ja irre schick! Kommt mit der Gewandung überm Arm in die Bimbim und zieht sich im Fahren an! Das nenn ich Zeitplanung!«
Gretchen hob den Kniestrumpf auf. Schwarze Dreckflecken hatte er jetzt und Gretchen war ganz rot im Gesicht. »Aber nein, Florian«, protestierte sie und zog den Kniestrumpf hastig über den Fuß. »Ich hab ihn bloß umgedreht, weil er verkehrt herum war!« Gretchen schlüpfte in den Schuh. Sie redete nicht weiter, weil die Straßenbahn so laut in eine Kurve hineinkreischte und der Florian schon wieder so hyänenlaut lachte, dass er sie ohnehin nicht verstanden hätte.
Hinter der Kurve war die letzte Station vor der Schule und da stiegen noch die Uschi Meier und die Uschi Kohl zu. Der Florian erzählte ihnen gleich, dass er eine ganz tolle Neuigkeit habe, dass sich das Gretchen erst in der Straßenbahn bekleide! Beim Anziehen habe er sie überrascht! Ohne Socken, mit offenem Zippverschluss im Rock habe sie dagesessen und sich gerade die Bluse zugeknöpft.
Gretchen protestierte wieder. »Er lügt, Uschi, Uschi, er lügt!«, sagte sie zu den zwei Uschis. Aber der Florian Kalb zeigte auf Gretchens Schuhe. »Und die Schuhbänder hat sie ja jetzt noch offen!«
Gretchens Schuhbänder hingen ja nun wirklich ungeknüpft aus den Ösen und Uschi und Uschi fanden, das sei Beweis genug für die Behauptung vom Florian Kalb. Also lachten auch sie über Gretchen. Und wenn man es genau nimmt, lachten der Florian und die zwei Uschis deshalb, weil sie gern lachten. Schulwege ohne Gelächter, fanden sie, seien nur der halbe Spaß. Und wenn es einen Anlass für Gelächter gab, sollte man nicht wählerisch sein, denn schrecklich viel Erheiterndes findet am Morgen in Straßenbahnwagen nicht statt. Wenn man da warten müsste, bis etwas wirklich Komisches passiert, käme man ja nie zum Kichern!
Die Straßenbahn hielt genau vor dem Schultor. Die Uschi schaute auf die Uhr und sagte zur Uschi: »Menschenskind, genau fünf Minuten nach acht!« Und die Uschi sagte zur Uschi: »Und dazu noch erste Stunde Mathe! Wo der Kerl immer so grantig ist!« Der Florian zuckte bloß gelangweilt mit den Schultern. Er war ein gewohnheitsmäßiger Zuspätkommer.
Gretchen befand sich in einem argen Zwiespalt. Einerseits wollte sie zusammen mit den zwei Uschis und Florian die Klasse betreten. Da fiel sie weniger auf. Da mussten die anderen ihr interessiertes Geglupsche auf vier Personen verteilen. Und von der Rüge des Mathe-Lehrers fiel dann auch nur ein Viertel auf sie. Andererseits wollte Gretchen aber nicht neben drei Personen der Klasse zukeuchen, die gerade so gemein über sie gelacht hatten! Gretchen löste das Problem so: Die Treppe zum dritten Stock hinauf und den langen, stillen Gang hinunter hielt sie Abstand zu Florian und den Uschis. Fünf Schritte hinter ihnen her lief sie. Als der Florian die Hand auf die Klassentürklinke legte, spurtete Gretchen los, und bevor die zweite Uschi zur Tür hinein war, hatte sie aufgeholt.
Der Mathe-Lehrer schaute sehr vergrämt. »Na, die Herrschaften?«, fragte er. »Haben verschlafen? Oder haben wieder einmal eine kranke Taube ins Tierschutzhaus tragen müssen?« (Diese Kranke-Tauben-Ausrede hatte der Florian Kalb einmal als Ausrede benutzt.)
Der Florian erklärte entrüstet, das sei eine böse Unterstellung, gegen die er sich ernstlich verwahren müsse. In Wirklichkeit habe die Oberleitung der Straßenbahn einen Defekt gehabt. Möglich, dass der Defekt auch im Straßenbahnbügel gelegen habe. So genau könne er das nicht sagen, denn Straßenbahnen und ihr Funktionieren seien in Physik leider noch nicht dran gewesen. Jedenfalls habe die Straßenbahn zehn Minuten lang still gestanden. Als Beweis für die Richtigkeit seiner Aussage führte der Florian an, dass ja auch Gretchen Sackmeier zu spät gekommen sei und die sei doch sonst pünktlicher als die Zeitansage im Telefon.
Dieses Argument beeindruckte den Mathe-Lehrer: »Stimmt es tatsächlich, Gretchen?«, fragte er.
Ein großer Gedanke fuhr durch Gretchens Hirn, der hieß: Das ist der Augenblick der Rache für sein idiotisches Gelächter! Und für seine Lügen! Ich sag die Wahrheit und er ist aufgeschmissen! Aber noch während der große Gedanke sich in Gretchens Hirn breit machen wollte, sagte Gretchens Mund schon:
»Jawohl, Herr Professor, es war die Straßenbahn!«
Der Mathe-Lehrer nickte und winkte die vier Zuspätgekommenen huldvoll an ihre Plätze. Gretchen marschierte zu ihrem Pult, setzte sich, holte das Mathe-Zeug aus der Schultasche und dachte: Ich habe mich deswegen am Florian nicht gerächt, weil es dann eine große Aufregung gegeben hätte und weil mich dann alle angeschaut hätten, und das mag ich nicht!
Doch dann, während Gretchen die Zirkelmine an der Schuhsohle scharf machte, dachte sie: Aber ganz stimmt das doch nicht! Ich will mich am Florian überhaupt nicht rächen. Weil Rache von Wut herkommt. Und wenn er über mich spottet, dann werde ich gar nicht wütend, sondern traurig!
Gretchen legte, ob dieser Erkenntnis sehr erstaunt, den Zirkel auf das Pult, nahm den Kugelschreiber und malte auf das Löschblatt: WARUM? Auch auf ihren linken Unterarm malte sie ein WARUM?. Das wischte sie dann aber schnell wieder mit Spucke weg.
Den ganzen Vormittag über hatte Gretchen das Löschblatt vom Mathe-Heft auf dem Pult liegen. Gut drei Dutzend WARUM schrieb sie noch unter das erste WARUM. Und rundherum machte sie Girlanden aus Fragezeichen. Das fiel sogar ihrem Pultnachbarn, dem Otti Horneck, auf.
»Warum was, Gretchen?«, erkundigte er sich und zog Gretchen das Löschblatt weg und studierte es.
»Nur so, wegen gar nichts«, sagte Gretchen und holte sich ihr Löschblatt zurück. Dem Otti Horneck ein Traurigkeits-Warum und seinen Zusammenhang mit dem Florian Kalb zu erklären wäre wirklich zu weit gegangen.
Nach der Schule fuhr Gretchen nicht mit der Straßenbahn nach Hause. Zu Fuß, neben der Sabine, wanderte sie den langen Weg einher. Sabine war so etwas Ähnliches wie Gretchens Freundin. Aber eine richtige Freundin war sie nicht. Denn oft, und Gretchen hatte dann keine Ahnung, warum, wollte Sabine von ihr plötzlich nichts mehr wissen, redete kaum mit ihr, suchte sich für den Heimweg eine andere Begleitung aus, schenkte einer anderen ihr Pausenbrot, bat eine andere, die Hausübung abschreiben zu dürfen, und erzählte einer anderen, was sie am vergangenen Nachmittag Tolles erlebt hatte. Und dann, ungefähr zwei Wochen später, schenkte sie Gretchen wieder ihr Brot, erbat sich Gretchens Hausübung zum Abschreiben, erzählte drauflos, dass Gretchen die Ohren wackelten, und schaute die, der sie zwei Wochen lang den Vorzug gegeben hatte, überhaupt nicht mehr an. Sabine hatte Freundinnen, wie andere Leute Bilder in Wechselrahmen haben. Zum Austauschen. Einmal war Gretchen im Rahmen, einmal die beiden Uschis, dann kam Kathi an die Reihe, dann Sophie und schließlich wieder Gretchen. Und heute war der erste Tag, an dem Gretchen im Wechselrahmen steckte. Bis zu Gretchens Haustor begleitete Sabine sie und gut eine halbe Stunde quatschte sie vor dem Haustor noch auf Gretchen los. Von einem Cousin erzählte sie, der ihr einen Liebesantrag gemacht hatte. Und ob das nun Inzest wäre, wenn sie diesen Antrag annähme, fragte sie Gretchen. Dass es aber, wegen ihrer strengen Mama, recht günstig wäre, den Cousin zum Freund zu haben, meinte sie. Sie sagte: »Denn da schöpft sie doch absolut keinen Verdacht! Dass ich meinen Onkel und meine Tante besuche, ist schließlich ein normaler Vorgang. Und dass ich mit meinem Cousin im Kinderzimmer bin, ist auch nicht außergewöhnlich! Meinst du nicht auch?«
Gretchen hatte keine Meinung zu Liebesbeziehungen zwischen Cousins und Cousinen. Das heißt: zu Liebesbeziehungen zu Cousins in der Wirklichkeit. In den Hochadels-Schicksalen – natürlich – da kam so ein Liebes-Sachverhalt oft vor! Und Inzest war er dort meistens nicht. Dort musste man nur herausfinden, ob die Zuneigung, die man für den Cousin empfand, »echte Liebe« oder »die Stimme des Blutes« war. Aber mit Weisheiten aus Adels-Schicksalen wollte Gretchen Sabine nun doch nicht beraten. Außerdem knurrte ihr Magen schon sehr laut und hoffte auf Schinkenfleckerln und Tomatensalat. Schinkenfleckerln gab es meistens am Montag zum Mittagessen. Ganz im Geheimen hoffte Gretchens Magen auch noch darauf, dass die Mama am Vormittag Backlust bekommen haben könnte. Vielleicht Cremeschnittenlust oder Schaumrollenlust. Cremeschnitten und Schaumrollen, wenn sie selber gemacht sind, sind nämlich überhaupt das Höchste! Ein armer Wurm, der diese Sachen nur beim Bäcker kaufen kann, hat keine Ahnung, wie »echte« Cremeschnitten und »echte« Schaumrollen schmecken!
Gretchens Magen hoffte vergebens. Es gab zum Mittagessen Blumenkohl mit Butter und Brösel. Die ganze Wohnung roch nach dem Blumenkohl. Mädi – und Hänschen auch – jammerten wegen dem Blumenkohl und verlangten hinterher Schmalzbrote.
Mädi konnte sich gar nicht beruhigen. »Wieso hast du Blumenkohl gekocht?«, fragte sie an die hundert Mal. »Montag ist Schinkenfleckerltag!«
Die Mama gab ihr bloß »Hmpf« zur Antwort und schmierte ihr ein Schmalzbrot. Die Mama – übrigens – hatte keinen Blumenkohl gegessen. Einen traurigen Tee hatte sie wieder angestarrt, in den sie zwei kleine Tabletten geworfen hatte. Da Gretchen der Meinung war, die Mama habe vom Maturaschmaus einen verdorbenen Magen, wunderte sie sich nicht. Sie hielt die Tabletten für Bauchwehpulver. Erstaunt war Gretchen allerdings darüber, dass die Mama unentwegt Kaugummi kaute. Gretchen sagte zur Mama: »Ich hab immer geglaubt, du magst Kaugummi nicht, dir graust vor Kaugummi!«
Die Mama zog einen Kaugummifaden aus dem Mund. Einen ungeheuer langen und dicken Kaugummifaden. Einen dreiviertel Meter lang zog sie ihn, dann riss er ab. Die Mama machte »Hmpf« und ging ins Schlafzimmer.
Gretchen ging ins Kinderzimmer und setzte sich an die Mathe-Hausübung. Gleich danach kam Hänschen herein, setzte sich auf Gretchens Schreibtischkante und sagte: »Weißt du, was die Mama im Schlafzimmer tut?«
»Hingelegt wird sie sich haben!«, sagte Gretchen. »Weil ihr nicht gut im Magen ist!«
Hänschen schüttelte den Kopf. »Hingelegt hat sie sich schon«, sagte er. »Aber auf den Fußboden! Sie turnt. Lauter Liegestütze macht sie!«
Gretchen erschrak dermaßen, dass ihr der Zirkel, mit dem sie gerade einen Winkel halbieren wollte, aus den Fingern fiel.
»Und hast du den enormen Kaugummifaden gesehen?«, fuhr Hänschen fort. »Sie muss ja mindestens sechs Kaugummis im Mund haben!«
Hänschen packte Gretchen an der Schulter. »Was soll denn das heißen?«, rief er. »Sie sagt nur noch Hmpf, süffelt Tee mit Pillen, kaut Kaugummi und turnt!« Er schaute Gretchen ratlos, sogar ein bisschen ängstlich an. »Spinnt sie plötzlich, Gretchen?«
»Fragen wir sie!«, sagte Gretchen und hob den Hintern vom Sessel.
»Hab ich ja schon! Gerade vorher!«
»Und was hat sie gesagt?«
»Hmpf hat sie gesagt! Was denn sonst!«
Da ließ Gretchen den Hintern wieder auf den Sessel sinken und sagte: »Warten wir ab, bis der Papa kommt, der klärt das schon auf!«
Hänschen ging zu seinem Stockbett, hievte sich die Leiter zum oberen Bett hinauf, warf sich auf die Matratze, dass sie laut quietschte, verstoppelte das rechte Nasenloch mit dem linken Zeigefinger, schloss die Augen und entschlummerte. Dem Hänschen war sein Mittagsschlaf heilig!
Gretchen halbierte noch sieben Winkel und verfertigte drei Dreiecke samt ihren Winkelsymmetralen, wobei sich leider nur bei einem der Dreiecke alle drei Symmetralen haarscharf in einem Punkt trafen. Dann zog sie die unterste Schreibtischlade auf und holte »Ein erregendes Schicksal aus dem Hochadel« heraus. Sie schlug es bei einer eselohrigen Seite auf. Zur Tarnung nahm sie das Matheheftlöschblatt und legte es halb über den aufgeschlagenen Fürsten-Schund. Damit die Mama, falls sie mit dem Turnen aufhörte und Gretchen im Kinderzimmer aufsuchte, den Fürsten-Schund nicht entdeckte. Sicher, kein Mensch verbot Gretchen diese 60-Seiten-Lektüre. Aber Eltern brauchen gewisse Dinge gar nicht zu verbieten. Bei einem Papa und einer Mama, die seit Jahren darüber lachten, dass Tante Emma Herz-Schmerz-Schund liest, traut man sich einfach nicht, auch diese Laster zu haben.
Gretchen klappte das große Eselsohr hoch und las:
Tiefe Trauer überschattete Astrid von Hohenlohes ebenmäßige Züge, als sich Graf Bodo von Esselfing höhnisch lachend von ihr abwandte. Mit einem Male durchfuhr es ihr bebendes Herz: Er ist ein Schuft und dennoch bin ich ganz sein! Ich liebe ihn!
Gretchen schob entsetzt das Löschblatt über die Schund-Doppelseite. Entsetzt war sie deshalb, weil ihr plötzlich klar geworden war, dass sie beim Versuch, sich Bodo Graf Esselfing vorzustellen, haarscharf den Florian Kalb, etwas gealtert, vorgestellt hatte. Und dazu glotzten sie jetzt auch noch vom Löschblatt her die vielen Fragezeichen-Warum an. Die Warum-traurig-warum-nicht-wütend-Fragezeichen.
Gretchen sprang auf, so schnell, wie das sonst gar nicht ihre Art war, und stellte sich vor den Wandspiegel zwischen den Fenstern. Dort stand sie selten. Spiegelschauen gehörte nicht zu ihren Angewohnheiten. Gretchen betrachtete eingehend ihre Kieselsteinaugen, ihre Babynase und die offenen Spanielhaare. Sie fand ihr Gesicht tatsächlich ziemlich ebenmäßig und voll der »Züge« und unerhört trauerüberschattet. Der logische Schluss aus alledem war für sie zwingend! Ihr ganzes Herz gehörte also dem Florian Kalb! Und sie liebte ihn! Statt Wut auf ihn: Trauer. Und seine Züge in denen vom Bodo von Esselfing! Und ein überschattetes Gesicht. Klar wie Würfelsuppe war das!
Gretchens Gesicht wurde noch um etliche Schattierungen schattiger. Unglücklich murmelte sie in den Spiegel hinein: »Verdammt – habt Acht!« Das sagte die Zwettler-Oma oft und das war die größte Unmutsäußerung, die Gretchen kannte. Sie war eben ein sanftes, ziemlich mildes Mädchen.
Gretchens Mama änderte ihr sonderbares Benehmen auch nicht, als der Papa von der Nudelfabrik nach Hause kam. Sie sagte »Hmpf« statt »Guten Abend, mein Schatz«, und auf die Frage, ob sie den Tag gut verbracht habe, machte sie auch bloß »Hmpf«.
Der Papa zwirbelte erstaunt seinen Schnurrbart. Richtige Fragezeichen drehte er in die Enden hinein.
»So ist sie schon den ganzen Tag«, raunzte Mädi. »Nicht einmal schwarzer Peter hat sie mit mir gespielt. Dabei habich alle Sätze geschrieben und alle Kugeln zusammengezählt!«
Mädi ging ja erst seit ein paar Wochen in die Schule und fand, vier Stunden dort still herumsitzen reiche bei weitem. Dass sie dann auch noch zu Hause Mama-und-Mimi-Sätze schreiben und blaue und rote Kugeln zusammenzählen sollte, schien ihr übertrieben. Darum hatte die Mama mit ihr ein Abkommen geschlossen. Für jeden erledigten Hausübungssatz und für jede gelöste Kugelrechnung gab es hinterher eine Partie schwarzer Peter. Bisher hatte sich die Mama immer an dieses Abkommen gehalten.
Der Papa zwirbelte die Schnurrbartfragezeichen in eine andere Richtung, nahm Mädi auf den Schoß, drückte ihr einen Schmatzkuss auf den Mittelscheitel und rief: »Hunger!«
Die Mama trug vier Teller und Besteck zum Wohnzimmertisch, dann holte sie den Topf mit dem Schweinsgulasch und die Schüssel mit den Nockerln und schließlich brachte sie noch vier Gläser, eine Flasche Bier, eine Flasche Orangensaft – und eine Schale mit Tee. Der Papa schnupperte erfreut über Gulasch und Nudeln hin und schöpfte sich den Teller randvoll. Mit Kummerfalten auf der Stirn fragte er die Mama: »Dein verdorbener Magen ist noch nicht in Ordnung?«
Das »Hmpf« der Mama nahm er als Zustimmung. Er schaufelte Nockerln und Fleisch auf die Gabel, balancierte das weit überladene Esswerkzeug zum Mund, entlud es und kaute. Ungläubiges Staunen machte sich über seinem Schnurrbart breit. Der Papa schluckte und sagte: »Mama, den Nockerln fehlt das Salz und das Gulasch ist verpfeffert!«
Ein derartiger Sachverhalt kam ansonsten in der Familie Sackmeier nicht vor.
»Wieso kommt das, Mama?«, fragte der Papa. Und in dem Augenblick brüllte Mädi los. »Brennt! Das brennt!«, brüllte sie und wachelte mit einer Hand vor dem offenen Mund herum. Dann spuckte sie angewidert einen Fleischbrocken auf den Teller zurück. Auch Gretchen und Hänschen verzogen die Gesichter.
In dieser Situation kam die Mama mit ihrem »Hmpf« nicht mehr aus. Sie sagte: »Tut mir Leid, ich konnte nicht abschmecken, weil ich nichts esse!«
»Also Mama!« Der Papa drehte den Schnurrbart auf Rufzeichen. »Ein Zungenspitzerl voll Soße hätte deinen verdorbenen Magen schon nicht umgebracht!«
Die Mama nahm den Kaugummi aus dem Mund. Sie rollte ihn auf der Tischplatte zu einer Kugel. Fast pingpongballgroß war die Kugel. »Ich habe überhaupt keinen verdorbenen Magen«, rief sie. »Was redest du dauernd von meinem verdorbenen Magen? Ich magere ab!«
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